'Die Gemeinde' Januar 2009 als pdf herunterladen - Israelitische ...
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JÜDISCHE WELT • AUSLAND<br />
Verlorene Nachbarschaft<br />
- Buenos Aires 2008<br />
von Roberto Kalmar<br />
Vor 10 Jahren beschlossen Menschen, die<br />
vielleicht zufälligerweise in der Neudeg -<br />
ger gasse im 8. Wiener Ge mein debezirk<br />
wohn ten, der 60 Jahre zuvor zerstörten<br />
Sy nagoge zu gedenken. Um daran zu er -<br />
innern „baute“ man die Fassade des<br />
imposanten Ge bäu des – es war doppelt so<br />
hoch <strong>als</strong> seine Umgebung gewesen - <strong>als</strong><br />
Bild auf einer Folie für ein paar Wochen<br />
wieder auf. Es war ein Zeichen der Erin -<br />
ne rung an die verlorene Nachbarschaft.<br />
Zeitzeugen wurden auf der ganzen Welt<br />
kontaktiert und manche von ih nen scheuten<br />
auch den Weg nach Wien nicht.<br />
Gegenüber des dort an Stelle der demolierten<br />
Synagoge errichteten Gemeinde -<br />
bau es stand ein Zelt, in dem allabendlich<br />
Begegnungen stattfanden: da trafen die<br />
jetzigen Bewohner der Straße (und einige<br />
mehr) mit Ver triebenen, Wis senschaft lern<br />
und Kün st lern zusammen; es gab Kon zer -<br />
te, Le sun gen und Filme. Vorträge wurden<br />
gehalten, es wurde dis kutiert und<br />
Zeug nis über das dam<strong>als</strong> und seit da m<strong>als</strong><br />
Geschehene abgelegt. Am 9. November<br />
1998 ging das Licht in einem symbolischen<br />
Akt wieder aus.<br />
Zehn Jahre danach wollte man noch einmal<br />
mit jenen zusammen treffen, die nach<br />
dem Anschluss Österreich verlassen hatten<br />
müssen. In der Zwischenzeit waren<br />
manche zurück gekehrt - auch wenn sie<br />
niemand da zu aufgefordert hatte. Andere<br />
wiederum hatten ihr Geburtsland zwar<br />
be sucht, eine Rückkehr aber nie ernsthaft<br />
in Betracht gezogen. Und natürlich gibt<br />
es auch manche, die Österreich nicht mehr<br />
sehen wollten.<br />
Diesen Menschen galt es die Bot schaft zu<br />
übermitteln, dass ihre Geschichte nicht<br />
vergessen ist, dass es Menschen gibt, die<br />
bereit und daran interessiert sind, sich<br />
mit ihr auseinander zu setzen.<br />
Es sollte auch der Frage nachgegangen wer -<br />
den, wie die österreichische Ge sellschaft<br />
seit 1945 den Umgang mit ihrer Vergan -<br />
gen heit gestaltet hat, wie es trotz jahrelanger<br />
Verdrängung des österreichischen<br />
Anteils an der Nazi-Schuld möglich war<br />
und ist, dass im heutigen Wien sowohl<br />
das Ge den ken wie auch das gegenwärtige<br />
jüdische Leben wieder angemessenen<br />
Raum haben.<br />
Univ. Prof. Dr. Friedrich Stadler, einer der<br />
wissenschaftlichen Begleiter des Pro jek tes,<br />
betonte, dass gerade im Jahr 2008, 70 Jah -<br />
re nach dem „Anschluss“ und der Po grom -<br />
nacht, es wichtig war, ei ne bilaterale Ge -<br />
denk veranstaltung zur Vertrei bung und<br />
Er mordung der ös terreichischen Ju den<br />
<strong>als</strong> gesamtkulturelles Projekt zu realisieren.<br />
Vom 26. Oktober bis zum 9. November<br />
kam es unter dem Ehrenschutz von u. a.<br />
Bundespräsident Heinz Fischer und der<br />
argentinischen Präsidentin Cris tina Fer -<br />
nández de Kirchner zu ei ner zweiten Auf -<br />
lage der „Verlorenen Nachbarschaft“ –<br />
im Parque Thays mitten in der Großstadt<br />
Buenos Aires. Dort wurde ein Zelte-<br />
Komplex aufgestellt, in dem Diskussionsund<br />
Infor mationsveranstaltungen sowie<br />
Film-vor führungen abgehalten werden<br />
konn ten. Dazu kam noch eine Aus stel -<br />
lung mit Werken argentinischer Künstler<br />
und von Friedensreich Hun-dertwasser<br />
und ein „Cafehaus“.<br />
2008 waren es nicht die Vertrie be nen, die<br />
die Reise auf sich nahmen, sondern jene<br />
Menschen, denen deren Schick sal auch<br />
nach 70 Jahren noch ein An lie gen war. Das<br />
ganze Vorhaben, im April in einer Pres -<br />
sekonferenz vorgestellt, wur de von einer<br />
Fa mil ie (die natürlich viele Helfer hatte)<br />
ge tragen. Carmen, Bar bara und Hans Lit -<br />
sauer kümmerten sich um die Vor berei -<br />
tun gen von Wien aus, wäh rend Alexander<br />
Litsauer die Kno che n arbeit in Argenti ni en<br />
erledigte – nur wer die dortige Arbeits wei se<br />
kennt, weiß, wie aufreibend es ist, wenn -<br />
nicht selten - Zu sagen kurzfristig nicht<br />
mehr gelten. Schluss endlich trafen alle ein -<br />
geladenen Gäste, die Organisatoren und<br />
ih re Helfer in Buenos Aires ein und es<br />
konnte losgehen.<br />
Themen der Diskussions- und Infor ma ti -<br />
ons veranstaltungen waren u.a.: „Verlo re ne<br />
Nachbarschaft in Österreich und Ar gen -<br />
tinien“ – der Schriftsteller Erich Hackl<br />
moderierte das Ge spräch, bei dem sich<br />
drei Generationen ur sprünglich aus Wien<br />
stam mender jü di scher Familien zu dem<br />
fol genden Themenkomplex äußerten:<br />
Wel che Chan cen bietet das Fremde, bis es<br />
sich in etwas Eigenes verwandelt und wie<br />
än dern sich die Gedanken an das Her -<br />
kunfts land im Laufe der Zeit?, „Ratten li -<br />
nien - Fluchtwege von Tä tern nach Ar -<br />
gen ti ni en“, „Restitutions angelegen hei -<br />
ten“, „Zwei te und Dritte Generation und<br />
de ren Heimat bezug“ und „Der Umgang<br />
mit der Ver gan gen heit in Österreich“.<br />
Auch in Buenos Aires lebende Juden ka -<br />
men zu Wort: Alfredo Bauer, Träger des<br />
Theo dor-Kramer-Preises, las aus seinen<br />
Wer ken und Ernesto Allerhand, über<br />
Bolivien nach Bue nos Aires gelangt, war<br />
auch ein aktiver Teilnehmer. Und diese<br />
beiden stehen nur für viele, die an vielen<br />
Abenden be wie sen, dass dieses Kapitel<br />
ihres Le bens noch immer eine große<br />
Bedeu tung für sie hat.<br />
An nahezu allen Tagen gab es auch kleinere<br />
und größere künstlerische Beiträge (Lie-<br />
der von Kreisler, Berg, Bronner u.a., Ge -<br />
dich te von Celan, Prosa von Torberg und<br />
dem kürzlich verstorbenen Fritz Kalmar<br />
und noch mehr), die man Maria Bill, be -<br />
glei tet von Krysztof Dobrek und Michael<br />
Hornek, Peter Uray und Adi Hirschal (mit<br />
Otmar Binder) zu verdanken hatte. Ro bert<br />
Schindel und Doron Rabinovici lasen an<br />
zwei Abenden aus ihren Werken. Maria<br />
Bill gab auch mit großem Erfolg im gut be -<br />
suchten Teatro Ateneo ihren „Piaf-Abend“.<br />
Bei der Abschlussveranstaltung am 9.<br />
No vember platzte das Veranstaltungszelt<br />
aus allen Nähten. Eine attraktive Mi -<br />
schung aus künstlerischen Darbietun gen,<br />
Reden und Film bei trägen ließ die Zeit wie<br />
im Flug vergehen. Es konnte sogar schon<br />
ein filmischer Bei trag über die Gedenk -<br />
steinsetzung in der Neudeggergasse, am<br />
Standort der zerstörten Synagoge, ge -<br />
zeigt werden.<br />
Das gesamte Projekt konnte nur mit der<br />
Unterstützung vieler Stellen durchgeführt<br />
werden, unter anderem dem Bundes mi -<br />
nisterium für Wissenschaft und For schung,<br />
dem Bundeskanzleramt, der SPÖ-Josef -<br />
stadt, der Grünen, dem National fonds, der<br />
österreichischen Botschaft in Buenos Ai -<br />
res und mehreren argentinischen Stellen.<br />
Zusammenfassend kann man sagen, dass<br />
die Veranstaltung ein Riesenerfolg war,<br />
von Bewohnern der Neudeggergasse na -<br />
mens Litsauer und vielen Mitkämpfern,<br />
deren Einsatz gar nicht hoch genug ge -<br />
wür digt werden kann, organisiert und<br />
er möglicht – sie wird für alle Beteiligten<br />
ein Meilenstein in ihrem Leben bleiben.<br />
42 <strong>Januar</strong> <strong>2009</strong>/Tewet 5769