August 2008 als pdf herunterladen - Israelitische Kultusgemeinde ...
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KULTUR • LITERATUR<br />
aufgeblättert...<br />
von michaela Lehner<br />
mit freundlicher Unterstützung von IKG-Linz<br />
Kein guter Platz für die Nacht<br />
Erinnerung und Vergessen, Entfrem -<br />
dung und Sehnsucht nach Zugehö rig -<br />
keit sind die großen Themen der re -<br />
nommierten, 1948 <strong>als</strong> Tochter polnischjüdischer<br />
Shoahüberlebender in mün -<br />
chen geborenen israelischen Schrift -<br />
stel lerin Savyon Liebrecht, deren zahlreiche<br />
Romane, Erzählungen und The -<br />
a terstücke weniger die Frage isra e li -<br />
scher identität <strong>als</strong> vielmehr die Zer stö -<br />
rung menschlicher identität in der<br />
Shoah, die transgenerationale Trans -<br />
mit tierung dieser Traumatisierung<br />
und die destruktiven Auswirkungen<br />
der politischen Katastrophen des 20.<br />
Jahrhunderts auf das Familiäre und<br />
Private verhandeln. Kein kollektives,<br />
sondern ein privates, individuelles<br />
Trau ma bildet jetzt den Ausgangs -<br />
punkt für die im von Vera Loos und<br />
naomi nir-Bleimling ins Deutsche<br />
übersetzten Roman, Die Frauen meines<br />
Vaters, vereinten vielschichtigen, einander<br />
reflektierenden Diskurse über<br />
die Rekonstruktion der Vergangen heit,<br />
das Erzählen und die Relevanz des<br />
nar rativen für Erinnerung, Bedeu tung<br />
und identität. „In den Jahren, in denen<br />
sein Vater tot gewesen war, waren Meirs<br />
Erinnerungen an die sieben Jahre seiner<br />
Kindheit ebenfalls begraben gewesen, vor<br />
allem an die fünf Monate, in denen sie bei<br />
den Geliebten des Vaters gewohnt hatten.“<br />
Sieben Jahre war meir alt, <strong>als</strong> er von<br />
Tel Aviv zu seiner mutter allein nach<br />
Connecticut geschickt wurde, mit<br />
nichts <strong>als</strong> einem Schulranzen und Bil -<br />
dern von Blut, Schreien und Polizis ten,<br />
mehr <strong>als</strong> dreizehn Jahre später eröffnet<br />
nun die mutter ihrem inzwischen<br />
<strong>als</strong> Autor mäßig erfolgreichen, an ei -<br />
ner Schreibblockade laborierenden<br />
Sohn, daß der tot geglaubte Vater lebe<br />
und tot krank seinen Sohn noch einmal<br />
sehen wolle. Diese unerwartete Wie -<br />
der auferstehung des Vaters evoziert<br />
in meir, dem personalen Erzähler des<br />
Romans, ein Kaleidoskop von Frag -<br />
men ten, Stimmen, Gerüchen und Bil -<br />
dern aus seiner Kindheit in Tel Aviv,<br />
der Wohnung der Eltern, ihrem Streit,<br />
die monate der Obdachlosigkeit mit<br />
seinem Vater, die nächte und manchmal<br />
Tage auf den unzähligen Sofas<br />
und Klappbetten bei dessen Frauen -<br />
be kanntschaften, den Hunger, das<br />
stundenlange Warten auf den Vater<br />
vor nächtlichen Cafés, die Flucht vor<br />
der Polizei, den Keller des Shoah -<br />
über lebenden Berl, in dem zwischen<br />
Sperrmüll noch immer die Gestapo<br />
haust. Einem Archäologen gleich legt<br />
Savyon Liebrecht Schicht um Schicht<br />
der verlorenen, verdrängten Kindheit<br />
meirs frei, seine Ressentiments nicht<br />
nur gegen den verantwortungslosen<br />
Vater, sondern auch gegen eine dis tan -<br />
zierte, an Depressionen leidende mut -<br />
ter, von der er sich verlassen fühlte,<br />
die Erfahrung kindlicher Destabilisie -<br />
rung, die in der emotionalen isolation<br />
des Erwachsenen fortwirkt, der sich<br />
dem eigenen Leiden nicht stellen, nur<br />
über das Leiden der anderen schreiben<br />
kann, bis hin zum fundamentalen<br />
Trauma. Zugleich ist dies eine kathartische<br />
Konfrontation mit der eigenen<br />
Vergangenheit, die am Ende seiner exis -<br />
tentiellen Krise und Erkenntnis meir<br />
zu einem tatsächlichen Schriftsteller<br />
werden lassen. Der Absolventin eines<br />
Philosophiestudiums, Savyon Lieb -<br />
recht, gelingt so ein auf vielfältigen<br />
Erzählebenen narrativierter, analytischer<br />
Roman präziser Sprache über die<br />
stete Präsenz der Vergangenheit, ihre<br />
Bedeutung für die Gegenwart und<br />
menschliche identität, der <strong>als</strong> motto<br />
das alte Kant’sche „sapere aude“ („wa -<br />
ge es zu wissen“) ver -<br />
dient hätte.<br />
Savyon Liebrecht:<br />
Die Frauen meines Vaters.<br />
Übers. v. Vera Loos u. Naomi<br />
Nir-Bleimling.<br />
München: Deutscher Taschenbuch<br />
Verlag <strong>2008</strong> (= dtv premium 24626)<br />
Gedanken an Dich - liebe Michaela!<br />
Sie ist nun frei und unsere Tränen<br />
wünschen ihr Glück.- Joh. Wolfgang v. Goethe<br />
Es ist schwer zu ertragen, dass auf dieser Seite - die Deine Seite war - niem<strong>als</strong> wieder ein Beitrag von<br />
Dir stehen wird.<br />
Was waren Deine Träume? Was Deine Hoffnungen?<br />
Welche starke Macht war es, die Dich daran hinderte, Deine Familie und Deine Freunde an Deiner<br />
Begabung, Deinem Wissen und Deinem ruhigen besonnenen Wesen noch viele Jahre teilhaben zu lassen?<br />
Unvorbereitet und erschüttert müssen wir Deinen Tod zur Kenntnis nehmen und mit unserer unbeschreiblichen<br />
Traurigkeit fertig werden.<br />
In Dankbarkeit, Dich gekannt zu haben, gehört unsere Anteilnahme Deiner Familie<br />
Deine „Gemeinde“-Redaktion<br />
Ida, Inge, Irene, Karin, Manuela und Sonia<br />
KULTUR<br />
<strong>August</strong> <strong>2008</strong>/Aw 5768 45