August 2008 als pdf herunterladen - Israelitische Kultusgemeinde ...
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Schwerpunkt 1938/<strong>2008</strong><br />
el ler interessen, das Konzept einer<br />
um fas senden humanistischen Bil dung<br />
sowie die gehobene Qualität der deut -<br />
schen und österreichischen Schul bil -<br />
dung waren entscheidende Faktoren<br />
dafür, daß sich in der Gruppe der<br />
emigrierten Kinder und Jugendlichen<br />
eine so große Zahl herausragender<br />
Per sönlichkeiten findet, deren Leis tun -<br />
gen nicht zuletzt einen unschätzbaren<br />
Beitrag zum wissenschaftlichen, in tel -<br />
lektuellen, politischen und ökonomischen<br />
Leben der USA beitragen sollten.<br />
Carl Djerassi, Peter Gay, Geoffrey<br />
Hartmann, Henry Kissinger, Gerda<br />
Ler ner, Lore Segal und Fritz Stern sind<br />
nur einige wenige der bekanntesten<br />
unter ihnen, zu denen auch Ge rald<br />
Holton, einer der Autoren der Studie<br />
Was geschah mit den Kindern, zählt. Die<br />
natur- und Sozialwissenschaften stellen<br />
einen jener Bereiche dar, dem sich<br />
besonders viele jugendliche Emigran -<br />
ten zuwandten, da diese zum einen<br />
durch ihre Expansion und rapide Wei -<br />
terentwicklung in der nachkriegszeit<br />
viele Berufschancen boten, zum an de -<br />
ren Emigranten aufgrund ihrer Bio gra -<br />
phie ein geschärftes Bewusst sein für<br />
soziale Phänomene oder die iden ti täts -<br />
problematik besaßen. Die natur wis -<br />
senschaften boten sich jedoch noch aus<br />
einem weiteren, sprachlich-pragma ti -<br />
schen Grund an nach Gerald Hol ten:<br />
„It’s easier to go into science with a bad<br />
accent.“ iii<br />
Der Preis des kollektiven<br />
sozioökono mischen Erfolgs und auch<br />
des nut zens für die amerikanische<br />
Gesell schaft war allerdings ein hoher.<br />
Denn unter der an der Oberfläche <strong>als</strong><br />
Er folgs ge schich te lesbaren kollektiven<br />
Bio gra phie bleiben lebenslange<br />
Trau ma ta zurück, das Gefühl existentieller<br />
Entfremdung und Einsamkeit,<br />
Ängste, Unsicherheiten, das von vielen<br />
Op fern der Schoah geteilte<br />
Schuldgefühl der Überlebenden und<br />
nachhaltige, von äußeren Erfolgen<br />
unbeeinflussbare minderwer -<br />
tigkeitsgefühle.<br />
„Ich liebe die Stadt meiner Kindheit<br />
noch immer, nicht aber ihre<br />
Bewohner.“ iv<br />
Die rasche und vollständige Akkul tu -<br />
ration war nicht nur ein von außen<br />
erwartetes und durch das verbreitete<br />
Ressentiment gegenüber immigran ten<br />
befördertes, sondern auch von den<br />
Emigranten selbst verfolgtes Ziel, das<br />
mit dem Spracherwerb begann, der<br />
den Kindern und Jugendlichen, wie zu<br />
erwarten, leichter fiel <strong>als</strong> den Eltern,<br />
zumal sie durch ihren Bildungshin ter -<br />
grund oder die Emigrationserfahrung<br />
äußerst polyglott waren und die Er fah -<br />
rung der Vertreibung und drohenden<br />
Vernichtung der deutschen Spra che<br />
und identität äußerst kritisch ge gen -<br />
über standen. Trotz der mitunter en -<br />
thusiastisch verfolgten Akkulturation<br />
erfolgte jedoch keine vollständige An -<br />
passung an die amerikanische Kul tur,<br />
gerade im Hinblick auf das kulturelle,<br />
jüdisch-europäische Erbe, das sich<br />
über alltagskulturelle Phänomene wie<br />
etwa über die lebenslange Ver bun den -<br />
heit mit der deutschen und österreichischen<br />
Küche vor allem in Präfe ren -<br />
zen für kulturelle interessen, traditionelle<br />
Werte und normen manifestiert.<br />
„Klassischer Geschmack in Bezug auf<br />
musik, Literatur und Dichtkunst. Be -<br />
geisterung für das Erlernen vieler ver -<br />
schiedener Fremdsprachen, für Rei sen<br />
um die ganze Welt und das Erfor schen<br />
mir fremder Kulturen. Liebe zur<br />
Schön heit der natur – im Freien zu<br />
sein um der Sache selbst willen, nicht<br />
um Sport zu betreiben oder etwas für<br />
die Gesundheit zu tun,“ schreibt ei ner<br />
der Teilnehmer von Sonnert und Hol -<br />
tons Studie. Damit bringt er wohl auch<br />
die lebenslange Zerrissenheit vie ler<br />
jüdischer Emigranten auf den Punkt,<br />
die beinahe unsichtbare Gren ze, die<br />
sie, jüdisch-europäisch sozialisiert, von<br />
anderen Amerikanern wie auch amerikanischen<br />
Juden trennte, einer vollständigen<br />
Akkulturation zuwider lief,<br />
auch wenn sich fast die Hälfte der Be -<br />
fragten <strong>als</strong> Amerikaner bezeichnete.<br />
Die Bikulturalität schien denn auch<br />
ein Wesenszug der kollektiven iden ti -<br />
tät der vertriebenen jüdischen Kinder<br />
und Jugendlichen zu sein.<br />
Wie tief verwurzelt und auch schmerz -<br />
haft diese ist, zeigte die Präsentation<br />
der Studie Was geschah mit den Kin dern?,<br />
selbst. Gerald Holton, einer der Au to -<br />
ren, wurde wie auch seine Frau, die<br />
Bildhauerin nina Holton, von seinen<br />
Eltern auf einen der rettenden Kin der -<br />
transporte nach Großbritannien ge -<br />
schickt. Teil seines Vortrags war eine<br />
in ihrer Präzision berührende Schil de -<br />
rung des kindlichen Erlebens der An -<br />
nexion Österreichs durch das Drit te<br />
Reich, der alltäglichen nation<strong>als</strong>ozialistischen<br />
Diskriminierung, des Ab -<br />
schieds von den Eltern am Wiener<br />
West bahnhof, der Reise quer durch Eu -<br />
ropa und schließlich der Ankunft in<br />
Großbritannien, wo ein BBC-Re por ter<br />
die erschöpften Kinder bat, doch ein<br />
Lied zu singen. in der Erin ne rung des<br />
Liedes, das die Kinder für das eng -<br />
lische Radiopublikum sangen, zitterte<br />
Gerald Holton, bis dahin be Denkmal herrscht,<br />
distinguiert und durch sei nen am Wiener englischen<br />
Vortrag wohl auch Westbahnhof sprachlich<br />
distanziert, die Stimme. Es war Wien,<br />
Wien, nur du allein.<br />
© APA<br />
Gerhard Sonnert u. Gerald Holton: Was geschah mit den<br />
Kindern? Erfolg und Trauma junger Flücht lin ge, die von den<br />
Nation<strong>als</strong>ozialisten vertrieben wurden. Wien: LIT <strong>2008</strong> (=<br />
Emigration – Exil – Kontinuität. Schrif ten zur zeitgeschicht -<br />
lichen Kultur- und Wissen schaftsforschung 9)<br />
Zum jüdischen Kindertransport:<br />
Rebekka Göpfert: Der jüdische Kindertransport von Deutsch land<br />
nach England 1938/39. Geschichte und Erinne rung. Frankfurt am<br />
Main u. New York 1999<br />
Mark Jonathan Harris, Deborah Oppenheimer u. Jerry Hofer:<br />
Kinder transport in eine fremde Welt. München 2000<br />
Claus-Dieter Krohn: Kindheit und Jugend im Exil – ein Gene ra tion -<br />
enthema. München: Edition Text und Kritik 2006 (= Exil for -<br />
schung 24)<br />
„Der olle Hitler soll sterben!“ Erinnerungen an den jüdischen<br />
Kindertransport nach England. Hg. v. Anja Salewsky. Mit ei nem<br />
Vorwort v. Michel Friedmann. München: Claassen 2001<br />
Barry Turner: Kindertransport. Eine beispiellose Ret tungs aktion.<br />
Mit einer Einleitung v. Lucie Kaye. Übers. v. Anna Kaiser. Ger -<br />
lin gen 1994<br />
Zur Situation der jüdischen Schulen im NS-Deutschland:<br />
Ruth Röckler: Die jüdische Schule im nation<strong>als</strong>ozialistischen<br />
Deutschland 1933-1942. Frankfurt am Main 1992<br />
i Gerald Holton bei der Präsentation des Bandes Was ge schah<br />
mit den Kindern? Erfolg und Trauma junger Flücht lin ge, die von<br />
den Nation<strong>als</strong>ozialisten ver trieben wurden am 24. Juni <strong>2008</strong> an<br />
der Univer si tät Wien im Rahmen der Vor trags rei he „AB SCHIE -<br />
DE 1938. Die Vernichtung des geistigen Wien“.<br />
ii Gerald Holton bei der Präsentation des Bandes Was geschah<br />
mit den Kindern? Erfolg und Trauma junger Flüchtlinge, die von<br />
den Nation<strong>als</strong>ozialisten vertrieben wurden am 24. Juni <strong>2008</strong> an<br />
38 <strong>August</strong> <strong>2008</strong>/Aw 5768