Maerz 2008 als pdf herunterladen - Israelitische Kultusgemeinde Wien
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GEMEINDE<br />
DVR 0112305 € 2.-<br />
Nr. 617 März <strong>2008</strong><br />
Adar2 5768<br />
Erscheinungsort <strong>Wien</strong><br />
Verlagspostamt 1010 P.b.b<br />
eGZ 2.- 03Z034854 W<br />
Die Die<br />
OFFIZIELLES ORGAN DER ISRAELITISCHEN KULTUSGEMEINDE WIEN<br />
magazin
INHALT<br />
&<br />
AUS DEM BÜRO DES<br />
PRÄSIDENTEN<br />
Eröffnung Hakoah 3<br />
EJC vor Spaltung 5<br />
(ЕЕК) ПЕРЕД РАСКОЛОМ? 6<br />
Liste der Extraneii in den<br />
IKG-Kommissionen 8<br />
DOSSIER • MÄRZ 1838 9-22<br />
POLITIK<br />
IN- UND AUSLAND<br />
SIMONE DINAH HARTMANN<br />
Österreich: Irans Tor zu Europa 23<br />
EU verurteilt israelfeindliche<br />
Aussagen 24<br />
ISRAEL<br />
TERRORANSCHLAG IN JERUSALEM<br />
„Er war ein guter Junge“ 25<br />
EU korrigiert Verurteilung 26<br />
UNO-Sicherheitsrat: keine<br />
gemeinsame Einigung 26<br />
GAZASTREIFEN<br />
Fragen der Verhältnismäßigkeit<br />
27<br />
Israels Militäroperation<br />
im Gaza-Streifen 29<br />
JERUSALEM-FRAGE<br />
Heiße Diaspora-Debatte 30<br />
Lauders Brief an Olmert 31<br />
WIRTSCHAFT<br />
Made in Israel:<br />
Die Schmuck-Industrie 32<br />
Beschäftigungsrate der<br />
Studenten sehr hoch 32<br />
WISSENSCHAFT<br />
Israelischer Forscher<br />
entwickelt Medikament<br />
zur Gewichts reduktion 33<br />
RECHTE ECKE<br />
Erna Wallisch - Die Banalität der<br />
Verjährung 24<br />
GEMEINDE<br />
Medieninhaber (Verleger), Herausgeber: <strong>Israelitische</strong> <strong>Kultusgemeinde</strong> <strong>Wien</strong>.<br />
Zweck: Information der Mitglieder der IKG <strong>Wien</strong> in kulturellen, politischen<br />
und or ganisatori schen Belangen. Stärkung des demokratischen<br />
Bewusst seins in der österreichischen Bevöl kerung. Sitz: 1010 <strong>Wien</strong>, Seitenstettengasse 4, Postfach 145.<br />
Tel. Redaktion/Sekretariat 53 104/271, Anzeigenannahme 53 104/272, Fax: 53104/279, E-mail redaktion@ikg-wien.at<br />
Druck: AV+Astoria Druckzentrum GmbH, A-1030 <strong>Wien</strong><br />
Alle signierten Artikel geben die persönliche Mei nung des Autors wieder, die sich nicht immer mit der<br />
Meinung der Redaktion deckt. Für die Kaschrut der in der GEMEINDE angezeigten Produkte übernehmen<br />
Herausgeber und Redaktion ausdrücklich keine Verantwortung. Nicht alle Artikel, die in der<br />
Redaktion einlangen, müs sen zur Veröffentlichung gelangen.<br />
Die<br />
Boykott gegen Pariser<br />
Buch messe wegen<br />
Einladung Israels 24<br />
JÜDISCHE WELT<br />
BIRGIT JOHLER<br />
<strong>2008</strong> Adresse: Servitengasse 35<br />
LARRY LUXNER<br />
Kubanische Juden 36<br />
Panorama 38<br />
ZWI HALEVI<br />
Yerushalmi: „Terror-Tatorte<br />
erzählen viel“ 40<br />
KULTUR<br />
Ehrung für Dr. Pittermann 41<br />
PETER WEINBERGER<br />
neu<br />
Überall & nirgendwo 41<br />
I.B.HENRI<br />
Sylvia Greenberg: Mit Korngold<br />
ins Herz gesungen 42<br />
MICHAELA LEHNER<br />
Die Welt <strong>als</strong> Möglichkeit<br />
und Fiktion 43<br />
MARTA S. HALPERT<br />
Die mitreissende Welle: „Es<br />
kann heute wieder passieren“ -<br />
Ein Interview mit Filmregisseur<br />
Dennis Gansel 44<br />
MARCUS G. PATKA<br />
„Zur Erinnerung an<br />
schönere Zeiten“ 47<br />
Titelbild:<br />
Magbith-Eröffnung <strong>2008</strong> im <strong>Wien</strong>er<br />
Rathaus © Renée Del Missier<br />
Dossier März 1938<br />
Idee, Konzept & Realisierung:<br />
SONIA FEIGER<br />
Titelbild: Adolf Hitler bei einem seiner<br />
Besuche in der „Füh rer stadt“<br />
© Archiv d.Stadt Linz/HPK<br />
Quellen- und Bildernachweis: Archiv,<br />
APA, www.nation<strong>als</strong>ozialis mus.at,<br />
erinnern.at, DÖW,<br />
DIE MISRACHI,<br />
DIE SOZIALABTEILUNG DER IKG UND<br />
DER VEREIN ESRA<br />
laden Sie herzlich ein zum<br />
SEDERABEND<br />
SAMSTAG, 19. APRIL <strong>2008</strong>,<br />
(Beginn 21.15 Uhr) und<br />
SONNTAG, 20. APRIL <strong>2008</strong>,<br />
(Beginn 21.00 Uhr)<br />
MISRACHI-HAUS<br />
1010 <strong>Wien</strong>, Judenplatz 8, Festsaal<br />
Preis:e 40.- pro Person und Abend<br />
(Preisnachlass auf Anfrage möglich)<br />
ANMELDUNG UND INFORMATION:<br />
Verein ESRA - 1020 <strong>Wien</strong>, Tempelgasse 5/Tel. 214 90 14<br />
oder Herr Raizmann Tel: 218 66 60 oder 0699/105 86 947<br />
PLENARSITZUNGEN <strong>2008</strong><br />
Dienstag, 08. April<br />
Dienstag, 06. Mai<br />
Dienstag, 03. Juni<br />
Donnerstag, 03. Juli<br />
Donnerstag, 31. Juli<br />
Dienstag, 02. September<br />
Donnerstag, 25. September<br />
Dienstag, 28. Oktober<br />
Dienstag, 25. November<br />
Donnerstag, 04. Dezember<br />
Donnerstag, 18. Dezember<br />
Wir sind stolz auf<br />
60 JAHRE<br />
ISRAEL<br />
Feiern auch Sie und Ihre Familie mit uns<br />
am neuen IKG-Campus!<br />
MITTWOCH, 7. MAI <strong>2008</strong> – AB 17.30 UHR<br />
Simon Wiesenthal-Gasse 2, 1020 <strong>Wien</strong><br />
Täglich<br />
aktualisiert!<br />
www. ikg-wien.at<br />
@<br />
news<br />
events<br />
pinwand<br />
Ausgewertet werden Meldungen von: APA, Jerusalem<br />
Post, Ha’aretz, MEMRI, Yediot Aharonot, Global intelligence<br />
centre, Walla, Y-net, israelnetz (inn), nahostfocus<br />
(NOF), ICEJ, Honestly-concerned, GMW, JTA, u.v.a.<br />
2 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768
AUS DEM BÜRO DES PRÄSIDENTEN<br />
Sehr geehrte Gemeindemitglieder!<br />
Wir eröffneten am 11. März gemeinsam<br />
mit dem Bundeskanzler, dem Bürger meis ter<br />
der Stadt <strong>Wien</strong> sowie vielen Ehren gästen,<br />
Freunden, Funktionären der Hakoah und<br />
Ge mein de mitgliedern das Sport- und Frei -<br />
zeitzentrum der Hakoah in der Simon-<br />
Wiesenthal-Gasse. Damit wird eine mehr <strong>als</strong><br />
25jährige Arbeit (um nicht zu sagen ein<br />
jahr zehntelanger Spießrutenlauf) erfolgreich<br />
abgeschlossen. Ich möchte die Gele -<br />
gen heit nutzen, um aus der Sicht der IKG<br />
Bilanz zu ziehen:<br />
Vorgeschichte<br />
70 Jahre nach dem „An schluss“ und der<br />
Arisierung feiern wir die Inbe trieb nahme<br />
eines neuen jüdischen Zentrums auf einem<br />
kleinen Teil der seiner zeitigen Lie gen -<br />
schaft. Es ist dies ein erster Schritt. Im<br />
August <strong>2008</strong> geht der neue jüdische<br />
Kindergarten und im September <strong>2008</strong> die<br />
neue ZPC-Schule in Betrieb. Wenn alles<br />
klappt, soll im De zem ber 2009 das neue<br />
Maimondes Zentrum fertig gestellt sein.<br />
Wer in den letzten Jahren bei Kultusvor -<br />
standssitzungen anwesend war, konnte<br />
die mo natlichen Debatten, Diskussionen<br />
und Beschlüsse mitverfolgen, die diesem<br />
Projekt voran gegangen sind. Ich möchte<br />
jedoch daran erinnern, dass ursprünglich<br />
1988 die Idee be stand, angrenzend an die<br />
ZPC-Schule in der Castellezgasse die dort<br />
befindliche Baum schu le zu erwerben, dort<br />
ein teils unterirdisches Sportzentrum zu<br />
bau en, die Tennis plät ze und Athletikan la -<br />
gen im Freien und das Clubhaus unmittelbar<br />
in der Castellezgasse zu er richten. In<br />
den zehn Jahren bis 1998 kam es zu zahlreichen<br />
Verhandlungen mit mehreren Bun -<br />
deskanzlern, Wirtschaftsministern (u.a. Dr.<br />
Schüssel), dem Landwirt schafts mi nister<br />
(Mag. Molterer!), dem Innenminister, den<br />
Bürgermeistern, den verschiedenen Stadt -<br />
rä ten und der Burghauptmannschaft. Es<br />
gibt kaum einen Politiker, der nicht mit der<br />
Thematik Hakoah-Sportplatz konfrontiert<br />
wurde.<br />
Als die Verhandlungen betreffend<br />
Augar ten relativ weit gediehen waren, trat<br />
eine Bürgerinitiative auf den Plan und<br />
brachte das Projekt um. Der Bürgermeister,<br />
dem die Erledigung ein besonders<br />
Anliegen war („Es ist höchste Zeit, dass<br />
die Hakoah endlich ihren Sportplatz<br />
bekommt!“) bot sechs Alternativ lie gen -<br />
schaf ten an (unter an de ren in Strebersdorf),<br />
die besichtigt und evaluiert wurden; man<br />
einigte sich schließ lich auf eine Lie -<br />
genschaft im Prater, nämlich ei nem Teil<br />
des ehemaligen Hakoah-Grund stücks, das<br />
sich im Eigentum der Republik Österreich<br />
befand und auf welchem das Bundes mi -<br />
nis te ri um für Finanzen einen Sport club<br />
betrieb. Es kam zu einer Eini gung mit der<br />
Stadt, 50% der Baukosten (60 Mio. ATS) zu<br />
übernehmen, aber der Bund zögerte.<br />
Erst im Rahmen der ab 1999 von der IKG<br />
geführten Restitutionsverhand lungen (und<br />
Klagen) kam es zur Einigung im Washing -<br />
to ner Vertrag, wo <strong>als</strong> einer der wenigen<br />
Erfolge für die <strong>Wien</strong>er Jüdische Gemeinde<br />
die teilweise Rückgabe eines Hakoah-Plat -<br />
zes und die Errichtung des Sport- und<br />
Freizeitzentrums vereinbart wurden. (Ein<br />
zweiter Punkt war die Zusage, die Fried -<br />
hö fe zu sanieren ...) Es muss festgehalten<br />
werden, dass alle diese Verhandlungen, Ge -<br />
spräche, Initiativen (neben dem Vertre ter<br />
der Hakoah – Prof. Paul Haber) im We sent -<br />
li chen von den Mitarbeitern und Funk tio -<br />
nären der <strong>Kultusgemeinde</strong> geführt wurden.<br />
So waren es die Präsidenten der Kultus ge -<br />
meinde (Grosz und ich) bei den zahlreichen<br />
Vor spra chen bei Politikern, die Mitarbeiter<br />
der technischen Abteilung (die Herren Ep -<br />
stein, Geissler und Eller), die Vorsitzenden<br />
der Immobilienkommission (u.a. DI Reisz)<br />
und last but not least Architekt DI Thomas<br />
Feiger, die fast die gesamte Last über 20 Jahre<br />
trugen. Es fällt mir schwer zu schätzen,<br />
wie viele tausende von Stunden von diesen<br />
ehrenamtli chen Funktionären, IKG-Ange -<br />
stell ten und freien Mitarbeitern erbracht<br />
wurden, um dieses Projekt endlich fertig<br />
zu stellen.<br />
Projekt im Prater - konkrete Realisierung<br />
und Errichtung<br />
Ab dem Jahr 2000 begannen die Ver -<br />
handlungen mit der Republik, der Stadt<br />
<strong>Wien</strong>, dem Finanzministerium und vielen<br />
an deren, bis dann Dr. Ferdinand Podkowicz<br />
schließlich von der Stadt <strong>Wien</strong> eingesetzt<br />
wurde, um das Projekt zu einem positiven<br />
Ende zu bringen. Mit seiner Hilfe gelang es,<br />
die Finanz auszumieten, einen Liegen -<br />
schafts tausch Republik/Stadt <strong>Wien</strong> herbeizuführen,<br />
einen Pacht vertrag für die Ha ko -<br />
ah auszuarbeiten, die notwendige be hörd li -<br />
che Genehmigung (Flä chenwid mungs än -<br />
derung, Anrainerverhandlungen, usw.) zu<br />
erwirken.<br />
Es würde diesen Beitrag sprengen, all<br />
diese Probleme aufzulisten, die in den letz-<br />
März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 3
AUS DEM BÜRO DES PRÄSIDENTEN<br />
ten acht Jahren zu lösen waren – las sen Sie<br />
mich nur einige anführen: Nachdem wir<br />
uns für den Prater entschieden hatten stellte<br />
sich heraus, dass eine U-Bahn über un se re<br />
Liegenschaft geführt werden sollte; nachdem<br />
die IKG entschieden hatte, die Lie -<br />
gen schaft von der Stadt <strong>Wien</strong> zu kaufen,<br />
mussten wir wenige Wochen vor Baube -<br />
ginn feststellen, dass sich Bauschutt im<br />
Untergrund befand; es gab Schwie rig kei ten<br />
und Einsprüche von Anrai nern ge gen die<br />
Baugenehmigung; die Subven tio nen (der<br />
Stadt <strong>Wien</strong>) waren seinerzeit in US Dollar<br />
vereinbart, bei der Auszahlung gab es „In -<br />
terpretations unter schiede“ beim Umrech -<br />
nungskurs; es mussten Termin kol lisionen<br />
mit dem U-Bahn-Bau und der Fuß ball-Eu -<br />
ro pameisterschaft aus der Welt geschafft<br />
werden; die Auf lagen der Si cher heit hatten<br />
grundlegen de Umplanungen zur Folge;<br />
die Schwie rig kei ten mit einer israelischen<br />
Fensterfirma führten fast zu einer Einstel -<br />
lung der Bau stelle und monate langen Bau -<br />
verzögerun gen; dies wiederum drohte das<br />
gesamte Budget zu sprengen; schließlich<br />
kam es zu einer Grund stück steilung und<br />
zu einem gemeinsamen Projekt mit der Zwi<br />
Perez Chajes Schule, die gleichzeitig am<br />
Cam pus errichtet wird; dies führte zu er -<br />
heblichen Kom plika tio nen, mussten doch<br />
die teils kontroversiellen Wünsche von<br />
Ha koah, Schule und Kultus ge meinde un -<br />
ter einen Hut gebracht werden; diese so<br />
genannten „Abgrenzungs schwie rig kei ten“<br />
wurden letztendlich in einem präzisen<br />
aber sehr komplexen Ver trag aus der Welt<br />
ge schafft; es musste ein neues Verkehrs -<br />
kon zept erstellt und die Weh listraße sowie<br />
die Simon-Wiesenthal-Gasse neu geplant<br />
wer den; die Liste ist be liebig fortsetzbar ...<br />
Persönlicher Dank<br />
Ich schreibe diese Zei len, weil ich glaube,<br />
dass es notwendig ist, sich diese Fakten in<br />
Erinnerung zu rufen, und in aller Deut -<br />
lichkeit all jenen zu danken, die in den verschiedensten<br />
ehrenamtlichen Funktionen,<br />
<strong>als</strong> Mitarbeiter oder <strong>als</strong> IKG-Auftragsneh -<br />
mer tätig waren. (Ich kann sie nicht alle hier<br />
anführen, da ich si cher den einen oder an -<br />
deren vergessen würde.) Gestatten Sie mir<br />
daher stellvertretend für alle an dieser Stel le<br />
Architekt DI Thomas Feiger dafür zu dan ken,<br />
dass er ne ben seinen vertragli chen Ver -<br />
pflichtun gen (für die er das Hono rar laut<br />
der IKG-spezifischen Verein ba rung erhält)<br />
eine Fülle von Auf ga ben übernommen hat,<br />
die die Vor aus set zung waren, um das<br />
Projekt überhaupt reali sieren zu können: Er<br />
hat von 1988 bis 2001 sämtliche Pro jek -<br />
tierungs- und Planungsar bei ten auf sein<br />
Risiko und kostenlos er bracht inklusive<br />
des kompletten Vorent wurfs für das verworfene<br />
Au gar ten pro jekt, die Begutach -<br />
tung der verschiedenen an uns herangetragenen<br />
Lie gen schaften, sowie beim IKG-<br />
Cam pus Simon-Wiesen thal-Gasse die Ver -<br />
hand lun gen mit der U-Bahn positiv abgewickelt;<br />
er hat das ge sam te Problem Schutt<br />
im Untergrund für die IKG kostenneutral<br />
aus der Welt ge schafft; er hat die Anrainer<br />
überzeugt, Ein sprüche zurückzuziehen; er<br />
hat das gesamte Sicherheitskonzept mitver -<br />
handelt und umgesetzt inklusive der not -<br />
wendigen Ab stimmungen mit einschlägigen<br />
Experten; er hat „den Nerven krieg“<br />
mit der Fenster fir ma positiv beendet, hat<br />
seit Jahren die verschiedensten sich ständig<br />
ändernden Nut zer-Wünsche (insbesonders<br />
der Ha ko ah und der Schule) eingearbeitet<br />
und koordiniert und gleichzeitig da -<br />
für gesorgt, dass das Budget und die Fer tigstellungstermine<br />
eingehalten werden. Und<br />
seit einigen Mo na ten kommt das neue<br />
Maimonides Zen trum hinzu, womit die<br />
komplexe Koordi na tion und Projekt-Orga -<br />
ni sation noch kom plexer und schwieriger<br />
geworden sind ….<br />
Mir wird seit Jahrzehnten vorgeworfen,<br />
„dass ich mit meinen Freunden Projekte<br />
der IKG realisiere“. Es stimmt, dass Tho -<br />
mas Feiger mein Freund ist, gleichzeitig erfüllt<br />
er jene Kriterien, die einige wenige Ar -<br />
chitekten in <strong>Wien</strong> erfüllen und, im Falle<br />
des IKG Campus, wäre es unmöglich ge we -<br />
sen, die Fülle von Problemen zu lösen und<br />
das Projekt zu realisieren, wenn das Pro jektmanagement<br />
nicht von ihm in der oben<br />
beschriebenen Form gemacht worden wä re.<br />
Alle diese Leistungen kommen der IKG<br />
zugute, ohne dass hierfür der IKG zusätzli<br />
che Kosten verrechnet werden. Dafür gilt<br />
es an dieser Stelle zu danken.<br />
Die Eröffnung<br />
– darüber lesen Sie in der nächsten Ge -<br />
meinde.<br />
Ihr<br />
Dr. Ariel Muzicant<br />
4 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768
AUS DEM BÜRO DES PRÄSIDENTEN<br />
Europäischer jüdischer Kongress (EJC)<br />
vor der Spaltung?<br />
Vorgeschichte<br />
Seit Jahren (Jahrzehnten) gibt es „Schwierigkeiten“ in der<br />
politischen Vertretung des Europäischen Judentums. Die<br />
Gründe sind zahlreich: Mangel an kompetenten Füh rungspersönlichkeiten,<br />
Indolenz in großen Gemeinden (Eng land,<br />
Frankreich), persönliche Auseinandersetzungen um „Pos -<br />
ten“ und Prioritäten, Geldmangel, Chaos und Konflikte<br />
im Jüdischen Weltkongress (WJC) - der Dachorganisation<br />
aller jüdischen Gemeinden. 2005 wurde Pierre Besnainou*<br />
zum EJC-Präsidenten gewählt und begann ein ehrgeiziges<br />
Re formprogramm: Dem EJC nach 20 Jahren ein Statut zu<br />
ge ben, die Organisation zu straffen, korrekt zu registrieren,<br />
die Arbeit mit den anderen jüdischen Organisationen (ECJC,<br />
Bnei Brith, Europäische Rabbinerkonferenz, EUJS, etc.)<br />
abzustimmen (Thema: Wer macht was?) und dem EJC ein<br />
ordentliches Budget zu verpassen, um folgende Prioritä ten<br />
tatsächlich umsetzen zu können:<br />
✧ Die politische Vertretung des europäischen Juden tums<br />
gegenüber den europäischen Institutionen (EU-Par la -<br />
ment, Kommission, Europarat, etc.) und den europäischen<br />
Regierungen.<br />
✧ Die Unterstützung Israels insbesondere in der Aus ein -<br />
an dersetzung mit dem Iran und der Hamas/His bol lah.<br />
✧ Alle anderen Themen (Antisemitismus, christlich-jü -<br />
di scher Dialog, islamisch-jüdischer Dialog, etc.) sollten<br />
auch behandelt werden, aber eben nur so fern die<br />
finanziellen und zeitlichen Ressourcen es ermögli chen.<br />
Konflikt<br />
Ab 2006 trat Moshe Kantor** in direkte Konfrontation mit<br />
Pierre Bensnainou und die Führung des EJC; dabei wurde<br />
jede Initiative unterbunden (z.B. konnten die fix ausverhandelten<br />
Statuten nicht beschlossen werden, die EJC-<br />
Stiftung, welche die notwendigen Geldmittel aufbringen<br />
sollte, wurde nicht gegründet, usw.). Schließlich kam es<br />
zum offenen Konflikt, der die Arbeit lähmte und viele<br />
Gemeinden ob des ständigen Streits verärgerte.<br />
EJC-Generalversammlung im Juni 2007<br />
Bei dieser Generalversammlung kam es schließlich zur<br />
Kampf abstimmung zwischen Besnainou und Kantor, die<br />
letzterer klar für sich entscheiden konnte. Dabei wurden<br />
ganz offen Wahlkampfmethoden angewandt, die (für die<br />
Österreichische Jüdische Gemeinde) inakzeptabel sind:<br />
• Den Gemeinden Osteuropas wurden verschiedene „Be -<br />
träge“ angeboten (für Kulturprogramme, Jugendpro gramme,<br />
etc.), aber auch diverse „Reisespesenrefundierungen“<br />
gegeben (dies alles aus „Kantors Privatstiftung“).<br />
• Der Vertreterin des britischen „Jewish Board of De pu -<br />
ties“ (B.O.D.) wurde die Position einer Vorsitzenden des<br />
Board of Governors im EJC versprochen - damit wurde<br />
sichergestellt, dass sie zu den offiziellen Fototerminen bei<br />
Besuchen von Regierungsvertretern anwesend sein konnte.<br />
(Ironie am Rande: diese Position wurde am 10.2.<strong>2008</strong> <strong>als</strong><br />
unnötig gestrichen, gleichzeitig wurde die Position eines<br />
„Chairman of the Council“ geschaffen….).<br />
• Gleichzeitig wurden die Prioritäten des EJC massiv verän<br />
dert. Nunmehr sind „Shoah-Veranstaltungen“, die Kantor<br />
„hollywoodartig“ organisiert, erste Priorität. Österreich<br />
wurde 2007 wieder ins Präsidium gewählt (trotz heftiger<br />
Opposition gegen die Kantor-Methoden). Der Vorstand<br />
der IKG-<strong>Wien</strong> hat jedoch auf Anraten des Präsidenten auf<br />
dieses Amt verzichtet, da man nicht Teil einer solchen<br />
EJC-Führung sein wollte.<br />
Kontroversielle Politik<br />
Moshe Kantors 2007/<strong>2008</strong><br />
Seit Juni 2007 gab es eine<br />
Vielzahl von Erklärungen<br />
und Handlungen des EJC<br />
(Moshe Kantors), die großen<br />
Ärger unter den Mitglieds ge -<br />
mein den ausgelöst haben:<br />
✧ Beim Antrittsbesuch bei<br />
Angela Merkel wurde<br />
dieser eine Schach tel<br />
Seife überbracht (zum<br />
Entsetzen der Vertreter<br />
des Zentralrats der Ju den<br />
in Deutschland). Seit her<br />
verweigert Mer kel jeglichen<br />
direkten Kon takt.<br />
✧ Kantor versuchte, eine<br />
zentrale „Kristall nacht veran staltung“ in Berlin im<br />
November <strong>2008</strong> zu organisieren, trotz heftigem<br />
Widerstand der deutschen Juden. Schließlich sprach<br />
sich die deutsche Kanzlerin dagegen aus (siehe<br />
oben).<br />
✧ Kantor erklärte den 27. Jänner (Gedenktag zur Be frei -<br />
ung von Auschwitz) auch zum Gedenktag für all jene<br />
Soldaten, die die Konzentrationslager befreit hatten<br />
und dabei getötet wurden. Zahlreiche jüdische Ge -<br />
mein den legten Protest ein, dass dieser Gedenktag,<br />
der nach 60 Jahren Kampf durchgesetzt wurde, nun<br />
„verwässert“ wird.<br />
✧ Kantor schrieb einen Artikel in der „Jerusalem Post“,<br />
wonach all jene Menschen jüdischer Herkunft, die<br />
zumindest einen jüdischen Großvater haben, bei Ent -<br />
schei dungen des Staates Israel ein Mitspracherecht<br />
haben sollten….<br />
✧ Ronald Lauder (Präsident des WJC) schrieb dem is ra -<br />
elischen Premierminister Olmert einen Brief, wo nach<br />
alle Juden der Diaspora ein Mitspracherecht bei Ent -<br />
schei dungen über Jerusalem haben sollten. Dies ge -<br />
schah auch im Namen des EJC. Kantor blieb dazu<br />
stumm, ebenso wie bei vielen anderen für das Juden -<br />
tum wichtigen Ereignissen (Konferenz von Anna po lis,<br />
usw.)<br />
März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 5
AUS DEM BÜRO DES PRÄSIDENTEN<br />
✧ In der Position zum Iran meinen viele jüdische Ge -<br />
mein den Europas, dass der EJC sich auf dieses Pro -<br />
blem konzentrieren sollte. Die Bedrohung des Staates<br />
Israel ist derzeit unser größtes Problem. Kantor<br />
besuchte Putin offiziell inklusive Fototermin. Zwei<br />
Wochen später war Putin im Iran und sagte kein<br />
Wort über die Shoah oder den Staat Israel, sondern<br />
be kräftigte Ahmadinejad in seinen Plänen, Atom -<br />
macht zu werden - und der EJC schwieg.<br />
✧ Unter Präsident Kantor gibt es zahlreiche EJC-Ak ti vi -<br />
tä ten im kulturellen und erzieherischen Bereich. Die<br />
Prioritäten verschieben sich weiter, weg von der politischen<br />
Vertretung in Europa, hin zu einer Organi sa -<br />
tion, die in Konkurrenz zu allen anderen jüdischen<br />
Organisationen in Europa steht.<br />
Außerordentliche Generalversammlung vom 10.2.<strong>2008</strong><br />
Im Jänner <strong>2008</strong> wurde plötzlich eine außerordentliche Ge -<br />
ne ralversammlung einberufen, um die seit drei Jahren von<br />
Kantor blockierten Statuten zu verabschieden. Dabei wur de<br />
weitestgehend die von der IKG Österreich 2006 ausgearbeitete<br />
Version zur Abstimmung vorgelegt, wobei allerdings<br />
neben einer Reihe von juridischen Fehlern ein Absatz hinzugefügt<br />
wurde, wonach die Wahlperiode auf vier Jahre<br />
verlängert und die 2007 gewählte Führung ohne Wahl bis<br />
2011 „<strong>als</strong> gewählt“ bezeichnet wird. Trotz wiederholten<br />
Hin weisen, dass diese Vorgangsweise weder legal noch<br />
ethisch zulässig ist (retroaktive Veränderung der Wahl von<br />
2007) stimmte die Mehrheit nach Vorlage f<strong>als</strong>cher Rechts -<br />
gutachten dafür.<br />
Daraufhin erklärten Frankreich, Österreich und Portugal ihre<br />
Mitgliedschaft im EJC für ausgesetzt. In derselben Woche<br />
folgte auch Deutschland mit einer gleichen Erklärung.<br />
Kommt es zu einer Spaltung des EJC?<br />
Der EJC hat noch wenige Wochen Zeit, um eine Spaltung zu<br />
verhindern, indem eine Mehrheit der jüdischen Ge mein den<br />
Europas festlegen, dass bei der ordentlichen General ver -<br />
sammlung im Juni 2009 die Führung des EJC statutengemäß<br />
neu zu wählen sein wird. Andernfalls wird eine neue Or -<br />
ga nisation entstehen, der Congress der 27 EU-Gemeinden<br />
(EUJC).<br />
Dr. Ariel Muzicant<br />
P.S. Gestatten Sie mir noch folgenden persönlichen Kom -<br />
mentar: Ich war von 1998 bis 2007 in der Exekutive/dem<br />
Präsi di um des EJC und habe ohne Anspruch auf einen<br />
„Posten“ versucht, die Anliegen des europäischen Juden -<br />
tums zu vertreten und die Organisation EJC <strong>als</strong> eine<br />
Lobby in Europa zu etablieren.<br />
Es ist erschreckend und macht mich sehr traurig, Ihnen<br />
berichten zu müssen, dass die persönlichen Interessen und<br />
der Kampf um Positionen im Vordergrund stehen und<br />
dass Methoden eingerissen sind, die mit unseren Auffas -<br />
sun gen von Recht, Moral und Ethik nichts mehr zu tun<br />
haben. Alle Appelle zur Einheit und Zusammenarbeit ha -<br />
ben in einem solchen Klima keinerlei Chance auf Erfolg. Es<br />
ist besser, sich rechtzeitig und offen davon zu distanzieren<br />
und gegebenenfalls dabei die Organisation zu spalten, auch<br />
wenn manche meinen, dies wäre sinnlose Vereins meie rei…<br />
Die europäischen Juden verfügen weder über eine Armee,<br />
noch über große wirtschaftliche Druckmittel. Unsere<br />
stärksten Argumente basieren auf Moral, Ethik und unserem<br />
Kampf dafür. Deshalb müssen unsere Or ga ni sationen<br />
auf einem sauberen Fundament stehen und müs sen unsere<br />
Strukturen über jeden Zweifel erhaben sein.<br />
* Pierre Besnainou: Präsident des „Fonds Social“ in Frankreich, Mitglied des<br />
Board of Governors der Jewish Agency, finanziert seit Jahren viele große Pro -<br />
jekte (Medbridge - der Besuch europäischer Parlamentarier im Nahen Osten;<br />
AMI - einer Aliya-Hilfsorganistion, usw.), 2005-2007 Präsident des EJC.<br />
** Viatcheslav (Moshe) Kantor, Russischer Industrieller, Gründer des Welt-Holo -<br />
caust-Forums, und anderen Shoah-Gedenkorganisationen, Präsident des russi -<br />
schen-jüdischen Kongresses, seit 2007 EJC Präsident.<br />
*** EJC: Besteht aus jüdischen Gemeinden in 42 Ländern Europas und Nord -<br />
afri kas. Einige Gemeinden (Russland, Ukraine, usw.) sind auch Mitglieder des<br />
Eurasischen Jüdischen Kongresses.<br />
ЕВРОПЕЙСКИЙ ЕВРЕЙСКИЙ<br />
КОНГРЕСС (ЕЕК) ПЕРЕД РАСКОЛОМ?<br />
Предыстория<br />
Уже годы (десятилетия) существуют «трудности» в<br />
политическом представительстве европейского<br />
еврейства. Причин этому много: недостаток<br />
компетентных руководящих личностей, инертность<br />
больших общин (Англия, Франция), личные<br />
конфронтации о «позициях» и приоритетах,<br />
недостаток денег, хаос и конфликты во Всемирном<br />
Еврейском Конгрессе (ВЕК) – верхушечной<br />
организации всех еврейских общин. В 2005 году<br />
Пьер Беснану* был избран Президентом ЕЕК и<br />
начал честолюбивую программу реформ: спустя 20<br />
лет дать ЕЕК устав , упорядочить организацию,<br />
корректно зарегистрировать её, координировать<br />
работу с другими еврейскими организациями (ECJC,<br />
Bnei Brith, Европейская конференция раввинов, EUJC<br />
ит.д.) и создать солидный бюджет для ЕЕК, чтобы<br />
действительно добиться осуществления<br />
следующих приоритетных задач:<br />
- Политическое представительство европейского<br />
еврейства в европейских институтах<br />
(Европарламент, Еврокомиссия, Совет Европы, и<br />
т.д.) и перед<br />
европейскими правительствами.<br />
.- Поддержка Израиля особенно в противостоянии с<br />
Ираном и Хамас/Хисболлой.<br />
6 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768
AUS DEM BÜRO DES PRÄSIDENTEN<br />
- Все прочие темы (антисемитизм, христианскоеврейский<br />
диалог, исламско-еврейский диалог, и<br />
т.д.) тоже должны разрабатываться, но настолько,<br />
насколько это позволяют финансовые и временные<br />
ресурсы.<br />
Конфликт<br />
В 2006 году Моше Кантор** вступил в прямую<br />
конфронтацию с Пьером Беснану и руководством<br />
ЕЕК, чиня при этом препятствия любой инициативе<br />
(например, уже полностью готовый устав не мог<br />
быть принят, не был создан фонд ЕЕК, который<br />
должен был принести необходимые денежные<br />
средства, ит.д.). В конце концов дошло до<br />
открытого конфликта, который парализовал работу и<br />
постоянные споры вызвали недовольство многих<br />
общих.<br />
Внеочередное общее собрание ЕЕК в июне 2007<br />
года<br />
На этом общем собрании было проведено<br />
голосование между Беснану и Кантором, которое<br />
прошло в пользу последнего. При этом абсолютно<br />
открыто применялись методы предвыборной<br />
борьбы, которые (для Австрийской Еврейской<br />
Общины) неприемлимы: общинам из Восточной<br />
Европы были предложены различные «суммы»<br />
(на культурную программу, на молодёжные<br />
программы ит.д.), но также и всевозможные<br />
«компенсанции дорожных расходов»<br />
(всё это из личного фонда Кантора).<br />
Представительнице британской «Jewish Board of<br />
Deputies» (B.O.D.) был предложен пост председателя<br />
Board of Governors в ЕЕК - тем самым обеспечив её<br />
присутствие на официальных фотосессиях во<br />
время визитов представителей<br />
правительств.(Ироничное замечание на полях: этот<br />
пост был 10.2.<strong>2008</strong> упразднён за ненадобностью,<br />
одновременно был создан пост «Chairman of the<br />
Council»...).<br />
Одновременно прошли значительные изменения в<br />
приоритетах ЕЕК. Теперь лишь «мероприятия<br />
посвященные Шоа», которые в «голливудской<br />
манере» организует Кантор, являются первым<br />
приоритетом. Австрия в 2007 году была вновь<br />
избрана в президиум (несмотря на серьёзную<br />
оппозицию методам Кантора). Руководство<br />
Венской Еврейской Общины отказалось от этого<br />
поста, по совету Президента, так как не хотело бы<br />
стать частью такого руководства ЕЕК.<br />
Противоречивая политика Моше Кантора в<br />
2007/<strong>2008</strong> годах<br />
С июня 2007 года было большое количество<br />
заявлений и действий ЕЕК (Моше Кантора), которые<br />
вызвали большое недовольство со стороны общин<br />
членов конгресса:<br />
Во время его первого после избрания визита к<br />
Ангеле Меркель, ей преподнесли упаковку мыла (к<br />
ужасу представителей Центрального Совета евреев<br />
в Германии). С тех пор Меркель избегает любых<br />
прямых контактов... .<br />
Кантор попытался провести центральное<br />
мероприятие посвященное «Kristallnacht » в Берлине<br />
в ноябре <strong>2008</strong> года, несмотря на серьёзные<br />
протесты немецких евреев. В конце концов<br />
госпожа Канцлер Германии высказалась против<br />
этой идеи (смотри выше).<br />
Кантор объявил 27 января (день памяти<br />
освобождения Освенцима) также и днём памяти<br />
всех солдат, освобождавших лагеря и убитых при<br />
этом. Многочисленные еврейские общины заявили<br />
свой протест тому, что этот день памяти,<br />
проведения которого добились после 60 лет<br />
борьбы, теперь «разбавляют».<br />
Кантор написал статью в «Jerusalem Post», в которой<br />
он заявляет, что все те люди еврейского<br />
происхождения, у которых хотя бы дед был<br />
евреем, должны иметь право голоса в принятии<br />
решений государства Израиль...<br />
Роланд Лаудер (Президент ВЕК) написал<br />
премьер-министру Израиля Ольмерту письмо о том,<br />
что все евреи диаспоры должны иметь право<br />
голоса при принятии решений относительно<br />
Иерусалима. Это было сделано и от имени ЕЕК.<br />
Кантор промолчал по этому поводу, также как и по<br />
поводу многих других важных для еврейства<br />
событиях (конференция в Аннаполисе ит.д.).<br />
В позиции по отношению к Ирану, многие<br />
еврейские общины Европы считают, что ЕЕК должен<br />
сконцентрировать своё внимание на этой<br />
проблеме. Угроза государству Израиль является в<br />
настоящее время нашей самой большой<br />
проблемой. Кантор был с официальным визитом у<br />
Путина, включая фотосессию. Две недели спустя<br />
Путин был в Иране и не сказал ни слова о Шоа или<br />
государстве Израиль, но поддержал<br />
Ахмадинеджада в его планах создания атомной<br />
державы – ЕЕК промолчал.<br />
При Президенте Канторе ЕЕК проводит<br />
многочисленные мероприятия культурного и<br />
воспитательного характера. Приоритеты и дальше<br />
меняются, всё больше уходя от политического<br />
представительства в Европе, к организации,<br />
которая составляет конкуренцию всем прочим<br />
еврейским организациям Европы.<br />
Внеочередное общее собрание 10.2.<strong>2008</strong> года<br />
В январе <strong>2008</strong> года было вдруг созвано<br />
внеочередное общее собрание, чтобы принять<br />
устав, который уже в течении трёх лет блокируется<br />
Кантором. При этом на голосование была<br />
предложена версия, в значительной мере<br />
разработанная Еврейской Общиной Австрии в 2006<br />
году, хотя при этом наряду с рядом юридических<br />
ошибок, был добавлен абзац, согласно которому<br />
избирательный период продлён до четырёх лет и<br />
избранное в 2007 году руководство будет считаться<br />
избранным до 2011 года без проведения выборов.<br />
Несмотря на неоднократные замечания, что этот<br />
März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 7
AUS DEM BÜRO DES PRÄSIDENTEN<br />
образ действий недопустим, как с юридической<br />
так исэтической точки зрения (ректроактивное<br />
изменение выборов 2007 года), после<br />
предоставления неправильного юридического<br />
экспертного заключения, большинство<br />
проголосовало за. После этого Франция, Австрия и<br />
Португалия объявили о приоставновлении своего<br />
членства в ЕЕК. На той же неделе последовала и<br />
Германия с таким же заявлением.<br />
Наступит ли раскол в ЕЕК?<br />
У ЕЕК есть ещё пару недель времени, чтобы<br />
предотвратить раскол, в случае, если большинство<br />
еврейских общин Европы примут решение о<br />
выборах нового руководства ЕЕК на очередном<br />
общем собрании в июне 2009 года. В противном<br />
случае, возникнет новая организация, Конгресс 27<br />
общин ЕС (ЕСЕК).<br />
Доктор Ариель Музикант<br />
P.S.: Разрешите мне ещё следующий личный<br />
комментарий:<br />
Я был с 1998 по 2007 году в испольнительном<br />
органе/Президиуме ЕЕК и пытался, без претензий<br />
на какие-либо «посты», представлять интересы<br />
европейского еврейства и сделать организацию<br />
ЕЕК своего рода лобби в Европе. Ужасает и очень<br />
печалит меня то, что приходится сообщать Вам, что<br />
личные интересы и борьба за места находятся на<br />
переднем плане и, что используются методы,<br />
которые уже не имеют ничего общего с нашими<br />
представлениями о праве, морали и этике. Наши<br />
призывы к единству и сотрудничеству не имеют ни<br />
малейших шансов на успех в подобном климате.<br />
Лучше своевременно и открыто уйти на дистанцию<br />
от этого и при известных условиях привести при<br />
этом организацию к расколу, даже если некоторые<br />
считают, что это было бы бессмысленно..<br />
Европейские евреи не располагают ни армией, ни<br />
большими экономическими средствами давления.<br />
Наши сильнейшие аргументы основаны на морали,<br />
этике и нашей борьбе за это. Поэтому наши<br />
организации должны стоять на чистом фундаменте<br />
и наши структуры не должны вызывать ни<br />
малейших сомнений.<br />
* Пьер Беснану: Президент «Fonds Social» во Франции, член Board of<br />
Governers в Jewish Agency, уже многие годы финансирует большое<br />
количество крупных проектов (Medbridge – визит европейских<br />
парламентариев на Ближний Восток, АМI - алия –<br />
благотворительная организация, и т.д.), 2005 – 2007 года<br />
Президент ЕЕК<br />
** Вячеслав (Моше) Кантор, русский промышленник, основатель<br />
всемирного форума Холокоста и других организаций памяти<br />
Шоа, Президент русского еврейского Конгресса, с 2007 года –<br />
Президент ЕЕК.<br />
*** ЕЕК состоит из еврейских общин из 42 стран Европы и<br />
Северной Африки. Некоторые общины (Россия, Украина ит.д.)<br />
Neue jüdische Jugendgruppe in <strong>Wien</strong><br />
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Liste der Extraneii in den Kommissionen<br />
Kommission für Kultusangelegenheiten<br />
Elie Natanov, Avi Malaev, Roni Ungar-Klein<br />
Kommission für Kultur- und Öffentlichkeitsarbeit<br />
Hanna Morgenstern, Shalom Alfandari, Ruth Freyer,<br />
Timothy Smolka, Azaria Aronbaew, Judith Scheer,<br />
Barbara Jehudit Michel<br />
Kommission für Finanzen und<br />
Personalangelegenheiten:<br />
Leo Gottfried, Laszlo Zelmanovic, Erwin Steiner, KV<br />
Robert Sperling, KV Josef Guttmann, KV Bernhard Bauer,<br />
Rafael Gilkarov, Avihay Shamuilov, Josef Slomovits<br />
Kommission für soziale Angelegenheiten:<br />
Hanna Morgenstern, Karl Vybiral, Slavik Jakubov,<br />
Ahron Samandarov<br />
Kommission für Bildungswesen<br />
Daniel Rubinov, Susan Rotter<br />
Kommission für Immobilienangelegenheiten,<br />
Gebäudeverwaltung und Technik<br />
Peter Maier<br />
Kommission für Jugend und Sport<br />
Nicole Kürzer, 7 Vertreter (wechselnd) von 5 Jugendor ga -<br />
nisationen + 2 Sportorganisationen<br />
Redaktionskommission für die Medien der<br />
<strong>Kultusgemeinde</strong><br />
Olivia Dirnberger-Pixner, Rafael Schwarz<br />
Kommission für Frauen und Familie<br />
Irma Pani<br />
8 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768
DOSSIER • MÄRZ 1938<br />
1938<br />
Finis Austriae. <strong>Wien</strong> im Frühjahr 38 und die Folgen<br />
Von L. Joseph Heid<br />
Österreichs Umgang mit der NS-Vergangenheit<br />
Chronologie 1938<br />
Skandale und tabuisierte Vergangenheit<br />
Literatur zum „Anschluss“<br />
DOSSIER • MÄRZ 1938<br />
März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 9
DOSSIER • MÄRZ 1938<br />
Finis Austriae. <strong>Wien</strong> im Frühjahr 38 und die Folgen<br />
Im März des Jahres 1938 vollzog<br />
Hitler die großdeutsche Lösung, von<br />
der viele Nationalisten im deutschen<br />
Kultur- und Sprachraum seit den Bis -<br />
marck-Tagen geträumt hatten. Hitler<br />
holte am 15. März 1938 im Hand streich<br />
seine alte Heimat, wie er es vor den<br />
hun derttausenden enthusiasmierten<br />
<strong>Wien</strong>ern und vor der Weltgeschichte<br />
offiziell und großspurig verkündete,<br />
Heim ins Reich. Das Großdeutsche<br />
Reich nahm von der Donaumetropole<br />
seinen unseligen Aus gang, und keine<br />
Gewehrkugel musste dafür ihren Lauf<br />
verlassen. Es waren die „dröhnenden<br />
Akkorde ei nes nationalen Gebets“,<br />
wie Joseph Goeb bels, der hinkende<br />
Pro pagan da mi nis ter, in seiner ge -<br />
wohnt blu migen Agitations sprache<br />
meinte, <strong>als</strong> er den Einzug des Österreichers<br />
Adolf Hitler in die österreichische<br />
Hauptstadt <strong>Wien</strong> für den großdeutschen<br />
Rund funk kom mentierte:<br />
„So ist aus den un end li chen Qualen des<br />
deutschen Volkes in Ös terreich am Ende<br />
doch die Erlösung ge kom men“. Und der<br />
„Er lö sung“ sollte die „Endlösung“<br />
auf dem Fuße folgen, zunächst verbal,<br />
doch bald schon final.<br />
Schreckensherrschaft<br />
Während sich in den stürmischen<br />
März tagen des Jahres 1938 in Österreich<br />
die politischen Ereignisse überschlugen,<br />
lag der große Sohn der Stadt<br />
<strong>Wien</strong>, Sigmund Freud, der Begründer<br />
der Psychoanalyse, auf der Couch in<br />
seiner Praxis in der Berggasse 19, dort<br />
wo sonst seine Patienten sich Linde -<br />
rung von ihren Seelenqualen erhofften,<br />
um sich wieder einmal von einer Ra -<br />
chen-Operation zu erholen. Schon des<br />
öfteren war er des Gaumenkrebses<br />
we gen im Mund operiert und wieder<br />
REDE DES REICHSMINISTERS,<br />
JOSEPH GOEBBELS, IN DER<br />
NORDWESTBAHNHALLE IN WIEN<br />
<strong>Wien</strong>er Neueste Nachrichten,<br />
Abendausgabe, 30. 3. 1938<br />
„Ich komme jetzt auf das Juden pro -<br />
blem. (Stürmischer Beifall.)<br />
Wenn man heute die Auslandspresse<br />
liest, so kommt man zu dem Ein druck,<br />
<strong>als</strong> ob sich in <strong>Wien</strong> täglich ein paar<br />
tausend Juden erhängen, er schießen<br />
oder vergiften. Es ist gar nicht an dem.<br />
Es sind in <strong>Wien</strong> augenblicklich nicht<br />
mehr Selbstmorde zu verzeichnen <strong>als</strong><br />
früher, nur mit dem Unterschied: Frü -<br />
her haben sich nur Deutsche er schossen,<br />
und jetzt sind auch Juden darunter.<br />
Daß wir die Juden aus der Presse<br />
und dem Thea ter entfernen, das versteht<br />
sich am Rande.“ DÖW Bibliothek 17.171<br />
einmal war ihm „unentwegt“ Ra di -<br />
um „ins Maul“ gegeben worden, wie<br />
er voller Sarkasmus kommentierte.<br />
Am 12. März 1938 hörte Freud im<br />
Ra dio, wie die deutsche Wehrmacht<br />
in Österreich einmarschierte. Er hörte<br />
tapfere Widerstandserklärungen, auf<br />
die der Zusammenbruch folgte, den<br />
Jubel auf der einen Seite und dann<br />
auf der anderen. Da er, der Analyst, im<br />
Sprechen behindert war, griff er ge -<br />
zwungenermaßen zur Feder. Am 13.<br />
März 1938 notierte Freud in der „Kür -<br />
zesten Chronik“, wie er sein Ta ge buch<br />
nannte: „Anschluss an Deutsch land“.<br />
Und einen Tag später der Ein trag:<br />
„Hit ler in <strong>Wien</strong>“. Und eine Wo che später<br />
dann: „Anna bei Gestapo“.<br />
Die Schreckensherrschaft begann,<br />
ei ne widerliche Mischung aus ge planten<br />
„Säuberungen“ der Deut schen<br />
und den spontanen lokalen Aus brü -<br />
chen grausamer Vergnügun gen –<br />
Terror gegen Sozialdemokraten, vor<br />
allem gegen Juden. Freud hatte seine<br />
Landsleute unterschätzt: Ende 1937<br />
hatte er die Österreicher noch <strong>als</strong> nicht<br />
weniger brutal <strong>als</strong> die Deutschen charakterisiert.<br />
Tatsächlich zeigten sie sich<br />
williger <strong>als</strong> ihre Nazivorbilder bei der<br />
Misshandlung von Hilflosen.<br />
Was in Österreich im März 1938 ge -<br />
schah, war zum großen Teil ein Aus -<br />
bruch des Pöbels, der sich an jüdischem<br />
Eigentum bereichern wollte. In<br />
diesem unerhörten Raubzug wurden<br />
tausende Wohnungen, Geschäfte, Be -<br />
triebe und andere Unterneh mun gen,<br />
die Juden gehörten, „arisiert“. Es kam<br />
in <strong>Wien</strong>, wo zu diesem Zeitpunkt et -<br />
wa 175.000 Juden lebten, zu wüsteren<br />
antisemitischen Ausschreitungen, <strong>als</strong><br />
es sie bis dahin in Nazideutschland<br />
selbst nicht gegeben hatte. Die Zwi -<br />
schen fälle auf den Straßen österreichischer<br />
Städte und Dörfer unmittelbar<br />
nach der deutschen Invasion waren<br />
ab scheulicher <strong>als</strong> alle, die man bis<br />
dahin in Hitlers Reich erlebt hatte.<br />
Österreich im März 1938, das war so -<br />
zu sagen eine Generalprobe für die<br />
deutschen Pogrome im kommenden<br />
November. Der Dramatiker Carl Zuckmayer,<br />
der in diesen Tagen zu fällig in<br />
<strong>Wien</strong> war, beschreibt seine Eindrücke<br />
so: „Die Unterwelt hatte ihre Pforten<br />
aufgetan und ihre niedrigsten, scheußlichsten,<br />
unreinsten Geister losgelassen.<br />
Die Stadt verwandelte sich in ein Alp -<br />
traumg emälde des Hieronymus Bosch. ...<br />
Die Luft war von einem unablässig gellenden,<br />
wüsten, hysterischen Gekreische<br />
erfüllt, aus Männer- und Weiber keh len...“<br />
<strong>Wien</strong>er Pöbelspaß<br />
Treffender konnte man die <strong>Wien</strong>er<br />
Luft in dieser Zeit nicht charakterisieren.<br />
Einen dieser Exzesse erlebte der<br />
später international bekannt gewordene<br />
aus <strong>Wien</strong> stammende Historiker<br />
und Jakobiner-Forscher Walter Grab,<br />
der freilich zu diesem Zeitpunkt seine<br />
akademische Karriere noch vor sich<br />
und gerade an der Universität <strong>Wien</strong><br />
sein Studium aufgenommen hatte.<br />
10 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768
DOSSIER • MÄRZ 1938<br />
Auch wenn seine Schilderung, die er<br />
in seinen Erinnerungen (Walter Grab:<br />
Meine vier Leben. Gedächtnis künst -<br />
ler, Emigrant, Jakobinerforscher, De -<br />
mo krat, Köln 1999) ebenso plastisch<br />
wie drastisch festgehalten hat, an un -<br />
an genehmer Derbheit kaum zu überbieten<br />
ist, verdeutlicht sie doch den<br />
alltäglichen aus den Fugen geratenen<br />
Judenhass, der auf den <strong>Wien</strong>er Straßen<br />
des Jahres 1938 zum Ausdruck kam:<br />
Am Nachmittag des 25. April 1938<br />
ist Grab auf dem Weg nach Hause. In<br />
der Nähe seiner Wohnung befindet<br />
sich im Keller des Hauses Liechten -<br />
stein straße 20 ein jüdisches Turn heim.<br />
Als er in die Nähe des Hauses kommt,<br />
wird er von Nazis aufgehalten, die<br />
ihn fragen, ob er Jude sei, und ihn<br />
dann in den Keller stoßen. In dem Vor -<br />
raum des Turnsa<strong>als</strong> erblickt er et wa<br />
25 Juden, die die Nazis vor ihm zu -<br />
sam mengefangen haben und die sich<br />
in einer Ecke zusammendrängen. Der<br />
große Turnsaal, und auch dieser Vor -<br />
raum, ist – mit Verlaub, man glaubt es<br />
kaum – vollständig angeschissen.<br />
Boden und Wände sind mit Kot völlig<br />
bedeckt, es stinkt bestialisch. Ein ganzes<br />
Regiment SA oder irgendwelche<br />
anderen Nazis müssen dort ihre Not -<br />
durft verrichtet haben, und zwar kurz<br />
bevor man die Juden dort zu sam -<br />
mengepfercht hat. Außer den Juden<br />
stehen noch 15 oder 20 Nazis in den<br />
Umkleideräumen. Weitere Juden wer -<br />
den nach und nach in die Keller räu me<br />
gestoßen.<br />
Für die Nazis ist das ein Riesenspaß,<br />
weil sie jetzt an den hilflosen Juden<br />
ihr Mütchen kühlen können. Sie la -<br />
chen die verängstigten Juden aus und<br />
verspotten sie. Schließlich tritt einer<br />
vor und sagt: „So verdreckt habt ihr<br />
Ju den uns euer Turnheim überlassen. Da<br />
sieht man wieder, wie dreckig Juden sind.<br />
Und jetzt müsst ihr das auflecken“.<br />
Das barbarische Verhalten der Na zis<br />
erweist sich zunächst <strong>als</strong> ein makab -<br />
rer Jux. Sie dachten sich das aus, um<br />
die Juden zu demütigen und zu er -<br />
niedrigen. Das ist keine befohlene<br />
Ak tion wie der Judenpogrom vom 9.<br />
November, nein, das ist echter <strong>Wien</strong>er<br />
Pöbelspaß. Grab und seine zufällige<br />
Bekanntschaft mit anderen <strong>Wien</strong>er<br />
Ju den sind der Willkür dieser Nazis<br />
überlassen und ihm geht durch den<br />
Kopf: Wie kann man diesen Nazikot<br />
auflecken?<br />
Und dann ruft einer: „Also los, an die<br />
Arbeit!“ Einige Juden versuchen, den<br />
Kot mit den Händen zusammenzuscharren<br />
und in die Muscheln des Klosetts<br />
hinzuwerfen, aber das er weist<br />
sich <strong>als</strong> unmöglich. Schließlich bringt<br />
ein Nazi eine Schaufel, einen Besen,<br />
einen Eimer und einige Lappen. Grab<br />
hat rasende Angst, in diesem Keller<br />
von dem Nazipöbel erschlagen zu<br />
wer den, nimmt einen Lappen in die<br />
Hand und versucht, sich hinter den<br />
an deren Juden zu verkriechen. Das<br />
gan ze schaurige Spektakel dauert et -<br />
wa zwanzig Minuten.<br />
Während Grab dort hockt und sich<br />
bückt, um sich in seiner Angst so un -<br />
scheinbar wie möglich zu machen, er -<br />
hebt er die Augen, und sein Blick trifft<br />
genau den Blick eines dieser lachenden<br />
Nazis, die mit ihren braunen Hemden<br />
und Hakenkreuzbinden herumstehen.<br />
Und den erkennt er sofort! Es ist ein<br />
Klassenkamerad aus der Volksschule,<br />
dieser Nazi ist ein Junge, mit dem er<br />
die vier Jahre der Grundschule in dieselbe<br />
Klasse gegangen war.<br />
Dieser ehemalige Klassenkamerad er -<br />
kennt Grab im selben Augenblick, <strong>als</strong><br />
ihm klar wird, wen er vor sich hat.<br />
Dieses Erkennen ist ihm unangenehm<br />
und peinlich. Grab spürt, dass er nicht<br />
ihn, <strong>als</strong>o den Juden Grab, den er<br />
kennt, erniedrigen und verhöhnen<br />
will, sondern den anonymen jüdischen<br />
Popanz des nazistischen Ras -<br />
sen wahns. Der Jude ganz allgemein<br />
ist das „Ungeziefer“, das man zertreten,<br />
vernichten muss, aber den Schul -<br />
kameraden Walter Grab, den kennt er<br />
<strong>als</strong> Mitmenschen, den hat er nicht<br />
gemeint. Dies begreift Grab in der<br />
Sekundenschnelle, <strong>als</strong> beide Blicke<br />
sich treffen. Da erhebt er sich, wirft<br />
den Lappen weg, geht auf den Peini -<br />
ger zu und sagt in seinem breitesten<br />
<strong>Wien</strong>erisch: „Geh, hörst, Lichteneg ger,<br />
du kennst mi doch, lass mi raus da!“ Der<br />
Angesprochene schlägt die Au gen nieder,<br />
reißt von einer Zeitung, die herumliegt,<br />
um den Kot einzuwickeln,<br />
ein Stück vom Rand weg und schreibt<br />
darauf: „Der Jude kann raus“.<br />
Grab eilt nach Hause und hat nur<br />
noch einen Gedanken, dieses antisemitisch<br />
aufgeladene Österreich zu<br />
ver lassen und sich um die Auswan de -<br />
rungspapiere für Palästina zu kümmern.<br />
Die Nazis haben ein eigenes „Wande<br />
rungsamt“ in der Wehrgasse im<br />
fünften Bezirk errichtet, wo die jüdischen<br />
Auswanderer die Bewilligung<br />
zur Ausreise in den Pass eingestempelt<br />
erhalten. Als Grab zum ersten Mal<br />
gegen zehn Uhr morgens hinkommt,<br />
stehen dort etwa tausend Ju den und<br />
er erfährt, dass am Tage zuvor die<br />
Nazis mit Lastwagen vorge fahren<br />
waren und die Juden, die auf Einlass<br />
warteten, aufgeladen hätten. Einige<br />
behaupten, dass sie in Nazi hei men<br />
verprügelt und dann freigelassen<br />
worden seien, während andere meinen,<br />
sie wären gleich nach Da chau<br />
gebracht worden.<br />
Grab bekommt zwar den für die Aus -<br />
reise nötigen Hakenkreuz stem pel,<br />
muss aber einen vorgedruckten Schein<br />
unterschreiben und sich ehren wört lich<br />
verpflichten, niem<strong>als</strong> mehr den Bo den<br />
des Deutschen Reiches zu betreten.<br />
Es besteht eine starke Ironie da rin,<br />
dass das Ehrenwort eines 19-jähri gen<br />
noch nicht majorennen Jungen den<br />
Nazibehörden mehr galt <strong>als</strong> die mit<br />
dem Hakenkreuz geschmückte Aus -<br />
reisebewilligung.<br />
März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 11
DOSSIER • MÄRZ 1938<br />
Psychologische Nüch ternheit<br />
Mit dem Schriftsteller Arnold Zweig<br />
pflegte Sigmund Freud seit dem Jahre<br />
1927 einen intensiven Briefwechsel,<br />
aus dem eine tiefe Freundschaft wur -<br />
de. Zwölf Jahre tauschten diese Män -<br />
ner ihre Gedanken über Themen aus,<br />
die für jene dramatische Epoche signifikant<br />
waren: zeitgenössische Li te ra tur,<br />
die sogenannte Judenfrage, ihre Re aktionen<br />
und Unruhe angesichts der Be -<br />
drohung durch den Fa schis mus, das<br />
Leben im Exil. Es war ein Werk statt -<br />
gespräch zwischen ei nem universell<br />
gebildeten Schriftsteller, den die So -<br />
zial psychologie faszinierte und ei -<br />
nem Gelehrten, der, ausgestattet mit<br />
einem Stil makelloser Rein heit, große<br />
deutsche Prosa schrieb. Eine Korres -<br />
pon denz, die es in sich hat.<br />
Obwohl immer noch unter heftigen<br />
Schmerzen leidend, die er mit er staunlichem<br />
Stoizismus ertrug, nahm Freud<br />
seine Arbeit wieder auf und es traten<br />
jene Ereignisse ein, wie er Zweig am<br />
21. März 1938 mitteilte, die, „Welt ge -<br />
schichte im Wasserglas“, sein Leben<br />
verändern. „Ich konnte beim Radio lauschen<br />
der Kampfansage wie dem Ver zicht,<br />
dem einen Jubel und dann dem Gegen -<br />
jubel.“ Der deutschen Wehrmacht<br />
Einmarsch in Österreich liest sich bei<br />
Freud dann in psychologischer Nüch -<br />
ternheit so: „Im Laufe dieser ‚eventful<br />
week’ haben mich die letzten meiner we -<br />
ni gen Patienten verlassen“.<br />
Freud wusste um die Gefahr, die<br />
vom Nation<strong>als</strong>ozialismus ausging. Er<br />
hatte die Entwicklung in Deutschland<br />
aus der österreichischen Perspektive<br />
genau beobachtet und deswegen auch<br />
seinem Freund Zweig zur Emigration<br />
nach Palästina geraten, <strong>als</strong> die beiden<br />
sich über die politische Lage ausgesprochen<br />
und am 13. Mai 1933 in <strong>Wien</strong><br />
voneinander verabschiedet hatten.<br />
Freud war es, der Zweig von der „Toll -<br />
heit“ zurück hielt, nach Berlin zurück<br />
und damit in den Tod zu gehen.<br />
Zweig emigrierte Ende 1933 nach Pal -<br />
äs tina, nach Haifa.<br />
Unfreiwilliger Abschied<br />
Finis Austriae: Als Hitler, der des po ti -<br />
sche Feldherr, aus Braunau am Inn ge -<br />
bürtig, am 15. März 1938 den Wie ner<br />
Heldenplatz betrat, Freuds Toch ter<br />
Anna von der Gestapo verhört und in<br />
Wohnung und Praxis des Hauses in<br />
der Berggasse eine Hausdurch su -<br />
chung durchgeführt wurde, war für<br />
Freud der Zeitpunkt gekommen, „das<br />
Gefängnis“ <strong>Wien</strong> zu verlassen, um in<br />
Freiheit zu sterben. Gerettet auch sei ne<br />
Hauptsachen: die Bibliothek, die<br />
Samm lungen, das Archiv. Der 82-jähri<br />
ge Freud zog Bilanz: „Ich vergleiche<br />
mich manchmal mit dem alten Jakob, den<br />
seine Kinder auch im hohen Alter nach<br />
Ägypten mitgenommen haben. ... Hof -<br />
fentlich folgt nicht darauf wie dereinst<br />
ein Auszug aus Ägypten“. Und schließlich:<br />
„Es ist Zeit“, so Freud in bib li scher<br />
Metaphorik, „dass Ahasver irgend wo<br />
zur Ruhe kommt“.<br />
20 Maresfield Gardens N.W. 3 im<br />
Lon doner Stadtteil Hampstead wur de<br />
des Menschenforschers Freud letztes<br />
Domizil, wo er in freier Luft und im -<br />
stan de war, wie er seinen Schrift stel -<br />
ler freund Arnold Zweig in dessen<br />
Haifaer Exil tröstete, wieder aus dem<br />
Fenster zu blicken, ohne die „Rotten<br />
des menschlichen Abfalls“ zu sehen.<br />
Nicht einmal eine Intervention des<br />
„Kulturhelden“ Mussolini - dem Freud<br />
im Jahre 1933 ein Widmungs exem plar<br />
von „Warum Krieg?“, wie er einen<br />
Briefwechsel mit Einstein tituliert und<br />
dem Duce zum Geschenk ge macht<br />
hatte –den 82-jährigen Greis doch in<br />
seiner Wohnung in der Berg gasse 19<br />
im neunten <strong>Wien</strong>er Bezirk zu belassen<br />
und ihn nicht davon zu jagen, vermochte<br />
den obsessiven Amts kol le gen<br />
in Berlin umzustimmen.<br />
Zweig war erleichtert, <strong>als</strong> er von<br />
Freuds Abreise aus <strong>Wien</strong> erfuhr. Er<br />
tröstete seinen väterlichen Freund mit<br />
den ihm eigenen Worten: „Und obwohl<br />
mein Unglaube an das gute Ablaufen der<br />
Dinge noch nicht ganz behoben ist, will<br />
ich doch denken, nach all dem Fürchter li -<br />
chen werde jetzt endlich diese kleine<br />
Schick s<strong>als</strong>gnade klappen. Und so: beide<br />
Hände und aus heißem Herzen die alte<br />
dumme Formel: Gottseidank!“<br />
Zweig richtete sogleich den Blick<br />
auf die Zukunft und glaubte dem<br />
See lenarzt Freud mit biblischer An -<br />
spielung psychologischen Rat geben<br />
zu können: „Aber was auch verloren sei,<br />
was auch neu aufgebaut werden müsse:<br />
Sie sind draußen und sehn auf die rauchen<br />
den Trümmer zurück wie die Ent -<br />
flohenen von Sodom ...“ Für die Nazis,<br />
die in <strong>Wien</strong> eingefallen waren, hatte<br />
Zweig nur ein obszönes „Schurken -<br />
pest“ übrig, nicht ohne die Österreicher<br />
anzuklagen: „Welch ein Jammer<br />
und was für Tragödien! Und dass Ihr alle<br />
so lange, Schuschnigg-gläubig in einer<br />
Stadt sitzen bliebt, bis der Müll Euch wie<br />
eine Lawine zudeckte!“ Das war deutlich.<br />
London war ihm nicht <strong>Wien</strong>. Seine<br />
erste Bilanz fiel eher nüchtern aus.<br />
Freud schrieb Ende Juni 1938: „Es geht<br />
uns sehr gut, ginge uns sehr gut, wenn<br />
nicht die angreifenden Nachrichten aus<br />
<strong>Wien</strong>, die unausgesetzten Anforde run gen<br />
zu helfen, durch die man nur immer an<br />
die eigene Ohnmacht gemahnt wird, jedes<br />
Gefühl von Behagen ersticken würden. Es<br />
ist kein Stoff für einen kurzen Brief“.<br />
Kann jemand seine Trauer, sein Un be -<br />
hagen mit so wenigen Worten besser<br />
ausdrücken?<br />
Am 11. Mai 1939 wurde Arnold<br />
Zweig von Eleanor Roosevelt ins<br />
Weiße Haus eingeladen. Auf dem<br />
Rück weg nach Haifa nahm er einen<br />
Um weg über London, um seinen „Vater<br />
Freud“ ein letztes Mal zu se hen.<br />
Freud überreichte seinem Zieh sohn<br />
ein druckfrisches Exemplar der religionsphilosophischen<br />
Abhand lung<br />
„Der Mann Moses und die monotheistische<br />
Religion“, an deren Entste -<br />
hung und Fortkommen Zweig nicht<br />
ganz un beteiligt gewesen war. Das<br />
Buch trug eine fast zärtliche Wid -<br />
mung: „Sei nem lieben Meister<br />
Arnold 1939 Sigmund Freud“.<br />
12 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768
DOSSIER • MÄRZ 1938<br />
Beim Abschied in London legte<br />
Zweig Freud die Frage vor, wie er nach<br />
allem den Menschen nun einschätze,<br />
ob er ihn für mehr dumm halte oder<br />
für mehr schlecht. „Mehr schlecht“, antwortete<br />
der sterbenskran ke Greis, den<br />
der nagende Schmerz in seinem Kie -<br />
ferknochen lakonischer gemacht<br />
hatte, <strong>als</strong> er von Natur war.<br />
Sigismund Schlomo Freud, so der<br />
vollständige Name, starb am 23. Sep -<br />
tem ber 1939, drei Wochen nachdem<br />
das nation<strong>als</strong>ozialistische Deutsch land<br />
einen weiteren Weltkrieg entfesselt<br />
hatte. Auf die Frage, ob er glaube, dass<br />
dies der letzte Krieg der Menschheit<br />
sein werde, hatte Freud nur ein mü -<br />
des „mein letzter“, übrig. Ansonsten<br />
ließ er zu dem gegenwärtigen Krieg<br />
kein Wort mehr vernehmen, er hatte<br />
alles bereits 1932 im Gespräch mit Al -<br />
bert Einstein gesagt und das Uner klärliche<br />
damit erklärt, dass keinerlei ab -<br />
schreckende Wirkung vom Krieg aus -<br />
gehe, eher eine ansteckende. Zweigs<br />
letzter schriftlicher Briefwunsch vom<br />
9. September 1939 an Freud galt dem<br />
Sturz „unserer“ Feinde - den „Hun -<br />
nen“ und den „Hitleriern“.<br />
Fokus <strong>Wien</strong><br />
Warum <strong>Wien</strong>? Gerade <strong>Wien</strong>! Des we -<br />
gen <strong>Wien</strong>, weil hier Adolf Eich mann<br />
das „Sonderkommando des SD-Re fe -<br />
ra tes II-112“ entwickelte. Diese Ein -<br />
richtung diente <strong>als</strong> „Vorzeigemodell“<br />
nation<strong>als</strong>ozialistischer „Juden poli tik“,<br />
das den euphemistischen Namen<br />
„Zen tr<strong>als</strong>telle für die jüdische Auswan -<br />
de rung“ trug. Das war jene Behörde,<br />
mit der sich erst die Massenvertrei -<br />
bung und danach die Deportation in<br />
die Vernichtungslager organisieren<br />
ließ. Indem die jüdischen Organisa -<br />
tio nen des „heim ins Reich geholten“<br />
Ös terreich den neuen Machthabern<br />
vollkommen, will sagen: ohnmächtig,<br />
ausgeliefert waren und die jüdische<br />
Ad ministration gänzlich umstrukturiert<br />
werden musste, kann die <strong>Wien</strong>er<br />
<strong>Israelitische</strong> <strong>Kultusgemeinde</strong> unter<br />
nation<strong>als</strong>ozialistischer Herrschaft <strong>als</strong><br />
Prototyp der späteren Judenräte be -<br />
zeich net werden. Aber es ist f<strong>als</strong>ch,<br />
sie <strong>als</strong> jüdische Führung zu betrachten,<br />
weil sie über keine eigenständige<br />
Macht verfügte.<br />
Der fokussierte Blick auf <strong>Wien</strong> auch<br />
deshalb, weil gerade in der Donau metropole,<br />
wie kaum irgendwo sonst,<br />
die Verbrechen an Juden <strong>als</strong> gesell -<br />
schaft li ches Ereignis, dessen Fort -<br />
schrit te in den Zeitungen jubelnd vermeldet,<br />
des sen Erfolge in öffentlichen<br />
Raub zü gen, Verächtlichma chung und<br />
De mü ti gungen in Prügelorgien, in<br />
Po gro men, wie etwa im November<br />
1938, mit Mor den, Brandlegungen und<br />
Ver ge wal ti gun gen gefeiert wurden.<br />
Auch waren die <strong>Wien</strong>er Juden nicht<br />
Opfer einer von außen kommen den<br />
Po litik: Jene Aus schreitun gen und<br />
Raub züge, die bisher in Deutschland<br />
(noch) un vorstellbar waren und nunmehr<br />
das ganz besondere Ambiente<br />
des nazis ti schen <strong>Wien</strong>s ausmachten,<br />
setzten nicht erst mit dem Einmarsch<br />
der Deut schen ein – es war bereits<br />
vorhanden.<br />
Der im vorauseilenden Gehorsam<br />
an den Tag gelegte Arbeitseifer, die<br />
Schnel ligkeit und Pedanterie, mit de -<br />
Razzia in der Seitenstettengasse<br />
„Da war a Jud im Gemeindebau, a<br />
gewisser Tennenbaum, sonst a netter<br />
Mensch..., da ham's g'schrieben<br />
g'habt auf de Trottoir... und der Ten -<br />
nenbaum hat des aufwischen müs -<br />
sen...net er allan, de andern Juden<br />
eh aa. Hab i ihm hing'führt, daß er's<br />
aufwischt, und der Haus master hat<br />
zuagschaut und hat g'lacht, er war<br />
immer bei aner Hetz dabei."<br />
Helmut Qualtinger, Carl Merz, Der Herr Karl<br />
nen im <strong>Wien</strong> des Jahres 1938 antijüdische<br />
Maßnahmen, Erlasse und Geset ze<br />
beschlossen und durchgeführt wurden,<br />
führt die sprichwörtliche Schlampigkeit<br />
oder Langsamkeit der <strong>Wien</strong>er<br />
Bürokratie geradezu ad ab sur dum.<br />
Und das ist ein erstes bemerkenswertes<br />
Ergebnis der Untersuchung, mit<br />
der Doron Rabinovici den Weg zum<br />
Judenrat, den er am Beispiel <strong>Wien</strong> aufzeigt,<br />
beschrieben hat. (Doron Rabi -<br />
no vici: Instanzen der Ohnmacht. <strong>Wien</strong><br />
1938-1945. Der Weg zum Judenrat. Jü -<br />
discher Verlag im Suhrkamp Verlag,<br />
Frankfurt am Main 2000). Nicht dass<br />
Opfer zu Tätern werden können, sondern<br />
dass Opfer nach 1945 strenger<br />
<strong>als</strong> ihre Täter verurteilt wurden und<br />
so weiterhin Opfer blieben, ist der ei -<br />
gentliche Skandal, den Rabinovici<br />
dargestellt – und aufgedeckt – hat.<br />
Das diabolische Täuschungs ma nö -<br />
ver der Nazi-Technokraten zielte ja<br />
gerade darauf ab, dass nicht die SS<br />
oder Gestapo, sondern die jüdischen<br />
Funktionäre die diskriminierenden<br />
Ge setze verkünden und vollziehen<br />
sollten, um letztlich die Vernichtung<br />
reibungsloser zu ermöglichen. Damit<br />
wurde die jüdische Gemeinde ge -<br />
zwun genermaßen zum Werkzeug der<br />
Nazis, zum „Agenten der eigenen Ver -<br />
nichtung“, wie es Dan Diner einmal<br />
ausgedrückt hat, indes, anders formuliert,<br />
die gedrungenen jüdischen<br />
Ju denräte war nichts anderes <strong>als</strong> Gei -<br />
seln der Nazis.<br />
Legalisierter Raubzug<br />
Die moralischen Uhren in Österreich<br />
ticken anders: Es bedurfte erhebli chen<br />
internationalen Drucks, dass sich die<br />
Alpenrepublik nunmehr endlich zu<br />
ent schließen scheint, Wieder gut ma -<br />
chungsansprüche nation<strong>als</strong>ozialistischen<br />
Unrechts zu befriedigen. Scheint,<br />
wohlgemerkt, oder scheinbar. Das gilt<br />
namentlich für die Enteignung der<br />
Ju den in <strong>Wien</strong> durch die Bevölkerung<br />
März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 13
DOSSIER • MÄRZ 1938<br />
und die behauptete Restitution, die in<br />
ein öffentliches Interesse gerückt ist.<br />
Doch zur Rückgabe geraubter Kunst -<br />
ge genstände braucht die Republik<br />
mit einem Mal gar ein Ermächti gungs -<br />
gesetz: Rechtsanspruch erwächst den<br />
Geschädigten daraus freilich nicht,<br />
doch darf das zuständige Ministe ri um<br />
nun hochoffiziell entscheiden, ob es<br />
die einst gestohlenen Objekte zurück -<br />
ge ben will oder nicht. Tina Walzer und<br />
Stephan Templ haben sich in ihrer<br />
Un tersuchung „Unser <strong>Wien</strong>. ‚Arisie -<br />
rung’ auf österreichisch“ (Auf bau-<br />
Verlag, Berlin 2001) mit diesem sensiblen<br />
Thema beschäftigt. „Ari sie rung“<br />
und „Wiedergutma chung“ auf „öster -<br />
reichisch“, so scheint es, sind zwei<br />
Seiten einer Medaille.<br />
Unmittelbar nach der „Heim ho lung“<br />
ins „Großdeutsche Reich“ im März<br />
1938 begann ein einzigartiger „legalisierter“<br />
Raubzug der Nazis gegen die<br />
gesamte jüdische Bevöl ke rung, der<br />
anfangs ein solch anarchis tisches Aus -<br />
maß annahm, dass selbst die Nazis in<br />
das Chaos eingreifen muss ten. Unter<br />
einem erfundenen Sys tem der Pseu -<br />
do rechtmäßigkeit klangen moralisch<br />
schlechte Hand lun gen auf einmal gut:<br />
Allein in <strong>Wien</strong> wurden 70.000 Woh -<br />
nun gen, unzählige Betriebe und Ge -<br />
schäfte „arisiert“. <strong>Wien</strong>s Ikonen – das<br />
Erbe von Johann Strauss, Staatsoper<br />
und Kronen-Zei tung, Wagner-Villen<br />
und Wurstlpra ter, Ringstraßenpalais<br />
und Ottakringer bier, all das und noch<br />
viel mehr, wurden 1938/39 „anständig<br />
enteignet“ und bis heute oft nicht<br />
zurückgegeben. In den sarkastischen<br />
Worten Tina Wal zers und Stephan<br />
Templs liest sich das so: „Ob Prater bu -<br />
de, Promenadencafé oder Rie senrad – die<br />
jüdischen Besitzer wurden ermordet, das<br />
ANONYME ANZEIGE AN DEN GAULEITER<br />
JOSEF BÜRCKEL, O. D. (ENDE APRIL 1938)<br />
AVA, Bürckel-Akten, 2025 DÖW 9424<br />
/.../ Ist Ihnen bekannt, daß Juden in<br />
den Keller gesperrt, mit dem Er -<br />
schießen bedroht wurden, so daß sie<br />
dann noch froh waren, daß man<br />
ihnen le diglich den Kopf mit ... Teer<br />
einschmierte, dann das halbe Kopf -<br />
haar und die Augenbrauen herausschnitt,<br />
und der betreffende Jude mit<br />
dem Bemerken freigelassen wurde, er<br />
mö ge sich wohl hüten, irgend jemandem<br />
etwas davon zu erzählen, da es<br />
ihm sonst noch viel schlechter ergehen<br />
würde?/.../ Ist es Ihnen bekannt,<br />
daß am Samstag, den 23. April -<br />
nachdem die Juden bei den jüdischen<br />
Geschäften die Tafeln "Arier, kauft<br />
nicht bei Juden" zu halten gezwungen<br />
worden waren - /sie/ wie eine Horde<br />
zusammengetrieben wurden, ein Zug<br />
formiert wurde, wobei die Juden<br />
unter unbeschreiblichem Gejohle der<br />
immer größer werdenden Menge turnen<br />
etc. mußten, be spuckt und mit<br />
brennenden Zigaret ten verletzt wurden,<br />
daß die Anführer schließlich<br />
selbst erklärten, daß sie es momentan<br />
gar nicht wagen, die Ju den der Menge<br />
auszuliefern und sie deshalb länger <strong>als</strong><br />
beabsichtigt herumführen müssen -<br />
in den Straßen des II. Bezirkes -, und<br />
daß zum Schluß die Juden gezwungen<br />
wurden, im Chor zu sprechen: „Wir<br />
danken der SA, daß wir noch am Leben<br />
sind“?/.../ Ist es Ihnen bekannt, daß<br />
am Freitag, den 22. April aus einem<br />
ärmlichen Bet lo kal im XX. Bezirk,<br />
Gaußplatz, betende Juden herausgeschleppt<br />
und blutig ge schlagen wurden?<br />
(Hier hat das her beigerufene<br />
Über fallkommando interveniert.) /.../<br />
Was gegen die Geschäftsinhaber in<br />
allen Teilen <strong>Wien</strong>s veranstaltet wur -<br />
de, scheint Ihnen ja teilweise bekannt<br />
zu sein. Ist Ihnen auch bekannt, daß<br />
viele Ge schäfts schil der die Aufma lung<br />
erhielten: „Juden raus“ und in Klam -<br />
mer „Gö ring“?<br />
„Anschluß“ 1938. Eine Dokumentation, hrsg. v.<br />
Dokumentationsarchiv des österreichischen<br />
Widerstandes, <strong>Wien</strong> 1988, S. 420-446.)<br />
Vergnügen ging weiter! Hauptsache, <strong>Wien</strong><br />
war wieder ein Stück „arischer“ geworden.<br />
Schlimmer noch: Nach 1945 wurden<br />
viele der geraubten Bauten, Kunstwerke<br />
und das Riesenrad im Prater zu nationalen<br />
Symbolen stilisiert, und eine Rückgabe<br />
wäre einem Schuldeingeständnis gleichgekommen.“<br />
Es ist und bleibt eine Skandal chro -<br />
nik, dass die „Kulturgroßmacht“ Ös -<br />
terreich seit Jahrzehnten <strong>als</strong> identitäts<br />
stiftende Trophäen vermarktet,<br />
was Nazibonzen oder die Lumpen -<br />
bour geosie vor 70 Jahren in Besitz<br />
nah men.<br />
Die Frage der Rückgabe geraubten<br />
jüdischen Eigentums im österreichischen<br />
Rechtsbewusstsein ist immer<br />
noch ungeklärt und aktueller denn je.<br />
Einen konsequenten Bruch mit der<br />
Ver gangenheit hat es in Österreich nie<br />
gegeben. Im Gegenteil, Antisemitis -<br />
mus, manifest wie latent, blieb ein sa -<br />
lon fähiges Argument und war und ist<br />
immer noch in Politik, Justiz, Ge sell -<br />
schaft und Wirtschaft gleichermaßen<br />
präsent. Moralisches Umden ken<br />
müss te mit einer neuen juristischen<br />
Beurteilung verbunden werden. Wie<br />
viel glücklicher könnte Österreich<br />
doch sein, wenn es die Voraussetzung<br />
dafür schaffen würde, seine düstere<br />
Vergangenheit <strong>als</strong> aktiver, keineswegs<br />
gedungener Partner Nazi-Deutsch -<br />
lands bewältigte.<br />
Spätestens <strong>als</strong> Hitler am 15. März<br />
1938 auf dem <strong>Wien</strong>er Heldenplatz voll -<br />
mundig den Eintritt seiner früheren<br />
Heimat ins Großdeutsche Reich verkündete<br />
und aus einer Millionen ös -<br />
ter reichischer Kehlen die frenetischen<br />
„Heil“-Rufe ausgestoßen wurden,<br />
aller spätestens in diesem Au gen blick<br />
bewahrheitete sich ein Satz Thomas<br />
Manns, der lautet: „Man soll nicht vergessen<br />
und sich nicht ausreden lassen,<br />
dass der Nation<strong>als</strong>ozialismus eine enthusiastische,<br />
funkensprühende Revolution,<br />
eine deutsche Volksbewegung mit einer<br />
un geheuren seelischen Investierung von<br />
Glauben und Begeisterung war“. ■<br />
14 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768
DOSSIER • MÄRZ 1938<br />
HINTERGRUNDINFORMATION:<br />
Österreichs Umgang mit der NS-Vergangenheit<br />
In Österreich gab es zwischen 1938 und 1945 sowohl Op fer <strong>als</strong> auch Täter. Nach Kriegsende empfand sich allerdings<br />
jeder in irgendeiner Form <strong>als</strong> Opfer. Die ehemaligen Nation<strong>als</strong>ozia lis ten sahen sich <strong>als</strong> Opfer der Alliierten.<br />
Ein Hauptziel der Alliierten nach Kriegsende war, die Na tio n<strong>als</strong>ozialisten für ihre Verbrechen gerichtlich zu bestrafen<br />
und sie aus allen wichtigen Gesellschaftspositionen zu entfernen. Dieses Ziel wurde in den ersten drei Jahren<br />
nach Kriegsende intensiv durchgeführt, danach ließen die Entnazifierungs maß nahmen nach.<br />
In der österreichischen Unabhängig keitserklärung vom 27. April 1945 wurde ebenfalls der Opferstatuts festgeschrie -<br />
ben. Dadurch versuchte Österreich seine Verant wor tung an den national-sozialistischen Verbrechen zu verdrängen<br />
und Ent schädigungszahlungen an die Opfer abzuwehren. Der „Opfermythos“ bildete einen fixen Be standteil der<br />
österreichischen Geschichte.<br />
Die Themen „Nation<strong>als</strong>ozialismus“ und „Holocaust“ blie ben viele Jahrzehnte ein Tabuthema in Österreich. Da ran<br />
änderten auch die in regelmäßigen Abständen stattfindenden Skandale und Affären nichts. Erst <strong>als</strong> Folge der Wald -<br />
heim-Affäre (vor allem 1986-1988) und dem Jahr 1988 (Fünfzig Jahre „An schluss“) wurde das Thema „Natio nal so -<br />
zialismus in Österreich“ stärker thematisiert und er forscht.<br />
Das Resultat dieser Forschungen entzog dem „reinen Op ferstatus“ jegliche Grundlage: Ein großer Teil der Österreiche<br />
rinnen hat den „Anschluss“ 1938 begrüßt, zahlreiche Österreicher haben sich aktiv am Holocaust beteiligt, viele<br />
haben einfach nur zugeschaut.<br />
Diese Veränderung wirkt sich auch auf die Politik aus. 1991 bekannte Franz Vranitzky <strong>als</strong> erster Bundeskanzler of fi zi -<br />
ell die Mitschuld an nation<strong>als</strong>ozialistischen Ver bre chen. Durch die Gründung des Nationalfonds der Re publik Ös terreich<br />
für die Opfer des Nation<strong>als</strong>ozialis mus erhielten zahlreiche Opfer erstm<strong>als</strong> eine kleine finanzielle Entschä -<br />
digung. Gesetze über Entschädigungen für Zwangs arbeit und „arisiertes“ Vermögen folgten 2000 und 2001.<br />
Bereits ab 1933 spürten viele österreichische<br />
Künstler und Intellektuelle<br />
den Druck des aufkommenden Nazi -<br />
reiches und flohen, zumeist nach<br />
Eng land und in die USA. Doch nach<br />
dem „Anschluss“ fünf Jahre später<br />
er reichte jene Welle von Vertreibung<br />
prominenter jüdischer Vertreter des<br />
österreichischen Geisteslebens ihren<br />
Höhepunkt, die noch Jahrzehnte später<br />
Nachwirkungen zeigt. Sigmund<br />
Freud, Leon Askin, Oskar Kokoschka,<br />
Carl Djerassi - sie alle sind nur ein kleiner<br />
Teil jenes „Brain Drains“, der<br />
nach En de der Nazi-Herrschaft nicht<br />
wieder gutgemacht werden konnte,<br />
was nach Ansicht vieler nicht ausreichend<br />
probiert wurde. Der deutsche<br />
Ein marsch am 12. März und der formelle<br />
„Anschluss“ an Hitler-Deutsch -<br />
land am 10. April 1938 zeitigten einen<br />
Exo dus österreichischer Intellek tuel -<br />
ler ohne Gleichen. Wissenschaftler,<br />
Ärz te, Schriftsteller, Musiker und<br />
Film schaf fende kehrten Österreich<br />
den Rücken; ein Großteil, aber längst<br />
nicht alle wa ren jüdischer Herkunft.<br />
Viele sahen gar keinen anderen<br />
Ausweg, <strong>als</strong> aus dem Leben zu scheiden<br />
- wie der Ka ba rettist, Schrift stel -<br />
ler, Schauspie ler und Feuilletonist<br />
Egon Friedell.<br />
Am 12. März 1938 war SS-Chef<br />
Hein rich Himmler in Aspern bei <strong>Wien</strong><br />
ge lan det. Kaum hatte Himmler noch<br />
vor dem Morgengrauen einen Fuß auf<br />
öster reichischem Boden gesetzt, be -<br />
gannen die Säuberungen und De por -<br />
tationen. Unter den ersten, die sei ne<br />
Schergen in die Hände bekamen, war<br />
der damalige niederösterreichische<br />
Bauernbundchef und spätere Bun des -<br />
kanzler Leopold Figl. Am ersten April<br />
saß er bereits im Zug nach Da chau.<br />
Figl überlebte das KZ - und rechnete<br />
Jahre später einmal vor, dass<br />
„Österreich prozentuell der Welt die<br />
meisten Nobelpreisträger geschenkt“<br />
habe. Tat säch lich entließ etwa die<br />
Grazer Uni versität 1938 einen Medi -<br />
zin-No belpreisträger. Gegen Otto<br />
Loewis jü dische Abstammung kamen<br />
in den Augen der Nation<strong>als</strong>o zia listen<br />
auch die höchsten wissenschaftlichen<br />
Wei hen nicht an. Das Preis geld der<br />
Schwe dischen Akade mie der Wissen -<br />
schaf ten musste Loewi vor seiner<br />
Flucht <strong>als</strong> „Reichs fluchtsteuer“ dem<br />
Reich überlassen. Bis zum Jah res ende<br />
1939 verließen über 100.000 Juden<br />
Österreich ohne ihr Vermögen.<br />
Die österreichische Wissenschaft ver -<br />
lor in der Zeit nach dem „An schluss“<br />
vie le ihrer hellsten Köpfe. Carl Dje ras -<br />
si, der spätere Erfinder der Antibaby -<br />
pil le, floh 1938, der spätere Nobel -<br />
preis trä ger und Physiker Walter Kohn<br />
verließ das Land 1939 ebenso wie der<br />
spätere Neu ro wissenschafter und<br />
Nobel preis trä ger Eric Kandel. Zu Emi -<br />
granten wider Wil len wurden auch die<br />
No bel preis trä ger Erwin Schrödin ger<br />
und Victor Hess.<br />
Nur zehn Tage nach dem „An -<br />
schluss“ war auch die <strong>Wien</strong>er Univer -<br />
si tät „an geschlossen“. Allein an der<br />
Phi lo so phi schen Fakultät nahm da -<br />
nach ein Drittel der ordentlichen und<br />
die Hälf te der außerordentlichen Pro -<br />
fes soren ih re Arbeit nicht wieder auf.<br />
Auch dem Grundlagen-Mathe ma tiker<br />
Kurt Gödel, vom ‘Time’-Magazin zu<br />
einer der bedeutendsten Persön lich -<br />
keiten des 20. Jahrhunderts ge kürt,<br />
wurde die Leh re verboten. Obwohl<br />
nicht jü disch, verdächtigte der damalige<br />
Rektor ihn doch, nicht genügend<br />
„Bindung“ zum Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />
zu haben. Gödel verließ Österreich<br />
und gelangte über zahllose Stationen<br />
in die USA.<br />
Nach der NS-Machtergreifung verlor<br />
die Uni <strong>Wien</strong> auch 42 Prozent ih rer<br />
Stu denten; 1.463 Jüdinnen und Juden<br />
wurden von der Uni vor dem Winter -<br />
semester 1938/39 vertrieben. 3.200 von<br />
4.900 Medizinern entzog man infolge<br />
des „Anschlusses“ wegen „rassischer<br />
Kriterien“ die Berufszulas sung. Auch<br />
die Selbstmordrate stieg signifikant im<br />
Jahr 1938. 500 Suizide wurden allein<br />
in der jüdischen Bevölke rung gezählt.<br />
März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 15
1938<br />
Zu Beginn des Jahres 1938 änderte Hitler seine<br />
Politik gegenüber Österreich und übte immer<br />
mehr Druck auf Kanzler Schuschnigg aus.<br />
Da durch ermutigt, kam es immer häufiger zu<br />
Demon strationen von österreichischen Nazis für<br />
den Anschluss an das Deutsche Reich. Um das<br />
zu verhindern, setzte Schuschnigg für den 13. März<br />
eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit<br />
Österreichs an, zu der es allerdings nicht mehr<br />
kam.<br />
9.1.1938 - Bundeskanzler Kurt Schusch -<br />
nigg lehnt die deutsche und italienische<br />
Aufforde rung ab, Österreich solle aus<br />
dem Völ ker bund austreten und sich dem<br />
(1936 ge schlos se nen) Antikominternpakt<br />
anschließen.<br />
27.1.1938 - Aufdeckung des „Tavs-<br />
Plans“: Das von Leo Tavs ausgearbeitete<br />
NSDAP-Ak tionsprogramm für die Nazi-<br />
Macht über nah me in Ös terreich sah unter<br />
anderem provo ka torische Anschläge auf<br />
deutsche Diplo maten und Einrichtungen<br />
in <strong>Wien</strong> vor.<br />
31.1.1938 - Wie schon Tage zuvor, weist<br />
Bun deskanzler Kurt Schusch nigg die<br />
deut sche Forderung nach einem Beitritt<br />
Ös terreichs zum „Antikominternpakt“<br />
(Deutsch land-Japan-Italien) aberm<strong>als</strong> zu -<br />
rück.<br />
12.2.1938 - Hitler empfängt Schusch nigg<br />
auf dem Obersalzberg und zwingt Österreich<br />
in rüdem Ton ein Gleichschal tungs -<br />
ab kom men auf: Der Nation<strong>als</strong>ozia list<br />
Arthur Seyß-In quart muss zum Innen -<br />
minister er nannt und mit absoluter Poli -<br />
zei gewalt ausge stattet werden; Freilas -<br />
sung aller inhaftierten Na tio nal sozia lis ten;<br />
die im Ständestaat wegen NS-Betä ti gung<br />
entlassenen Beamten und Offi zie re müs -<br />
sen sofort auf ihre Posten zurückkehren.<br />
Die österreichische Außen- und Wirt -<br />
schafts po litik ist jener des Deut schen Rei -<br />
ches anzupassen. Der Bundes kanz ler fügt<br />
sich in der trüge ri schen Hoff nung, noch<br />
eine Atem pau se zu gewinnen.<br />
16.2.1938 - Bundeskanzler Schusch nigg<br />
trägt dem Ultimatum Hitlers Rech nung<br />
und bildet die Bundesre gie rung um: Der<br />
Natio nal so zialist Arthur Seyß-Inquart<br />
wird Innen- und Sicherheitsminister.<br />
17.2.1938 - Otto Habsburg, der älteste<br />
Sohn des letzten österreichischen Kaisers<br />
DOSSIER • MÄRZ 1938<br />
Karl I., richtet an Bun des kanzler Kurt<br />
Schusch nigg einen Brief mit der Auffor de -<br />
rung, ihm an ge sichts der nazideut schen<br />
Gefahr die Regie rungsgewalt zu übertragen.<br />
Er erhält am eine negative Ant wort.<br />
4.3.1938 - Im Auftrag Hitlers besteht der<br />
deutsche Staatssekretär Wilhelm Keppler<br />
in <strong>Wien</strong> auf Erfüllung der ul ti mativen Be -<br />
stim mun gen des Berch tes gadener Ab kommens<br />
vom 12.2. Der deutsche Militärat -<br />
taché Ge ne ral leut nant Muff meldet nach<br />
Berlin, dass ein Einsatz der österreichischen<br />
Exe kut ive gegen die National so zi al -<br />
isten nicht mehr denkbar sei.<br />
6.3.1938 - Zwischen Bundeskanzler<br />
Schusch nigg und dem neuen nation<strong>als</strong>o -<br />
zialis tischen Innenminister Seyß-In quart<br />
kommt es zu schweren Aus ein an dersetzun<br />
gen über die Umset zung des Ber ch tes -<br />
ga dener Ab kom mens (freie NS-Betä ti -<br />
gung innerhalb der Vaterländischen Front).<br />
Schusch nigg er wägt daraufhin die Ab -<br />
haltung einer Volksab stim mung.<br />
9.3.1938 - Bei seinem letzten öf fent li -<br />
chen Auf treten kündigt Bun des kanz ler<br />
Schusch nigg in einer Rede in Inns bruck<br />
für den 13.3. eine Volksabstim mung über<br />
die Unabhängigkeit Österreichs an.<br />
10.3.1938 - Hitler lässt die Österrei chi -<br />
schen Nation<strong>als</strong>ozialisten anwei sen, sich<br />
auf eine „kämpferische Aus ein an der set zung<br />
mit dem Schusch nigg-Regime“ einzustellen.<br />
Jubelnder Empfang - Am 12. März 1938<br />
überqueren Wehrmachtseinheiten die<br />
Grenze zu Österreich. Vom Balkon des<br />
Rathauses von Linz verkündet Adolf<br />
Hitler den Eintritt seiner Heimat in das<br />
Deutsche Reich. In <strong>Wien</strong> zieht Hitler<br />
bereits <strong>als</strong> neues Staatsoberhaupt ein.<br />
In einer De mar che der deutschen Bot schaft<br />
in <strong>Wien</strong> wird die Absage der ange kün -<br />
digten Volks ab stimmung über die Unab -<br />
hän gigkeit Österreichs verlangt.<br />
11.3.1938 - Nach dem von Hitler ul ti ma -<br />
tiv geforderten Rücktritt von Bun des kanz -<br />
ler Schuschnigg, der sich im Rund funk<br />
mit den Worten “So verabschiede ich mich in<br />
dieser Stunde von dem österreichischen Volke<br />
mit einem deut schen Wort und einem Her zenswunsch:<br />
Gott schütze Österreich!“ verab -<br />
schiedet, ernennt Bundesprä sident Wil -<br />
helm Miklas nach mehrstündigem Wider -<br />
stand un ter massivem Druck Arthur Seyß-<br />
Inquart zum Regie rungs chef. Hitler ordnet<br />
den deutschen Trup pen ein marsch in Ös -<br />
ter reich an.<br />
12.3. 1938 - Deutsche Truppen be setzen<br />
die Grenzübergänge zu Österreich - der<br />
Ein marsch beginnt. Einen Tag später wird<br />
der „Anschluss“ durch die neue Regie -<br />
rung Seyß-In quart offiziell vollzogen.<br />
13.3.1938 - Nach dem deutschen Überfall<br />
lässt Hitler in Linz das „Ge setz über die<br />
Wie der vereinigung Ös terreichs mit dem Deutschen<br />
Reich“ ausarbeiten. Mit der Billi gung<br />
durch den Ministerrat wird der „An-<br />
schluss“ offiziell vollzogen, Österreich<br />
hört auf, ein souveräner Staat zu sein. Der<br />
zurückgetre te ne Bundes kanz ler Schusch -<br />
nigg fällt in die Hände der Gestapo.<br />
14.3.1938 - Hitler trifft in <strong>Wien</strong> ein und<br />
hält vom Balkon des Hotels Imperial eine<br />
An spra che. Für den 10.4. wird eine „Volksab<br />
stim mung über die Wiederver ei nigung<br />
Öster reichs mit dem Deutschen Reich“ angeor<br />
d net.<br />
15.3.1938 - Auf dem <strong>Wien</strong>er Heldenplatz<br />
proklamiert Hitler vor rund 250.000 Men -<br />
schen den „Anschluss“ Österreichs an das<br />
Deutsche Reich. Seyß-Inquart wird<br />
„Reichs statt halter“. Der <strong>Wien</strong>er Erz bi -<br />
schof Kardinal Theodor Innitzer wird von<br />
Hitler empfangen.<br />
16.3.1938 - Mexiko, Chile, die Sow jet -<br />
union und das republikanische Spanien<br />
protes tie ren gegen die Annexion Österreichs<br />
durch Hitler-Deutschland.<br />
17.3.1938 - Österreich wird ausgeplündert:<br />
Eingliederung der Nationalbank in<br />
die Deut sche Reichsbank. ÖS 243 Mio.<br />
Gold reserven und ÖS 121 Mio. an Devi -<br />
sen be ständen werden nach Berlin ge -<br />
schafft. Die Wertrela tion des Schilling zur<br />
Reichsmark wird im Verhältnis 1RM = 1,5<br />
ÖS festgelegt.<br />
18.3.1938 - In einer feierlichen Erklä -<br />
rung zum „An schluss“ fordern Kardinal<br />
Innitzer und die anderen österreichischen<br />
Bischöfe die katholischen Gläubigen auf,<br />
16 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768
DOSSIER • MÄRZ 1938<br />
sich bei der von den Nazimachthabern<br />
angeordneten „Volksabstimmung“ am<br />
10.4. „<strong>als</strong> Deutsche zum Deutschen Reich<br />
zu bekennen“. Dies sei „selbstverständ-<br />
liche nationale Pflicht“.<br />
19.3.1938 - Die USA erkennen de facto<br />
den „Anschluss“ Österreichs an Deutsch -<br />
land an.<br />
1.4.1938 - Erster österreicher-Transport<br />
in das nazideutsche Konzentrationslager<br />
Da chau (Bayern). In der 150-Personen-<br />
Gruppe befinden sich die nachmaligen<br />
Bun des kanz ler Leopold Figl und Alfons<br />
Gorbach, Fritz Bock (später Handels mi nis -<br />
ter und Vize kanzler), Franz Olah (später<br />
ÖGB-Chef und Innenminister) und Viktor<br />
Matejka (erster <strong>Wien</strong>er Kulturstadtrat<br />
nach dem Krieg).<br />
3.4.1938 - Das ‘<strong>Wien</strong>er Tagblatt’ veröffentlicht<br />
ein Interview mit dem sozial de -<br />
mo kratischen Spitzenpolitiker, Ex-Staats -<br />
kanzler und letzten Präsidenten des<br />
Nationalrates Karl Renner: „Obschon nicht<br />
mit jenen Me thoden errungen, zu denen ich<br />
mich bekenne, ist der Anschluss nunmehr voll -<br />
zogen, ist geschichtliche Tatsache“. Renner<br />
rechtfertigt sich später mit dem Bemühen,<br />
seinem von den Nazis inhaftierten Par -<br />
teifreund Robert Danneberg helfen zu<br />
wollen, der 1942 im KZ Auschwitz umgebracht<br />
wird.<br />
7.4.1938 - Auf dem W<strong>als</strong>erberg eröffnet<br />
Hitler mit dem ersten Spatenstich den Bau<br />
der Autobahn München-Salzburg-<strong>Wien</strong>.<br />
10.4.1938 - „Volksabstimmung“ in<br />
Österreich über den bereits nach dem<br />
Trup pen ein marsch im März vollzogenen<br />
„Anschluss“ an Deutschland: 99,73 Pro -<br />
zent Ja-Stimmen. (Im ganzen Deutschen<br />
Reich stimmen 99,01 Prozent dafür).<br />
24.4.1938 - Die Sudetendeutsche Partei<br />
stellt in ihren „Karlsbader Beschlüssen“<br />
Forderungen auf, deren Erfüllung das<br />
Ende der tschechoslowakischen Eigen -<br />
staat lichkeit bedeuten würde.<br />
27.4.1938 - Die deutschen Nazibe hör -<br />
den lassen ein Hochverrats verfah ren ge -<br />
gen Otto Habsburg einleiten.<br />
3.5.1938 - Bei einem Staatsbesuch in<br />
Rom bekräftigt Hitler gegenüber Musso -<br />
lini die Anerkennung der Brennergrenze.<br />
13.5.1938 - In Linz findet der Spa -<br />
tenstich für die Errichtung der "Reichs -<br />
werke Her mann Göring" statt. (1945<br />
Vereinigte österreichische Eisen- und<br />
Stahl werke, heute voest al pine AG).<br />
20.5.1938 - Die Nürnberger Rassen -<br />
gesetze werden auch in Österreich eingeführt.<br />
24.5.1938 - Hitler verfügt die „Auftei -<br />
lung des Landes Österreich“ in sieben<br />
„Gaue“. Das nach dem Ersten Weltkrieg<br />
geschaffene Burgenland wird zwischen<br />
„Nie derdonau“ und der Steiermark auf -<br />
ge teilt, Osttirol an Kärnten angeschlossen.<br />
Tirol und Vorarlberg werden zusammengefasst.<br />
9.6.1938 - In Österreich werden von den<br />
deutschen Nazibehörden die katholischen<br />
Stu dentenverbindungen aufgelöst.<br />
27.7.1938 - Die Nazibehörden ordnen<br />
an, dass alle Straßen und Plätze in der<br />
„Ost mark“, die nach jüdischen Persön -<br />
lich keiten benannt sind, umbenannt werden<br />
müssen.<br />
8.8.1938 - Auf Anordnung Hitlers wird<br />
mit dem Bau des Konzentrationslagers<br />
Maut hau sen in Oberösterreich begonnen.<br />
In dem KZ und seinen 49 Nebenlagern<br />
wurden bis Kriegs ende 210.000 Menschen<br />
gefangen ge halten, mindestens 105.000<br />
wurden er mor det oder gingen zugrunde.<br />
5.9.1938 - Die seit dem Ende des 18. Jahr -<br />
hunderts in der <strong>Wien</strong>er Schatzkammer<br />
aufbewahrten Reichskleinodien des 1806<br />
auf ge lösten Heiligen Römischen Reiches<br />
werden auf Befehl Hitlers nach Nürnberg<br />
ge bracht. (Die Rückgabe an die österrei -<br />
chi sche Bun des regierung erfolgt 1946<br />
durch die ameri kanische Besatzungs -<br />
macht.)<br />
6.9.1938 - Auf dem Nürnberger „NS-<br />
DAP-Parteitag Großdeutschlands“ richtet<br />
Hitler heftige Attacken gegen den tsche -<br />
chos lo wa ki schen Präsidenten Ed vard<br />
Benes und droht, dass er der „Un ter drük -<br />
kung“der Sudeten deut schen nicht „in<br />
endloser Ruhe“ zusehen werde.<br />
8.10.1938 - Nachdem Kardinal Innitzer<br />
am Vorabend bei einer Andacht im Wie ner<br />
Stephansdom siebentausend katholischen<br />
Jugendlichen zugerufen hatte: „Nur Einer<br />
ist euer Führer: Jesus Christus“, stürmen<br />
Nazi- Banden das Erzbischöfliche Pa lais<br />
und verwüs ten es. Ein Geistlicher wird aus<br />
dem Fenster geworfen und schwer verletzt.<br />
Die jüdische Bevölkerung Europas<br />
war nicht das einzige Opfer des Nazi-<br />
Regimes. Alle Menschen, die nicht mit<br />
den „Normen“ der nation<strong>als</strong>ozialistischen<br />
Rassenideologie übereinstimm -<br />
ten, zählten zu den Opfern: Sinti und<br />
Roma, sogenannte „Asoziale“ und<br />
durch die NS-Medizin <strong>als</strong> „minderwer<br />
tig“ definierte Personen, sowie<br />
alle Personen, die politisch an ders<br />
dachten <strong>als</strong> die National sozia lis ten.<br />
5.11.1938 - Die Nazibehörden erlassen<br />
eine Verordnung über die Kennzeichnung<br />
jüdischer Geschäfte in <strong>Wien</strong>.<br />
7.11.1938 - In Paris erschießt der 17-<br />
jährige polnische Jude Herschel Grynszpan,<br />
dessen Eltern von den Nazis aus Deutsch -<br />
land vertrieben wurden, den deutschen<br />
Legationsse kretär Ernst von Rath. Das<br />
Attentat auf den Diplomaten liefert den<br />
Machthabern in Ber lin den Anlass für<br />
eine von langer Hand vorbereitete antisemitische<br />
Hetzkampagne, die am 9.11.<br />
zu landesweiten Pogromen führt.<br />
9.11.1938 - Vom Naziregime gesteuerte<br />
Po grome in ganz Deutschland und im<br />
besetz ten Österreich („Reichs kristall -<br />
nacht“): Juden werden verhaftet, schwer<br />
misshandelt oder ermordet, ihre Woh nungen<br />
und Geschäfte ge plündert und zahl -<br />
lose Synagogen und Bet häuser niedergebrannt.<br />
In <strong>Wien</strong> werden 27 Juden er mor -<br />
det, 88 weitere schwer verletzt, rund 7.800<br />
verhaftet.<br />
31.12.1938 - In seiner Ansprache zum<br />
Jah res wechsel nennt Hitler 1938 „das<br />
ereig nis reichste Jahr der deutschen Geschichte<br />
seit Jahrhunderten“. Er bezieht sich damit<br />
auf die Annexion Österreichs und der<br />
Sudeten ge biete.<br />
März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 17
1938<br />
<strong>2008</strong><br />
Skandale und tabuisierte<br />
Vergangenheit<br />
Es dauerte lange, bis man in Österreich<br />
begann, offen über die nation<strong>als</strong>ozialistische<br />
Vergangenheit zu reden. Auch die<br />
regelmäßigen Skandale führten zu keiner<br />
breiten Diskussion. Die NS-Vergangen -<br />
heit bildete bis in die 1980er Jahre ein<br />
großes Tabuthema.<br />
1965: Die Affäre Borodajkewycz<br />
Taras Borodajkewycz war Professor<br />
an der <strong>Wien</strong>er Hochschule für Welt -<br />
han del. Er machte in seinen Vorle -<br />
sun gen offen nation<strong>als</strong>ozialistische<br />
Aussagen. Es kam zu längeren öffentlichen<br />
Auseinandersetzungen, die<br />
das erste politische Todesopfer der<br />
Zweiten Republik forderten: Bei einer<br />
Demonstration Anfang April 1965<br />
wurde der ehemalige kommunistische<br />
Widerstandskämpfer Ernst<br />
Kirchweger getötet. Borodajkewycz<br />
wurde schließlich zwangspensioniert.<br />
1975: Die Affäre Peter – Kreisky –<br />
Wiesenthal<br />
Auch die 1970er Jahre brachten keine<br />
große Veränderung. Die Affäre Peter<br />
– Kreisky – Wiesenthal führte 1975<br />
noch zu keiner breiten Diskussion<br />
über die NS-Vergangenheit. Der da -<br />
malige Leiter des jüdischen Doku -<br />
mentationszentrums in <strong>Wien</strong>, Simon<br />
Wiesenthal, veröffentlichte nach der<br />
Nationalratswahl 1975 einen Bericht<br />
über den damaligen FPÖ-Chef Fried -<br />
rich Peter. Daraus ging hervor, dass<br />
dieser <strong>als</strong> Obersturmbannführer in<br />
ei ner mit Massenmorden in Ver bindung<br />
stehenden SS-Einheit gedient<br />
hatte. Der damalige Bundeskanzler<br />
Bruno Kreisky (SPÖ) war durch das<br />
eigene Schicksal der Verfolgung und<br />
des Exils gegenüber jeden Verdacht<br />
der Sympathie für den National so zi a-<br />
lismus erhaben. Er beschützte seinen<br />
DOSSIER • MÄRZ 1938<br />
politischen Partner Peter. Darüber<br />
hinaus beschuldigte er Wiesenthal,<br />
mit Mafiamethoden zu arbeiten und<br />
unterstellte ihm sinngemäß, <strong>als</strong> KZ-<br />
In sasse mit der Gestapo kollaboriert<br />
zu haben 1 .<br />
1985: Die Reder-Affäre<br />
Der ehemalige SS-Obersturmbann füh -<br />
rer Walter Reder war verantwortlich<br />
für ein Massaker in der italienischen<br />
Ortschaft Marzabotto bei Bologna im<br />
September 1944. Die 1830 Opfer wa ren<br />
meist alte Menschen, Frauen und<br />
Kin der. Reder wurde 1951 in Bologna<br />
zu lebenslänglicher Haft verurteilt.<br />
1985 wurde er entlassen 2 . In Österreich<br />
wurde er vom damaligen Ver teidigungsminister<br />
Friedhelm Fri schen -<br />
schlager (FPÖ) am Flughafen mit<br />
Hand schlag empfangen. Dieser Hand -<br />
schlag erregte auch international<br />
Aufsehen und ausländische Medien<br />
griffen das Verhältnis der Österreicher<br />
zur NS-Vergangenheit auf. Eine Aus -<br />
sage Jörg Haiders aus dem Jahr 1985<br />
macht deutlich, wie die nation<strong>als</strong>ozia -<br />
listische Vergangenheit von manchen<br />
Österreichern betrachtet wurde: "Die<br />
Rückkehr von Walter Reder hat beträchtlichen<br />
Staub aufgewirbelt. Die finsteren<br />
Ereignisse der Vergangenheit werden be -<br />
schwo ren und Reder zur Symbolfigur für<br />
alle Greueltaten erklärt. Das ist betrüblich<br />
und erschütternd. Denn Walter Reder<br />
war Soldat wie Hunderttausende andere<br />
auch. Er hat seine Pflicht erfüllt, wie es<br />
der Eid des Soldaten gebietet. (...) Sein<br />
Schicksal ist die tragische Lebensge schichte<br />
eines Soldaten, dessen Tun nicht mit<br />
Greueltaten des NS-Regimes verglichen<br />
werden kann. Das Schicksal Walter Re ders<br />
hätte jeden unserer Väter ereilen können." 3<br />
„Wer vermeintlich gute Seiten und Errun gen -<br />
schaften der NS-Dikta tur he rvorhebt, erliegt<br />
heute noch den Nach wirkungen der Nazi-Pro -<br />
apa gan da... Da schlägt ein Mangel an Auf klä -<br />
rung durch“.<br />
Historiker Hans Mommsen,<br />
zum 75. Jahrestag der Machtübertra gung<br />
an die Nazis am 30. Jänner 1933<br />
Die Diskussionen endeten zwar bald<br />
wieder, doch die nächste Aufregung<br />
lag bereits in der Luft: Die Waldheim-<br />
Affäre war ein entscheidender Ein -<br />
schnitt im Umgang mit der Nazi-Ver -<br />
gan genheit.<br />
1<br />
Vergleiche Gehler/Sickinger 1995, S.678).<br />
2<br />
Vergleiche En zy klo pädie des NS 2001, S.872f; S.579)<br />
3<br />
Kärntner Nachrichten, 14. Februar 1985; zitiert nach<br />
Czernin 2000, S.15)<br />
Zitiert: Österreichische<br />
Politiker<br />
Immer wieder machen österreichische<br />
Politiker aller Parteien skandalöse<br />
Aus sa gen über die Zeit des Natio nal -<br />
sozia lis mus, über den Holocaust oder<br />
über das Judentum. Lesen Sie eine<br />
Auswahl von Aussa gen österreichischer<br />
Politiker:<br />
"Na, das hat’s im Dritten Reich nicht ge -<br />
geben, weil im Drit ten Reich haben sie or -<br />
dentliche Be schäf ti gungspolitik ge macht,<br />
was nicht einmal Ihre Regierung in <strong>Wien</strong><br />
zusam men bringt. Das muss man auch<br />
einmal sagen." (Re de von Jörg Haider vor<br />
dem Kärntner Land tag, 13.06.1991 zitiert<br />
nach Czernin 2000, S.31)<br />
„Wer einmal schon für Adolf war, wählt<br />
Adolf auch in diesem Jahr.“ (Wahlslogan<br />
von SPÖ-Politiker Adolf Schärf bei<br />
Präsidentschaftswahlen in den 1950er<br />
Jahren. „Entgleisungen quer durch die<br />
Parteien“, Salzburger Nach rich ten, 22.<br />
September 2001)<br />
„Die Juden wollen halt rasch reich werden.“<br />
(ÖVP-Bundeskanzler Leopold Figl<br />
im Zusammenhang mit Entschädigungs -<br />
forderungen. Zitiert nach: Ebenda)<br />
„Saujud“ (ÖVP-Abgeordneter Alois<br />
Schei bengraf 1966 in Richtung SPÖ-Geg -<br />
ner Bruno Kreisky. Zitiert nach: Ebenda)<br />
„Wenn sie so wollen, dann war es halt<br />
Massenmord.“ (Jörg Haider, profil, 18.02.<br />
1985. zi tiert nach Czernin 2000, S.16f.)<br />
„Die Soldaten in Stalingrad, gleichgültig<br />
ob Deutsche oder Österreicher, haben sich<br />
geopfert, um die Heimat zu schützen."<br />
(Jörg Haider am Tag seiner Wahl zum<br />
FPÖ-Obmann [1986] laut Unterlagen des<br />
DÖW [Mappe RE 84/13] zitiert nach<br />
Czernin 2000, S.17)<br />
„Dem Wiesenthal habe ich gesagt, wir<br />
bauen schon wieder Öfen, aber nicht für<br />
Sie, Herr Wiesenthal – Sie haben im Jörgl<br />
seiner Pfeife Platz." (Peter Müller, da m<strong>als</strong><br />
FPÖ-Spitzenkandidat bei den Ge mein de -<br />
wahlen 1990 in St. Leonhard im Lavan -<br />
thal, „Entgleisungen quer durch die Par teien“,<br />
Salzburger Nach richten, 22.09. 2001)<br />
„Nazi? Neu, attraktiv, zielstrebig und<br />
ideen reich. Es hat mit der Vergangenheit<br />
nichts zu tun.“ (FPÖ-Politiker Reinhard<br />
Gaugg auf die Frage, was ihm das Wort<br />
Na zi sage. Kärntner Tageszeitung, 11.09<br />
1993)<br />
„Die Waffen-SS war Teil der Wehrmacht<br />
und es kommt ihr daher alle Ehre und<br />
18 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768
DOSSIER • MÄRZ 1938<br />
Anerkennung zu.“ (Jörg Haider im ORF,<br />
19.12.1995. zitiert nach Czernin 2000, S.48)<br />
„Da halte ich mich an Goebbels, der ge -<br />
sagt hat: Das Volk muss fühlen, wer das<br />
Sagen hat.“ (Der Kärntner SPÖ-Land -<br />
tagsabgeordnete Gebhard Arbeiter 1999.<br />
„Entgleisungen quer durch die Parteien“,<br />
Salzburger Nachrichten, 22.09.2001).<br />
„Unsere Ehre heißt Treue!“ (Mit diesem<br />
SS-Leitspruch ehrte der niederösterreichische<br />
FPÖ-Chef Ernest Windholz langjähri<br />
ge FPÖ-Mitglieder. Der Standard, 5.06.<br />
2000).<br />
„Sieg Heil!“ (Zwischenruf des SPÖ Na tionalrats-Abgeordneten<br />
Rudolf Edlinger<br />
nach einer Rede der FPÖ-Abgeordneten<br />
Helene Partik-Pablé laut Protokoll. Laut<br />
Edlinger habe er „Jetzt fehlt nur noch Sieg<br />
Heil!“ gerufen. Salzburger Nachrichten,<br />
17. April 2002).<br />
„Viele Menschen in Ostösterreich haben<br />
die Maitage des Jahres 1945 nicht <strong>als</strong> Be -<br />
freiung empfunden, sondern <strong>als</strong> Wech sel<br />
der Besatzung. Sie wurden durch eine<br />
Besatzungsmacht von der anderen Besat -<br />
zungs macht befreit (...) Österreich war<br />
zwischen 38 und 55 nicht frei, und ich<br />
glau be, dass das die richtige Betrach tungs -<br />
weise ist: Dass zuvor eine deutsche Be sat -<br />
zungsmacht hier war, dann waren es<br />
meh rere Besatzungsmächte, und die wirk liche<br />
Freiheit hat Österreich erst 1955 wie -<br />
der erlangt." (Volksanwalt Ewald Stad ler<br />
im ORF-Report. „Ich seh’s gelassener“,<br />
Salzburger Nachrichten, 4.07.2002)<br />
Don’t mention the J-word<br />
Der notorische Israel-Basher Johann<br />
Hatzl, seines Zeichens sozialdemokratischer<br />
<strong>Wien</strong>er Landtagsprä si dent,<br />
fühlt sich ungerecht behandelt.<br />
Hat er sich doch die Mühe gemacht<br />
eigens zum Zwecke des Gedenkens an<br />
den sogenannten „Anschluss“, der<br />
sich am 12. März zum siebzigsten Mal<br />
jährt, eine Sit zung des Gemeinde ra -<br />
tes einzuberufen. Er hätte dieses historische<br />
Ereig nis auch in zehn Mi -<br />
nuten im Rah men einer re gu lären<br />
Sitzung ab han deln können, betont er<br />
in einem Tele fo nat mit der Autorin<br />
dieser Zei len. Aber stattdessen lädt<br />
Hatzl zu einer eigenen Land tags sit -<br />
zung, „die insofern etwas aufgelockert(!)<br />
ist, dass bei dieser Landtagssit zung auch<br />
Personen, die kei ne Abgeord neten sind,<br />
darüber reden.“ (O-Ton) 1<br />
Reden sollten laut Hatzl Vertreter der<br />
Opfergruppen. Dass kein Vertreter<br />
des „jüdischen Volkes in <strong>Wien</strong>“ in der<br />
ursprünglichen Planung vorgesehen<br />
war, erklärt er damit, dass namens der<br />
„rassisch Verfolgten“ auf dieser „Ge-<br />
denk sitzung“ Rudolf Sarközi, Vor sit -<br />
zender des Volksgruppenbeirates der<br />
Roma, sprechen sollte, damit auch ein -<br />
mal jemand anderer <strong>als</strong> „die Juden“ zu<br />
diesem Thema zu Wort kommt. Es<br />
müssen ja nicht immer nur die Juden<br />
über ihre Verfolgung sprechen, sondern<br />
sei oft sogar besser, wenn ein<br />
Nichtjude daüber spricht, so Hatzl.<br />
„Im Gedenken (...) an jene <strong>Wien</strong>e rin -<br />
nen und <strong>Wien</strong>er, die Opfer des fa schis -<br />
tischen Terrors, aber auch des Krie ges<br />
wurden“, heißt es in der Einladung.<br />
Gedenkt werden soll <strong>als</strong>o all jenen,<br />
die zwischen 1938 – vielleicht auch<br />
1934, dem Beginn des Austro fa schis -<br />
mus – und 1945 eines nicht natürli -<br />
chen Todes gestorben sind. Ob durch<br />
die Hände des ostmärkischen KZ-<br />
Auf sehers oder die Panzer der Roten<br />
Armee. Opfer sind demnach nicht<br />
nur die, die von der Tötungsmaschi -<br />
ne rie der Na tion<strong>als</strong>ozialisten ermordet<br />
wur den, sondern auch jene, die<br />
sich an die ser Maschinerie beteiligen<br />
„muss ten“. Es gab ja viele Österreicher,<br />
die gezwungen waren in den<br />
Krieg zu ziehen, so Hatzl – natürlich<br />
gab es auch Täter, fährt er fort, die sich<br />
an der „restlosen(!) Ausrottung der<br />
Juden“ be teiligt haben. Simone Dinah<br />
Hartmann<br />
1<br />
Dieses und weitere Zitate stammen aus<br />
einem Telefonat mit Hatzl vom 27.02.<strong>2008</strong><br />
... In den zehn Jahren zwischen<br />
1938 und der Gründung des Staa -<br />
tes Israel im Jahr 1948, wurde ein<br />
Drittel des jüdischen Vol kes in<br />
Europa vernichtet, ermordet, vergast.<br />
Niemand darf diese Katas -<br />
trophe, die Shoah, ausklammern,<br />
relativieren oder marginalisieren.<br />
Diese Katastrophe, diese Shoah, ist<br />
ein Teil der Geschichte. Diese<br />
Men schen waren weder Opfer<br />
einer Na turkatastrophe noch Opfer<br />
eines Krieges, sie mussten sterben,<br />
nur weil sie Juden waren.<br />
Es geht daher einfach nicht, „die<br />
historischen Ereignisse unaufgeregt<br />
und mög lichst frei von Emo -<br />
tionen zu betrachten" und das<br />
„Gedenk jahr <strong>als</strong> An lass für die<br />
Brücken funk tion Österreichs in<br />
Mitteleu ro pa zu betonen“*.<br />
Genau so unmöglich ist es, die<br />
ermordeten Juden unerwähnt zu<br />
lassen in einer Gedenkstunde "im<br />
Gedenken an jene Wie ne rin nen und<br />
<strong>Wien</strong>er, die Opfer des faschistischen<br />
Terrors, aber auch des Krie ges<br />
wurden".<br />
In diesem Jahr, 70 Jahre nach dem<br />
„Anschluss“ und 60 Jahre nach der<br />
Gründung des Staates Israel, gilt es,<br />
Brücken der Versöhnung mit dem<br />
jüdischen Volk und Brücken der<br />
Solidarität mit dem jüdischen Staat<br />
zu bauen....<br />
S.E. Dan Ashbel, Botschafter des Staates<br />
Israel, bei seiner Festansprache im<br />
<strong>Wien</strong>er Rathaus anlässlich Magbith <strong>2008</strong><br />
*Anmerkung d. Redaktion: Der Zweite Natio -<br />
nalratspräsident Michael Spin del egger bei<br />
seiner Ansprache am 4. März angesichts<br />
des 75. Jah restages der Ausschaltung des<br />
Parla ments durch Engel bert Dollfuß.<br />
März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 19
DOSSIER • MÄRZ 1938<br />
Anschluss - Eine Bildchronologie<br />
Hans Petschar<br />
Brandstätter Verlag • ISBN 978-3-85033-193-7<br />
Die erste präzise Bildchronologie der Ereignisse in Österreich 1938. Offizielle<br />
Propagandabilder gegenüber Privataufnahmen und unveröffentlichtem Ma -<br />
terial. Aus unterschiedlichsten Gründen und von vielen Zufällen begünstigt<br />
existiert eine Fülle von unbekann ten Geschichtsbildern in privaten und öffentli<br />
chen Archiven. Eine beträchtliche Anzahl wird in diesem Buch zum ersten<br />
Mal dargestellt und in einen historischen und chronologischen Kontext<br />
gebracht.<br />
Herbert Posch, Doris Ingrisch, Gert Dressel<br />
"Anschluß" und Ausschluss 1938<br />
Vertriebene und verbliebene Studierende der Universität <strong>Wien</strong><br />
LiT Verlag • ISBN 978-3-8258-0497-8<br />
Mit dem „Anschluss“ ans Deutsche Reich wird auch die Universität <strong>Wien</strong><br />
ra dikal und in kürzester Zeit zu einer nation<strong>als</strong>ozialistischen Institution<br />
umgestaltet. In jahrelanger Arbeit hat ein HistorikerInnenteam der Uni -<br />
versität <strong>Wien</strong> unter Leitung von Univ.-Prof. Dr. Friedrich Stadler vom<br />
Institut für Zeit geschichte in den Aktenbergen des Universitätsarchivs re -<br />
cherchiert.<br />
LESETIPP<br />
Dosedla Heinrich:<br />
Von Habsburg bis Hitler<br />
Österreich vor dem Anschluss<br />
Molden • ISBN: 978-3-85485-217-9<br />
Anhand von Erlebnisberichten der letzten, in die Tagespolitik der Zwi schen -<br />
kriegs zeit verstrickten Zeitzeugen zeichnet der Soziologe Heinrich Dosedla<br />
in einem spannenden Tagebuch den Weg der kleinen Leute vom Schutzbund<br />
zur SS und vom Kuhstall ins KZ nach. Gleichzeitig versucht er den Weg seines<br />
Vaters nachzuzeichnen, der in den Nachkriegswirren spurlos verschwand.<br />
Ivan Hacker<br />
Unser Weg in die Hölle<br />
Österr. Literaturforum<br />
Der Autor schildert in seinem Buch mit der Genau ig keit des Rechtsanwaltes<br />
jene furchtbaren Monate des Jahres 1944, die er und seine Familie miterleben<br />
mussten.<br />
Ivan Hacker war Präsident der Israe li tischen Kultus gemeinde <strong>Wien</strong> – am 4.<br />
Mai <strong>2008</strong> wäre er 100 Jahre alt geworden.<br />
Erhältlich in der Literarturhandlung im Jüdi schen Museum (1., Dorotheergasse 11)<br />
Peter Longerich<br />
„Davon haben wir nichts gewusst!“<br />
Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945<br />
Pantheon • ISBN: 978-3-570-55041-0<br />
Peter Longerich gelingt es, aus der Sicht des Historikers Antworten auf die<br />
Frage nach dem Wissen der Deutschen über die „Endlösung“ und ihre Ein stel -<br />
lung zur Judenverfolgung zu geben. Er hat die antisemitische Propa gan da des<br />
Regimes analysiert, noch vorhandene geheime NS-Stimmungs be rich te zur<br />
„Judenfrage“ untersucht und zusätzlich Informationen aus verschiedenen<br />
Quellen zusammengetragen.<br />
Gerhard Botz<br />
Nation<strong>als</strong>ozialismus in <strong>Wien</strong><br />
Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39<br />
Mandelbaum Verlag • ISBN: 978385476-252-2<br />
Am Beispiel einer Millionenstadt im Südosten des „Großdeutschen<br />
Reiches“, <strong>Wien</strong> in den Jahren 1938 und 1939, wird das Funktionieren der nation<strong>als</strong>ozialistischen<br />
Machtübernahme und Herrschaftssiche rung gezeigt, mit<br />
den alltäglichen Mechanismen der Kon trolle, Belohnung, Überzeugung und<br />
Maßregelung des Einzelnen und ganzer Gruppen.<br />
Stéphane Bruchfeld, Paul A. Levine<br />
Erzählt es euren Kindern<br />
Der Holocaust in Europa<br />
DVA • ISBN: 978-3-570-30245-3<br />
„Dokumente und Bilder können nur zeigen, was war und wie es erlebt<br />
wurde. Erklären können sie nichts. Vieles am Holocaust lässt sich nicht verstehen.<br />
Aber seiner Wahrheit müssen wir ins Auge sehen, wir müssen uns<br />
mit ihm beschäftigen: Nur wer weiß, was möglich ist, wird daran arbeiten,<br />
dass es sich nicht wiederholt.“ (Ab 14 Jahren)<br />
Robert Gellately<br />
Hingeschaut und weggesehen<br />
Hitler und sein Volk<br />
dtv • ISBN 3-423-34153-X<br />
Nach dem Krieg wollte kaum jemand in Deutsch land etwas von den<br />
Konzentrationslagern, von Terror und Mord gewusst haben. Es schien, <strong>als</strong><br />
hätten nur wenige „willige Helfer“ im Verborgenen die von Hitler befohlenen<br />
Verbrechen begangen. Robert Gellately beweist anhand bislang vernachlässigter<br />
Dokumente das Gegenteil.<br />
Sachslehner Johannes:<br />
Der Tod ist ein Meister aus <strong>Wien</strong><br />
Leben und Taten des Amon Leopold Göth<br />
Styria • ISBN: 978-3-222-13233-9<br />
Johannes Sachslehner zeichnet das packende Porträt eines Mannes, der in<br />
den österreichischen Geschichts bü chern zwar noch immer verschwiegen<br />
wird, international aber – nicht zuletzt durch „Schindlers Liste“ – <strong>als</strong><br />
Inbegriff des Nazi-Bösen gilt. Ein beklemmender Geschichts-Thriller, der in<br />
die zynische Welt eines SS-Mörders führt, in der das Töten Alltag und das<br />
Überleben zum Wunder wurde.<br />
Steven Beller<br />
Geschichte Österreichs<br />
Böhlau • ISBN 3-205-77528-7<br />
„Steven Bellers Geschichte Österreichs ist nicht nur kurz und prägnant -, sie<br />
ist auch scharfsinnig, witzig und mitreißend. Realistisch und aufrichtig, aber<br />
nie langweilig nostalgisch in seinen Einschätzungen der Er fahrungen Österreichs<br />
gelingt es Beller, die parado xe und mehrdeutige Rolle des Landes<br />
sowohl <strong>als</strong> Hintergrund wie auch <strong>als</strong> Wesen der umfassenderen Muster der<br />
europäischen Geschichte zu beleuchten.“<br />
Aviel Roshwald, Georgetown University<br />
Barbara Rogasky<br />
Der Holocaust<br />
Ein Buch für junge Leser<br />
rororo rotfuchs • ISBN 978-3-499-21205-5<br />
Als ein mehrfach ausgezeichnetes Standardwerk, sollte diese anschauliche<br />
und vielschichtige Dar stel lung eines hochsensiblen Themas auch in Österreichs<br />
Klassenzimmern zur Pflichtlektüre werden. Sie bietet eine grundlegende<br />
Einführung in die Hinter gründe, den zeitlichen Ablauf, die wichtigsten<br />
Ereig nisse, Personen und Orte des Holocaust - nicht nur für junge Leser.<br />
Hilde Kammer, Elisabet Bartsch<br />
Jugendlexikon Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />
Rowohlt • ISBN 978-3-87134-562-3<br />
Jeder, der sich mit der Zeit des „Dritten Reichs“ beschäftigt, stößt dabei auf<br />
Schlagwörter und Be grif fe, die heute nicht mehr ohne weiteres verständlich<br />
sind. Präzise und doch leicht verständlich erklärt das Buch die Begriffe, die<br />
dam<strong>als</strong> verwendet wurden, und erläutert, wie die zahlreichen Einrich tun gen<br />
und Organisationen des „Dritten Reiches“ funktionierten. Ein unentbehrliches<br />
Nachschla ge werk.<br />
20 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768
DOSSIER • MÄRZ 1938<br />
Hgg. v. Dieter J. Hecht / Eleonore Lappin / Michaela Raggam-Blesch /<br />
Lisa Rettl / Heidemarie Uhl<br />
1938 – Auftakt zur Shoah in Österreich.<br />
Orte – Bilder – Erinnerungen<br />
Milena Verlag • ISBN 978 3 95286 165 4<br />
Der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 hatte eine<br />
Radikalisierung der na tional so zialisti schen Ver fol gungs politik gegen die jüdische<br />
Bevölkerung zur Folge: <strong>Wien</strong> ist jene Stadt, die sich durch pogromartige<br />
Gewalt exzesse in die Ge schichte der Shoah, der Vernichtung der jüdischen Be -<br />
völke rung im nation<strong>als</strong>ozialistischen Machtbe reich, eingeschrieben hat. Und in<br />
<strong>Wien</strong> hat Adolf Eichmann sein System der staatlich-in sti tu tionellen<br />
Enteignung und Ver trei bung der Jü dinnen und Juden eingeführt, das schließlich<br />
zu den Mas sendeportationen der europäischen Jü din nen und Juden in die<br />
Vernichtung wei ter ent wickelt wur de.<br />
Die Broschüre „1938 – Auftakt zur Shoah in Ös ter reich. Orte – Bilder – Erin nerungen“<br />
zeichnet die Erfahrungen der jüdischen <strong>Wien</strong>erInnen und Ös ter rei -<br />
cher Innen vom „Anschluss“ im März bis zum Ende des Jahres 1938 nach. Das<br />
No vem berpogrom bildete den vorläufigen Höhe punkt der NS-Verfol gungs -<br />
politik mit dem Ziel, die jüdische Bevölkerung aus dem Deutschen Reich zu<br />
vertreiben, ihr Eigentum aber einzubehalten. Die im Som mer 1938 von Eich -<br />
mann eingerichtete „Zen tr<strong>als</strong>telle für jüdische Auswanderung“ wurde dabei<br />
zur organisatorischen Keimzelle des Holo caust. Die Broschüre vermittelt, wie<br />
Jüdinnen und Ju den das ers te Jahr der NS-Herrschaft in Österreich erlebten.<br />
„Namentliche Erfassung der österreichischen Holo caust opfer“<br />
Im März 1938 gab es 181.778 Österreicherinnen jüdischen Glaubens, die zum<br />
Großteil in <strong>Wien</strong> wohn ten. Hinzu kamen noch zirka 25.000 Österreicher, die<br />
nach den Nürnberger Rassegesetzen <strong>als</strong> Juden gal ten.<br />
In einer ersten Phase (1938 – 1940) wurden diese rund 200.000 Menschen vor<br />
allem beraubt und vertrieben. In einer zweiten Phase ab 1941 wurden die österreichischen<br />
Juden in Massentransporten in die Get tos nach Osteuropa deportiert.<br />
Ab 1942 wurden sie in den Ver nichtungslagern der Nazis ermordet.<br />
Von den österreichischen Juden wurden zwei Drittel zwischen 1938 und 1941<br />
aus Österreich vertrieben und ein Drittel (65.000 Menschen) während der<br />
„Der Mann auf dem Balkon“<br />
Der Dokumentarfilm „Der Mann auf<br />
dem Balkon“ hatte im <strong>Wien</strong>er Metro-<br />
Kino Vorpremiere. Zur bis auf den letzten<br />
Platz ausgebuchten Veranstaltung<br />
im Rahmen des Gedenkjahrs <strong>2008</strong><br />
geladen hatten die <strong>Wien</strong>er SPÖ Bil dung<br />
und der Bund Sozialde mokratischer<br />
Freiheitskämpfer. Die einleitenden Wor te sprach Altbundeskanzler Dr. Franz<br />
Vranitzky. „Der Mann auf dem Balkon“ spürt dem Schicksal des Holocaust-<br />
Überlebenden Prof. Rudolf Gelbard nach, der <strong>als</strong> 12jähriger in das Kon zen tra -<br />
tionslager Theresienstadt deportiert worden war. Später widmete er sein Leben<br />
der Aufarbeitung der NS-Vergan gen heit und dem Eintreten gegen Antise mi -<br />
tis mus und Fremdenhass, getreu dem Gebot „Niem<strong>als</strong> wieder!“<br />
Dies ist eine be wusst gewählte Perspektive: Es geht darum, Einblick in die<br />
Erfah rungen jener Menschen zu geben, die ge demütigt, verfolgt, enteignet,<br />
vertrieben oder deportiert und ermordet wurden.<br />
Nach 1945 fand die Erinnerung an die Opfer der Shoah – der mehr <strong>als</strong><br />
65.000 Österreicherinnen und Österreicher zum Op fer fielen – lange Zeit<br />
kaum Eingang in das Geschichts be wusst sein: Die Zweite Republik stellte<br />
sich selbst <strong>als</strong> „erstes Opfer“ des Nation<strong>als</strong>ozialismus dar.<br />
Die Darstellung der Geschichte des Jahres 1938 aus der Per s pektive der jüdischen<br />
Bevölkerung ver wendet neue For men histori schen Erzählens: Le bens -<br />
geschichtliche Erinnerungen von Zeit zeug In nen werden mit konkreten Orten<br />
und Bild ma te r i al verknüpft und durch Dokumente und wissenschaft liche<br />
Kommen tare ergänzt.<br />
Den Jüdinnen und Juden, die durch das NS-Regime vertrieben und ermordet<br />
wurden, eine Stimme zu geben, dem Gedächtnis an die Opfer der Schoah im<br />
Gedenkjahr <strong>2008</strong> Präsenz zu verleihen, ist Ziel dieser Broschüre. (s.S. 22)<br />
Die Publikation, aus einem vom Jubiläumsfonds der Stadt <strong>Wien</strong> für die Akademie der<br />
Wissenschaften geförderten Pro jekt entstanden, ist auch ein "normales" wissen schaft liches<br />
Werk, das im Milena-Verlag erscheint und auch in Buch hand lungen erhältlich sein wird.<br />
Angesichts der Ankaufs zahlen durch öffentliche Stellen in der Höhe von ca. 8.000 Exem pla -<br />
ren wird diese Broschüre wohl eine der meistverbreiteten Publikationen im Rahmen der<br />
Aktivitäten zum Gedenkjahr <strong>2008</strong> sein und auch in englischer Sprache aufliegen.<br />
Ein kostenloses Exemplar wird allen Schulen ab der 5. Schul stu fe vom BMUKK Anfang März<br />
direkt zugesandt.(Erlass GZ 33.466/10-V/ 11/<strong>2008</strong>).<br />
gesamten Nazi-Herrschaft ermordet. Von den rund 200.000 Menschen, die<br />
nach den Rasse gesetzen <strong>als</strong> Juden galten, befanden sich Ende 1942 noch<br />
rund 8.000 Personen in Ös ter reich. (Freund/Safrian 2000, 767ff).<br />
Eine detaillierte Dokumentation über die jüdische Bevölkerung und deren De -<br />
portation bietet das Doku men ta tions archiv des österreichischen Wider stan des<br />
(DÖW) im Projekt „Namentliche Erfassung der österreichischen Holo caust -<br />
opfer“ http://www.doew.at/cgi-bin/shoah/shoah.pl ).<br />
Die Dokumentation des DÖW listet folgende Angaben auf:<br />
- Stand der jüdischen Bevölkerung Österreichs am 13. März 1938: 206.000<br />
- Stand der jüdischen Bevölkerung Österreichs am 15. April 1944: 5.512<br />
Im Anschluss an die Vorführung fand eine Diskussion mit Kam mer schau -<br />
spie lerin Elisabeth Orth, dem Regisseur Prof. Mag. Kurt Brazda und Prof.<br />
Rudolf Gelbard statt.<br />
TV-TIPP<br />
DER MANN AUF DEM BALKON<br />
Rudolf Gelbard<br />
KZ Überlebender - Zeitzeuge - Homo Politicus<br />
Dokumentarfilm von Kurt Brazda<br />
Erstausstrahlung: 26. März <strong>2008</strong> - 21.00 Uhr, 3sat<br />
Buch und Regie: Kurt Brazda • Kamera und Schnitt: Benjamin Epp • Ton: Christian Bednarik<br />
Musik&Sounddesign: Markus Vorzellner • Produktion: WIFAR <strong>2008</strong><br />
Gefördert vom Nationalfonds<br />
Die Medaille zur Erinnerung an den 13. März 1938<br />
Die Medaille zur Erinnerung an den 13. März 1938 (auch: Ostmark-Medaille) gehört<br />
zu den Orden, die während der Zeit des Nation<strong>als</strong>ozialismus von den Na tional so -<br />
zialisten eingeführt und verwendet wurden. Sie wurde am 1. Mai 1938 von Adolf Hitler<br />
gestiftet und an Personen verliehen, die an der Annek tierung von Österreich durch das<br />
Deut sche Reich beteiligt waren.<br />
Dazu gehörten auch Österreicher, die entweder an dem Ereignis direkt mitgewirkt hatten<br />
oder Mitglied der österreichischen NSDAP waren. Laut der damaligen Stif tungs -<br />
verordnung erhielten diese Aus zeich nung Per sonen, die sich „um die Wie der verei ni gung<br />
Österreichs mit dem Deutschen Reich Verdienste erworben haben“.<br />
Insgesamt wurde die Medaille 318.689 Mal verliehen.<br />
März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 21
DOSSIER • MÄRZ 1938<br />
„SOUVENIR WIEN 1938“<br />
„Ich konzipierte diese Objekte – die „SOUVENIR WIEN 1938 REIBBÜRSTE“ und ihr Begleitstück, die „SARA/ISRAEL ZAHNBÜRSTEN“ –, um<br />
an <strong>Wien</strong> im Jahr 1938 zu erinnern, <strong>als</strong> Juden gezwungen wurden, die Straßen mit Bürsten – auch mit ihren Zahnbürsten – zu reinigen. Mein<br />
Großvater (Dachau, November 1938; Auschwitz, November 1942, ins Gas geschickt wenige Stunden nach seiner Ankunft) war einer von<br />
ihnen - kniend, eine Bürste in der Hand.<br />
Melissa Gould/New York City, <strong>2008</strong> - www.megophone.com<br />
22 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768
POLITIK • INLAND<br />
Österreich: Irans Tor zu Europa<br />
von Simone Dinah Hartmann<br />
Als Hitler im März<br />
1938 in Österreich<br />
einmarschierte, waren es<br />
außergewöhnlich viele<br />
Ös terreicherInnen, die ihn<br />
willkommen hießen und den „An-<br />
schluss“ an Deutschland begrüß ten.<br />
Eine überproportional große Zahl von<br />
ÖsterreicherInnen diente der Todes -<br />
ma schinerie der Na zis, um die „End-<br />
lösung“ der „Juden frage“ ins Werk zu<br />
setzen. Trotz dieser Tatsachen stellte<br />
sich Österreich über 50 Jahre lang <strong>als</strong><br />
erstes Opfer des Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />
dar. Es bedurfte schon einer neuen<br />
Generation von HistorikerInnen und<br />
Politikwissen schaftler Innen, um 30<br />
Jahre nach dem Prozess gegen Eich -<br />
mann endlich zu der Einsicht zu ge -<br />
lan gen, dass Österrei cherInnen in den<br />
Massenmord in volviert waren.<br />
Während des letzten Jahrzehnts ar -<br />
bei tete Österreich daran, sich <strong>als</strong> Land<br />
zu präsentieren, das sich mit seiner<br />
Vergangenheit beschäftigt und die<br />
geeigneten historischen Leh ren aus ihr<br />
gezogen hat. Aber man muss fragen:<br />
Welche Lehren sind das? Ganz sicher<br />
gehört die wichtigste nicht dazu,<br />
nämlich die Verteidigung des Exis -<br />
tenz rechts Israels.<br />
Problematische Terrains<br />
Im April 2007 unterzeichnete der ös -<br />
terreichische Erdölkonzern OMV, der<br />
teilweise dem österreichischen Staat<br />
gehört, einen Vorvertrag mit dem<br />
Iran über ein gemeinsames Erd gas -<br />
pro jekt. Das Gesamtvolumen die ses<br />
ge planten Geschäfts soll 22 Mrd. Euro<br />
bei einer Laufzeit von 25 Jahren betragen.<br />
Experten sind davon überzeugt,<br />
dass diese Summe dazu verwendet<br />
wer den wird, das iranische Atompro -<br />
gramm zu finanzieren und die ak tu ellen<br />
internationalen Sanktionen ge gen<br />
den Iran zu unterlaufen. Die OMV ist<br />
dabei nicht irgendein Unternehmen –<br />
sie ist die größte Mineralölgesellschaft<br />
in Mitteleuropa. Der österreichische<br />
Staat hält 31,5 Prozent der Anteile an<br />
ihr. Wolfgang Ruttensdorfer, Gene ral di -<br />
rektor der OMV, gehörte mehrere<br />
Jahre lang der österreichischen Regie -<br />
rung an – für die SPÖ, die schon im -<br />
mer über enge Verbindungen zur<br />
OMV verfügte.<br />
Es ist nicht das erste Mal, dass sich<br />
die OMV auf problematisches Terrain<br />
begibt. Denn sie war es auch, die 1968<br />
das erste Gasabkommen mit der<br />
Sowjetunion schloss. Die Gasimporte<br />
begannen unmittelbar nach der Nie -<br />
der schlagung des Prager Frühlings<br />
durch Panzer des Warschauer Pakts.<br />
1980 unterzeichnete die OMV eine<br />
Ver einbarung mit Libyen <strong>als</strong> Teil eines<br />
internationalen Konsortiums und En -<br />
de der 1990er Jahre einen Kontrakt mit<br />
dem durch den Bürgerkrieg zerrütteten<br />
Sudan. Der damalige Presse spre -<br />
cher des Unternehmens argumen tierte<br />
seinerzeit, die OMV müsse trotz der<br />
Risiken im Sudan dort tätig werden,<br />
wo das Öl am billigsten sei und wo<br />
man keine amerikanische Konkur renz<br />
zu befürchten habe. Im Jahre 2003 war<br />
die OMV schließlich der einzig ver -<br />
blie bene internationale Konzern im<br />
Sudan – die übrigen Mineralölge sell -<br />
schaften hatten sich zurückgezogen,<br />
<strong>als</strong> sich die Krise zuspitzte und zehntausende<br />
Menschen von arabischen<br />
Milizen, die von der sudanesischen Regierung<br />
finanziert wurden, er mor det<br />
worden waren. Ende 2003 verkaufte<br />
die OMV ihre Anteile an asiatische<br />
Unternehmen.<br />
Das Geschäft der OMV mit dem<br />
Iran ist die logische Fortsetzung der<br />
Verstrickung dieses Konzerns mit<br />
dik tatorischen Regimes, die ihre ei ge -<br />
ne Bevölkerung unterdrücken und<br />
ermorden. Dennoch gibt es in Bezug<br />
auf den Iran Unterschiede: Die wie -<br />
der holten Drohungen der Mullahs,<br />
Israel zu vernichten, und die Unver -<br />
gleich lichkeit des Regimes hebt den<br />
Deal in den Rang einer existenziellen<br />
Frage – nicht nur für das jüdische<br />
Volk, sondern für die ganze Welt, die<br />
von der gewaltsamen Expansion der<br />
islamischen Herrschaft bedroht ist.<br />
Dennoch wird das Abkommen von al -<br />
len im österreichischen Parlament ver -<br />
tretenen Parteien unterstützt. So zial -<br />
demokraten, Konservative, Grüne und<br />
die extreme Rechte haben die Rei hen<br />
fest geschlossen und verweigern sich<br />
Forderungen, die Verhandlungen mit<br />
dem Iran einzustellen. Ironischer wei se<br />
machte der sozialdemokratische ös -<br />
ter reichische Kanzler Alfred Gusen -<br />
bauer unlängst überdeutlich, dass die<br />
Menschenrechte hinter wirtschaft li -<br />
chen Interessen zurückstehen müss -<br />
ten. Seine Regierung will sich deshalb<br />
nicht einmischen, trotz der fortgesetz -<br />
ten Repression, die vom iranischen<br />
Terrorregime ausgeht.<br />
Kritik aus Deutschland<br />
Die jüngste Kritik der deutschen<br />
Kanz lerin Angela Merkel – die sagte,<br />
Österreich sei dabei, mit dem Ab -<br />
schluss eines solchen Vertrags einen<br />
gefährlichen Präzedenzfall zu schaffen<br />
– wurde mit dem Verweis auf den<br />
privatwirtschaftlichen Charakter der<br />
OMV gekontert, obwohl der österrei -<br />
chische Staat der größte Anteilseigner<br />
des Unternehmens ist. Am 3. Februar<br />
jedoch unterschrieb mit Albert Stein -<br />
hauser, dem Justizsprecher der Grü nen,<br />
der erste Parlamentsabgeordnete die<br />
Online-Petition gegen den Deal zwischen<br />
der OMV und dem Iran. Es<br />
be steht die Hoffnung, dass er mit sei -<br />
ner Courage ein Vorbild für weite re<br />
Par la mentsmitglieder ist und dass<br />
diese endlich begreifen, dass es höchs<br />
te Zeit zum Handeln ist.<br />
Während des jüngsten Besuchs ei ner<br />
Delegation iranischer Parlamen ta rier<br />
im Dezember 2007 sprach Helmut<br />
Kukacka, konservativer Abgeordneter<br />
und Kopf der österreichisch-iranischen<br />
Parlamentariergruppe, über die gu ten<br />
bilateralen Beziehungen, die auch<br />
nach der Islamischen Revolution fortdauerten.<br />
„Österreich ist sehr daran in -<br />
teressiert, die Freundschaft zwischen den<br />
beiden Ländern zu stärken“, sagte er.<br />
Ein anderer Konservativer – Michael<br />
Spindelegger, Vizepräsident des Natio -<br />
nal rats – lobte die iranische Delega ti on<br />
dafür, den Dialog fortgesetzt und vertieft<br />
zu haben. Es war jedoch vor allem<br />
bemerkenswert, was in der Dis kus si on<br />
nicht zur Sprache kam: der iranische<br />
Wunsch nämlich, Israel zu vernichten.<br />
So warf die Debatte ein Schlaglicht<br />
auf das österreichische Bewusstsein,<br />
das sich durch eine lange Geschichte<br />
des Vergessens und Verdrängens aus -<br />
zeichnet – bis zu dem Punkt, an dem<br />
Österreich sich weigert, etwas zu un -<br />
ternehmen, um einen weiteren Juden -<br />
mord zu verhindern.<br />
➮<br />
POLITIK<br />
März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 23
POLITIK • AUSLAND<br />
Österreich hat das iranische Mul -<br />
lah-Regime schon immer behandelt<br />
wie ein rohes Ei. 1989 wurde der Vor -<br />
s it zen de der Demokratischen Partei<br />
Kurdistan-Iran, Abdel Rahman Ghas -<br />
sem lou, in <strong>Wien</strong> vom iranischen<br />
Regime er mor det. Kein einziger Ver -<br />
dächtiger – darunter Berichten zu fol ge<br />
Mahmud Ah madinedjad, wurde je m<strong>als</strong><br />
vor Ge richt für dieses Verbre chen zur<br />
Ver ant wortung gezogen. Statt dessen<br />
setz ten iranische Diplo maten die<br />
österrei chi sche Regierung unter<br />
Druck und for derten, die Er mitt -<br />
lungen einzustellen, die sich auf das<br />
iranische Kommando konzentrier ten,<br />
das am Ort des Mor des an ge troffen<br />
worden war. Un mit tel bar nach dem<br />
dieses Kommando Ös ter reich verlassen<br />
hatte, wurden Haft befehle er -<br />
lassen, die jedoch ohne Konse quenz<br />
blieben.<br />
Österreich hat stets versucht, seine<br />
Be ziehungen in jedem Sektor der ira -<br />
ni schen Wirtschaft zu verbessern.<br />
Mit ten im irakisch-iranischen Krieg<br />
beispielsweise schickte die VOEST,<br />
ein staatliches Stahlunternehmen, 200<br />
Kanonen via Libyen in den Iran. Und<br />
in den letzten Jahren verkaufte der<br />
österreichische Waffenkonzern Steyr-<br />
Mannlicher Präzisionsgewehre an den<br />
Iran. Nach Angaben des ‘American<br />
En terprise Institute’ macht der mili tärisch-industrielle<br />
Komplex elf Pro zent<br />
des österreichisch-iranischen Han -<br />
delsvolumens aus. Seit 2002 ha ben<br />
sich die österreichischen Ex porte in<br />
den Iran verdoppelt, aber sie ge hen<br />
immer noch nur in die Millio nen,<br />
nicht in die Milliarden. Der ge plante<br />
OMV-Deal mit dem Iran wür de das<br />
ändern und Österreich so wie Europa<br />
zu langfristigen strategischen Part nern<br />
des iranischen Regimes machen. „Ös -<br />
ter reich ist für uns das Tor zur Euro pä -<br />
ischen Union“, so Ali Naghi Khamou shi,<br />
der Präsident der iranischen Han delskammer,<br />
im November 2006.<br />
Im März <strong>2008</strong> wird Österreich of fi ziell<br />
das 70-jährige Jubiläum des „An -<br />
schlus ses“ betrauern. Zwei Mo nate<br />
später wird es an den 60-Jahres-Fei er -<br />
lichkeiten des Staates Israel teilneh -<br />
men. Diese Ereignisse sollten Anlass<br />
zu einer moralischen Gewis sens prü -<br />
fung sein. Österreich muss seine mo -<br />
ralische Rhetorik in kon kretes Han -<br />
deln umsetzen, wenn es unter Be weis<br />
stellen will, dass es seine Lektion gelernt<br />
hat. Diese Worte würden mit<br />
Inhalt gefüllt, und es würde zudem<br />
ein deutliches Zei chen gesetzt, wenn<br />
durch eine Auf kündigung des ge -<br />
planten größten Öl abkommens aller<br />
Zeiten zwischen einem euro pä i schen<br />
Unternehmen und den Mul lahs zu -<br />
mindest der Versuch unternommen<br />
wird, die atomaren Ambitionen des<br />
Irans zu stoppen.<br />
■<br />
UN-SITZUNG:<br />
Gedenkminute<br />
für „Märtyrer“<br />
im Gazastreifen<br />
Der UN-Menschenrechtsrat hat<br />
eine Schweigeminute für die<br />
„Märtyrer“ ab gehalten, die bei der<br />
jüngsten isra elischen Offensive im<br />
Gazastreifen getötet wurden. Der<br />
Antrag kam vom ira nischen Aus -<br />
senminister Manu chehr Mottaki.<br />
Während der Sitzung in Genf<br />
forder te Mottaki die Geste für die<br />
Frau en und Kinder, die „heutzutage<br />
vom zionistischen Regime angegriffen“<br />
würden. Er bat den Vor sit -<br />
zenden um „eine Mi nute des Schwei -<br />
gens“, in der seine „mus limischen<br />
Brüder und Schwestern“ den ersten<br />
Vers des Korans „für jene Mär ty rer<br />
in Gaza“ lesen sollten.<br />
Wie die Tageszeitung „Ha´aretz“<br />
be richtet, herrschte daraufhin im<br />
Sit zungssaal etwa 30 Sekunden<br />
lang Schweigen.<br />
inn<br />
EU verurteilt<br />
israelfeindliche Aussagen<br />
iranischer Spitzenpolitiker<br />
Die Europäische Union hat jüngste<br />
israelfeindliche Aussagen iranischer<br />
Spitzenpolitiker „aufs Schärfste verurteilt“.<br />
„Die EU ruft den Iran auf, mit<br />
seiner feindlichen Sprache aufzuhören und<br />
sich aller Drohungen gegenüber an de ren<br />
Staaten und Mitgliedern der internationalen<br />
Gemeinschaft zu enthalten“, heißt es<br />
in einer Stellungnahme des slowenischen<br />
EU-Ratsvorsitzes. Darin wird<br />
Teheran aufgerufen, sich zur Not wen -<br />
digkeit einer Koexistenz zweier Staa -<br />
ten <strong>als</strong> Lösung des israelisch-palästinensischen<br />
Konflikts zu bekennen.<br />
Die Aus sagen von Präsident Mah -<br />
moud Ahmadinejad, Außenminister<br />
Ma nou cher Mottaki und des Befehls -<br />
habers der Revolutionären Garden<br />
(Pas da ran), Mohammad Ali Jafari,<br />
seien „un annehmbar, schädlich und un -<br />
zi vilisiert“, heißt es in der Stellung -<br />
nah me.<br />
Ahmadinejad bezeichnete Israel „<strong>als</strong><br />
schwarze und schmutzige Mikrobe“, die<br />
von der internationalen Gemein schaft<br />
„wie ein wildes Tier auf die Nationen der<br />
Region losgelassen“ worden sei. Jafari<br />
hatte Israel <strong>als</strong> „krebsartige Existenz“<br />
bezeichnet, die bald von der libanesischen<br />
schiitischen Hisbollah-Miliz<br />
zerstört werde. Mottaki sagte, dieses<br />
vom Westen aufgezwungene „künstliche<br />
Regime“ habe auch 60 Jahre nach<br />
seiner Gründung „keine Legi ti mität“<br />
und spiele keine Rolle in der Region.<br />
Islamabad, 07. März <strong>2008</strong> - Pakistans religiöse Partei Jamaat-e-Islami und ihr<br />
Führer Qazi Hussein Ahmad (nicht im Bild) rufen vor der Faisal Moschee zur<br />
Zerstörung Israels auf .<br />
©EPA/T.Mughal<br />
24 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768
POLITIK • ISRAEL<br />
TERRORANSCHLAG IN JERUSALEM<br />
Kurz nach 20.30 Uhr stürmte am<br />
Abend des 6. März ein palästinensischer<br />
Terrorist mit einer Ka lasch -<br />
nikov bewaffnet in die Mercaz Harav<br />
Yeshiva in Jerusalem und schoss in<br />
der Bibliothek, in der sich 80<br />
Studenten, zumeist Teenager, aufhielten,<br />
in die Menge. Acht Studenten<br />
wurden getötet, elf verletzt, drei da -<br />
von schwer.<br />
Im Gazastreifen wurde der An schlag<br />
durch Luft schüsse ge feiert. Die Ha -<br />
mas erklärte, dass sie den Anschlag<br />
segne und dass es nicht der letzte<br />
gewesen sei.<br />
Stichwort: Jeschiva<br />
„Er war ein guter Junge“<br />
Besuch bei der Familie des Jerusalem-Attentäters<br />
Allah Abu Dehaim, 25, war ein „guter<br />
Junge“, sagt sein Cousin Mohammad<br />
vor dem riesigen blauen Trauerzelt<br />
der Familie. Am 6. März hatte De haim<br />
mit einem Schnellfeuergewehr, mehreren<br />
Pistolen und sehr viel Munition<br />
in der „Jeshivat Merkaz Harav“ ein<br />
Blutbad angerichtet, acht Schüler zwi -<br />
schen 16 und 26 Jahren ermordet und<br />
weitere verletzt. „Mit uns hat er nie über<br />
Politik gesprochen“, erzählt Mo ham -<br />
mad, der auf der Terrasse der Neu -<br />
bauvilla der Familie Dehaim steht. Er<br />
gab Interviews im Fließband. In der<br />
Ferne sieht man die von den Israelis<br />
er richtete Trennmauer im Osten Jeru -<br />
salem, die judäische Wüste und sogar<br />
die Berge Jordaniens. Djebel Mukab er,<br />
eigentlich ein Dorf und heute ein Vier -<br />
tel Jerusalems, grenzt an das von Ju den<br />
bewohnte Viertel „Armon Hanatziv“.<br />
Keine Mauer und kein Zaun zwischen<br />
beiden Vierteln, die dennoch wie zwei<br />
Welten wirken. Neben BBC und dem<br />
spanischen Fernsehen sind auch Reu -<br />
ters und arabische Fernsehteams ge -<br />
kom men. Dehaim habe <strong>als</strong> „Trans por -<br />
teur“ gearbeitet und einen Mini bus<br />
gefahren. Ob er auch für jene fromme<br />
Schule gearbeitet habe, wie die Po li zei<br />
behauptete? Mohammad wird leicht<br />
ungehalten: „Das ist eine typische Lüge<br />
der Juden. An der Schule wird Hass auf<br />
Araber gelehrt. Die würden niem<strong>als</strong><br />
einen Araber <strong>als</strong> Fahrer einsetzen.“<br />
Vor dem Haus, <strong>als</strong> Girlande über<br />
die Straße und auf der benachbarten<br />
Schule hängen fabrikneue grüne<br />
Flag gen mit dem eingestickten Spruch<br />
„Allah ist Groß“. Zwischen diesen<br />
Flaggen der radikal-islamischen Ha -<br />
mas hängt auch eine gelbe Fahne der<br />
Hisbollah und ansonsten Flaggen der<br />
PLO, die „palästinensische Flagge“.<br />
Ob die Familie politisch aktiv sei und<br />
der Hamas angehöre? Mohammad<br />
ver neint: „Es ist üblich, die Fahne mit<br />
dem Wort Allah aufzuhängen, weil sie<br />
zeigt, dass Allah hinter uns steht.“ Ob<br />
Dehaim Mitglied einer politischen Or -<br />
ganisation gewesen sei? Mohammad<br />
verneint erneut, aber „es ist klar, dass<br />
wir alle betroffen und wütend sind, we -<br />
gen der Vorgänge in Gaza und wegen der<br />
Mohammed-Karikaturen. Sie wissen doch,<br />
die Karikaturen aus Dänemark. Und wie<br />
die Welt Moslems behandelt.“<br />
Dehaim habe drei Brüder - die in<br />
der Nacht von der Polizei abgeholt<br />
worden seien und immer noch in Haft<br />
säßen - und sechs Schwestern hin ter -<br />
lassen. Die Familie habe nichts ge spürt<br />
und Mohammad behauptet, selber erst<br />
etwas erfahren zu haben, <strong>als</strong> die Poli zei<br />
kam. Die Frage, woher denn De haim,<br />
der keiner Organisa tion an gehöre und<br />
über Politik nicht einmal re den wollte,<br />
die Waffen hatte, „würde ich Ihnen<br />
beantworten, wenn ich es wüss te“. Mo -<br />
ham mad weiß auch nicht, wie und wo<br />
Dehaim in den Ge brauch der Waffen<br />
eingeweiht worden war. UWS/APA<br />
„Jeschiva“ (Plural: Jeschivot) ist eine fromme<br />
jüdische Erziehungsanstalt für junge Männer.<br />
Mädchen lernen separat in „Instituten“.<br />
Im Staat Israel gibt es parallele staatlich<br />
anerkannte Erziehungssysteme: weltliche<br />
Schu len, fromme Schulen, zu denen auch die<br />
Jeschivot zählen und arabische Schu len.<br />
Hinzu kommen orthodoxe Jeschivot mit<br />
einem eigenen streng religiösen Lehrplan.<br />
Die in Jerusalem überfallene Jeschiva bie tet<br />
ihren Schülern neben dem Stu di um des Tal -<br />
mud auch weltliche Kurse zu Mathematik und<br />
Geografie. Der Ab schluss, das Abitur, er -<br />
mächtigt sie zum Studium an der Uni ver si tät.<br />
Die „Jeschiva“ ist kein „Priesterse mi nar“, da<br />
es im Judentum keine hauptamtlichen „Pries-<br />
ter“ gibt. Ein „Cohen“ (Priester) ist ein Nach -<br />
fahre des biblischen Aahron, erkennbar an<br />
seinem Familiennamen wie Kahn, Kohn oder<br />
Katz (Abkürzung für „Cohen Zedek“). Einem<br />
Cohen wird im Gottesdienst traditionell eine<br />
besondere Eh re erteilt, <strong>als</strong> Erster zur Lesung<br />
aus der Tora (Fünf Bücher Mose) aufgerufen zu<br />
werden. Diese Erbpriester sind nicht zu ver -<br />
wechseln mit den an „Rabbiner se mi na ren“ ausgebildeten<br />
Rabbinern, den jüdischen Geist li -<br />
chen. Wer in einer „Jeschi va“ lernt, wird nicht<br />
automatisch Rabbiner.<br />
Auf Anfrage vergleicht der Jerusalemer Rab -<br />
biner Zeev Gotthold die „Jeshiva“ mit der<br />
deutschen Mittelschule. Das Schwer gewicht<br />
werde auf das Studium frommer Texte, das tägliche<br />
Gebet und die Erzie hung zu einem from -<br />
men Lebenswandel gelegt, vergleichbar mit<br />
deutschen Non nenschulen, wo Schüler nicht<br />
dazu angehalten werden, nach dem Ab schluss<br />
ins Kloster zu gehen. Neben diesen Mittel -<br />
schu le-Jeschivot gibt es Jeschivot, an de nen<br />
fromme jüdische Männer ihr Leben lang studie<br />
ren, weil sie im Studium des Talmud eine<br />
be sonders gottgefällige Aufgabe sehen. Der<br />
Talmud, zwischen 500 vor und 500 nach Chr.<br />
entstanden, ist ein Sammelwerk rabbinischer<br />
Kommentare zu den in den fünf Büchern Mo -<br />
ses enthaltenen göttlichen Geboten. UWS<br />
März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 25
POLITIK • ISRAEL<br />
UNO<br />
UNO-SICHERHEITSRAT<br />
Keine Einigung zu<br />
Jerusalemer Anschlag<br />
Zahlreiche Regierungen - bedauerlicherweise<br />
gab es aus Österreich keine<br />
offizielle Reaktion - haben den blutigen<br />
Anschlag auf eine Jeshiva in Jeru -<br />
sa lem mit min destens acht Toten<br />
scharf verurteilt.<br />
Der UNO-Sicherheitsrat konnte sich<br />
hingegen nicht auf eine gemeinsame<br />
Haltung einigen. Das höchste Gre mi -<br />
um der Vereinten Nationen ging nach<br />
zweistündigen Beratungen oh ne Er -<br />
geb nis auseinander. Einige Mitglie der<br />
hätten das At ten tat nicht <strong>als</strong> Ter ror -<br />
an schlag werten wol len, sagte der<br />
am tierende Präsi dent des Weltsicher -<br />
heits rates, der rus sische UNO-Bot -<br />
schaf ter Witali Tschur kin. „Als russische<br />
De legation bedauern wir, dass der Welt -<br />
sicherheitsrat nicht in der Lage war, den<br />
Anschlag zu verurteilen“, so Tschur kin<br />
vor Journalisten.<br />
Auch der UNO-Botschafter der<br />
USA, Zalmay Khalilzad, zeigte sich<br />
ent täuscht. Er machte Libyen - eines<br />
der zehn nichtständigen Mitglieder<br />
des Weltsicherheitsrates - für das<br />
Schei tern verantwortlich. „Diejenigen,<br />
die die Er klä rung verhindert haben, tragen<br />
die Verantwortung“, so Khalilzad.<br />
Israels UNO-Botschafter Dan Giller -<br />
man griff die libysche Delegation an:<br />
„Der Welt si cherheitsrat ist von Terro ris ten<br />
infiltriert“, sagte er vor Journa lis ten.<br />
Mitglieder der libyschen Delega ti on<br />
erklärten, das Gremium müsse auch<br />
die Tötung von mehr <strong>als</strong> 120 Palästi -<br />
nen sern bei der jüngsten israelischen<br />
Offensive gegen Extremisten im Ga -<br />
za-Streifen verurteilen. „Wenn der Rat<br />
Maßnahmen ergreift, sollten sie ausgewo<br />
gen sein“, hieß es. Khalilzad und<br />
Tschurkin wollten die Gescheh nisse<br />
nicht gleichsetzen. Menschen in einer<br />
Schule zu töten sei etwas anderes <strong>als</strong><br />
die unbeabsichtigte Tötung von Zivi -<br />
lis ten wie bei dem Einsatz in Gaza,<br />
ar gumentierte der US-Botschafter.<br />
US-Präsident George W. Bush er -<br />
TERRORANSCHLAG IN JERUSALEM<br />
klär te: „Dieser barbarische und teuflische<br />
An griff auf unschuldige Zivilisten<br />
verdient es, von jeder Nation verurteilt<br />
zu werden.“ Er habe dem israelischen<br />
Pre mier Ehud Olmert in einem Tele -<br />
fonat sein tiefes Beileid ausgesprochen<br />
und versichert, dass die USA<br />
eng an der Seite Israels stünden.<br />
Der EU-Außen be auf tragte Solana<br />
sprach der israelischen Außenminis -<br />
te rin Tzipi Livni sein Mitgefühl aus,<br />
wie seine Spre cherin Cristina Gallach<br />
sagte.<br />
Mit Entsetzen reagierte auch Bun -<br />
deskanzlerin Angela Merkel auf den<br />
blutigen Anschlag auf die Religions -<br />
schu le in Jerusalem. Ihr Sprecher<br />
Ulrich Wilhelm sagte in Berlin, die<br />
Kanzlerin habe mit dem israelischen<br />
Re gierungschef Ehud Olmert am<br />
morgen telefoniert, den Anschlag auf<br />
das Schärfste verurteilt und ihr Mit -<br />
gefühl ausgedrückt. Außenminister<br />
Frank-Walter Steinmeier hatte sich<br />
ähnlich geäußert und von einem verbrecherischen<br />
Akt gesprochen. Spre -<br />
cher Martin Jäger sagte, es handle<br />
sich um ein entsetzliches Verbrechen,<br />
EU<br />
das <strong>als</strong> Einzelakt gesehen werde. Der<br />
Mi nis ter habe auch mit seiner israelischen<br />
Kollegin Tsipi Livni telefoniert<br />
und sein Mitgefühl ausgedrückt.<br />
UNO-Gener<strong>als</strong>ekretär Ban Ki-moon<br />
kritisierte den „grausamen Angriff“. Er<br />
sei in tiefer Sorge, dass die anhaltende<br />
Gewalt und der Terrorismus den<br />
politischen Prozess untergrabe, sagte<br />
Ban in einer Erklärung, die in New<br />
York verbreitet wurde.<br />
Auch der palästinensische Präsi dent<br />
Mahmoud Abbas verurteilte den An -<br />
schlag scharf.<br />
Die israelische Re gie rung erklärte,<br />
trotz des Terrorakts soll ten die Friedens<br />
gespräche mit den Palästinen sern<br />
weitergehen. „Die Ter ro risten versuchen<br />
die Chancen auf Frieden zu zerstören, aber<br />
wir werden bestimmt die Friedensge sprä -<br />
che fortsetzen“, sagte der Sprecher des<br />
israelischen Außen mi nisteriums, Arie<br />
Me kel.<br />
Der Angreifer, ein <strong>als</strong> orthodoxer<br />
Jude verkleideter Mann, wurde laut<br />
Po li zei von einem israelischen Solda -<br />
ten getötet.<br />
EU-PRÄSIDENTSCHAFT<br />
EU korrigiert ihre Verurteilung<br />
Die EU Präsidentschaft hat eine schar fe Verurteilung<br />
des Terror-Anschlags veröffentlicht. Allerdings folgte<br />
einer ersten Version eine zweite, mit der Bitte, den<br />
ersten per Email anderthalb Stunden zuvor verschickten Text nicht zu beachten.<br />
Während die EU zunächst beklagte, dass der „Terror-Akt“ in dem jüdischen<br />
Seminar in Jerusalem „kostbares Leben“ gefordert habe, besann sich die EU darauf,<br />
dass es „unschuldiges Leben“ gewesen sei.<br />
Im nächsten Abschnitt hieß es zu nächst: „Trotz des Horrors, den diese Attacke<br />
erneut erweckte, forderte die Prä sidentschaft Israel und die Palästinenser auf, standhaft<br />
ihre Bemühungen einzig um eine politische Lösung des Konflikts zu befolgen, die<br />
allein einen beständigen Frieden und Sicherheit für beide Völker bringen könne.“<br />
Diese Passage wich den Worten: „Ter ror akte sind nicht akzeptabel. Dieser<br />
Terrorakt darf den Friedensprozess nicht entgleisen lassen und nicht den Geist von<br />
Annapolis schwächen.“<br />
Aus dem Vergleich der Texte ergibt sich, dass die EU zunächst nicht das<br />
Wort „unschuldig“ für die Schüler der jüdischen Hochschule verwenden wollte,<br />
zumal dieses Wort inflationär für die Beschreibung von Palästinen sern<br />
dient, die durch Israelis getötet wurden, gleichgültig ob Kämpfer, be waffnet<br />
oder beim Verschießen einer Rakete ertappt.<br />
Die zweite gestrichene Passage konnte <strong>als</strong> Aufforderung vor allem an Israel<br />
miss verstanden werden, jetzt den Friedensprozess nicht entgleisen zu las sen.<br />
In der neueren Version verurteilt die EU-Präsidentschaft ganz grund sätzlich<br />
den Terrorakt, ohne mehr Israelis und Palästinenser beim Na men zu nennen.<br />
Ulrich W. Sahm, Jerusalem,7.3.<strong>2008</strong><br />
26 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768
POLITIK • ISRAEL<br />
Einleitung<br />
GAZASTREIFEN<br />
Die gegenwärtigen Kämpfe in Is -<br />
rael und im Gaza-Streifen, insbesondere<br />
der tragische Tod von Zivilisten<br />
und die Beschädigung zivilen Eigen -<br />
tums im Verlauf des Konflikts, werfen<br />
wichtige und herausfordernde<br />
Fra gen auf. Was ist ein legitimes Ziel<br />
bei der Reaktion auf einen terroristischen<br />
Angriff? Wie kann bestimmt<br />
werden, ob eine Reaktion unverhältnismäßig<br />
ist?<br />
Diese Fragen sind besonders akut in<br />
einer Situation, in der die Terroror ga -<br />
ni sation Hamas Zivilisten sowohl <strong>als</strong><br />
Schutzschild <strong>als</strong> auch <strong>als</strong> Ziel scheibe<br />
benutzt. Israel bemüht sich für seinen<br />
Teil darum, die Verletzung von Zivi -<br />
lis ten auf beiden Seiten zu begrenzen:<br />
von israelischen Zivilis ten, die von den<br />
Raketen und Mörsern der Hamas at -<br />
tackiert werden, und von palästinensischen<br />
Zivilisten, in deren Mitte sie<br />
gehortet und abgeschossen werden.<br />
Dass Israel sich der krassen Verlet -<br />
zungen des internationalen Rechts<br />
durch die Terroristen schmerzhaft be -<br />
wusst ist, entbindet es nicht von seiner<br />
eigenen Verantwortung, rechtliche<br />
Grundsätze bei seiner Reaktion zu<br />
be folgen. Diese Grundsätze des in -<br />
ternationalen Rechts enthalten nicht<br />
immer eindeutige Antworten, aber<br />
sie bieten eine wichtige Orien tie -<br />
rungshilfe bei der Durchfüh rung von<br />
Militäroperationen.<br />
I. Militäroperationen und<br />
zivile Opfer<br />
Das internationale Recht erkennt<br />
die tragische Tatsache an, dass es in<br />
rechtmäßigen Militäroperationen zu<br />
zivilen Todesopfern und Verletzten<br />
kommen kann. So hat die Rechts au -<br />
torität Oppenheim festgestellt: „Zi -<br />
vilisten genießen keine absolute Immu -<br />
nität. Ihre Anwesenheit macht militärische<br />
Objekte nicht schon deshalb immun<br />
gegen einen Angriff, dass es unmöglich ist,<br />
sie zu bombardieren, ohne Nicht kämp -<br />
fenden Schaden zuzufügen.“ 1<br />
In der Praxis stellen sich zwei Fra -<br />
gen in Bezug auf die Recht mäßigkeit<br />
der Planung und Ausführung einer<br />
Operation:<br />
Fragen der Verhältnismäßigkeit<br />
Israels Antwort auf den Terror der Hamas<br />
1) Ist das Ziel selbst ein legitimes<br />
mi litärisches Angriffsziel?<br />
2) Ist - wenn das Ziel legitim ist –<br />
mit der unverhältnismäßigen Verlet -<br />
zung und Schädigung der Zivilbevöl -<br />
ke rung und zivilen Eigentums zu<br />
rechnen?<br />
II. Legitime militärische Ziele<br />
Die allgemein anerkannte Defini -<br />
tion eines „militärischen Ziels“ wird<br />
in Art. 52 (2), Zusatzprotokoll I der<br />
Genfer Konvention bestimmt: „Was<br />
die Ziele angeht, sind militärische Ziele<br />
auf solche begrenzt, die ihrer Natur, ih -<br />
rem Standort und ihrem Zweck oder ih rer<br />
Nutzung nach einen wirksamen Beitrag<br />
für eine Militäraktion darstellen und<br />
deren totale oder teilweise Zerstö rung,<br />
Einnahme oder Neutralisierung innerhalb<br />
der aktuell herrschenden Um stände einen<br />
eindeutigen militärischen Vor teil versprechen.“<br />
Wenn der Standort ein legitimes<br />
militärisches Ziel darstellt, hört er<br />
nicht deswegen auf eines zu sein,<br />
dass sich Zivilisten in seiner Umge -<br />
bung befinden. So stellt Art. 28 der<br />
IV. Genfer Konvention fest: „Die<br />
Anwesenheit einer geschützten Person<br />
kann nicht dazu genutzt werden, be -<br />
stimmte Punkte oder Gebiete immun ge -<br />
gen Militäroperationen zu machen.“<br />
Ohne Frage stellt die absichtliche<br />
Platzierung militärischer Ziele im<br />
Herzen bewohnter Gebiete eine ernsthafte<br />
Verletzung des humanitären<br />
Rechts dar, und diejenigen, die solche<br />
Ziele in diesen Gebieten platzieren,<br />
müssen die Verantwortung für die Verletzung<br />
von Zivilisten tragen, die ihre<br />
Entscheidung mit sich bringt. Der<br />
internationale Rechtsexperte Yo ram<br />
Dinstein bemerkt: „Sollten sich zivile<br />
Opfer aus einem Versuch, Kämpfer oder<br />
ein militärisches Ziel abzuschirmen, er ge -<br />
ben, liegt die letzte Verantwortung bei der<br />
kriegsführenden Partei, die die un schul -<br />
digen Zivilisten der Gefahr aussetzt.“<br />
Aber die hartherzige Missachtung<br />
von Seiten derjenigen, die sich hinter<br />
Zivilisten verstecken, befreit den<br />
Staat nicht davon, auf solche Angriffe<br />
aus der Verantwortung heraus zu<br />
reagieren, dass die Verletzung von<br />
Zivilisten und ihrem Eigentum im<br />
Laufe der Operationen vermieden<br />
oder zumindest minimiert werden.<br />
Gerade dies wirft die komplexe Frage<br />
der Verhältnismäßigkeit auf.<br />
III. Verhältnismäßigkeit<br />
Die zweite rechtliche Anforderung<br />
besteht darin, dass jeder Angriff im<br />
Verhältnis zu dem erhofften militärischen<br />
Vorteil steht. Generalmajor<br />
A.P.V. Rogers, ein früherer Direktor der<br />
British Army Legal Services, erläutert<br />
die Ratio hinter diesem Prinzip:<br />
„Obwohl sie keine militärischen Ziele dar -<br />
stellen, sind Zivilisten und zivile Ob jekte<br />
März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 27
POLITIK • ISRAEL<br />
den allgemeinen Gefahren des Krieges in<br />
dem Sinne unterworfen, dass Angriffe<br />
auf Militärpersonal und militärische Ziele<br />
zufälligen Schaden verursachen können. Es<br />
kann unmöglich sein, den Einwir kungs ra -<br />
dius gänzlich auf das anzugreifende Ziel<br />
zu beschränken... Angehörige der Streit -<br />
kräf te sind nicht für zufälligen Schaden<br />
zur Verantwortung zu ziehen, vorausgesetzt,<br />
dass er in angemessenem Verhält nis<br />
zu dem erwarteten militärischen Ertrag<br />
des Angriffs steht.“<br />
Während das Prinzip klar ist, kann<br />
sich das Abwägen eines erwarteten<br />
mi litärischen Vorteils gegen einen<br />
mög lichen Kollater<strong>als</strong>chaden <strong>als</strong> ex -<br />
trem komplizierte Kalkulation erweisen,<br />
speziell in der Hitze eines be waff -<br />
neten Konflikts. In seinem Bericht an<br />
den Ankläger des Inter na tionalen<br />
Straf tribun<strong>als</strong> für das ehemalige Ju goslawien<br />
hat das Komitee zur Überprüfung<br />
der NATO-Bombardie run gen in<br />
Jugosla wien die besonderen Schwie -<br />
rig keiten hervorgehoben, die entstehen,<br />
wenn militärische Ziele in dicht<br />
bevölkerten Gebieten liegen:<br />
„Die Antworten auf diese Fragen sind<br />
nicht einfach. Es kann notwendig sein,<br />
sie auf einer Fall-für-Fall-Grundlage zu<br />
lösen, und die Antworten können je nach<br />
dem Hintergrund und den Werten des<br />
Entscheidungsträgers differieren. Es ist<br />
un wahrscheinlich, dass ein Menschen -<br />
rechts anwalt und ein erfahrener Kampf -<br />
kom mandeur die gleichen jeweiligen<br />
Werte an den militärischen Vorteil und<br />
die Verletzung von Nichtkämpfenden<br />
anlegen ... Es wird vorgeschlagen, dass die<br />
Bestimmung der jeweiligen Werte diejenige<br />
eines ‚vernünftigen Militär kom man -<br />
deurs’ sein sollte.“<br />
Ein wichtiger Grundsatz, den das<br />
in ternationale Recht für den diesen<br />
schwierigen Abgleich suchenden‚<br />
ver nünftigen Militärkommandanten’<br />
eingeführt hat, besteht darin, dass die<br />
Verhältnismäßigkeit einer Antwort<br />
auf einen Angriff nicht an dem spezifischen<br />
Angriff gemessen werden soll,<br />
der dem Staat widerfahren ist, sondern<br />
daran, was notwendig dafür ist,<br />
die übergreifende Bedrohung abzuwenden.<br />
Wie Rosalyn Higgins, die ge -<br />
genwärtige Präsidentin des Inter nationalen<br />
Gerichtshofs, geschrieben hat,<br />
kann Verhältnismäßigkeit „nicht in<br />
Bezug auf irgendeine spezifische Verlet -<br />
zung“ bestimmt werden, sondern „in<br />
Bezug auf das übergreifende legitime Ziel<br />
der Beendigung der Aggression“.<br />
Dementsprechend schließt das Recht<br />
auf Selbstverteidigung nicht nur<br />
Handlungen ein, die zur Abwehr<br />
einer unmittelbaren Bedrohung er -<br />
grif fen werden, sondern auch solche,<br />
die nachfolgende Angriffe verhindern<br />
sollen.<br />
IV. Von der Theorie zur Praxis –<br />
Israels Operationen in Gaza<br />
Israel hat sich die oben dargelegten<br />
Grundsätze des internationalen hu manitären<br />
Rechts zu Eigen gemacht, und<br />
die Israelischen Verteidi gungs streit -<br />
kräf te (ZAHAL) haben sie in ih rem<br />
Handbuch zum Kriegsbuch ver an kert.<br />
Was die Auswahl von Zie len angeht,<br />
verlangt das Handbuch nicht nur,<br />
dass zwischen militärischen Zie len<br />
und zivilen Objekten unterschieden<br />
werden muss; es ordnet auch an, dass<br />
man „im Falle des Zweifels, ob ein ziviles<br />
Objekt zu einem militärischen Ziel<br />
geworden ist, ... davon ausgehen muss,<br />
dass es sich nicht um ein militärisches Ziel<br />
handelt, bis das Gegenteil bewiesen ist“.<br />
In ähnlicher Weise bestimmt das<br />
ZA HAL-Handbuch in Bezug auf die<br />
Frage der Verhältnismäßigkeit: „Selbst<br />
wenn es nicht möglich ist, Zivilisten von<br />
einem Militärschlag auszunehmen und es<br />
keine andere Möglichkeit gibt <strong>als</strong> anzugrei<br />
fen, muss der Kommandant einen An -<br />
griff unterlassen, der erwartungsgemäß<br />
der Zivilbevölkerung Schaden zufügt, der<br />
unverhältnismäßig zum erwarteten militärischen<br />
Ertrag ist.“<br />
In der Praxis verlangt dies von ZA -<br />
HAL und dem Kommandeur im<br />
Feld, sowohl den erwarteten militärischen<br />
Etrag <strong>als</strong> auch den potentiellen<br />
Kollater<strong>als</strong>chaden für Zivilisten in<br />
dem Gebiet abzuwägen. In Hinsicht<br />
auf den erwarteten militärischen Er -<br />
trag ist zu betonen, dass der relevante<br />
Vorteil nicht der des spezifischen An -<br />
griffs, sondern der Militärope ra ti on<br />
<strong>als</strong> Ganzer ist. So stellt das deutsche<br />
Militärhandbuch fest: „Der Begriff<br />
‚militärischer Vorteil’ bezieht sich auf den<br />
Vorteil, der von dem Angriff <strong>als</strong> Ganzem<br />
erwartet werden kann und nicht nur von<br />
isolierten oder spezifischen Teilen des<br />
Angriffs.“<br />
Es muss – wie oben erwähnt - auch<br />
daran erinnert werden, dass die relevante<br />
Überlegung zur Abwägung der<br />
Rechtmäßigkeit einer Antwort auf<br />
einen Akt der Aggression sich nicht<br />
auf die bereits durchgeführten An -<br />
grif fe bezieht, sondern auf das „über -<br />
grei fende Ziel einer Been di gung der Ag -<br />
gres sion“.<br />
In Israels Fall bedeutet dies, dass<br />
seine Antwort nicht nur in Hin sicht auf<br />
irgendeinen spezifischen Grenz zwi -<br />
schenfall gemessen werden muss –<br />
oder selbst die Gesamtzahl der Tau senden<br />
von Raketen und Mör ser gra na ten,<br />
die bereits auf is ra eli sche Zi vi listen in<br />
der Nachbar schaft Gazas abgefeuert<br />
worden sind -, sondern auch in Hin -<br />
sicht auf die Bedrohung in Form der<br />
gehorteten Raketen, Waf fen und Mu nition,<br />
die die Hamas noch zur Ver fügung<br />
hat und gegen Israel einzusetzen<br />
droht.<br />
Die Möglichkeit eines Kollateral -<br />
scha dens von Zivilisten muss im Lich -<br />
te dieser Überlegungen abgewogen<br />
werden. Leider bedeutet die absichtliche<br />
Platzierung von Raketenwerfern<br />
und Waffenvorräten im Herzen von<br />
zivilen Wohngebieten, dass dieses<br />
Risiko tragisch hoch ist.<br />
Aber durch die Anwesenheit von<br />
Zivilisten in seinem Gebiet hört ein<br />
militärisches Ziel nicht auf, ein legitimes<br />
Angriffsziel zu sein. Dies ist nicht<br />
nur das Recht – wie oben erwähnt -,<br />
sondern auch die Praxis von Staaten.<br />
Das Handbuch der australischen Ar -<br />
mee spiegelt diese vorherrschende<br />
Praxis wieder: „Die Anwesenheit von<br />
Nichtkämp fen den in nerhalb oder in der<br />
Gegend eines militärischen Ziels ändert<br />
nichts an seinem We sen <strong>als</strong> militärisches<br />
Ziel. Nichtkämpfende in der Um ge bung<br />
eines militärischen Ziels müssen die Ge -<br />
fahr teilen, denen das militärische Ziel<br />
ausgesetzt ist.“<br />
In der Praxis macht sich Israel den<br />
hier reflektierten Standpunkt nicht zu<br />
Eigen, demzufolge Zivilisten in der<br />
Umgebung eines militärischen Ziels<br />
die „Gefahr teilen“ müssen. Vielmehr<br />
un ternimmt es erhebliche Anstren gungen,<br />
zivile Opfer zu vermeiden oder<br />
zu minimieren. Jede Operation wird<br />
auf individueller Basis abgewogen,<br />
um sicherzustellen, dass sie der Ver -<br />
hält nismäßigkeitsprüfung standhält.<br />
Oft m<strong>als</strong> bedeutet dies die Ableh nung<br />
vorgeschlagener Militärope ra tionen,<br />
wenn die Wahrschein lich keit von Kol -<br />
later<strong>als</strong>chäden für Zivi listen und ihr Ei -<br />
gentum <strong>als</strong> zu hoch eingeschätzt wird.<br />
28 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768
POLITIK • ISRAEL<br />
Schluss<br />
Die gegenwärtige Militäroperation in<br />
Gaza vollzieht sich vor dem Hinter -<br />
grund einer klaren Asymmetrie in<br />
Be zug auf die Umsetzung von<br />
Grund sätzen des internationalen hu -<br />
manitä ren Rechts: Die Hamas greift<br />
unter klarer Verlet zung dieser<br />
Grund sätze absichtlich israelische<br />
Zivilisten an, während sie gleichzeitig<br />
ihre Ba sen und Waffen lager im<br />
Herzen ziviler Zentren platziert.<br />
Israel trachtet auf der anderen Seite<br />
danach, die Grund sätze des hu -<br />
manitären Rechts selbst auf jene<br />
anzuwenden, die sie verspotten.<br />
Israels Oberster Gerichts hof hat bei<br />
der Prüfung der Rechtmäßigkeit von<br />
Israels Antworten auf den Terror<br />
wiederholt unterstrichen: „Dies ist das<br />
Schicksal einer Demokratie, insofern nicht<br />
alle Mittel akzeptabel für sie sind und<br />
nicht alle Handlungen ihrer Feinde offen<br />
liegen. Obwohl eine Demokratie mit<br />
einer hinter dem Rücken gefesselten<br />
Hand kämp fen muss, behält sie dennoch<br />
die Oberhand.“ (HCJ 5100/94)<br />
Dementsprechend bemüht sich Is -<br />
rael sicherzustellen, dass es seine<br />
Angriffe gegen legitime militärische<br />
Ziele richtet und die Verletzung von<br />
Zivilisten im Laufe seiner Operatio -<br />
nen auf ein Minimum begrenzt<br />
bleibt. Eine Studie zur internationalen<br />
Praxis deutet darauf hin, dass die<br />
von Israel unternommenen Schritte<br />
und seine Herangehensweise an die<br />
Ver häl tnismäßigkeit denen der meisten<br />
westlichen Staaten, die ähnlichen<br />
Bedrohungen ausgesetzt sind,<br />
entspricht bzw. stringenter sind <strong>als</strong><br />
jene.<br />
Das Leiden von Zivilisten auf beiden<br />
Seiten dieses Konflikts ist tragisch.<br />
Israel unternimmt unermüdliche An -<br />
strengungen, diesen Tribut zu verringern,<br />
sowohl durch den Schutz israelischer<br />
Zivilisten <strong>als</strong> auch durch das<br />
Bemühen, die Verletzung von Zivi -<br />
listen innerhalb des Gaza-Strei fens zu<br />
minimieren. Israels Anstren gungen<br />
in dieser Hinsicht sollten jedoch nicht<br />
die letzte Verantwortung derjenigen<br />
vermindern, die kaltschnäuzig und<br />
absichtlich die Zivil bevölkerung <strong>als</strong><br />
Schutzschild vor An griffen missbrauchen,<br />
die unvermeidlich aus ihrem<br />
Han deln resultieren.<br />
Außenministerium des Staates Israel,<br />
März <strong>2008</strong><br />
ISRAELS MILITÄROPERATION IM GAZA-STREIFEN<br />
Hintergrundbericht über die jüngste Opera ti on der israelischen<br />
Verteidi gungs streit kräfte (ZA HAL) im Gaza-Strei fen in Auszügen:<br />
Die ZAHAL-Operation begann am Mitt wochmorgen (27.02.), nachdem be kannt geworden<br />
war, dass eine Spe zialeinheit von Hamas-Terro risten, die aus Syrien und dem Iran<br />
angekommen war, beabsichtigte, nach Is rael einzudringen, um dort Anschlä ge zu verüben<br />
und womöglich Soldaten oder Zivilisten zu entführen. Im Schutz des schlechten Wetters<br />
wollten sie entweder durch einen Tunnel nach Israel gelangen oder mithilfe von Seilen den<br />
Sicherheitszaun überwinden und dann in einen Armee stütz punkt oder eine israelische<br />
Ortschaft eindringen.<br />
Die Anweisungen für die Opera ti on kamen direkt aus Damaskus und Teheran. Israe li -<br />
schen Einsatzkräften gelang es, die fünf Terroristen zu lo kal isieren und auszuschalten. In<br />
Reak tion darauf versuchte die Hamas, eine neue Gleichung in der Region ein zuführen, derzufolge<br />
sie <strong>als</strong> Vergel tung für jede israelische Attacke Ra keten feuert. Die Hamas verfolgt<br />
seit Juni 2007 eine wagh<strong>als</strong>ige Politik, um ihre Macht zu erhalten.<br />
Während der Vorkommnisse in Ra fiah wurden 122mm-Grad-Raketen iranischer Her stel -<br />
lung, die zuvor nach Gaza geschmuggelt worden waren, auf Ashkelon abgefeuert. Durch<br />
den Einsatz der Raketen wurden die Reich weite der Hamas-Raketen er weitert und mehr<br />
Israelis in die Schusslinie gebracht. Der gegenwärtige Raketen bestand der Hamas reicht<br />
für den Ab schuss einiger Dutzend täglich, für viele Tage. Dies ist jedoch auch von israelischen<br />
Aktionen abhängig.<br />
Am Samstag (01.03.) führte Israel einen Schlag gegen eine der Rake ten basen aus und<br />
zerstörte Hunderte von Mörsern. Die Strategie der israelischen Armee ist es, die Lager- und<br />
Ab schuss anlagen für Raketen zu treffen. Einige der Raketen haben eine Reich weite von 20<br />
Kilometern. Sie stammen von der Hisbollah im Libanon, und Syrien und der Iran schmuggelten<br />
sie in den Gaza-Streifen, <strong>als</strong> die Grenze in Rafiah durchbrochen wur de. Die genaue<br />
Zahl der geschmuggelten Raketen ist nicht bekannt.<br />
Ein großes israelisches Kommando der nahe Jabaliya stationierten Giva ti-Brigaden marschierte<br />
am Freitag (29.02.) in den Gaza-Streifen ein und eröffnete den Kampf gegen die<br />
Ter ro risten. Die Zahl der palästinensischen Ver luste ist unklar, Medienberichte weichen<br />
von der tatsächlichen Realität ab. Wenn es auch definitiv zivile Opfer gibt, ist es eine<br />
bekannte Taktik der Hamas, Zivilisten <strong>als</strong> Schutzschilder zu missbrauchen und Raketen aus<br />
Be völke rungs zen tren abzufeuern. Wenn Zivilisten dagegen protestieren, bringt die Hamas<br />
sie woanders hin.<br />
Aktuelle israelische Einschätzun gen sagen voraus, dass das Raketenfeuer andauern wird.<br />
Einige der Hamas-Führer sind geflohen, alle Wohn quar tiere der Führung sind leer. Es ist<br />
offen sichtlich, dass die israelische Re gierung entschieden hat, der Ha mas-Führung zu<br />
zeigen, dass es ein Fehler war, Raketen mit größerer Reichweite abzuschießen.<br />
Über Dauer und Umfang der Ope ration wird die Regierung entscheiden. Im Moment<br />
sieht es danach aus, dass das Ausmaß der Operation größer sein wird <strong>als</strong> das der vorherge -<br />
henden, da es notwendig ist, nicht nur gegen die Möglichkeiten der Hamas anzukämpfen,<br />
sondern auch gegen ihre Ab sichten, und zu zeigen, dass sie den Beschuss auf Sderot und<br />
Ash kelon nicht ungestraft fortsetzen können wird. Dies ist nicht die breite Of fen sive in<br />
Gaza, von der zuvor die Rede gewesen ist. Für den Fall, dass die Hamas, mit Unterstüt zung<br />
von Sy ri en und dem Iran, ihre Aktivitäten steigert, hat die israelische Regierung wei tere<br />
Op tionen. Die Hamas-Füh rung wird gegenwärtig nicht ins Vi sier genommen, doch kann sich<br />
dies ändern, da es sich hier um eine Frage der Strategie handelt. Während eine begrenzte<br />
Operation nicht alle Raketen stoppen kann, verfolgte diese Operation zwei Ziele:<br />
- Die Operation wurde in Jabliya ini tiiert, dem Gebiet, von dem aus die meisten Raketen<br />
abgeschossen werden.<br />
- Der Hamas muss demonstriert werden, dass sie weitere Opfer wird erleiden müssen,<br />
wenn der Ra ke tenbe schuss andauert. Sollte die Hamas ihre Raketenpolitik fortsetzen,<br />
wird sie die große angelegte militärische Offensive auf sich ziehen.<br />
Die Instrukteure der Hamas und des Islamischen Jihad, die im Iran und in Syrien ausge -<br />
bildet worden und via Ägypten nach Gaza gelangt sind, bilden nun Hamas-Truppen im<br />
Gaza-Streifen aus. Während es schwierig für die Hamas war, bestimmte Waffentypen durch<br />
die Dutzenden von Tunnel an der Grenze zu schmuggeln, konnte sie, während die Grenze<br />
offen war, ganze Last wagenladungen von Waffen und Munition einführen. Die Syrer und Ira -<br />
ner konnten neue Waffen liefern. Daher muss Israel sich nun gegen bisher unbekannte<br />
Waffentypen behaupten.“ Außenministerium des Staates Israel, 02.03.08<br />
März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 29
POLITIK • ISRAEL<br />
Das seit mehr <strong>als</strong> 2.000 Jahren heiß<br />
umkämpfte Jerusalem stellt wohl<br />
den sensibelsten Punkt bei den israelisch-palästinensischen<br />
Frie dens ver -<br />
hand lungen dar. Deshalb lassen vor<br />
allem die in der Diaspora lebenden<br />
Juden ihre Meinung zur Zukunft –<br />
und einer möglichen Teilung – der<br />
Stadt besonders energisch verlauten.<br />
Heiße Diaspora-Debatte<br />
um den Status Jerusalems<br />
von Dina Kraft, JTA; Übersetzung: Karin Fasching<br />
Die Frage, wie laut und intensiv<br />
diese Meinungsäußerungen denn tatsächlich<br />
sein sollten, war auch Thema<br />
beim Besuch von jüdischen US-Größen<br />
in Israel zur diesjährigen Präsi den -<br />
tenkonferenz der größten jüdischen<br />
Or ganisationen Mitte Februar.<br />
„Das Thema Jerusalem stellt sich differenzierter<br />
dar, weil es für Leben und<br />
Exis tenz der Juden so zentral ist“, er klärt<br />
Mal com Hoenlein, stellvertretender Vor -<br />
sitzender der Präsidenten kon fe renz.<br />
„Die endgültige Entschei dung ob liegt der<br />
israelischen Regierung, dennoch ist es<br />
legitim, feinfühlig zu sein“, was die<br />
Bedürfnisse des Diaspora-Ju den tums<br />
betrifft, so Hoenlein weiter.<br />
Spannungen darüber, ob jene, die<br />
nicht ständig in Israel leben, ein Recht<br />
hätten – und wenn ja, in welchem Ausmaß<br />
-, bei den israelisch-palästinensischen<br />
Verhandlungen über Jeru salem<br />
mitzureden, gab es bereits bei der<br />
Frie denskonferenz in Annapolis im<br />
No vember 2007. Dam<strong>als</strong> hatte die Or -<br />
tho doxe Union Israels Premier Ol mert<br />
dazu aufgefordert, in der Jeru sa lem-<br />
Frage keine territorialen Kom pro mis se<br />
einzugehen.<br />
Israel annektierte den arabischen Teil<br />
Ostjerusalems nach dem Sechs-Tage-<br />
Krieg im Jahr 1967. Dennoch be har ren<br />
die Palästinenser darauf, diesen zur<br />
Hauptstadt in einem un ab hän gigen<br />
Staat Palästina machen zu wollen. Die<br />
150.000 Araber, die dort le ben, die<br />
emo tionale Beweg kraft und Ge -<br />
schich te der Altstadt und das Tür-an-<br />
Tür-Leben von arabischer und jüdischer<br />
Bevölkerung machen eine Lö -<br />
sung dieses Problems noch zusätzlich<br />
schwierig.<br />
Den Anspruch der Diaspora-Juden<br />
auf Mitsprache brachte der Präsident<br />
des Jüdischen Weltkongresses Ro nald<br />
Lauder im Februar gegenüber Pre mi er<br />
Olmert erneut zur Sprache und ver är -<br />
gerte damit den Regie rungs chef. Bei<br />
seiner Rede vor der Präsiden ten kon -<br />
fe renz am 16. Februar versicherte Ol -<br />
mert, er würde bei den Verhand lun gen<br />
keinen Weg einschlagen, der Israel be -<br />
nachteiligen könnte. Außer dem wür -<br />
d en im Moment Gespräche über den<br />
Status Jerusalems bei den Ver hand -<br />
lungen mit der Palästinen ser führung<br />
gar nicht auf der Tages ord nung ste -<br />
hen. „Ich werde alles in meiner Macht<br />
ste hende tun, um ein Friedensabkom- ➮<br />
men mit den Palästinensern zu erreichen,<br />
und um dies zu ermöglichen, werden wir<br />
schmerz liche Kompromisse eingehen<br />
müs sen“, so Olmert. Die Sicherheit<br />
des Staa tes Is ra el solle nicht gefährdet<br />
wer den. „Über Jerusalem werden wir<br />
zuletzt verhandeln. Es ist das sensibelste<br />
und schwie rigste Thema und bevor wir<br />
uns damit beschäftigen, müssen wir Ver -<br />
einbarun gen über weniger wichtige und<br />
sensible Punkte erzielen.“ Dennoch be -<br />
richteten israelische Me dien über ge -<br />
heime Ge spräche im Hin tergrund mit<br />
Außen ministerin Tzipi Livni über das<br />
The ma Jerusa lem.<br />
Die Meinungen, ob den Diaspora-<br />
Juden nun tatsächlich ein Mitspra che -<br />
recht eingeräumt werden sollte<br />
wiederum sind zweigeteilt. „Die Rolle<br />
der Diaspora-Juden ist es, zu lernen, sich<br />
zu interessieren, unterstützend und verständnisvoll<br />
zu sein, aber nicht bestimmend<br />
und kontrollierend“, meint unter<br />
anderem Leonard Kleinman, der ad mi -<br />
nistrative Vizepräsident des Jüdi schen<br />
Nationalfonds. „Diaspora-Ju den leben<br />
nicht hier, kennen nicht die alltägli chen,<br />
individuellen Ereignisse in Israel und können<br />
das Geschehen nicht beurteilen.“<br />
Für Joshua Katzen vom Jüdischen In -<br />
sti tut für Nationale Sicherheitsan ge le -<br />
genheiten wiederum sehen die in der<br />
Diaspora lebenden Juden die größeren<br />
Zusammenhänge, welche die Israelis<br />
selbst manchmal nicht ausmachen. So<br />
könnten die Amerikaner den Israelis<br />
aufzeigen, dass es ein großer Fehler<br />
wäre, den Palästinen sern irgendein<br />
Recht auf Jerusalem einzuräumen, da<br />
dies einer zunehmend radikalisierten<br />
islamischen Welt die Tür zur Stadt<br />
öffnen würde.<br />
Morton Klein, Präsident der Zionis ti -<br />
schen Organisation von Amerika, sieht<br />
das ähnlich. Jerusalem mit den Pa läs -<br />
ti nensern zu teilen wäre eine Katas -<br />
30 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768
POLITIK • ISRAEL<br />
trophe für die Juden in dem Gebiet,<br />
gerade „wo wir doch gesehen haben, was<br />
passiert ist, <strong>als</strong> wir Gaza aufgegeben und<br />
die angrenzenden jüdischen Gebiete in<br />
Gefahr gebracht haben“. Es würde „Teile<br />
Je ru salems für Juden unbewohnbar ma -<br />
chen“, so Klein, und den Paläs ti nen -<br />
sern einen zusätzlichen Nährbo den<br />
für Terror und Möglichkeiten für den<br />
Ab schuss von Raketen auf israelisches<br />
Gebiet geben.<br />
Zusätzlich warnte eine Exper ten -<br />
kommission davor, dass Jerusalem so<br />
die jüdische Mehrheit verlieren könnte,<br />
egal ob es einen Friedensvertrag<br />
gäbe oder nicht. Schon jetzt verlassen<br />
viele säkulare Juden die Stadt, weil,<br />
so deren Angaben, sie zu teuer sei, es<br />
zu wenige Arbeitsplätze gäbe und<br />
das Stadtzentrum kulturell völlig<br />
unterentwickelt sei. Außerdem sei Je -<br />
ru sa lem zu arm, zu orthodox und zu<br />
arabisch.<br />
Auch ein Treffen mit dem palästinensischen<br />
Premierminister Salam<br />
Fayyad sah die Präsidentenkonferenz<br />
vor. Dieser bestätigte, dass sein Fokus<br />
stets „auf den Punkten der Road Map“<br />
gelegen sei – sich auf das israelischpa<br />
lästinensische Abkommen mit dem<br />
Namen „Road Map“ aus dem Jahre<br />
2003 beziehend, das auch Je ru salem<br />
beinhaltete. „Wir versuchen, unsere<br />
Institutionen so bald wie möglich zu verstärken.<br />
Ohne sie können wir den Pro -<br />
zess nicht fortsetzen. Dennoch haben wir<br />
in den letzten Monaten gute Fortschritte<br />
erzielt.“<br />
■<br />
Aufregung beim WJC über Lauders Brief an Olmert<br />
von Jacob Berkman, JTA; Übersetzung: Karin Fasching<br />
World Jewish Congress-Präsident<br />
Ronald Lauder hat sich mit seinem<br />
Appell an Israels Premierminister, den<br />
Diaspora-Juden ein Mitspra che recht<br />
bei der Ent scheidung um das Schick -<br />
sal Jerusalems zu gewähren, nicht<br />
nur Freunde gemacht. In seinem Brief<br />
vom 8. Januar wünschte er Olmert<br />
alles Gu te für den Besuch von US-<br />
Präsident Bush in der Region und<br />
drückte gleich zeitig die Hoffnung des<br />
Welt ju dentums auf ein baldiges Frie -<br />
dens ab kommen aus. Zum Abschluss<br />
bat er den Premier, auch „die Gebete,<br />
die Hoff nungen und die Ansichten der<br />
Juden in aller Welt bei der Entscheidung<br />
über die Zukunft“ zu berücksichtigen.<br />
„Bei aller Anerkennung von Israels inhärenten<br />
Vor rechten <strong>als</strong> souveräner Staat“,<br />
schrieb Lauder, „wäre es doch unbegreiflich,<br />
auch nur die geringste Veränderung<br />
im Status unserer Heiligen Stadt durchzuführen,<br />
ohne vorher die Stimme der<br />
Juden <strong>als</strong> Gesamtheit gehört zu haben.“<br />
Shai Hermesh, Vorsitzender des is ra -<br />
e lischen Zweigs des WJC, sprach sich,<br />
unter anderen, entschieden ge gen die -<br />
sen Brief aus. Obwohl diesbe züg lich<br />
niemand vom WJC Hauptquartier in<br />
New York mit ihm Rücksprache ge -<br />
hal ten hätte, sei sein Name im Brief -<br />
kopf angeführt gewesen. Außerdem<br />
gäbe es seit Langem die Übereinkunft,<br />
dass der WJC sich nicht in die politischen<br />
Angelegenheiten Israels einmische:<br />
„Die Juden auf der ganzen Welt<br />
sind für uns wie Brüder und ihre Un ter -<br />
stüt zung ist uns sehr wichtig, doch politische<br />
Ent scheidung sollten allein der<br />
Knes set vorbehalten bleiben und niemandem<br />
sonst, auch nicht dem israelischen<br />
Zweig des World Jewish Congress.“<br />
Die Aufregung über Lauders Brief<br />
gründet sich vor allem auf eine da -<br />
m<strong>als</strong> lau fende Kampagne orthodoxer<br />
und rechter amerikanisch-jüdischer<br />
Grup pie rungen, die verhindern wollen,<br />
dass die israelische Regierung im<br />
Zuge der Verhandlungen über ein<br />
Frie densabkommen mit den Paläs ti -<br />
nensern jem<strong>als</strong> einer Teilung Jerusa -<br />
lems zustimmt. Dies wiederum führte<br />
zur anhaltenden Diskussion über die<br />
Rolle, die dem Disapora-Judentum bei<br />
den innerisraelischen Entschei dun -<br />
gen – wenn überhaupt - zugestanden<br />
werden soll.<br />
Das Ziel des Briefes, erklärte Ronald<br />
Lauder, sei es jedoch nicht gewesen,<br />
Druck auf Olmert oder Israel bezüglich<br />
eines Hardliner-Standpunkts in<br />
der Jerusalem-Frage auszuüben, sondern<br />
eine Debatte über die, seiner Mei -<br />
nung nach, wichtigste Entschei dung<br />
zu entfachen, der sich der jüdische<br />
Staat derzeit gegenübersieht. Ginge<br />
es um ein anderes Gebiet, wie Gaza<br />
oder das Westjordanland, so Lauder,<br />
hätte er niem<strong>als</strong> einen solchen Schritt<br />
unternom men: „Der Brief weist lediglich<br />
darauf hin, dass es wichtig ist, das Thema<br />
Je ru salem mit dem Diaspora-Judentum<br />
zu diskutieren, denn hierbei spielen wir<br />
alle eine Rolle und Jerusalem befindet<br />
sich in der Schlüsselposition.“<br />
Allerdings würde der WJC keine of -<br />
fizielle Position zur Jerusalem-Frage<br />
einnehmen.Der erst kürzlich gewählte<br />
WJC-Präsident ist schon lange <strong>als</strong> aus -<br />
ge sprochener Gegner einer Teilung<br />
Je ru salems bekannt. Bereits im No -<br />
vem ber 2007, im Vorfeld der Nahost -<br />
kon ferenz in Annapolis, hatte Ehud<br />
Olmert zu diesem Thema Stellung be -<br />
zogen. Im Gespräch mit Reportern<br />
wies er da m<strong>als</strong> jegliches Mit spra che -<br />
recht von in der Diaspora lebenden Ju -<br />
den bezüglich Jerusalem zurück. Spä -<br />
ter erklärte er, er begrüße sehr wohl<br />
deren Meinungs äuße run gen, ließ<br />
aber wiederum keinen Zweifel an<br />
Israels alleiniger Sou ve rä nität in der<br />
Verhandlungsführung aufkommen.<br />
März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 31
WIRTSCHAFT • ISRAEL<br />
Made in Israel – Highlights der israelischen Wirtschaft<br />
DIE SCHMUCK-INDUSTRIE<br />
Israels Schmucksektor steht an der<br />
Spit ze des internationalen Diaman -<br />
ten- und Schmuckmarkts. Das Land<br />
ist eines der weltweit wichtigsten<br />
Zentren der Diamantenschleiferei<br />
und des Diamantenhandels. In An -<br />
betracht dieses Heimvorteils haben<br />
israelische Juweliere und Diamanten -<br />
her steller ihre Kräfte vereint.<br />
Durch die Verbindung von Dia manten-Expertise<br />
mit kreativem Talent<br />
und außergewöhnlichen Fähigkeiten<br />
in der Schmuckherstellung hat sich<br />
Israel <strong>als</strong> ein Spitzenreiter in kreativem<br />
Design, Qualitätsproduktion und<br />
Wettbewerbsfähigkeit positioniert.<br />
Ei nige der größten US-amerikanischen<br />
Schmuckvertreiber - Bel-Oro,<br />
Jewel America u.a. - arbeiten eng mit<br />
israelischen Schmuckdesignern und -<br />
herstellern zusammen.<br />
Insgesamt beliefen sich die Exporte<br />
der israelischen Schmuckindustrie im<br />
Jahr 2006 auf US$ 390 Mio. Diese teilten<br />
sich wie folgt auf die vier Haupt -<br />
ge chäftssegmente auf:<br />
Goldschmuck: US$ 312 Mio. (46%)<br />
Diamantengold s c h m u c k :<br />
US$ 133 Mio. (32%)<br />
Modeschmuck:US$49 Mio. (13%)<br />
Silberschmuck: US$29 Mio. (7%)<br />
Der Großteil der israelischen<br />
Schmuck exporte ging dabei in die<br />
USA (US$ 264 Mio., 68%), gefolgt von<br />
Europa (US$102 Mio., 26%) und dem<br />
Fernen Osten (US$ 16 Mio., 4%).<br />
Der Schmuckexporteur Israel lockt<br />
mit zahlreichen Vorteilen. So ist<br />
Schmuck aus Israel nicht nur generell<br />
preisgünstig, sondern auch zollfrei<br />
nach Nordamerika, Europa, Mexiko,<br />
Jordanien und Ägypten.<br />
Dabei profitiert die<br />
Juwelenbranche von<br />
Israels Know-how im<br />
High-Tech-Bereich und<br />
der kundenorientierten<br />
Flexi bilität der heimischen<br />
Designer und<br />
Hersteller.<br />
Als Einwande rungs -<br />
land hat Israel talentierte<br />
Juweliere aus<br />
über 70 Ländern aufgenommen,<br />
die einzigartige Ideen,<br />
Kreati vi tät, Einsichten, Tech ni ken<br />
und Wissen mit sich gebracht haben.<br />
Viele der Schmuck de sig ner des<br />
Landes sind Absolven ten der israelischen<br />
Elite hoch schu len für schöne<br />
Künste wie die Bezalel Akademie für<br />
Kunst und De sign in Jerusalem, das<br />
Shenkar Col lege in Ra mat Gan oder<br />
Omanit in Tel Aviv.<br />
Israel Export & International Cooperation Institute<br />
WIRTSCHAFT<br />
Israelische Frauen<br />
verdienen weniger <strong>als</strong><br />
israelische Männer<br />
Anlässlich des internationalen Frau -<br />
entages am 8. März veröffentlichte<br />
das statistische Zentralamt Angaben,<br />
die besagen, dass israelische Frauen<br />
im Durchschnitt 82,2 Jahre alt werden,<br />
vier Jahre jünger <strong>als</strong> Männer.<br />
Mehr Frauen <strong>als</strong> früher studieren,<br />
verdienen aber laut Angaben des statistischen<br />
Zentralamts viel weniger<br />
<strong>als</strong> Männer. Dies ist wahrscheinlich<br />
darauf zurückzuführen, dass Frauen<br />
traditonellere „Frauenberufe“ ausüben,<br />
wie zum Beispiel Lehrtä tig kei ten,<br />
Putzen, Büroarbeiten, die schlechter<br />
bezahlt werden.<br />
Frauen machen 70% der Arbeits -<br />
kräfte in diesen Berufen aus und verdienen<br />
einen Lohn, der 63% dessen<br />
ist, was ein Mann verdient.<br />
In der Hightech-Industrie machen<br />
Frau en nur 33.8% der Arbeitskräfte<br />
aus.<br />
Israelische<br />
Studenten<br />
arbeiten neben<br />
dem Studium<br />
Etwa 66% aller israelischen Stu denten gehen parallel zu ihrem<br />
Studium einer Lohnarbeit nach. Das geht aus einer neuen Studie der<br />
Bank of Israel und des Zentralamts für Statistik hervor, deren Ergebnisse<br />
noch nicht offiziell veröffentlicht worden sind.<br />
Die Beschäftigungsrate von Studenten in Israel wird dabei im Vergleich<br />
zu anderen Ländern <strong>als</strong> sehr hoch bewertet. Während des ersten Jahres<br />
an der Universität arbeiten ca. 52% der Studenten, im zweiten Jahr sind<br />
es dann bereits 64%. Die wirkliche Beschäftigungsrate liegt vermutlich<br />
noch um einiges höher, da die Studie nur besteuerte Arbeitsverhältnisse<br />
berücksichtigt.<br />
Die häufigsten Jobs für Studenten zwischen 20 und 29 Jahren, die einen<br />
BA-Studiengang absolvieren, liegen in den Bereichen Verkauf, Gastro no -<br />
mie, Sicherheit und Servicedienstleistungen. Etwa 35% der Studenten<br />
arbeiten in diesen Sektoren.<br />
Der israelische Student arbeitet durchschnittlich 30 Stunden in der Wo -<br />
che. Etwa 40% arbeiten gar mehr <strong>als</strong> 40 Stunden. Wie aus der Studie hervorgeht,<br />
wird die Studiendauer durch die Arbeit jedoch kaum beeinflusst.<br />
Haaretz<br />
32 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768
Die steigenden Adipositas-Zahlen<br />
sind längst kein Geheimnis mehr und<br />
damit einher geht ein drastischer An -<br />
stieg von Herzerkrankungen und<br />
Diabetes. Und auch wenn das in zwi -<br />
schen verstorbene Star let Anna<br />
Nicole Smith den Diätpillen in<br />
Amerika zu enormer Popu la rität ver -<br />
half, kann nicht ge leugnet wer den,<br />
dass diese un ab seh ba re Ne ben wir -<br />
kun gen ha ben und die<br />
Gesund heit der Kon -<br />
sumen ten nach haltig<br />
schädigen können.<br />
Um diesem<br />
Di lem ma ent ge -<br />
gen zuwir ken, hat<br />
der israelische<br />
Wissen schaf ter<br />
Dr. Nir Barak nun<br />
ein Me di ka ment<br />
de sig ned, das<br />
sich <strong>als</strong> Wun der -<br />
mit tel zur Ge -<br />
wicht s re duk -<br />
tion<br />
herausstellen<br />
könn te. In Zu -<br />
sam men ar beit<br />
mit dem Phar -<br />
ma un ter neh men<br />
Obe cure ent -<br />
wickelte er die<br />
Sub stanz Histalean, basierend<br />
auf Be ta his tin,<br />
einem weltweit zugelassenen<br />
Medikament gegen Schwin -<br />
del anfälle.<br />
Histalean soll nun, vor allem bei<br />
Frauen unter 50, den Wunsch, fetthaltige<br />
Speisen zu konsumieren, unterdrücken,<br />
indem es chemische Vor -<br />
gän ge im Körper aktiviert, die den<br />
Ap pe tit reduzieren.<br />
Bei einer kürzlich abgehaltenen Stu -<br />
die mit 281 Patienten, Männer und<br />
Frauen im Alter von 18 bis 65 Jahren,<br />
alle mit einem BMI zwischen 30 und<br />
40, wurden die Effekte des Medi ka -<br />
ments im Hinblick auf Alter und Ge -<br />
schlecht der Probanden erforscht.<br />
Die folgenden Untersuchungen, so<br />
Obecure Chef Dr. Yaffa Beck, werden<br />
sich auf Frauen unter 50 konzentrieren,<br />
WISSENSCHAFT• ISRAEL<br />
Medikament zur Gewichtsreduktion von<br />
israelischem Forscher entwickelt<br />
Ilana Teitelbaum; Übersetzung: Karin Fasching<br />
da bei diesen, aufgrund ihres Ös tro -<br />
genspiegels, das Medikament die<br />
größ te Wirkung gezeigt habe.<br />
Die Einzigartigkeit von Histalean,<br />
das <strong>als</strong> einziges Medi ka ment seiner<br />
Art si cher am Men schen getestet<br />
wurde, so Barak, mache dessen Fo -<br />
kus sierung auf das Hi s tamin-Sys tem<br />
aus, welches die Wis sen schaft über<br />
Jah re hinweg mit<br />
dem Im mun -<br />
system as so -<br />
ziiert hatte.<br />
Doch vor<br />
kur zem<br />
stell te<br />
man fest,<br />
dass es da<br />
eine Ver -<br />
bin dung<br />
zum Er näh -<br />
rungs ver hal -<br />
ten gibt. Und<br />
ge nau hier<br />
setze His -<br />
ta lean an.<br />
Al ler dings<br />
sei es wichtig,<br />
gleich zei -<br />
tig an ei ner Hei -<br />
lungs me tho de<br />
für die Adi posi -<br />
tas-Erkran -<br />
kung zu ar -<br />
bei ten, denn<br />
das Ess ver -<br />
halten des Men schen ist we sent lich<br />
komplizierter, <strong>als</strong> es sich auf den<br />
ersten Blick darstellt.<br />
„Ich glaube nicht, dass es eine Wunder -<br />
pille gibt“, erklärt Barak. „Jedes Indi vi -<br />
du um weist wahrscheinlich ein Sammel -<br />
surium aus verschiedensten Mechanis men<br />
auf, die es zum Überessen zwingen... Erst<br />
wenn wir ein Arsenal aus vier oder fünf<br />
Medikamenten haben, die jeweils auf<br />
einen anderen Mechanismus ausgelegt<br />
sind, wird es uns möglich sein, die Men -<br />
schen wesentlich effizienter bei ihrem<br />
Diätplan zu unterstützen.“<br />
Histalean, so Barak, kann aber auch<br />
bei Schizophreniepatienten eingesetzt<br />
werden, um zu verhindern, dass die se<br />
durch die Einnahme des Anti psy cho ti -<br />
kums Zyprexa an Gewicht zu neh men<br />
– immer wieder ein großes Problem,<br />
das mit der Behandlung einhergeht. In<br />
einzelnen Fällen nahmen die Betrof fe -<br />
nen bis zu einem Kilo pro Woche zu.<br />
Hier kann Hista le an nun wirksame<br />
Ab hilfe schaffen, ist Barak überzeugt.<br />
Es aktiviert eben jene appetitzügelnden<br />
Stoffe im Kör per, die durch<br />
Zyprexa blockiert werden.<br />
„Die Patienten nehmen im<br />
selben Um fang an Ge -<br />
wicht zu, wie sie Diabetes<br />
entwickeln“, er klärt er.<br />
„Das ist ein enormes<br />
Problem. Schizo -<br />
phrenie gehört zu den<br />
schlimmsten Krank hei -<br />
ten, die es gibt – weil<br />
es jeden Lebensbereich<br />
beeinträchtig.“<br />
Sich mit den<br />
Auswirkungen<br />
der Schi zo -<br />
phre nie und<br />
gleichzeitig<br />
mit dem un -<br />
aus weichlichen<br />
Über gewicht<br />
auseinan -<br />
dersetzen zu<br />
müssen, überfordert<br />
viele<br />
Betroffene.<br />
Oftm<strong>als</strong> se hen sie ei ne<br />
Absetzung des Medika -<br />
ments Zy pre xa<br />
<strong>als</strong> einzige Möglichkeit, diesem Teu -<br />
felskreis zu entkommen, oder sie überlegen,<br />
zu einem älteren Me di kament<br />
zu wechseln, das aber wiederum eine<br />
Parkinson-ähnliche Krank heit begüns<br />
tigt. „Sie leiden lieber an Parkinson, <strong>als</strong><br />
übergewichtig zu sein,“ so Barak.<br />
Und gerade ebendiese Möglichkeit,<br />
das Leben von Menschen, die bereits<br />
unter schwersten Bedingungen leben<br />
müssen, zu erleichtern, ist es, was Ba -<br />
rak so fasziniert. „Für mich <strong>als</strong> Phy si -<br />
ker ist das sehr reizvoll,“ meint er. „Hier<br />
gilt es, ein schwerwiegendes medizinisches<br />
Problem zu lösen – ein richtiges Problem,<br />
kein kosmetisches.“<br />
WISSENSCHAFT<br />
März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 33
RECHTE ECKE • IN- UND AUSLAND<br />
Aus der rechten Ecke<br />
Erna Wallisch:<br />
Die Banalität der<br />
Verjährung<br />
Bis zu ihrem Tod hat die frühere KZ-<br />
Aufseherin Erna Wallisch (86) die in -<br />
ter nationalen Behörden und Medien<br />
beschäftigt. Vor allem jene, die sie<br />
noch einem weltlichen Gericht sehen<br />
wollten, haben auf einen schnellen<br />
Prozess gedrängt. Für eine Anklage<br />
wegen Mordes fehlten lange die Be -<br />
weise, der Vorwurf der Beihilfe war<br />
verjährt. Doch gerade in den letzten<br />
Monaten schien sich das noch zu<br />
ändern. Wallisch soll <strong>als</strong> Wachperson<br />
im Konzentrations- und Vernich -<br />
tungs lager im Lubliner Stadtteil Maj -<br />
danek (Südostpolen) in den Massen -<br />
mord an Tausenden Menschen involviert<br />
gewesen sein. Vor allem war es<br />
auch Wallisch, die Österreich international<br />
den Ruf <strong>als</strong> „Paradies für NS-<br />
Verbrecher“ eingehandelt hat. Der<br />
Ausspruch stammt von Efraim Zu -<br />
roff, Direktor des Simon Wiesenthal<br />
Centers (SWC) Jerusalem, der in<br />
regelmäßigen Abständen an heimische<br />
Politik und Öffentlichkeit appelliert<br />
hatte, Wallisch den Prozess zu<br />
machen - zuletzt bei Justizministerin<br />
Maria Berger (S). Gerade in ihrer<br />
Amtszeit verdichteten sich die An zei -<br />
chen, es könnte doch noch zu ei nem<br />
Prozess kommen. Zuletzt ließen Zu -<br />
roff neu entdeckte Dokumente aus<br />
Polen hoffen, es gebe doch noch Be -<br />
wei se.<br />
Als Wärterin im Konzentrations la -<br />
ger Majdanek habe sie Gefangene<br />
bloß beaufsichtigt, etwa <strong>als</strong> diese in<br />
der Gärtnerei oder in der Schneiderei<br />
gearbeitet haben, meinte Wallisch.<br />
Zur selben Zeit war jedoch das im polnischen<br />
Lublin gelegene KZ Schau -<br />
platz eines Massenmordes. 1942 richtete<br />
man dort eine Vergasungsanlage<br />
ein. Ein Jahr später erschossen die<br />
Nazis bei der „Aktion Erntedankfest“<br />
an einem einzigen Tag sämtliche<br />
17.000 Insassen. Wallisch: „Ich war an<br />
Gewalttätigkeiten nicht beteiligt und<br />
habe so etwas auch nicht gesehen.“<br />
Die Causa Wallisch ist keine einfache:<br />
In den 70ern ermittelte in der<br />
Causa die Justiz, das Verfahren wur -<br />
de aus Mangel an Beweisen niedergeschlagen.<br />
Das Delikt Beihilfe zum<br />
Mord war verjährt. 2006 traf Zuroff<br />
Bergers Vorgängerin Karin Gastinger<br />
und die damalige Innenministerin<br />
Liese Prokop (V). „Die Zeit läuft aus“,<br />
drängte der Nazi-Jäger dam<strong>als</strong>, bei<br />
den Justiz-Behörden gebe es „keinen<br />
Sinn für Dringlichkeit“. Darum hoffte<br />
Zuroff auch auf die Auslieferung an<br />
Polen, da dort das Gesetz keine<br />
Verjährung für Kriegsverbrechen vorsieht.<br />
Erst Ende Jänner wurden Do ku mente<br />
aus polnischen Archiven bekannt,<br />
die <strong>als</strong> Beweis in einem österreichischen<br />
Mordprozess hätten dienen<br />
kön nen. Sie wurden bis zuletzt von<br />
heimischen Behörden geprüft. Wal -<br />
lisch wurde am 10. Februar 1922 <strong>als</strong><br />
Erna Pfannstiel in Benshausen in<br />
Thüringen (Deutschland) geboren<br />
und lebte bis zu ihrem Tod in <strong>Wien</strong><br />
Donaustadt. Die Tochter eines Post -<br />
be amten arbeitete vom Oktober 1942<br />
bis zum Jänner 1944 im Konzen tra -<br />
tionslager im Lubliner Stadtteil Maj -<br />
danek. Kurz nach dem Kriegsende<br />
siedelte sie nach <strong>Wien</strong> um, wo sie die<br />
österreichische Staatsbürgerschaft<br />
hat te. Wallisch starb am 16. Februar<br />
bei einem Krankenhausaufenthalt.<br />
Auch Oman boykottiert<br />
Pariser Buchmesse aus<br />
Protest gegen Israel<br />
Nach einigen Staaten wie Libanon,<br />
Jemen und Iran hat auch das Sultanat<br />
Oman seinen Boykott der Pariser<br />
Buchmesse „Salon du Livre“ aus Pro -<br />
test gegen die Einladung Israels <strong>als</strong><br />
Ehrengastland angekündigt. Auch<br />
die panislamische kulturelle Organi -<br />
sation ISESCO, ein Ableger der „Or -<br />
ga nisation der Islamischen Konfe renz“<br />
(OIC), hatte ihre 50 Mitgliedsländer<br />
zum Boykott aufgerufen. Die Or ga ni -<br />
satoren bedauern den Boykott und erinnern<br />
daran, dass auch Proponenten<br />
der israelischen Friedensbewegung<br />
nach Paris eingeladen worden seien.<br />
Die Buchmesse soll am 13. März<br />
durch den französischen Staatspräsi -<br />
den ten Nicolas Sarkozy und seinen<br />
israelischen Amtskollegen Simon Pe -<br />
res eröffnet werden.<br />
Polen: Jesuiten<br />
entschuldigen sich<br />
für antisemitische<br />
Veranstaltung<br />
Auseinandersetzung um das Buch des<br />
polnisch-amerikanischen Histo ri kers Jan<br />
Tomasz Gross „Die Angst“ geht weiter<br />
Judenfeindliche Äußerungen bei ei -<br />
ner Diskussionsveranstaltung in ei ner<br />
Krakauer Jesuitenkirche hat der polnische<br />
Jesuiten-Provinzial P. Krzysz -<br />
tof Dyrek bedauert. Er entschul dige<br />
sich bei allen, die sich durch das verletzt<br />
fühlen, was in der Krakauer Herz-<br />
Jesu-Basilika geschehen sei, schrieb P.<br />
Dyrek in einer Stel lungnahme. Zwei<br />
Referenten hatten bei einer sogenannten<br />
„Protest veranstaltung“ ge gen das<br />
Buch „Die Angst“ über den polnischen<br />
Antise mi tismus den Au tor Jan<br />
Tomasz Gross scharf angegriffen.<br />
P. Dyrek bedauerte dies und betonte,<br />
in einer katholischen Kirche dürfe<br />
„nicht zum Antisemitismus aufgerufen<br />
werden“. Zuvor hatte sich bereits der<br />
Sprecher der Erzdiözese Krakau, Ro -<br />
bert Necek, von der Veranstaltung<br />
distanziert. In Anwesenheit des 91-<br />
jährigen emeritierten Krakauer Weih -<br />
bischofs Albin Malysiak hatte bei der<br />
Veranstaltung unter anderem der<br />
Geschichtsprofessor Jerzy Nowak<br />
von der Hochschule des umstrittenen<br />
katholischen Senders „Radio Maryja“<br />
antisemitische Äußerungen formuliert.<br />
Es war die erste einer Reihe von<br />
Veranstaltungen Nowaks gegen das<br />
Buch des polnisch-amerikanischen<br />
Historikers Jan Tomasz Gross, der die<br />
„Mitwirkung“ von Polen an antijüdischen<br />
Verfolgungsmaßnahmen der<br />
Deutschen im besetzten Polen 1939-<br />
1945 schildert.<br />
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34 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768
JÜDISCHE WELT • INLAND<br />
„Von den jüdischen Menschen zu reden,<br />
die hier einst lebten, heißt, daran zu erinnern,<br />
dass sie vernichtet wurden“,<br />
schreibt Doron Rabinovici in seiner<br />
Einleitung zu dem kürzlich erschienenen<br />
Buch 1938 Adresse: Serviten gasse.<br />
Eine Nachbarschaft auf Spurensuche.<br />
„Die Vernichtung wollte die Opfer<br />
namenlos machen, sie ihrer menschlichen<br />
Würde berauben, bevor und nachdem sie<br />
ermordet waren. Nichts sollte an die un -<br />
zähligen Toten, nichts an die Vertrie be -<br />
nen gemahnen.“ 1<br />
Im April <strong>2008</strong> wird nun der einst<br />
aus der Servitengasse Vertriebenen<br />
ge dacht, 70 Jahre nach dem „An -<br />
schluss“ Österreichs an Hitler-Deuschland.<br />
Überlebende, die hier <strong>als</strong> Kin der<br />
mit ihren Eltern und Geschwis tern<br />
gewohnt hatten, werden auf Einla -<br />
dung des Jewish Welcome Service der<br />
Enthüllung eines Gedenksymbols in<br />
der Servitengasse beiwohnen.<br />
Schlüssel gegen das Vergessen, entwor -<br />
fen von der Künstlerin Julia Schulz, ist<br />
eine in den Boden eingelassene Glas -<br />
vitrine mit 462 Schlüssel, an denen<br />
462 Namen angebracht sind. Namen<br />
von Menschen, die hier einst wohnten,<br />
zur Schule gingen, ein Geschäft<br />
führten oder EigentümerIn eines<br />
Hauses waren und die dann – quasi<br />
über Nacht – <strong>als</strong> „Unzugehörige“ verfolgt<br />
und vertrieben wurden. Der<br />
Wohnungsschlüssel <strong>als</strong> Verweis auf<br />
das Private, auf Intimsphäre und<br />
Schutz, ist eng mit dem Leben eines<br />
Menschen verbunden.<br />
Mit Beginn der NS-Herrschaft in<br />
Österreich waren Schutz und Privat -<br />
sphäre für die jüdische Bevölkerung<br />
jedoch vorbei, die Schlüssel mussten<br />
abgegeben oder vor Ort zurückgelassen<br />
werden. Allein in den Jahren 1938<br />
bis 1942 erwirkten die Nation<strong>als</strong>o zia -<br />
listen in <strong>Wien</strong> durch Vertreibung und<br />
Deportationen das Freiwerden von<br />
rund 70.000 Wohnungen. 2<br />
In der Servitengasse waren vor dem<br />
März 1938 mehr <strong>als</strong> die Hälfte der Be -<br />
wohnerinnen und Bewohner jüdischer<br />
Herkunft bzw. wurden dann <strong>als</strong><br />
„Jüdinnen“ oder „Juden“ verfolgt.<br />
Zwölf der 24 Häuser waren in jüdischem<br />
Eigentum. Mit Ende 1943 wa ren<br />
die meistern der ehemaligen jü di schen<br />
BewohnerInnen aus ihren Woh nun -<br />
gen vertrie ben worden, die Häuser<br />
„arisiert“ oder dem „Deutschen<br />
Reich“ einverleibt. Auch die nach<br />
1938 in einzelnen Häusern der<br />
Servitengasse eingerichteten „Sam -<br />
mel wohnungen“ wurden aufgelöst.<br />
In diesen von den Nation<strong>als</strong>o zia -<br />
listen auch <strong>als</strong> „Wohngemein schaf -<br />
ten“ be zeichneten Wohnungen, lebten<br />
Men schen auf engstem Raum, bevor<br />
sie aus diesen Wohnungen entweder<br />
direkt deportiert oder in ein „Sam -<br />
mel lager“ eingewiesen wurden. Aus<br />
einem „Sammellager“ gab es so gut<br />
wie kein Entkommen mehr. Hier<br />
wurden die Menschen ihrer letzten<br />
Habseligkeiten beraubt und anschließend<br />
in Transporte eingereiht, die sie<br />
in die Konzentrations- und Vernich -<br />
tungs lager verschleppten.<br />
Dass die Erinnerung an diese Er -<br />
eignisse und an diese Menschen stattfindet,<br />
ist einer engagierten Gruppe<br />
von BürgerInnen, vornehmlich aus<br />
<strong>2008</strong><br />
Adresse:<br />
Servitengasse<br />
von Birgit Johler<br />
dem 9. <strong>Wien</strong>er Gemeindebezirk, zu<br />
verdanken. In jahrelanger, oft auch<br />
mühevoller und langwieriger Kleinund<br />
Gruppenarbeit ist ein Projekt<br />
entstanden, das in seiner Ausprägung<br />
bislang wohl <strong>als</strong> einzigartig bezeichnet<br />
werden kann: Minutiös wurden von<br />
einem Forscherinnenteam Recher chen<br />
in <strong>Wien</strong>er Archiven getätigt, um die<br />
Schicksale jüdischer Bewohnerinnen<br />
und Bewohner zumindest bruchstückhaft<br />
wieder hervorzuholen. Andere<br />
Projektmitglieder widmeten sich ei ner<br />
breiten Vermittlungs- und Vernet -<br />
zungs arbeit über Bezirks-, Stadt- und<br />
Landesgrenzen hinaus und suchten<br />
Kontakt zu Überlebenden; wiederum<br />
andere verhandelten in unzähligen<br />
Stunden mit den zuständigen Be hör -<br />
den, um die Errichtung des Gedenk -<br />
sym bols zu ermöglichen. Das „Pro jekt<br />
Servitengasse“ ist durch seine Hart -<br />
näckigkeit auch zu einem Syno nym ➮<br />
JÜDISCHE WELT<br />
März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 35
JÜDISCHE WELT • AUSLAND<br />
für das Recht der BürgerInnen auf<br />
„Erinnern“ geworden. Nicht von<br />
„oben herab“, sondern von „der<br />
Basis“ ausgehend geschieht hier die<br />
Auseinandersetzung mit der<br />
Geschichte und das Bemühen um<br />
persönlichen Kontakt zu den einst<br />
aus Österreich Vertriebenen.<br />
„Erinnerung ist Erinnerung an etwas<br />
Verges se nes“, schreibt der Historiker<br />
Yosef Hayim Yerushalmi 3 . Die Suche<br />
nach den „verschwunde nen<br />
Nachbarn“ 4 brachte auch die<br />
Wiederent deckung der Geschichte<br />
eines einstm<strong>als</strong> ebenso jüdischen<br />
Stadtteils mit sich. Die Ecke Ser -<br />
vitengasse-Grünentorgasse mit dem<br />
beleuchteten Viereck im Boden und<br />
den 462 Namen soll nun zu einem<br />
Ort werden, an dem der vertriebenen<br />
und ermordeten jüdischen<br />
Bevölkerung gedacht werden kann.<br />
Dass die Projekt mit glie der zu<br />
KommunikatorInnen geworden sind,<br />
die zu einem veränderten Klima in<br />
der Gasse, im Bezirk und zu einem<br />
Darüber-Sprechen-Wollen und auch<br />
Darüber-Sprechen-Können beigetragen<br />
haben, gehört gleichfalls zu den<br />
bemerkenswerten Kennzeichen dieses<br />
Projektes.<br />
Informationen über das Projekt<br />
„Serviten gasse 1938“ unter<br />
www.servitengasse1938.at<br />
Die Inhaberin der Servitengarage, Helene<br />
Grünwald mit ihren Angestellten, um 1937.<br />
1<br />
Doron Rabinovici, Von den jüdischen<br />
Menschen zu reden, in: Birgit Johler/Maria<br />
Fritsche (Hg.), 1938 Adresse: Servitengasse.<br />
Eine Nachbarschaft auf Spurensuche, <strong>Wien</strong>:<br />
Mandelbaum 2007, S. 20f.<br />
2<br />
Ebd., S. 20.<br />
3<br />
Yosef Hayim Yerushalmi, Über das Vergessen,<br />
in: ders.: Ein Feld in Anatot. Versuche über<br />
jüdische Geschichte. Ber lin 1993, S. 13.<br />
4<br />
in Anlehnung an eine Ausstellung im<br />
Sigmund Freud Museum <strong>Wien</strong>, „Freuds verschwundene<br />
Nachbarn“ (2003)<br />
KUBANISCHE JUDEN: Kaum<br />
Veränderungen nach Castros Abgang<br />
von Larry Luxner, JTA; Übersetzung: Karin Fasching<br />
Eingang zum jüdischen Friedhof<br />
in Camaguey.<br />
Für die Weltpolitik war Fidel Cas tros<br />
Rücktritt nach 50 Jahren Präsi dent -<br />
schaft ein markantes Ereignis – doch<br />
die kubanischen Juden im Land so -<br />
wie im Exil nehmen dies überaus<br />
gelassen hin, wird sich für sie doch<br />
kaum etwas ändern.<br />
Bereits vor eineinhalb Jahren, <strong>als</strong><br />
Fidel Castro schwer erkrankte, hatte<br />
sein Bruder Raul, 76, die Regierungs -<br />
ge schäfte übernommen, inzwischen<br />
wurde er auch offiziell von der Natio -<br />
nalversammlung zum neuen Staats -<br />
prä sidenten gewählt.<br />
Unter dem nunmehr 81jährigen<br />
Cas tro verfolgte Kuba eine strikt antiisraelische<br />
Politik, dennoch genossen<br />
die geschätzten 1.300 Juden des Lan -<br />
des eine gewisse religiöse Freiheit und<br />
es wird nicht erwartet, dass sich dies<br />
un ter der neuen Führung ändern wird.<br />
Der Bankier Bernardo Benes, 73, verließ<br />
Kuba 1960. Er lernte Raul Castro<br />
in seiner Studentenzeit an der Uni -<br />
ver sität von Havanna kennen.<br />
Fidel Castro sei keineswegs ein Anti -<br />
se mit, ist Benes überzeugt und will<br />
keine Spekulationen über Rauls Mei -<br />
nung gegenüber den Juden anstellen.<br />
„Ich versichere Ihnen, dass Fidel das jü -<br />
dische Volk sehr bewundert. Ich habe mich<br />
ein paar Mal mit ihm über das Judentum<br />
und Israel unterhalten und er zeigte großes<br />
Interesse“, erzählt Benes, der vor seiner<br />
Emigration <strong>als</strong> Rechtsbeistand an<br />
Kubas größter Synagoge, Patronato,<br />
tätig war. „Dennoch hat sich sein Re gie -<br />
rungskurs horrend auf Israel ausgewirkt.<br />
Fidel ist eine schwierige Persönlichkeit.<br />
Die meisten Menschen verstehen nicht,<br />
wer er ist.“<br />
Tatsächlich war Castro keineswegs<br />
ein Freund Israels. Im Jahr 1966 wurden<br />
in Kuba Guerilla-Trainingscamps<br />
für die Palästinenser eröffnet. Für Cas -<br />
tro und Palästinenserführer Yasser<br />
Arafat begann damit eine lebenslange<br />
Verbindung. Beim ersten Parteitag der<br />
Kubanischen Kommunistischen Par -<br />
tei 1975, zwei Jahre nachdem er jegliche<br />
diplomatische Beziehungen zu<br />
Israel abgebrochen und Syrien im<br />
Yom Kippur Krieg gegen Israel 1973<br />
unterstützt hatte, erklärte Fidel<br />
Castro: „Wir lieben und verehren Yasser<br />
Arafat und haben ihm stets unsere<br />
Solidarität bewiesen.“<br />
1975 unterstützte Kuba eine UN-Re -<br />
solution, die Zionismus mit Rassis -<br />
mus gleichsetzte; 1991 stimmte es ge -<br />
gen einen Vorschlag der Vereinten Nationen,<br />
die Resolution zu widerrufen.<br />
Auch bei der ersten UN-Welt kon -<br />
ferenz gegen Rassismus in Durban,<br />
Südafrika, im Jahr 2001, verfolgte Cas -<br />
tro diese Linie weiter. Er rief die De le -<br />
gierten dazu auf, „dem anhaltenden<br />
Genozid gegen das palästinensische Volk“<br />
durch Israel „ein Ende zu bereiten“.<br />
Trotzdem gehören, auch ohne di -<br />
plomatische Verbindungen zwischen<br />
Jerusalem und Havanna, israelische<br />
Geschäftsleute zu den Top-Investoren<br />
in Kubas Zitrus-Export-Industrie und<br />
haben Millionen in die Errichtung<br />
eines Bürokomplexes in der kubanischen<br />
Hauptstadt gesteckt.<br />
Die tatsächliche Zahl der kubanischen<br />
Juden zu ermitteln ist fast un -<br />
36 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768
JÜDISCHE WELT • AUSLAND<br />
Viele Juden wanderten nach Kuba<br />
aus, nachdem man sie 1492 aus Spa -<br />
nien vertrieben hatte und Jahr hun der -<br />
te später machten jüdische Pira ten<br />
Kubas Küstengewässer unsicher.<br />
© Larry Luxner/JTA<br />
möglich, so die Experten, denn auch<br />
wenn viele Juden das Land in den<br />
letzten Jahren verlassen haben, gab es<br />
doch zahlreiche Konversionen zum<br />
Ju dentum. Laut dem ehemaligen He -<br />
bräischlehrer Moisés Asís sollen nur<br />
noch etwa 400 „bona fide“ übrig sein.<br />
Außerdem würde die jüdische Ge -<br />
meinde ihre Größenangaben immer<br />
ein wenig übertreiben, „um zu zeigen,<br />
dass sie mehr Hilfe und mehr Geld brauchen“,<br />
so Asís, der auch General se kre -<br />
tär von Kubas B´nai B´rith Loge war.<br />
Er schätzt, dass seit 1992 ungefähr<br />
800 kubanische Juden nach Israel ausgewandert<br />
sind; etwa die Hälfte da -<br />
von blieb auch dort, während die<br />
andere Hälfte später in die Vereinig ten<br />
Staaten emigriert sei.<br />
Die große Zahl an Konvertiten er -<br />
klärt Asís sich mit der religiösen Frei -<br />
heit, die die jüdische Gemeinde auf<br />
der Insel genießt. Etwa 80 % derjenigen,<br />
die jede Woche zum G´ttesdienst<br />
kommen, spekuliert er, „haben gar<br />
nichts mit dem jüdischen Leben zu tun“.<br />
Unter anderem bekommt die jüdische<br />
Bevölkerung drei koschere<br />
Fleisch rationen pro Monat und regelmäßig<br />
großzügige „Care Pa kete“ von<br />
wohlhabenden jüdi schen Gemeinden<br />
Fassade der 1928 erbauten Synagoge „Con -<br />
gregación Hatikva“ in Santiago de Cuba.<br />
Gemeidemitglieder in Havana's<br />
Patronato Synagoge.<br />
aus den USA und Kanada.<br />
„Wenn man es mit anderen ehem<strong>als</strong><br />
kommunistischen Staaten vergleicht, ist<br />
die Situation in Kuba tatsächlich besser“,<br />
meint Asís, der inzwischen selbst in<br />
Florida lebt. „Fidel Castro stand der<br />
Reli gion im Allgemeinen negativ ge gen -<br />
über, nicht dem Judentum im Spe ziellen.<br />
Besonders wenig mochte er die Katho li ken,<br />
die Zeugen Jeho vas, die Baptisten und die<br />
Adventisten des siebten Tages, doch weil<br />
es nur so wenige Juden gab – die meisten<br />
derjenigen, die zum G´ttesdienst kamen<br />
schon älter waren – stellten sie keine Be -<br />
drohung für seine Macht dar. Deshalb<br />
war er der jüdischen Gemeinde gegenüber<br />
sehr tolerant.“<br />
Asís erwartet auch keine große Än -<br />
de rung in Kubas Nahost-Politik so<br />
lange Castro am Leben ist. „Er wird<br />
seine Meinung über alle Angelegenheiten<br />
aus dem Hin tergrund kundtun. Raul<br />
Castro ist abhängig von Fidel. Wenn<br />
Fidel eine Meinung hat, wird Raul sich<br />
ihm nicht entgegen stellen.“<br />
Rabbi Mayer Abramowitz, spirituelles<br />
Oberhaupt der 200 Mit glieder zählenden<br />
kubanisch-jüdischen Ge mein -<br />
de von Miami Beach, sieht wie de rum,<br />
wie sehr die Menschen auf eine Änderung<br />
in der Politik ihrer ehemaligen<br />
Heimat warten.<br />
Sobald das Castro-Regime nicht<br />
mehr existiert und eine Chance für<br />
die Demokratie besteht, „wird es ei nen<br />
gewaltigen Zustrom von Juden nach<br />
Kuba geben“, meint Abra mo witz.<br />
„Aber es wird in Form von Tou ri s mus<br />
sein, nicht Immigration. Nie mand, den ich<br />
kenne, denkt auch nur daran, zurück zu<br />
gehen, um dort zu leben.“<br />
1898 unterstützten die Juden der<br />
niederländischen Antillen den Be frei er<br />
Jose Marti, der Kuba der spanischen<br />
Kontrolle entriss. Dam<strong>als</strong> stiegen jü -<br />
dische Händler in das lukrative Zucker -<br />
rohr-Geschäft ein, in Osteuro pa ge -<br />
bür tige amerikanische Juden kamen<br />
ins Land, um auf Plantagen zu arbeiten.<br />
1904 wurde Kubas erste Synagoge,<br />
die Vereinigte Hebräische Kongre ga -<br />
tion, gegründet, zwei Jahre später ein<br />
Gotteshaus gebaut, weshalb auch<br />
2006 das 100. Jubiläum der jüdischen<br />
Gemeinde gefeiert wurde.<br />
Zwischen 1910 und 1920 verstärkte<br />
sich der Einfluss des sephardischen<br />
Judentums aus der Türkei, Osteu ro -<br />
päer nutzten die Insel <strong>als</strong> Zwischen -<br />
stopp auf ihrem Weg in das schwer<br />
zugängliche Amerika. Viele von ih nen<br />
blieben, denn das Klima war angenehm<br />
und Antisemitismus war kaum<br />
anzutreffen – so wurde der Begriff<br />
„Polacos“ für Juden im Allgemeinen<br />
geprägt.<br />
1959 gab es 15.000 jüdische Kubaner,<br />
größtenteils wohlhabende Schuhfa bri -<br />
kanten und Händler, doch <strong>als</strong> Fidel<br />
Castro sämtlichen Privat be sitz konfiszierte,<br />
wanderten die meisten ins<br />
südliche Florida aus, andere gingen<br />
nach Israel oder in verschiedene Län -<br />
der Südamerikas.<br />
Die Acosta Street in Alt-Havanna<br />
wird immer noch „die jüdische Straße“<br />
genannt, war sie doch dam<strong>als</strong> das<br />
Heim koscherer Bäckereien, Restau -<br />
rants und jüdischer Textilgeschäfte.<br />
Havanna hat heute drei aktive Syna -<br />
gogen, Camaguey und Santiago de<br />
Cuba jeweils eine.<br />
Bücher zum Thema:<br />
„The Chosen Island: Jews in Cuba“ von<br />
der Historikerin Maritza Corrales;<br />
„History of Cuba´s Jewish Community in<br />
Maps“ von Eugenia Farin Levy, Synago -<br />
gen vorstand der Hatikva-Gemeinde in<br />
Santiago de Cuba.<br />
März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 37
JÜDISCHE WELT • AUSLAND<br />
Panorama<br />
Kurznachrichten aus der jüdischen Welt<br />
Quelle: JTA/Guysen u.a.; Übersetzung: Karin Fasching/Foto:©JTA u.a.<br />
USA/Israel: Einigung in<br />
Konversions-Frage<br />
Der Rabbinische Rat von Amerika,<br />
Dachorganisation für moderne orthodoxe<br />
Rabbiner, konnte nun eine Eini -<br />
gung mit dem israelischen Oberrab -<br />
binat in der schwierigen Konversi ons-<br />
Frage erzielen, indem er ein Netz -<br />
werk nordamerikanischer Rabbinats -<br />
ge richte, die für die Übertritte zuständig<br />
sind, aufbaute.<br />
Dies ist das Ende eines langjährigen<br />
Streits mit dem sephardischen Ober -<br />
rabbiner Israels, Shlomo Amar, der<br />
an gekündigt hatte, keine außerhalb<br />
von Israel durchgeführten Übertritte<br />
mehr anerkennen zu wollen.<br />
Nun sind 15 Rabbinatsgerichte mit<br />
insgesamt 40 Rabbinern dazu berechtigt,<br />
Konversionen durchzuführen.<br />
Holocaust-Historiker unter Verdacht<br />
Der Holocaust-Historiker und ehemalige<br />
Partisanenkämpfer Yitzhak Arad,<br />
der 21 Jahre lang <strong>als</strong> Direktor von Isra -<br />
els Nationalmuseum tätig war, steht<br />
unter Verdacht, in die Er mor dung li -<br />
tauischer Zivilisten während des Krieges<br />
involviert zu sein. Der Umstand<br />
war ans Licht gekommen, <strong>als</strong> Israels<br />
sich weigerte, Arad durch die litauischen<br />
Behörden befragen zu lassen.<br />
Yad Vashem-Direktor Avner Shalev<br />
wand te sich mit einem Protest schrei -<br />
ben an Litauens Außenminister, in<br />
dem er ihn dringend bat, die Ange le -<br />
genheit zu einem raschen Ende zu<br />
bringen. „Es ist klar, dass die Einleitung<br />
eines Verfahrens über Dr. Arads Beteili -<br />
gung an den litauischen Partisanenak ti -<br />
vi täten während des Zwei ten Weltkriegs<br />
gleichbedeutend ist mit dem Ruf nach<br />
einer Untersuchung sämtlicher Partisa -<br />
nen aktivitäten“, schrieb Shalev. „Jeder<br />
Versuch, diese Aktionen mit illegalen Ak -<br />
tivitäten gleichzusetzen – und diese auch<br />
noch <strong>als</strong> kriminell zu klassifizieren, ist<br />
eine gefährliche Verdrehung der Ereignis -<br />
se, die sich in Litauen während des<br />
Krieges zugetragen haben.“<br />
Israel will Durban II boykottieren<br />
Israel überlegt, die im kommenden<br />
Jahr erneut in Durban, Südafrika, statt -<br />
findende Rassismuskonferenz zu boykottieren.<br />
Bereits 2001 war die „Welt -<br />
kon ferenz gegen Rassismus, Rassen -<br />
dis kriminierung, Xenophobie und<br />
Intoleranz“ dort abgehalten worden.<br />
Der extrem antizionistische und proara<br />
bische Tenor der Konferenz 2001<br />
lässt Israel die Vorbereitungen für 2009<br />
nun mit großer Besorgnis beobachten.<br />
Israels Außenministerin Tzipi Livni<br />
sagte dazu, Jerusalem sei mit der A genda<br />
von „Durban II“ alles andere <strong>als</strong><br />
zufrieden. „Israel wird nicht teilnehmen<br />
und die Rassismus-Folgekonferenz der<br />
Vereinten Nationen, genannt Durban II,<br />
auch nicht legitimieren, so lange nicht<br />
sichergestellt ist, dass die Konferenz nicht<br />
<strong>als</strong> Plattform für weitere antiisraelische<br />
und antisemitische Aktivitäten benutzt<br />
wird“, sagte sie zu Delegierten einer<br />
An tisemitismus-Konferenz in Jerusa -<br />
lem.<br />
Auch Kanada kündigte bereits an,<br />
„Durban II“ aufgrund der vorangegangenen<br />
antiisraelischen Tendenzen<br />
bokottieren zu wollen.<br />
Großer Andrang bei Birthright Israel<br />
Die Gratis-Israel-Reisen des Vereins<br />
„Birthright Israel“ genießen enormen<br />
Zuspruch: Bereits am ersten Tag, der<br />
zur Registrierung offen stand, dem<br />
12. Februar, meldeten sich 14.000 Per -<br />
so nen für die Frühjahr/Sommer-Sai -<br />
son an. Die Anmeldung ist noch bis<br />
Ende März möglich.<br />
Seit seiner Gründung im Jahr 2000<br />
ermöglichte „Birthright Israel“ mehr<br />
<strong>als</strong> 160.000 Juden zwischen 18 und 26<br />
Jahren kostenlose 10-Tages-Reisen ins<br />
Heilige Land.<br />
Israel <strong>als</strong> Ehrengast<br />
bei Pariser Buchmesse<br />
Aus Anlass von Israels 60jährigem<br />
Bestehen wird der jüdische Staat vom<br />
14. bis 19. März Ehrengast der diesjährigen<br />
Pariser Buchmesse sein. 39<br />
israelische Autoren wurden eigens<br />
dazu nach Frankreich eingeladen.<br />
Zuvor hatte sich Ägypten gegen Is ra -<br />
el <strong>als</strong> Ehrengast ausgesprochen wird<br />
aus diesem Grund die Buchmesse<br />
boykottieren.<br />
Polnische Rabbinervereinigung neu<br />
gegründet<br />
Zum ersten Mal seit den 1930er Jah -<br />
ren darf die Rabbinervereinigung von<br />
Polen sich wieder über ihr Be stehen<br />
freuen. Bei einer Versammlung aller<br />
polnischen Rabbiner in Lodz, in An -<br />
we senheit von Israels Oberrabbiner<br />
Yona Metzger und unter der Leitung<br />
von Polens Oberrabbiner Michael<br />
Schudrich, erfolgte die offizielle Neu -<br />
gründung.<br />
Die Zeremonie war Teil der jährlichen<br />
Shavei Israel Konferenz für „verborgene“<br />
Juden, <strong>als</strong>o Personen, die erst<br />
kürzlich ihre jüdischen Wurzeln entdeckten.<br />
Die Coen-Brüder verfilmen Chabon<br />
Die erst kürzlich mit einem Oscar für<br />
ihren Film „No Country for Old Men“<br />
ausgezeichneten US-Filmemacher<br />
Joel und Ethan Coen wollen, laut Me -<br />
di enberichten, das Buch „Die Verei ni -<br />
gung jiddischer Polizisten“ des jüdischen<br />
Schriftstellers Michael Chabon<br />
verfilmen.<br />
Der Autor beschreibt darin eine Welt,<br />
38 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768
JÜDISCHE WELT • AUSLAND<br />
in der Israel 1948 zerstört und <strong>als</strong> Jid -<br />
disch sprechender, souveräner Staat<br />
im entlegenen Alaska wieder aufgebaut<br />
wurde. Columbia Pictures haben<br />
bereits die Rechte für eine Verfilmung<br />
erworben.<br />
Ha´aretz-Chefredakteur abgelöst<br />
Dov Alfon wird David Landau, der<br />
den Posten vier Jahre lang inne hatte,<br />
mit 15. April <strong>2008</strong> <strong>als</strong> Chefredakteur<br />
der Tageszeitung Ha´aretz ablösen.<br />
Landau wird danach auch weiterhin<br />
dem Redaktionsbüro angehören. Lan -<br />
dau, so Herausgeber Amos Schocken,<br />
sei in einer sowohl für die Zeitung <strong>als</strong><br />
auch für ihre Mitarbeiter schwierigen<br />
Zeit zum Chefredakteur ernannt worden<br />
und hätte es geschafft, Ha´aretz´<br />
Bekenntnis zu den Werten des angewandten<br />
Zionismus deutlich zu<br />
machen.<br />
Der 46jährige Alfon arbeitete ab 1989<br />
für die Tageszeitung. Er initiierte den<br />
Kultur-„Galerie“-Teil, editierte das<br />
Wochenendmagazin, war <strong>als</strong> Ha´a retz-<br />
Korrespondent in Paris und war Chef<br />
des „Marker“, der Wirtschaftspu bli -<br />
kation von Ha´aretz. 2004 wechselte<br />
Alfon <strong>als</strong> Chefredakteur zum Verlags -<br />
haus Kinneret Zmura-Beitan Dvir.<br />
Frank Sinatra unterstützte<br />
Waffenschmuggel nach Israel<br />
Bei einem Fundraising-Dinner für<br />
Israels Rabin Center erzählte Brian<br />
Greenspun, der Sohn des Medien- und<br />
Immobilienmagnaten Hank Green -<br />
spun aus Las Vegas, zum ersten Mal<br />
öffentlich über Frank Sinatras Be -<br />
teiligung am Waffenschmuggel nach<br />
Israel. Er hätte die Geschichte von seinem<br />
Vater gehört, so Greenspun, und<br />
später durch Teddy Kollek bestätigt<br />
bekommen.<br />
Nach deren Erzählungen lernte Kollek,<br />
der 1948 Israels Waffen schmug -<br />
gelaktivitäten in New York leitete, den<br />
Sänger im „Hotel 14“ kennen, das sich<br />
über dem alten Copa cabana Nacht -<br />
club befand, in dem Sinatra auftrat.<br />
Kollek musste dem Kapitän eines<br />
Schiffes, das die Waffen aus dem New<br />
Yorker Hafen herausbringen sollte,<br />
Bargeld zukommen lassen, wusste<br />
jedoch, dass er auf Schritt und Tritt<br />
vom FBI beobachtet wurde. Die USA<br />
nahmen dam<strong>als</strong> an einem Waffenem -<br />
bargo alle Parteien des Konflikts<br />
betreffend teil. Also verließ Kollek am<br />
verabredeten Tag das Hotel mit einer<br />
Tasche in der Hand und die Agenten<br />
folgten ihm. Sinatra allerdings verschwand<br />
durch einen anderen Aus -<br />
gang – und mit ihm eine Papiertüte,<br />
in der sich das Geld für den Kapitän<br />
befand, die er schließlich auch an diesen<br />
übergab. Sinatra und Kollek verband<br />
daraufhin eine jahrelange<br />
Freundschaft.<br />
Auch der ehemalige US-Präsident<br />
Bill Clinton ließ bei ebendiesem Fund -<br />
raising-Dinner, das zu Ehren Jimmy<br />
Hoffas, dem legendären Teamster-Gewerkschaftsführer,<br />
abgehalten wur de,<br />
aufhorchen: Es gäbe Zeiten, da sei es<br />
angebracht, sich über die Gesetze des<br />
Staates hinwegzusetzen, sagte Clin ton.<br />
Er bezog sich dabei auf den Waffen -<br />
schmuggel nach Israel während dessen<br />
Staatsgründung, den die US-Regie -<br />
rung durch ein umfassendes Embar -<br />
go zu verhindern gesucht hatte.<br />
Israels Gegner verfügten dam<strong>als</strong> über<br />
ausgedehnte Waffenbestände, während<br />
der junge Staat selbst sich diese<br />
erst mühsam beschaffen musste.<br />
Verbindung zwischen<br />
Handynutzung und Krebsrisiko<br />
Dr. Siegal Sadetzki, Empidemiologin<br />
und Lektorin an der Universität von<br />
Tel Aviv, veröffentlichte im US-Jour -<br />
nal für Epidemiologie die Ergebnisse<br />
einer Studie, die eindeutig zeigt, dass<br />
bei intensivem Handygebrauch ein<br />
höheres Risiko für die Entstehung<br />
krebsartiger Tumore besteht.<br />
Dass diese Studie mit 500 Israelis<br />
durchgeführt wurde, ist signifikant:<br />
„Im Unterschied zu den Bürgern anderer<br />
Staaten, nahmen die Israelis die Mobilte -<br />
lefonie sehr schnell an und entwickelten<br />
sich rasch zu außergewöhnlich intensiven<br />
Handynutzern.“, so Sadetzki. „Deshalb<br />
waren diese Probanden auch einem we -<br />
sent lich höheren Maß an Strahlung ausgesetzt,<br />
<strong>als</strong> jene in vorangegangenen<br />
Handy-Studien.“<br />
Juden und Hindus<br />
trafen sich in Jerusalem<br />
Einige der wichtigsten Größen in der<br />
Welt des Hinduismus und Oberrab bi -<br />
ner aus aller Welt trafen von 18.-20.<br />
Februar zum Hinduistisch-Jüdischen<br />
Gipfel in Jerusalem zusammen, der<br />
im vergangenen Jahr zum ersten Mal<br />
abgehalten worden war.<br />
Bei dem vom Weltrat Religiöser Füh -<br />
rer (WCORL) initiierten und unter<br />
der Schirmherrschaft des gesamtindischen<br />
Dharma Acharya Seba und des<br />
Oberrabbinats von Israel organisierten<br />
Gipfel ging es um die Entwicklung des<br />
interreligiösen Verständnisses und<br />
der interkulturellen Verbin dungen.<br />
Bereits beim ersten Treffen in Delhi<br />
2007 bekannten sich die Delegierten<br />
gemeinsam zur Förderung von So zia -<br />
ler Gerechtigkeit, religiöser Freiheit<br />
und einvernehmlichem Informations -<br />
austausch über Hinduismus und<br />
Judentum.<br />
Israelischer Judoka bei<br />
Olympischen Spielen in Peking<br />
Die Nummer 1 im israelischen Judo,<br />
Arik Zeevi, hat sich fix für die Teil nah -<br />
me an den Olympischen Spielen in<br />
Peking <strong>2008</strong> qualifiziert. Der dreifache<br />
Europäische Champion (2000, 2003<br />
und 2004) konnte bereits bei den<br />
Olympischen Spielen in Athen 2004 eine<br />
Bronzemedaille nach Hause tragen.<br />
Hörgeschädigte bekommen<br />
Terrorwarngerät<br />
Taube und Hörgeschädigte in der<br />
israelischen Stadt Ashkelon werden<br />
mit einem Gerät ausgestattet, dass bei<br />
einem Angriff durch Kassam-Raketen<br />
zu vibrieren anfängt. Das israelische<br />
So zialministerium gab grünes Licht<br />
für diese Maßnahme, die bereits in<br />
Sderot und anderen Grenzstädten zur<br />
Anwendung gekommen ist.<br />
März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 39
JÜDISCHE WELT • ISRAEL<br />
Yerushalmi:<br />
„Terror-Tatorte<br />
erzählen viel“<br />
Der israelische<br />
Sicherheitsexperte<br />
berät weltweit<br />
Er sieht nicht aus, <strong>als</strong> würde er zum<br />
Casting für die TV-Serie C.S.I.-Miami<br />
eingeladen werden. Eher schüchtern<br />
und schmächtig wirkt er in seinem<br />
schmal geschnittenen, dunklen Man -<br />
tel. Nur das braungebrannte Gesicht<br />
und die graue kräftige Haarmähne<br />
lassen in dieser winterlichen Ver klei -<br />
dung einen drahtigen, trainierten<br />
Mann vermuten. Eigentlich ist das ein<br />
Verlust für viele Krimi-Serien, denn<br />
Ingenieur Yaakov Yerushalmi könnte<br />
einiges aus der realen Werkstatt eines<br />
weltweit nachgefragten Sicherheits -<br />
ex perten beisteuern.<br />
„Ich bin so etwas wie ein Pathologe“,<br />
lächelt er entschuldigend, „denn wie<br />
die Spurensicherung in einem Krimi<br />
komme ich immer nach einem Bombenoder<br />
Sprengstoffanschlag an den Ort des<br />
Geschehens. Dort prüfe ich dann die Sta -<br />
tik der schadhaften Gebäude und auch die<br />
Struktur der beim Bau verwendeten<br />
Materialien.“ Yerushalmi, der von<br />
1967 bis 1971 am Technion in Haifa<br />
zum Erd- und Wasserbauingenieur<br />
ausgebildet wurde, spezialisierte sich<br />
ebendort in Structural Engineering an<br />
der Technion Post Graduate School. „Ich<br />
lese nach einem Sprengstoff- oder Bom -<br />
ben anschlag an jedem Tatort wie in einem<br />
offenen Buch“, erzählt der Fachmann,<br />
der sowohl nach Madrid und New<br />
York, <strong>als</strong> auch nach London und Sin -<br />
gapore eingeladen wurde, <strong>als</strong> die örtlichen<br />
Sicherheitskräfte seine Ein -<br />
schät zung hören wollten. Konkrete<br />
Bei spiele darf der Israeli, der auch<br />
von seiner Diskretion lebt, leider<br />
nicht preisgeben.<br />
Von 1975 bis 1979 leitete Yerushalmi<br />
<strong>als</strong> hoher Offizier die wichtigste Pio -<br />
nier-Abteilung in der israelischen<br />
Armee: Er war der Chef der geotechnischen<br />
Abteilung für Schutz-Struk -<br />
tu ren. „Da mich die IDF (Israel Defense<br />
Forces) auch beim Studium förderten,<br />
war es selbstverständlich, dass ich mein<br />
erworbenes Wissen auch für die Armee<br />
zur Verfügung stelle“. Heute entwickelt<br />
er auch raketensichere Hausmau ern<br />
und Schutzwälle gegen den Kassam-<br />
Beschuss auf die israelische Ortschaft<br />
Sderoth. „Seit sechs Jahren steht diese<br />
Gemeinde unter Dauerbeschuss, jetzt hat<br />
die israelische Regierung ein eigenes Bud -<br />
get für schusssichere Wände in Wohn -<br />
bau ten genehmigt,“ erzählt der Fach -<br />
mann, der auf einige lukrative Auf -<br />
trä ge im Ausland verzichtete, um für<br />
Sderoth arbeiten zu können.<br />
Seit 1979 ist Yaakov Yerushal mi mit<br />
seiner Beraterfirma YYLtd. selbstständig<br />
und sehr gut gebucht. <strong>Wien</strong><br />
besuchte er in letzter Zeit mehrm<strong>als</strong>,<br />
um der Hakoah und der IKG beim<br />
Bau des Sportzentrums, der Schule<br />
und des Maimonides-Zentrums mit<br />
sicherheitstechnischem Rat zur Seite<br />
zu stehen. Denn wer Yerushalmis Er -<br />
fahrungen zu nutzen weiß und seine<br />
Ratschläge vor der Errichtung eines<br />
Gebäudes einholt, baut jedenfalls<br />
günstiger. „Wenn wir schon in der Pla -<br />
nungsphase unsere Erfahrungen einbringen<br />
können, wird der für die Sicher heit<br />
nötige Aufwand bereits bei der Er rich -<br />
tung eines öffentlichen oder privaten<br />
Gebäudes berücksichtigt und das kommt<br />
auf jeden Fall billiger“.<br />
Respektiere Deinen Feind –<br />
er ist nicht blöd!<br />
Doch nicht nur jüdische Schulen werden<br />
heutzutage baulich geschützt,<br />
auch Bankengebäude in Spanien oder<br />
ein Holocaust-Mahnmal in Frank reich.<br />
Zur Erinnerung an das größte französische<br />
Lager Drancy, von dem aus<br />
24.000 Juden unter der Leitung des<br />
SS-Schergen Alois Brunner zur Ver -<br />
nich tung nach Auschwitz deportiert<br />
wurden, entsteht jetzt ein Mahnmal.<br />
„Das deutsch-schweizerische Architek ten -<br />
büro Diener & Diener hat den Wettbe -<br />
werb gewonnen und jetzt bin ich auch in<br />
das Projekt einbezogen worden“, berichtet<br />
Yerushalmi.<br />
Er hat auch an der Entstehung eines<br />
wichtigen EU-Gesetzes mitgewirkt.<br />
„Wir haben mit der EU-Kommission<br />
einen Katalog von gemeinsamen Sicher -<br />
heits standards erarbeitet, der nach den<br />
9/11 Anschlägen in New York noch notwendiger<br />
und dringlicher geworden ist.“<br />
Denn Yerushalmi ist überzeugt, dass<br />
man seinen Feind nicht unterschätzen<br />
darf: „Die so genannten ‚Feinde’ kann<br />
man nur ausschalten, wenn man sie res -<br />
pek tiert. Denn sie sind ja nicht blöd, davon<br />
darf man keinesfalls ausgehen. Zumeist<br />
gelingt doch ein Anschlag, weil sie die<br />
Schwach punkte eines Gebäudes oder ei ner<br />
Konstruktion entdeckt haben.“<br />
Da die kollateralen Effekte von<br />
Sprengstoffanschlägen immer dramatischer<br />
und ausgeklügelter werden,<br />
sieht Yerushalmi den Bedarf an dieser<br />
Spezialisierung weiter wachsen. Da -<br />
her sucht er auch junge Leute in aller<br />
Welt zur Ausbildung in seiner Firma.<br />
Nur bei der Sicherung von Sderoth<br />
und anderen gefährdeten Gebieten in<br />
Israel denkt er nicht an das Geschäft.<br />
Zwi Halevi<br />
40 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768
KULTUR • KOLUMNE<br />
Überall & nirgendwo<br />
Großes Silbernes Ehrenzeichen<br />
für ehemalige StRin Pittermann<br />
Die frühere <strong>Wien</strong>er Gesund heits -<br />
stadt rätin Primaria Dr. Elisabeth<br />
Pittermann-Höcker hat das Große Sil -<br />
ber ne Ehrenzeichen für Verdienste<br />
um das Land <strong>Wien</strong> aus den Händen<br />
des <strong>Wien</strong>er Bürgermeisters, Dr.<br />
Michael Häupl, erhalten. Die Lauda tio<br />
hielt der Erste Präsident des <strong>Wien</strong>er<br />
Landtags, Johann Hatzl. Der Fest red -<br />
ner würdigte Pittermann vor al lem<br />
wegen ihres großen Engage ments<br />
und deren außerordentlichen Leis -<br />
tungen sowie wegen ihrer jahrzehntelangen<br />
ausgezeichneten Zu sam -<br />
menarbeit mit dem Land <strong>Wien</strong>.<br />
Dr. Pittermann war nach Ab schluss<br />
ihres Studiums im Jahr 1971 viele<br />
Jahre im Hanusch-Krankenhaus tätig,<br />
wo sie 20 Jahre später an der 3. Me di -<br />
zi ni schen Abteilung Primaria wurde<br />
– eine Tätigkeit, die sie auch heute<br />
noch ausübt. Ihre politische Lauf -<br />
bahn begann 1982 <strong>als</strong> Bezirksrätin,<br />
1994 kam sie in den Na tio nalrat, wo<br />
sie bis zum Wechsel in die <strong>Wien</strong>er<br />
Lan des regierung blieb; die Funktion<br />
<strong>als</strong> Ge sundheitsstadträtin übte sie<br />
von 2000 bis Früh som mer 2004 aus;<br />
von 1990 bis 2002 war sie Vizeprä si -<br />
dentin des BSA.<br />
Seit 2004 ist sie Ehrenpräsi den tin<br />
des Arbeitersamariterbundes, dessen<br />
Präsidentin sie von 1999 bis 2000 war.<br />
Dort, wo in Washington Heights, in New York,<br />
die Pine hurst, die Cabrini und die 187. Strasse<br />
zusammentreffen, dort befindet sich ein kleiner<br />
Platz. Eigentlich lediglich eine Verkehrs insel,<br />
auf der sich allerdings eine halbrunde Bank be -<br />
findet, die bei halbwegs erträglichem Wetter<br />
kaum leer bleibt. Hier trifft sich jung und alt,<br />
aber auch der Überrest jener deutschen und ös -<br />
terreichischen Emi granten, die seinerzeit Wa -<br />
shing ton Heights in ein europäisch-jüdisches<br />
Viertel verwandelt hatten. An einer Ecke steht meist vor „seinem“ Haustor der<br />
Super (Hausmeister), der mit seinen Neuigkeiten keinen an ihm Vorbeigehenden<br />
auslässt. Es ist fast wie in einem Dorf. Noch immer hört man gelegentlich<br />
deutsch in einigen Nachbarschaftsrestaurants, ein Deutsch meist nicht österreichischer<br />
Färbung, noch immer sieht man kleine, gebückte alte Frauen, ihren<br />
kleinen Einkaufswagen mühsam den Berg hinauf schieben. Und noch immer<br />
hat man das Gefühl, sie, die nunmehr gewohnheitsmäßig Englisch sprechen,<br />
im Kopf aber in Deutsch mit Zahlen hantieren, wie zum Beispiel in den vie len<br />
Bridgerunden, sie, die hier Anwesenden, sind ei gent lich überall und nirgendwo<br />
zu Hause.<br />
Weiter unten, bloß drei Parallelstrassen weiter, an der Ecke der 187. Strasse<br />
zum Broadway, befindet sich eine streng orthodoxe Gemeinde. Hier laufen die<br />
kleinen Mäd chen mit ihren langen mausgrauen Röcken herum, während die<br />
Buben mit aufgesetzter Kippa Fußball spielen. Hier empfiehlt es sich nicht, am<br />
Freitag kurz vor dem An bre chen des Sabbaths, in den nahe gelegenen Super -<br />
markt (mit entsprechend koscheren Abteilungen) zu gehen. Zu groß ist der<br />
Andrang derer, die noch ganz schnell einkaufen wollen, bevor die Zeit der<br />
schwarzen Anzüge anbricht und man mit gemessenen Schritten die Strassen<br />
bevölkert. Da unten, bloß drei Häuserblocks von der Bank entfernt, da gibt er<br />
nur ein hier. Ein hier, das einen winzigen Teil Man hattans umschließt und vielleicht<br />
ein paar (wohl ausgesuchte) Orte in Israel. Zumindest für einige.<br />
Überall & nirgendwo, und hier, das sind Gegensätze, die nicht nur Generationen<br />
voneinander trennen. Dies be merkt man spätestens bei einem Besuch beim<br />
Stammtisch, eines Treffpunkts von Emigranten, der bereits seit 1943 existiert<br />
und den u.a. Oskar Maria Graff ins Leben gerufen haben soll. Hier spricht man<br />
natürlich deutsch, zum Teil ein sehr gewähltes Hochdeutsch. Und alle sind per<br />
du. Auch die weit über Achtzigjährigen mit den österreichischen Ge denk -<br />
dienern, die vorbeischauen. Gelegentlich aufgeschnappte Gesprächsfetzen –<br />
alle reden durcheinander – beziehen sich auf Längstvergangenes. Etwa das<br />
Dienst mäd chenverbot in den ersten Jahren der Hitlerzeit in Deutschland, Dinge,<br />
die sich „nach dem Krieg“ (ein gängiger Euphemismus) wieder fanden. Hier<br />
beim Stamm tisch, hier in einer kleinen Wohnung an der Upper East Side, hier<br />
gilt wieder das überall und nirgendwo. Wenn man Glück hat, dann kommt man<br />
an dem Abend, an dem von einem älteren, sehr gepflegten Herren Pa lat schin -<br />
ken fabri ziert werden. Selbstverständlich mit Marillenmarmelade. Der<br />
Hobbykoch ist übrigens ein Enkel Arnold Schönbergs<br />
Wie macht man ein Bagel? Das ist ganz einfach: man nimmt ein Loch und<br />
legt den Teig herum. Das klingt witzig, beschreibt aber zugleich bestens den<br />
jüdischen Charakter New Yorks. Das unbekannte Loch, das enthält all die vielfältigen<br />
Vorstellungen, Wünsche, Interpretationen, die in das Wort jüdisch<br />
gelegt werden (dürfen, sollen, müssen). Und weil es so wenig genau wirklich<br />
erfasst werden kann, wird der Teig herumgelegt und je nach Geschmack<br />
bestreut: sesame, onion, garlic. Für manche von allem etwas: die everything<br />
bagels. Übrigens Bagel gibt es überall in New York, schließlich sind Bagel and<br />
Lox zumindest so amerikanisch wie Apple Pie.<br />
P. Weinberger<br />
KULTUR<br />
März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 41
KULTUR • MUSIK<br />
Sylvia Greenberg: Mit Korngold ins<br />
Herz gesungen<br />
Einen akustisch schwierigen Saal<br />
mit einem sehr anspruchsvollen Lie -<br />
derabend zu füllen, ist wahrlich eine<br />
Kunst, die nur ganz hervorragende<br />
Musiker schaffen können. Diesen<br />
Erfolg dürfen sich die Kolo ratur so -<br />
pranistin Sylvia Greenberg und der<br />
Pianist David Aronson zugute schreiben.<br />
Denn unter dem Titel „Haus -<br />
musik – Musikalische Grüße aus der<br />
Theobaldgasse 7“ verließen sie sich kei -<br />
neswegs auf populäre „Ohrwür mer“.<br />
Ganz im Gegenteil, sie boten ihrem<br />
Publikum im Jüdischen Museum in<br />
<strong>Wien</strong> erstens eine Weltpremiere - sie<br />
konzertieren mit dem gleichen Pro -<br />
gramm danach an der University von<br />
Michigan, Ann Arbor - und zweitens<br />
einen eindrucksvollen Querschnitt<br />
eines selten gehörten Liedgutes. „Wir<br />
haben den Begriff ‘Hausmusik’ ge wählt,<br />
weil wir hier in <strong>Wien</strong> in der Theobald gas se<br />
7 im sechsten Bezirk in einem musikalisch<br />
vorbelasteten Haus wohnen,“ erzählt der<br />
gebürtige New Yorker Aronson <strong>als</strong><br />
Ein führung in den Abend. Niemand<br />
geringerer <strong>als</strong> Erich Wolfgang Korn gold<br />
(1897-1957) lebte und arbeitete hier.<br />
Er galt <strong>als</strong> Wunderkind und war der<br />
Sohn des aus Brünn stammenden jü -<br />
di schen Musikkritikers Julius Korn -<br />
gold, der <strong>als</strong> Nachfolger von Eduard<br />
Hanslick ebenso gefürchtet und res -<br />
pek tiert für die ‘Neue Freie Presse’<br />
schrieb. „Zur Familie Korngold kamen<br />
viele berühmte Musiker, Komponisten<br />
und Interpreten auf Besuch, u.a. Bruno<br />
Walter und Alexander von Zemlinsky.“<br />
Letzterer war auch einer der Lehrer<br />
des Wunderkindes Erich Wolfgang,<br />
dessen Ballettkomposition Der Schnee -<br />
mann bereits mit elf Jahren an der<br />
Wie ner Hofoper seine Uraufführung<br />
erlebte. (Die Ausstellung „Die Korn -<br />
golds - Klischee, Kritik und Kompo -<br />
si tion“ im Jüdischen Museum in<br />
<strong>Wien</strong> läuft noch bis 18. Mai <strong>2008</strong>)<br />
Daraufhin wurde Korngold von der<br />
<strong>Wien</strong>er Hocharistokratie gefördert<br />
und er enttäuschte sie nicht: Mit dreizehn<br />
Jahren komponierte er Klavier -<br />
so naten, etwas später eine Schau spiel-<br />
Ouvertüre und eine Sinfonietta. Die<br />
Aufführungen seiner Jugendwerke di -<br />
rigierten häufig so prominente Per sön -<br />
lichkeiten des frühen 20. Jahr hun derts<br />
wie Bruno Walter, Artur Schna bel,<br />
Wilhelm Furtwängler oder Ri chard<br />
Strauss. Korngolds Opernkom posi ti -<br />
o nen Der Ring des Polykrates und<br />
Violanta (beide aus 1916) gehörten zu<br />
den meistgespielten Opern in Österreich<br />
und Deutschland, sein wohl<br />
bedeutendster Erfolg war jedoch die<br />
Oper Die tote Stadt. Bereits 1934 folgte<br />
Korngold der Einladung Max Rein -<br />
hardts nach Hollywood, um für dessen<br />
Film A Midsummer Night’s Dream<br />
(Ein Sommernachtstraum) die Film -<br />
mu sik nach der Vorlage Mendels sohns<br />
zu arrangieren. Der Durchbruch mit<br />
Reinhardt brachte ihm weitere Auf -<br />
trä ge <strong>als</strong> Filmkomponist für Warner<br />
Brothers ein.<br />
Korngold erhielt 1936 und 1938<br />
zweimal den begehrten Oscar für die<br />
beste Filmmusik. Durch seinen Kon -<br />
takt zu Warner Brothers zum Zeit punkt<br />
des Anschlusses in <strong>Wien</strong> konnte er<br />
seine Eltern rechtzeitig in die USA<br />
holen.<br />
Von Hans und Grete und<br />
Walzergesängen<br />
Mit dem berührenden Vortrag<br />
dreier Lieder von Erich Wolfgang<br />
Korngold führte die in Bukarest ge -<br />
bo rene Sopranistin und Professorin<br />
für Gesang an der Hochschule für<br />
Musik und Theater München, Sylvia<br />
Greenberg, ihre Zuhörer in die Welt<br />
der Moderne. Drei Gedichte von Joseph<br />
von Eichendorff hatte der welt be -<br />
rühmte Dirigent Bruno Walter vertont.<br />
Julius Bittner wiederum beschrieb in<br />
seinen Liebesliedern die Zuneigung<br />
zum Herbstmorgen und zur Julinacht.<br />
Lieder aus Gustav Mahlers Des Kna -<br />
ben Wunderhorn erweckte Greenberg<br />
ebenso mit ihrem leuchtenden So pran<br />
zum Leben wie Alexander von Zem -<br />
linskys leichtfüßige Walzer-Gesänge.<br />
Greenberg absolvierte ihre Aus bil -<br />
dung zur Cellistin in Israel, nachdem<br />
sie mit ihrer Familie dorthin Alijah<br />
gemacht hatte. Ihr Debüt <strong>als</strong> Sängerin<br />
erfolgte in einem Konzert des Israel<br />
Philharmonic Orchestra unter Zubin<br />
Mehta. Mit einem Stipendium kam<br />
sie nach Zürich, wo sie noch während<br />
der Gesangsausbildung an die Zür -<br />
cher Oper engagiert wurde. Die Par -<br />
tie der Königin der Nacht in Mozarts<br />
Zauberflöte wurde für mehrere Jahre<br />
ihr Markenzeichen. Erste Gastspiele<br />
führten die sehr junge Sängerin schon<br />
zum angesehenen Glyndebourne Festi -<br />
val sowie zu baldigen Auftritten an<br />
deut schen Opernhäusern in Ham -<br />
burg, München, Stuttgart, Köln und<br />
Frankfurt. 1980 wechselte Sylvia<br />
Greenberg nach Berlin und wurde<br />
Mit glied der Deutschen Oper. Da raufhin<br />
wurde sie für große Aufgaben in<br />
Werken von Guiseppe Verdi und Ri -<br />
chard Strauss Oper engagiert und ab<br />
1982 sang sie auch bei den Salzburger<br />
Festspielen. Nur ein Jahr später debütierte<br />
sie auf dem grünen Hügel von<br />
Bayreuth in Wagners Siegfried unter<br />
Sir George Solti. Auch die ersten<br />
Auftritte an der <strong>Wien</strong>er Staatsoper<br />
fielen bereits in diese Zeit, ebenso<br />
Gastspiele an der Pariser Grand Opé -<br />
ra und der Mailänder Scala.<br />
Sylvia Greenberg wurde bei der<br />
anspruchsvollen Hausmusik im Jü di -<br />
schen Museum in <strong>Wien</strong> von ihrem<br />
Ehemann David Aronson begleitet.<br />
Der studierte Pianist und Dirigent<br />
arbeitete seit vielen Jahren <strong>als</strong><br />
Korrepetitor an der <strong>Wien</strong>er Staats -<br />
oper und betreute schon bisher die<br />
großen Stars der Opernwelt, darunter<br />
Walter Berry, Placido Domingo, Lu -<br />
ciano Pavarotti, Bryan Terfel, Renée<br />
Fleming und Neil Shicoff. Mehr <strong>als</strong><br />
fünf Jahre arbeitete er direkt mit<br />
Ricardo Muti zusammen und tourte<br />
mit Seiji Ozawa <strong>als</strong> Pianist durch<br />
Japan. Den Fachwechsel seiner Frau<br />
zum lyrischen Sopranfach – 2002 war<br />
sie zum ersten Mal <strong>als</strong> Micaela in<br />
Bizets Carmen zu hören – hat Aronson<br />
tatkräftig unterstützt, und so zählt<br />
heute die Donna Anna in Mozarts Don<br />
Giovanni zu Sylvia Greenbergs Para -<br />
derollen.<br />
I.B.Henry<br />
Sylvia Greenberg &<br />
David Aronson<br />
42 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768
KULTUR • LITERATUR<br />
aufgeblättert...<br />
von Michaela Lehner<br />
mit freundlicher Unterstützung von IKG-Linz<br />
Die Welt <strong>als</strong> Möglichkeit und<br />
Fiktion<br />
Die israelische Literatur <strong>als</strong> eminent<br />
politische Literatur, die in ihren An -<br />
fängen wesentlich an der Kon struk tion<br />
zeitgenössischer israelischer Identität<br />
und nationaler Erzählungen beteiligt<br />
war, um diese in späteren Jah ren kritisch<br />
zu reflektieren und ge gen deren<br />
politische, soziale und ideologische<br />
Verfasstheit anzuschreiben, hat in Joshua<br />
Sobol einen ihrer versiertesten,<br />
vielseitigsten und umstrittensten<br />
Vertreter, der mit seinem letzten, von<br />
Barbara Linner ins Deutsche übertragenen<br />
Text Whisky ist auch in Ord nung,<br />
nun in Gestalt eines rasanten Ve xier -<br />
spiels um Identität, Gewalt, Liebe,<br />
Opfer und Täter einen virtuosen politischen<br />
wie existentiellen, an literarischen<br />
Zitaten und historischen Ver -<br />
weisen überreichen Roman vorlegt,<br />
des sen metafiktionale Irr- und Abwe -<br />
ge, Verwicklungen und Verästelun gen<br />
mehr <strong>als</strong> nur postmoderner Fabulier -<br />
lust oder Selbstreferentialität geschuldet<br />
ist. In dessen Zentrum steht mit<br />
dem Protagonisten und mutmaßli chen<br />
Erzähler Chanina Rogev ein israelischer<br />
Mann ohne Eigenschaften der<br />
Ge genwart, geboren und aufgewachsen<br />
am Rande Jerusalems, nach seinem<br />
Militärdienst Mitglied einer ge hei men<br />
Antiterroreinheit zur Liqui die rung<br />
von Terroristen, in der Gegenwart er -<br />
folgreicher Werbemagnat in New York,<br />
Frauenliebhaber und Whiskyconnais -<br />
seur, dem die Camouflage nicht nur<br />
zur zweiten, sondern zur einzigen<br />
und ausschließlichen Natur wurde.<br />
Leichtfüßig wechselt er zwischen den<br />
Identitäten Shylocks, Shakespeares<br />
oder Ninos, phantasievoll entwirft<br />
der Beinmensch und nahezu übermenschlich<br />
begnadete Läufer fiktive<br />
Biographien. „Das ist Shakespeare für<br />
mich. Eine Sprache ohne Schrift, eine Form,<br />
die sich in dem Augenblick verändert, in<br />
dem du sie betrachtest. Ein Stoff, der sich<br />
in dem Moment verflüchtigt, in dem du<br />
ihn zu greifen versuchst. Wenn ich ihn<br />
mit drei Worten definieren müsste, wür -<br />
de ich schlicht sagen, er ist nicht. Und<br />
mit vier Worten – würde ich sagen, ich<br />
fühle ihn nicht.“ Permanent auf der<br />
Flucht aber bleibt Chanina/Shy lock/<br />
Shakespeare/Nino vor den Toten der<br />
kollektiven ebenso wie individuellen<br />
Vergangenheit, deren Präsenz ihn<br />
weder in den Armen der missbrauchten<br />
Prostituierten Melissa/Timber<br />
noch in einer New Yorker Bar, verlässt,<br />
bis er zufällig den totgesagten<br />
syrischen Terroristen Adonais/Tino<br />
in Gestalt eines sizilianischen Ge -<br />
schäfts manns und Zuhälters entdeckt<br />
und die vor über zwanzig Jahren in<br />
der libyschen Wüste begonnene Jagd<br />
in der Wüste Mexikos zu Ende bringt.<br />
Getreu der Absage des Erzählers an<br />
jedwede Homogenität von Identität<br />
und seiner Selbstdefinition <strong>als</strong> bricolage<br />
der „Fetzen, Bruchstücke und Splitter“<br />
entwickelt Sobol den aus Versatz stük -<br />
ken des Thrillers gebauten Ro man<br />
jedoch nicht – Kohärenz simulierend<br />
- linear chronologisch; <strong>als</strong> Verknüp -<br />
fungs- und Ordnungsprinzip kann<br />
Sobols Erzähler, der anders <strong>als</strong> Musils<br />
Mann ohne Eigenschaften nun auch<br />
jeden Glauben an die Zentralität der<br />
Materie verlor, nur mehr das der<br />
Mög lichkeit und Kontingenz, der<br />
Fiktion anerkennen. So verführt er<br />
kunstvoll und zugleich ironisch in<br />
das polyvalente Kaleidoskop der po -<br />
litischen und kulturellen Geschich te der<br />
jüdischen Moderne, deren Scher ben<br />
im Gefäß der Haupt figur des Ro mans<br />
im Akt der Lektüre mög licherweise<br />
versammelt werden können.<br />
Joshua Sobol<br />
Whisky ist auch<br />
in Ordnung.<br />
Übers. v. Barbara Linner.<br />
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März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 43
KULTUR • FILM<br />
Die mitreissende Welle:<br />
„Es kann heute wieder<br />
passieren“<br />
INTERVIEW MIT DEM REGISSEUR DENNIS GANSEL<br />
Das Experiment aus dem Jahr 1967, das schnell aus dem Ruder<br />
lief und vorzeitig abgebrochen werden musste, gilt heute <strong>als</strong> legendär<br />
und diente <strong>als</strong> Vorlage für einen Roman und einen Film. Eine<br />
Neubearbeitung des deutschen Regisseurs Dennis Gansel, der die<br />
Handlung in das heutige Deutschland überträgt, kommt Mitte März<br />
in die heimischen Kinos.<br />
von Marta S. Halpert<br />
Alle Fotos: © 2007 Constantin Film, München<br />
GEMEINDE: Wie sind Sie auf das Buch,<br />
auf das Thema der „Welle“ gestoßen?<br />
GANSEL: Ich kannte das Buch aus<br />
der Schule, ich habe es <strong>als</strong> Schüler mit<br />
12 Jahren lesen müssen. Es hat mich<br />
dam<strong>als</strong> sehr beeindruckt.<br />
GEMEINDE: Warum haben Sie gerade<br />
jetzt das Thema der „leichten Verführ -<br />
bar keit zum Faschismus“ aufgegriffen<br />
und verfilmt?<br />
GANSEL: Das hat sich alles durch ei -<br />
ne Diskussion unter Freunden ganz<br />
spon tan ergeben. Wir wollten voneinander<br />
wissen, wer sich noch an die<br />
„Wel le“ erinnern konnte. Da tauchte<br />
die Frage auf, ob so etwas heute wieder<br />
passieren könnte. Alle meinten,<br />
auf gar keinen Fall, wir hätten schon<br />
so viel über die Nazizeit gelernt. Es<br />
wäre nicht möglich, da Deutschland,<br />
Frankreich, eigentlich wir alle schon<br />
so aufgeklärt seien. Je länger wir aber<br />
darüber gesprochen haben, umso un -<br />
si cherer wurden wir. Was passiert,<br />
wenn eine große Krise in Deutsch -<br />
land ausbricht? Wenn die Verführung<br />
vielleicht unpolitisch daherkommt,<br />
wenn der Lehrer extrem charismatisch<br />
und ein seelischer Rattenfänger<br />
ist und alles gut einfädelt: Zum Bei -<br />
spiel, wenn es weniger um Ide o lo gi en,<br />
Po li tik geht, sondern um den Spaß -<br />
faktor, nur um gemeinschaftlichen<br />
Zu sam men halt.<br />
GEMEINDE: War es leicht sich die<br />
Film rechte in den USA zu holen?<br />
GANSEL: Nein, wir haben uns be -<br />
reits seit Jahren bemüht, den Stoff zu<br />
kaufen und zu verfilmen. Die Rechte<br />
waren bei den Sony Filmstudios, und<br />
die Amerikaner geben sehr ungern Fil -<br />
me heraus. Unserem Co-Pro du zen ten<br />
Martin Moszkowicz (Sohn des bekannten<br />
jüdischen Film- und Theater re gis seurs Imo<br />
Moszkowicz in München, Anmerk.d.Red.)<br />
ist es dann mit viel Charme und Pro -<br />
du zentenscharfsinn doch noch gelun -<br />
gen. Damit war die Auflage verbunden,<br />
nur einen deutschen Film zu<br />
machen.<br />
GEMEINDE: Sie haben dabei große<br />
Unter stützung von dem Initiator des Ex -<br />
pe ri mentes Ron Jones erhalten: Aufgrund<br />
sei ner Protokolle, die der US-Lehrer selbst<br />
zu diesem Thema veröffentlichte, ent stand<br />
das Drehbuch. Haben Sie sich an diese<br />
Vorlage von 1967 gehalten?<br />
GANSEL: Unsere neue „Welle“ spielt<br />
44 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768
KULTUR • FILM<br />
hier und jetzt. Wir wollten zeigen, dass<br />
auch <strong>2008</strong> so etwas wieder möglich ist,<br />
weil gruppendynamische Phäno me ne<br />
immer wieder gleich ablaufen. Der<br />
Un terschied liegt einzig in den In ha -<br />
ten: Denn entscheidend ist, wo für man<br />
sich einsetzt.<br />
GEMEINDE: Der Schluss ist in ihrem<br />
Film viel dramatischer <strong>als</strong> die US-Vor la ge,<br />
er endet mit dem bewaffneten Amoklauf<br />
eines Schülers.<br />
GANSEL: Ja, weil heute oft Schüler<br />
ar rogant meinen, sie würden nie auf<br />
so eine plumpe Agitation faschistische<br />
Bewegung hereinfallen. Manche<br />
sind durch diverse Auschwitz-Filme<br />
geschockt worden und haben wie ich<br />
im fächerübergreifenden Unterricht -<br />
so wohl in Deutsch, Biologie und so gar<br />
im Sport – einiges über die NS-Zeit<br />
er fahren. Sie glauben einfach, dass<br />
eine Diktatur heute nicht mehr möglich<br />
ist.<br />
GEMEINDE: Merken Sie in Deutsch land<br />
eine Übersättigung mit dem Thema?<br />
GANSEL: Ja, schon, weil ja auch viele<br />
Filme so plakativ daher kommen.<br />
Wenn ich mir heute Reden von Hitler<br />
anhöre und Filme wie den „Unter-<br />
gang“ anschaue, dann wirkt das un -<br />
freiwillig komisch. Aber wenn ein faszinierender<br />
Lehrer, wie der großartige<br />
Jürgen Vogel in unserer „Welle“, eine<br />
richtige Stammtischrede hält, voll<br />
gestopft mit lauter Platitüden, die wie<br />
Titelzeilen von Boulevardmagazinen<br />
klingen, dann ist das schon wirksam.<br />
Seine Aussage lautet eigentlich:<br />
Schaut, wie weit ich euch treiben kann<br />
- und wie weit ihr bereit seid zu gehen.<br />
GEMEINDE: Haben Sie familiäre Erfah -<br />
rungen mit der NS-Zeit?<br />
GANSEL: Meine Großeltern waren<br />
von Hitler überzeugt, sie waren keine<br />
Nazis, eher konservativ eingestellt.<br />
Da für war mein Vater ein 68-er und<br />
extrem links eingestellt. Die beiden Generationen<br />
konnten überhaupt nicht<br />
miteinander reden: Mein Vater sagte,<br />
du bist ein alter Nazi. Und mein Groß -<br />
va ter beschimpfte meinen Vater <strong>als</strong><br />
einen linken Krawaller. So wird man<br />
natürlich beiden Seiten nicht gerecht.<br />
Meine Mutter kommt übrigens aus<br />
einem ungarisch-jüdischen Haus und<br />
hieß mit ihrem Mädchennamen Ilona<br />
Herczeg. Ich bin jetzt auf der Suche<br />
nach den Wurzeln ihrer Familie.<br />
GEMEINDE: Wie sind Sie <strong>als</strong> junger<br />
Mensch mit diesem Konfliktpotenzial<br />
umgegangen?<br />
GANSEL: Ich, <strong>als</strong> dritte Generation<br />
habe eben das Bedürfnis verspürt, die<br />
Verführbarkeit aufzuzeigen. Eben<br />
nicht alle Leute von dam<strong>als</strong> für Idi o ten<br />
zu erklären, sondern den psychologischen<br />
Ursprüngen nachzugehen.<br />
Schon mit meinem Film über die Eli -<br />
te schule Napola, habe ich dargestellt,<br />
wie die Verführung im Dritten Reich<br />
funktioniert hat. Es war das Bemü hen,<br />
für ein heutiges Publikum das verstehbar<br />
und emotional nacherlebbar<br />
zu machen, damit sie nicht auf den<br />
Mechanismus dahinter hereinfallen.<br />
In Treue fest? Rainer Wenger<br />
fordert letztmalig zum Welle-<br />
Gruss auf<br />
Regisseur Dennis Gansel<br />
Der 1973 in Hannover geborene Regis -<br />
seur studierte an der Hochschule für<br />
Fern sehen und Film in München und<br />
machte zunächst mit einer Reihe von<br />
Kurzfilmen auf sich aufmerksam.<br />
Dennis Gansels Filmdebüt „Das Phan -<br />
tom“, ein RAF-Politthriller mit Jürgen<br />
Vogel – der auch seinem jüngsten Film<br />
den Lehrer Rainer Wenger spielt – wurde<br />
im Mai 2000 im Fernsehen ausgestrahlt<br />
und gleich mit drei Adolf-Grimme-Prei -<br />
sen ausgezeichnet. Für den Film „Napola<br />
- Elite für den Führer“ erhielt Dennis Gansel<br />
den Bayerischen Filmpreises 2005.<br />
„Napola - Elite für den Führer“ ist in verschiedener<br />
Hinsicht bemerkenswert,<br />
schreibt die Filmkritikerin Andrea Mir beth:<br />
„Gansel hat sich mit dieser Arbeit in die<br />
erste Reihe deutscher Nachwuchsregis -<br />
seu re katapultiert. Er widmet diesen Film<br />
seinem vor zehn Jahren verstorbenen<br />
Groß vater, der Ausbilder an einer Reichs -<br />
kriegsschule war. Es ist ein Film übers Er -<br />
wach senwerden und eine große Freund -<br />
schaft. Ein Werk, das nach der Verführ -<br />
barkeit der Jugend im Dritten Reich fragt<br />
- ohne schlau zu tun, denn eine definitive<br />
Antwort gibt es nicht.<br />
Gansel hat Erzählkino für ein großes Pu -<br />
blikum gemacht: spannend und unterhaltsam,<br />
nie zynisch oder anklagend. Es geht<br />
um Mitläufertum, Widerstand und die<br />
Suche nach eigenen Werten im Leben.<br />
Betroffen von dem Film, den sie ebenso<br />
wie Barbara Prammer vorab gesehen hatten,<br />
zeigten sich auch die Schülerinnen<br />
und Schüler des Haydn-Gymnasiums.<br />
Ein Jugendlicher brachte den Eindruck<br />
auf den Punkt: „Wir glauben, wir wären<br />
aus reichend aufgeklärt, in Wirklichkeit hat<br />
sich aber nur die Landschaft verändert.<br />
Wir hingegen stehen immer noch da, wo<br />
wir vor 70 Jahren gestanden sind.“<br />
März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 45
KULTUR • THEATER<br />
GEMEINDE: War die „Welle“ eine Fol -<br />
ge Ihrer Beschäftigung mit der Napola?<br />
GANSEL: Es war der nächste logische<br />
Schritt <strong>als</strong> Filmemacher, die Verführ -<br />
bar keit zum Faschismus zu zeigen, das<br />
diktatorische und gruppenpsychologische<br />
in die heutige Zeit zu transferieren.<br />
Vor allem, weil bei uns in Mit -<br />
tel europa das Gefühl vorherrscht,<br />
die se schreckliche Geschichte des 20.<br />
Jahrhunderts sei noch so präsent, dass<br />
wir alle davor gefeit sind.<br />
GEMEINDE: Aber wir sind es eigentlich<br />
nicht?<br />
GANSEL: Ron Jones hat in unseren<br />
Gesprächen immer wiederholt, dass<br />
diese Gruppendynamik universell sei<br />
und daher alles jederzeit wieder passieren<br />
kann.<br />
Denken Sie an die WM in Deutsch -<br />
land, wie viele plötzlich zu Fussball -<br />
fans und fahnenschwingenden Pa tri o -<br />
ten mutierten. Das war diesmal zwar<br />
positiv besetzt. Aber Gruppen dy -<br />
namik ist per se steuerbar. Ich bin Un -<br />
terstützer von Greenpeace und auch<br />
ein Globalisierungsgegner – aber im<br />
Grunde arbeiten die genau so.<br />
GEMEINDE: Bleiben Sie an der Thema -<br />
tik dran?<br />
GANSEL: Nicht was die Vergangen -<br />
heit betrifft. Ich möchte einen Film<br />
über Terrorismus machen. Ich glaube,<br />
das wird das große beherrschende<br />
The ma dieses Jahrhunderts. Aber<br />
wenn Die Welle kein Erfolg wird,<br />
werde ich die nächsten zwei Jahre<br />
nicht arbeiten können.<br />
GEMEINDE: Wie sieht es mit dem Ver -<br />
kauf insgesamt und Vorführungen in<br />
Schulen aus?<br />
GANSEL: Der Film verkauft sich jetzt<br />
schon ganz gut, er geht schon nach<br />
Großbritannien, Spanien, Kanada und<br />
Frankreich. Mit Lehrer ver bän den und<br />
Schulen haben wir die Koo pe ration<br />
schon gestartet.<br />
■<br />
Ron Jones, Lehrer des Experiments<br />
von 1967 an der Cubberley High<br />
School in Palo Alto<br />
Das Experiment:<br />
TheThird Wave<br />
Im Herbst 1967 führte der Geschichtslehrer Ron Jones an der Cubberley High School<br />
im kalifornischen Palo Alto in seiner Klasse eine Projektarbeit zum Thema National so -<br />
zia lismus durch. Einer seiner Schüler stellte eine Frage, die auch der Lehrer nicht be -<br />
ant worten konnte. Sie lautete: „Wie konnten die Deutschen behaupten, nichts von der<br />
Judenvernichtung gewusst zu haben? Wie konnten Dorfbewohner, Bahnangestellte, Lehrer,<br />
Ärzte sagen, sie hätten nichts von dem Grauen in den Konzentrationslagern gewusst? Wie<br />
konnten die Nachbarn und auch Freunde jüdischer Bürger erklären, sie hätten davon nichts<br />
mitbekommen?“<br />
Ron Jones beschloss daraufhin spontan ein Experiment zu wagen. Er begann die Schü -<br />
ler zu disziplinieren, sie mussten strenge Regeln in der Gemeinschaft befolgen und auch<br />
persönliche Einschränkungen in Kauf nehmen. Jones nannte die Bewegung The Third<br />
Wave und war überrascht, wie schnell, mühelos und begeistert die Schüler auf den ge -<br />
for derten Autoritätsgehorsam reagierten. Dieser beängstigende Test, der ursprünglich<br />
nur einen Tag dauern sollte, ergriff aber die gesamte Schule: Plötzlich wurden Anders -<br />
denkende ausgegrenzt, die Mitglieder bespitzelten und denunzierten sich gegenseitig<br />
und wer das Mitmachen in der „Bewegung“ verweigerte, wurde brutal zusammengeschlagen.<br />
Am fünften Tag musste Ron Jones diesen ausartenden Schulversuch abbrechen.<br />
Nach dreijähriger Verschwiegenheit schrieb er das „Experiment“ nieder, sein Bericht<br />
wurde 1972 veröffentlicht.<br />
Neun Jahre später veröffentlichte der Schriftsteller Morton Rhue die Erzählung The<br />
Wave und verschaffte so dem Vorfall weltweite Aufmerksamkeit. 1981 wurde das Buch<br />
von dem US-Sender ABC verfilmt.<br />
Morton Rhues Die Welle ist seit 20 Jahren der Jugendbuch- und Schullektü ren klassiker<br />
in Deutschland und hat Generationen von Jugendlichen geprägt. In unzähligen<br />
Unterrichtsstunden ging es immer wieder um die Frage: Ist Faschismus heute, in unserer<br />
so aufgeklärten Zeit, wieder möglich? Wie entsteht Faschismus? Und vor allem:<br />
Wie hätte ich mich bei diesem Experiment verhalten?<br />
Die internationale jüdische<br />
EHE-PARTNER-VERMITTLUNG<br />
Weber José<br />
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D-60082 Frankfurt a.M.<br />
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Ron Jones, der zur Österreich-Premiere des Films nach <strong>Wien</strong> gekommen war, beteiligte<br />
sich an einer Diskussion im österreichischen Parlament unter der Leitung von<br />
Präsidentin Barbara Prammer. „Faschismus gibt es aber auch in den eigenen vier Wänden,<br />
in den Kirchen, Tempeln und am Arbeitsplatz. Wenn man aus dem Experiment Lehren ziehen<br />
könne, dann wohl jene, dass wir alle sowohl zum Guten <strong>als</strong> auch zum Bösen fähig sind“,<br />
betonte Jones. Gerade deshalb gebe es ja „Checks and Balances“ in der De mokr a tie,<br />
die uns helfen, ein Gleichgewicht zwischen Recht und Ordnung, Disziplin und Freiheit<br />
zu fin den. Die Entscheidung zwischen Gut und Böse liege aber letztlich bei jedem Ein -<br />
zel nen. So einfach sei es jedenfalls nicht, demokratisch und frei zu sein, lautete seine<br />
Schlussfolgerung.<br />
46 März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768
7„Zur Erinnerung<br />
an schönere Zeiten“<br />
Ausstellung der Fotosammlung von<br />
Raoul Korty in der Nationalbibliothek<br />
von Marcus G. Patka<br />
Vincenz Prinz Auersperg, um 1890<br />
Bis 13. April <strong>2008</strong> ist im Prunksaal der<br />
Österreichischen Na tionalbibliothek<br />
die kürzlich von Generaldirektorin<br />
Jo han na Rachinger, André Heller und<br />
Bundeskanzler Al fred Gusenbauer<br />
eröffnete Ausstellung der Sammlung<br />
von Raoul Korty zu sehen. Diese um -<br />
fasste ursprünglich an die 250.000<br />
Fotos (heute sind es nur noch 30.000),<br />
1939 wurde sie durch die Gestapo ge -<br />
stohlen und „arisiert“, anschließend<br />
vom damaligen Generaldirektor Paul<br />
Heigl an die ÖNB gebracht. Korty<br />
wurde 1944 in <strong>Wien</strong> verhaftet und in<br />
Au schwitz ermordet. Nach Kriegs en -<br />
de brachte seine Tochter einen Resti tu -<br />
tionantrag ein, der jedoch nach „be -<br />
währ ter“ österreichischer Praxis jahrzehntelang<br />
verzögert wurde. Nach<br />
dem 1998 erlassenenen Kunstrückga b e-<br />
gesetz kam die fast schon vergessene<br />
Sammlung 2003 wieder zum Vor -<br />
schein. Nach einer entsprechenden<br />
Sachverhaltsdar stel lung stimmte das<br />
BM:BWK der Restitution zu, auf<br />
Wunsch der Erbin wurde die Samm -<br />
lung von externen Sachverständigen<br />
bewertet und von der ÖNB angekauft.<br />
Damit hat diese ein weiteres Kapitel<br />
ihrer NS-Vergan gen heit aufgearbeitet.<br />
KULTUR • MUSEUM<br />
Seit 2003 wurden 50 Restitutionen<br />
mit der Rückgabe von etwa 33.000 Einzel<br />
objekten an die rechtmäßigen Er ben<br />
abgeschlossen, der überwiegende<br />
Groß teil der namentlich identifizierten<br />
Fälle. Für etwa ein Drittel der im Pro -<br />
venienzbericht erfassten Stücke konnten<br />
bislang keine ErbInnen ermittelt<br />
werden – über das weitere Schick sal<br />
die ser anonymen, erblosen Objekte<br />
steht eine politische Entscheidung<br />
noch aus.<br />
Bereits 2006 erschien die Publi kation<br />
von Murray G. Hall und Christina<br />
Köstner „… allerlei für die Nation bi blio -<br />
thek zu ergattern …“ Eine österreichische<br />
Institution in der NS-Zeit, die Ergeb -<br />
nisse des auf Initiative der ÖNB-<br />
Leitung erteilten Forschungsauftrags.<br />
Solch eine vorbildliche Aufarbeitung<br />
ihrer „Arisierungs“-Vergangenheit<br />
würde man sich auch in manch anderer<br />
öffentlichen Sammlung in diesem<br />
Land wünschen!<br />
Doch auch im Kleinen setzt die ÖNB<br />
entscheidende Schrit te, wie etwa bei<br />
der Sichtbarmachung der NS-Ver gan -<br />
genheit im öffentlichen Raum. So<br />
wurde im Van Swieten Saal das<br />
Porträtfoto von Paul Heigl mit dem<br />
Hakenkreuz im Knopfloch wieder an<br />
seinen Platz in der „Ah nen ga le rie“ der<br />
Generaldirektoren gehängt – nach<br />
1945 war es „scham haft“ entfernt<br />
wor den und in Publikationen kursier -<br />
te ein Foto, auf dem das Partei ab zei -<br />
chen wegretouschiert worden war.<br />
In ihrer fulminanten Eröffnungs re de,<br />
die immer wieder von Szenenapplaus<br />
unterbrochen wurde, bekannte sich<br />
Ge neraldirektorin Rachinger zur prinzipiellen<br />
institutionellen Verantwor -<br />
tung und sprach in dieser Deutlich keit<br />
von Spitzenvertreteren österreichischer<br />
Institutionen selten gehörte Worte über<br />
die Unklarheiten rund um die Samm -<br />
lung Leopold.<br />
Nicht weniger berührend war André<br />
Heller, der auf die un endlichen Ver -<br />
lus te verwies, die Österreich durch die<br />
Zer störung und Vertreibung seines<br />
jüdischen Erbes erlitten hat – und wie<br />
schwer es für ihn und seine Schick -<br />
s<strong>als</strong> ge nos sen war, in der Zeit danach<br />
in einem Klima der Leug nung und<br />
Verdrängung aufzuwachsen. Dass er<br />
zum Abschluss seiner Rede nach fast<br />
25 Jahren öffentlicher Enthaltsamkeit<br />
wieder <strong>als</strong> Sänger in Erscheinung trat,<br />
drückt wohl auch seinen Respekt vor<br />
der Leistung der ÖNB aus.<br />
Die Ausstellung „Zur Erinnerung<br />
an schönere Zeiten“ umfasst ab 1860<br />
po pulär gewordene „cartes de visite“<br />
s o wie Atelieraufnahmen um 1900 bis<br />
hin zu Presse- und Mo de fotografien<br />
aus den 1920er Jahren. Zu den High -<br />
lights gehören Szenenfotos von Johann<br />
Nestroy und Joseph Lewinsky oder<br />
auch kolorierte Stereoskopien mit<br />
„Mond scheineffekt“. Die von Mi cha e la<br />
Pfundner und Margot Werner erstellten<br />
und sehr behutsam kontextualisierten<br />
Bereiche umfassen Themen wie Ge sellschaft,<br />
Bühne, Adel und Kurio si tä ten.<br />
Da finden sich „süße Mädel“ neben<br />
Kronprinz Rudolph und Mary Vets e ra,<br />
mit Charlotte Wolter, Adele Sandrock<br />
und Katharina Schratt die Kulis sen -<br />
göttinnen ihrer Zeit, aber auch vergessene<br />
Stars wie die „Fiakermilli“<br />
und die Soubrette Mizzi Palme. Da<br />
der Sammler Raoul Korty auch <strong>als</strong><br />
Jour nalist tätig war, werden einige<br />
seiner Fotoreportagen ausgestellt.<br />
Seine besondere Verehrung galt der<br />
Opernsängerin Pauline Lucca, davon<br />
zeugen neben zahlreichen Fotos auch<br />
textile Memorabilia wie ein Kostüm -<br />
jäck chen, Handschuhe und eine Erin -<br />
ne rungsschleife. Und wem diese Bli cke<br />
in eine längst versunkene Welt tatsächlich<br />
nicht immer nicht genügen sollten,<br />
dem sei verraten, dass der Prunksaal<br />
der ÖNB der mit Abstand schönste<br />
Innenraum von <strong>Wien</strong> ist. Leider aufgrund<br />
seiner enormen Höhe aber auch<br />
der kälteste, weshalb bei Besuch der<br />
Ausstellung auf die Mitnahme eines<br />
Pullovers oder Mantels nicht verzichtet<br />
werden sollte. Es könnte sein, dass<br />
Sie dort länger verweilen.<br />
gastspiel in wien<br />
- Save the date!<br />
März <strong>2008</strong> Adar2/Nissan 5768 47
Purim<br />
Sameach!