August 2008 als pdf herunterladen - Israelitische Kultusgemeinde ...
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JÜDISCHE WELT • INLAND<br />
hen, und sie werden verfolgt und<br />
aus gegrenzt, nicht mit physischer Ge -<br />
walt, aber mit gesellschaftlich atmosphärischer<br />
und bürokratischer Ge -<br />
walt. man muss den Antisemitismus -<br />
be griff heute eigentlich radikal ausweiten<br />
und klar sagen: Jeder, der mit<br />
den mitteln und methoden, die wir<br />
vom klassischen Antisemitismus kennen,<br />
verfolgt wird, ist Jude.<br />
Was ist ihre Meinung über die jüdische<br />
Gemeinde?<br />
ich habe keinen Kontakt zur Ge -<br />
mein de, höchstens mit einzelnen<br />
menschen, die sich darin engagieren.<br />
ich bin ja kein Jude, weil ich keine<br />
jüdische mutter habe. ich bin nur ein<br />
Feuilleton- und Kulturjude. ich weiß<br />
<strong>als</strong>o wenig vom innenleben der Ge -<br />
meinde, aber ich bin froh, dass es sie<br />
gibt und ich bin der meinung, dass es<br />
ein Skandal ist, dass die Stadt in der<br />
sie einmal zerstört wurde - politisch<br />
und physisch zerstört wurde -, dass<br />
die se Stadt nicht historische Verant -<br />
wor tung übernimmt und sie besser<br />
unterstützt.<br />
Der Roman „Selige Zeiten, brüchige<br />
Welt“ thematisiert sehr stark Indivi du a -<br />
lis mus und Einsamkeit. Warum musste<br />
Judith, die weibliche Hauptfigur, am<br />
Ende sterben?<br />
Der Roman „Selige Zeiten, brüchige<br />
Welt“ thematisiert nicht die Ein -<br />
samkeit, sondern den größten An -<br />
spruch: die Welt zu verstehen, seine<br />
Zeitgenossenschaft zu begreifen. Das<br />
führt, wenn man sehr konsequent ist,<br />
zu Einsamkeit. Das führt zu Selbst -<br />
zer störung. Dazu kommt der Ge -<br />
schlech terkampf. Judith wurde er -<br />
mordet, von Leo, dem mann an ihrer<br />
Seite, der ihr Werk <strong>als</strong> seines ausgeben,<br />
mit ihrer Arbeit seinen Profit machen<br />
wollte. ich wollte von einem Leben<br />
erzählen, das konsequent und kompromisslos<br />
geführt wird, so sehr, dass<br />
es Selbstzerstörung und das eigene<br />
Verschwinden in Kauf nimmt. Und<br />
der mord steht dafür, wie mit einem<br />
solchen Werk umgegangen wird:<br />
menschen, die schwächer sind und<br />
kompromissbereiter, eignen es sich an.<br />
Der Einsatz ist groß, die Wirksamkeit<br />
dürftig, am Ende ist das Gequatsche.<br />
Judith ist eine autobiographische Fi gur,<br />
ich habe sie mit all meinen Eigen -<br />
schaften ausgestattet. Leo, ihr männlicher<br />
mit- und Gegenspieler, ist ein<br />
Typus, den ich beobachtet habe, mit<br />
dem ich immer wieder Erfahrungen<br />
ma che, aber ich bin Judith, Judith ist<br />
ich.<br />
Sie sind sehr beschäftigt, auch überall in<br />
den Medien präsent, wie passt dass zu<br />
Familie und was denken Sie überhaupt<br />
über die heutige Familie?<br />
Es gibt Berufe, die immer wieder zu<br />
Tren nungen von der Familie führen,<br />
Vertreter, matrosen oder männer, die<br />
monatelang auf einer Bohrinsel arbeiten.<br />
Und der Schriftstellerberuf ist<br />
auch so einer. im Grunde arbeite ich<br />
auf einer Bohrinsel. ich habe Vor trags -<br />
reisen, oder ich muss eine Zeit lang wo<br />
anderes leben, weil ich recherchiere.<br />
„Die Vertreibung aus der Hölle“<br />
spielt teilweise in Amsterdam, teilweise<br />
in Lissabon und ich musste in<br />
beiden Städten eine Zeit lang leben,<br />
um dort in Archive zu gehen und die<br />
Stadt kennen zu lernen. So einen Ro -<br />
man kann man nicht zuhause in Wien<br />
schreiben, mit einem Reiseführer am<br />
Schreibtisch, und am Abend sitzt man<br />
mit der Familie beim Abendessen und<br />
erzählt, was man erlebt hat. Das Pro -<br />
blem ist nicht die Trennung, sondern<br />
wie man damit umgeht, ob die Fa mi lie<br />
das akzeptiert und versteht oder nicht.<br />
ich habe die These, nein, die Er fah -<br />
rung, dass Trennungen, kurzfristige<br />
Trennungen geradezu die Vorausset -<br />
zung dafür sind, dass man mit jemandem<br />
gerne zusammen ist und bleibt.<br />
ich glaube, dass die Ehen heute, wenn<br />
sie überhaupt funktionieren, nur mit<br />
großen Freiräumen funktionieren<br />
kön nen. Wenn man zu sehr aneinander<br />
klebt, führt das irgendwann zu großen<br />
Aggressionen, zum Gefühl, in einem<br />
verrostenden Käfig zu leben. in meiner<br />
Generation sind alle meine Freun de<br />
geschieden.<br />
Sie haben schon viele Erfahrungen ge -<br />
macht, schreiben über Frauen, über<br />
Erotik. Wo finden Sie Inspiration und<br />
Herausforderungen im täglichen Leben?<br />
Bei allem was ich schreibe, Romane,<br />
Essays oder Theaterstücke, versuche<br />
ich immer zu verstehen, wie eine Ge -<br />
sell schaft in meiner Lebenszeit funktioniert,<br />
das heißt, ich versuche mich<br />
in meiner Zeitgenossenschaft zu über -<br />
prüfen. Jede Epoche hat eine fixe idee,<br />
darüber definiert sie sich. Wenn sich<br />
die fixe idee ändert, hat man eine neue<br />
Epoche. Die Zeit unserer Großeltern<br />
war besessen von der idee nationaler<br />
© Ida Labudovic<br />
identität und Größe. Die Elterngene -<br />
ra tion hatte die fixe idee von Un schuld,<br />
von unschuldigem Wohlstand! meine<br />
Generation hatte die fixe idee, alles<br />
zu befreien. Alles musste befreit werden,<br />
auch die Sexualität. Durch die<br />
Enttabuisierung der Sexualität sollte<br />
ein Freiraum geschaffen werden, der<br />
die allgemeine Befreiung befördern<br />
konnte. Da konnten ein junger mann<br />
und eine junge Frau nicht miteinander<br />
ins Bett gehen, ohne gleich die sexuelle<br />
Revolution zu machen. Sie haben sich<br />
nicht einfach geliebt, sie haben die Se -<br />
xu alität befreit. Wie lächerlich das heu -<br />
te klingt! Das zeigt, die Zeit ist vorbei.<br />
in meinem letzten Roman, wo es um<br />
Lie be und Sexualität geht, habe ich<br />
nicht versucht, einen neuen Liebesro -<br />
man zu schreiben, sondern mich ge -<br />
fragt: Was ist da passiert und was ist<br />
daraus geworden, dass die Liebe und<br />
die Sexualität eine Zeit lang im mit -<br />
telpunkt des gesellschaftlichen inter -<br />
es ses standen wie nie zuvor in der Ge -<br />
schichte? Die menschen lieben jetzt<br />
anders <strong>als</strong> vorher, die Erwartungen<br />
sind andere, die Hoffnungen, die Vor -<br />
stel lungen, wie es sein soll, sind an -<br />
dere, die Enttäuschungen sind größere<br />
und gleichzeitig hat diese Entta bui -<br />
sie rung dazu geführt, dass eben Se xu -<br />
alität oder sexuelle Reize plötzlich allgegenwärtig<br />
geworden sind. Was<br />
heute an Werbung mit diesen sexuellen<br />
und erotischen Signalen möglich ist,<br />
war vor fünfzig Jahren undenkbar.<br />
Was macht das mit den menschen, wie<br />
verändert das die Köpfe, wie verändert<br />
das die Gefühle, wie verändert<br />
das die Geschlechtswerkzeuge? Des -<br />
we gen ist das kein Liebesroman, sondern<br />
ein kleiner Epochenroman. Die se<br />
fixe idee von sexueller Befreiung exis -<br />
40 <strong>August</strong> <strong>2008</strong>/Aw 5768