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September 2009 als pdf herunterladen - Israelitische ...

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KULTUR • LITERATUR<br />

©Konrad Holzer<br />

Als mitten in der hochsommerlichen<br />

Augusthitze „Die Stadt“ erscheint,<br />

sitzt Gerhard Roth am Land. idy l li -<br />

scher <strong>als</strong> sein Wohnsitz in einem al ten<br />

Bauernhaus am Hügel, wo der Blick<br />

frei über Weinberge und Kürbisfelder<br />

der Südsteiermark schweift, kann<br />

Landleben kaum sein. Da, bei einem<br />

Glas Wein oder zwei, redet er gern über<br />

die Abgründe von Wien. Es ist ein<br />

dunkles, ein abseitiges, ein vielfach<br />

verdrängtes Wien, das Roth da in fast<br />

obsessiver jahrelanger Recher che ar beit<br />

ans Tageslicht bzw. in literarische<br />

Form gebracht hat.<br />

Ein vielfach Vielseitiger ist Gerhard<br />

Roth. Als gebürtiger Grazer hat er eine<br />

offene, steirische Sommersonnensei te,<br />

<strong>als</strong> zugewanderter Wiener eine kühlere,<br />

hintergründige Winterseite.<br />

„Der Fremde sieht mehr <strong>als</strong> der Ein hei -<br />

mische. Ich schätze Wien, aber es kann<br />

mir nicht den Nussbaum und den Jung -<br />

brunnen des Landlebens bieten“, sagt<br />

der braungebrannte 67-Jährige unter<br />

besagtem nussbaum.<br />

Vor zwanzig Jahren ist sein Essay band<br />

„Eine Reise in das Innere von Wien“<br />

erschienen. Die literarische Ernte seiner<br />

weiteren Vorstöße in die bizarren<br />

urbanen Eingeweide liegt jetzt in<br />

„Die Stadt“ vor. An scheinbar harmlosen<br />

Orten wie dem naturhistori -<br />

schen- oder dem Uhrenmuseum, der<br />

nationalbibliothek oder dem Ge richts -<br />

medizinischen museum entdeckt der<br />

fanatische Rechercheur das Verbor ge -<br />

ne, das Verräumte, das Verdrängte<br />

einer Vergangenheit, über die man<br />

hier zulande nicht ungefragt spricht.<br />

„VERSTECKTE<br />

SPUREN DES<br />

RASSENWAHNS“<br />

Ein Gespräch mit dem<br />

Schriftsteller Gerhard Roth<br />

über seinen neuen Essayband<br />

„Die Stadt“.<br />

VON ANITA POLLAK<br />

„Im Naturhistorischen Museum sind die<br />

Spuren des Rassenwahns in Gipskam mern<br />

versteckt, man weiß, es ist historisches<br />

Material, aber es schlummert. Und was ist<br />

z.B. in den Jahren 1938-1945 im Uh ren -<br />

museum geschehen? Ich versuche auch<br />

an Hand von Gebäuden Geisteshaltun gen<br />

zu ermitteln. Warum schaut ein Gebäude<br />

so aus, welche Spuren sind vorhanden und<br />

welche sind getilgt. Man hat ja auch versucht,<br />

nachträglich Idyllen zu schaffen“.<br />

Die Beschäftigung mit dem natio nal -<br />

so zialismus ist eines der Lebensthe -<br />

men Roths. immer wieder umkreist<br />

er es, ergründet es - biografisch und<br />

literarisch, <strong>als</strong> Kommentator, Essa yist,<br />

Homo politicus und Schriftsteller.<br />

„Der Nation<strong>als</strong>ozialismus, der Holocaust<br />

und seine Wurzeln haben mich subjektiv<br />

so beschäftigt, dass ich davon nicht losgekommen<br />

bin. Mit den Mitteln des Schrift -<br />

stellers richte ich den Blick auf Opfer und<br />

Vergessene. Was immer wieder neu ist, ist<br />

die Tragödie des Einzelnen. Die Frage, was<br />

hat jemand, der jüdische oder kommunistische<br />

Eltern hatte, in dem Regime ge -<br />

macht. Man kann das in einem Lehrbuch<br />

nicht so darstellen, wie in einem künstlerischen<br />

Werk.“<br />

ins Blindeninstitut und ins Bundes-<br />

Gehörloseninstitut hat Roth die Frage<br />

des Außenseitertums getrieben. „Im<br />

Nation<strong>als</strong>ozialismus wurde ja alles Außen -<br />

seitertum ausradiert. Die Normopathen<br />

wollten unter sich sein. Diese Fixierung<br />

auf die Normalität hat ja auch etwas<br />

Pathologisches. Im Holocaust wurden<br />

diese Außenseiter, die in den Augen der<br />

Nation<strong>als</strong>ozialisten biologisch nicht vollwertig<br />

waren, zum Teil unfruchtbar ge -<br />

macht oder es ist noch mörderischer zugegangen.<br />

Mich hat aber <strong>als</strong> Schriftsteller<br />

darüber hinaus auch die Metasprache in -<br />

teressiert, Gebärdensprache und Braille-<br />

Schrift.“<br />

im Epilog des Bandes lässt sich Roth<br />

die Geschichte des alten jüdischen<br />

Friedhofs, dem Tor 1 am Wiener Zen -<br />

tral friedhof, von Herrn Westermayr<br />

erzählen, einem Pensionisten, der vor<br />

einigen Jahren einen Verein für Fried -<br />

hofskunde und Persönlichkeitsforschung<br />

gegründet hat. Also ein idealer<br />

Gesprächspartner für den leidenschaftlichen<br />

Vergangenheitsforscher<br />

Roth. Beim Spaziergang zwischen<br />

den Gräbern von jüdischen Künstlern<br />

wie Schnitzler und Goldmark berichtet<br />

Herr Westermayer von Grab- und Lei -<br />

chenschändungen, von Schädel samm -<br />

lungen und vom mikrokosmos des<br />

Friedhofs, „ein Totenbuch, in dem wir le -<br />

sen können, solange es noch eine Zeit gibt“.<br />

Ein bisschen was von einem Toten buch<br />

hat auch Roths literarischer Reise füh -<br />

rer durch das abgründige Wien. Eine<br />

mystery-Tour durch einen „Orkus“.<br />

So heißt schließlich auch sein Zyklus,<br />

der mit Band Sieben, „Die Stadt“, nun<br />

fast geschlossen ist. Aber eben nur<br />

fast. Denn bei Gerhard Roth wohnt<br />

jedem Ende schon wieder ein Anfang<br />

inne. Unterm nussbaum reift bereits,<br />

quasi <strong>als</strong> nachtrag, nummer Sechs he -<br />

ran. Eine normale, chronologi sche<br />

Zahlenfolge, das wäre ja wohl was<br />

für „normopathen“.<br />

Gerhard Roth: „Die Stadt“.<br />

Entdeckungen im Inneren von Wien.<br />

S. Fischer Verlag<br />

Zur Person - 1942 <strong>als</strong> Sohn eines Arztes in Graz ge -<br />

bo ren, studierte Gerhard Roth anfänglich Medizin und<br />

arbeitete dann in einem Re chen zentrum, bevor er 1976<br />

freier Schriftsteller wurde. Sein Hauptwerk, der Ro -<br />

manzyklus „Die Archive des Schweigens“, kreist um<br />

die Aufarbeitung der österreichischen Vergangen heit<br />

in der politischen und gesellschaftlichen Gegen wart.<br />

Sein Kriminalroman „Der See“, in dem sein Protago -<br />

nist bei einem Attentat auf eine Figur scheitert, in der<br />

un schwer Jörg Haider zu erkennen war, hatte 1995<br />

ein politischen Skandal ausgelöst.<br />

Seine eigene nation<strong>als</strong>ozialistisch belastete Familien -<br />

ge schichte thematisierte Roth in seinem autobiographischen<br />

Band „Das Alphabet der Zeit“. Roths Werk<br />

- Romane, Erzählungen und Essays - beruht auf peniblen<br />

Recherchen, wobei er seine schriftlichen Notizen<br />

fotografisch unterstützt. Sein Fotoband „Im unsichtbaren<br />

Wien“, quasi die Illustration zum jüngsten Band<br />

„Die Stadt“, soll im Jänner im Brandstätter-Verlag<br />

erscheinen. Gerhard Roth lebt mit seiner Frau Senta<br />

in Wien und in der Südsteiermark. Der Filmregisseur<br />

Thomas Roth ist sein Sohn.<br />

<strong>September</strong> <strong>2009</strong> - Elul/Tischri 5770 53

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