August 2008 als pdf herunterladen - Israelitische Kultusgemeinde ...
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JÜDISCHE WELT • INLAND<br />
Sie sind mit zwei Identitäten aufgewachsen,<br />
auch auf zwei Kontinenten.<br />
Welche Erfahrungen haben sie gesammelt<br />
und wel cher Charakter ist daraus<br />
entstan den?<br />
Wenn man auf einen anderen Kon -<br />
ti nent kommt und nach vielen Jahren<br />
wieder nach Hause kommt, dann hat<br />
man eines gelernt, und zwar gleich<br />
doppelt: Alles mit großer Distanz zu<br />
betrachten. Alles was ich bin oder<br />
den ken kann oder erzählen kann,<br />
kann ich nur deshalb, weil ich gelernt<br />
habe, lernen musste, alles mit großer<br />
Distanz zu sehen, und heute gar nicht<br />
mehr anders kann. Als ich nach Bra si -<br />
lien kam, war alles für mich sehr span -<br />
nend, alles, was ich sah, war neu und<br />
anders und allein deshalb sehr<br />
faszinie rend. Aber diese Distanz kann<br />
man nicht verlieren, auch wenn man<br />
sich möglichst gut einleben und assimilieren<br />
will. Und das wollte ich. ich<br />
hätte in Sao Paulo Taxi fahren können,<br />
kann te diese riesige Stadt besser <strong>als</strong><br />
die meisten Einheimischen, weil es<br />
mein Anspruch war, und trotzdem<br />
war nach acht Jahren klar, dass ich nie<br />
ein Bra si lianer werde. Und <strong>als</strong> ich<br />
dann nach acht Jahren nach Österreich<br />
zurück kam, war mir Österreich<br />
mittlerweile völlig fremd geworden,<br />
ich hatte so viel angenommen von<br />
der lateinamerikanischen mentalität.<br />
Was für alle Wiener selbstverständlich<br />
ist, war mir nicht mehr selbstverständlich,<br />
ich hatte zu lange ganz<br />
anders gelebt, andere Er fahrungen<br />
gemacht. Und so habe ich gemerkt,<br />
dass ich jetzt hier dieselbe Distanz<br />
habe. Und das war gut. ich be griff,<br />
dass das ein enormes schriftstellerisches<br />
Kapital ist: Die Distanz, die es<br />
einem erst ermöglicht, seine Welt zu<br />
überblicken und zu hinterfragen. ich<br />
wollte das nie mehr verlieren und ich<br />
glaube, ich habe es nie mehr verlo ren.<br />
Was denken Sie über Migration und mul -<br />
ti konfessionelle, multiethnische Städte?<br />
Eine Stadt, die das nicht ist, die kei ne<br />
Anziehungskraft auf menschen ve r -<br />
schiedenster Welthaltungen, Kultu ren,<br />
Konfessionen, Lebensvorstellungen<br />
hat, ist in Wirklichkeit keine Stadt.<br />
Eine Stadt ist ein Ort, der wie ein mag -<br />
net auf die Vielfalt des Lebens wirkt,<br />
<strong>als</strong>o auf ein im breitesten Sinn gefasstes<br />
Umland. Eben deshalb war Wien<br />
zur Jahrhundertwende vom 19. zum<br />
20. Jahrhundert so ein spannender Ort,<br />
Robert<br />
Menasse –<br />
ein nicht<br />
typischer<br />
Wiener Autor<br />
mit Sehnsucht<br />
nach Liebe und<br />
Gerechtigkeit<br />
von Ida Labudovic<br />
wo die europäische moderne begonnen<br />
hat in der Kunst, Architektur, me -<br />
dizin, Literatur. Das war, weil Wien<br />
ein großer magnet für menschen aus<br />
Galizien, Serbien, Ungarn, italien, aus<br />
allen Richtungen und Kulturen war.<br />
ich kann nicht verstehen, wie es möglich<br />
ist, dass die Erben dieser Stadt, die<br />
mit diesem Erbe Tourismuswerbung<br />
machen und von diesem Erbe leben,<br />
solche Aggressionen haben gegenüber<br />
jenen, die diese Stadt heute wieder <strong>als</strong><br />
Stadt ernst nehmen, <strong>als</strong> magnet, <strong>als</strong><br />
Ort für Lebenschancen. Eine unfähige<br />
Politik, menschlich verrottete Poli ti ker<br />
betrügen Wien heute doppelt: Sie be -<br />
trü gen die sogenannten Einheimi -<br />
schen, weil sie ihnen eine Stadt versprechen,<br />
die keine Stadt wäre, und<br />
sie betrügen die Zuwanderer, weil sie<br />
ihnen nicht die Stadt geben, die dem<br />
Bild entspricht, das sie von dieser Stadt<br />
in der Welt verbreitet haben.<br />
Wie steht es mit dem Antisemitismus in<br />
Wien. Ist Antisemitismus noch latent<br />
vor handen?<br />
Den klassischen Antisemitismus gibt<br />
es in Wien fast nicht mehr. Keiner<br />
würde heute laut und deutlich sagen<br />
„Die Juden sind unser Unglück“, „An<br />
allen Problemen sind die Juden schuld“,<br />
„Die Juden müssen ausgegrenzt oder gar<br />
vernichtet werden.“ Es ist klar geworden,<br />
dass man sich damit selbst schädigt<br />
© Ida Labudovic<br />
und das will keiner. Aber es gibt, meiner<br />
meinung nach, zwei neue Formen<br />
des Antisemitismus. Die eine ist der<br />
„selektive Antisemi tis mus“, der sich<br />
sich nur gegen Juden richtet, die –<br />
wienerisch gesagt: - keine Ruhe ge ben.<br />
Das sind menschen, die haben jüdische<br />
Bekannte oder Geschäftskol le gen,<br />
und sie nicken betulich bei den Sonn -<br />
tagsreden, wenn es heißt, dass wir aus<br />
der Geschichte lernen müssen und<br />
sich das nicht mehr wiederholen darf,<br />
und sie glauben ehrlich, dass sie kei -<br />
ne Antisemiten sind, aber wenn einer<br />
auffällig wird, dann ist es nicht konkret<br />
dieser bestimmte mensch, sondern<br />
ein Jude. Und typisch Jude. Das<br />
versteckt sich hinter Philosemi tis mus,<br />
und jeder hat viele Beweise dafür, dass<br />
er kein Antisemit ist. Die se menschen<br />
würden nie sagen, dass Ju den ausgegrenzt<br />
werden müssen, aber sie wollen,<br />
dass einzelne, ganz be stimmte<br />
ausgegrenzt werden, nur je ne, die<br />
ihnen auffallen. Und die andere Form<br />
des neuen Antisemitismus ist das, was<br />
ich den „Übertragungs-Antisemitis mus“<br />
nenne. Er richtet sich gegen men schen,<br />
die gar keine Juden sind, auf die aber<br />
die mechanismen des klassischen An -<br />
ti semitismus angewandt werden. Wie<br />
zum Beispiel jetzt Türken, Asylwer ber<br />
oder menschen, die vor Kriegen flüch -<br />
ten. Die kommen hierher nicht aus Jux<br />
und Tollerei, aber sie werden <strong>als</strong><br />
Schmarotzer, <strong>als</strong> Fremdkörper gese-<br />
JÜDISCHE WELT<br />
<strong>August</strong> <strong>2008</strong>/Aw 5768 39