August 2008 als pdf herunterladen - Israelitische Kultusgemeinde ...

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Schwerpunkt 1938/2008 an das britische Home Office zur Er - langung von Einreisevisa, Einreise - kar ten und Permitnummer übernahmen hingegen die englischen Quäker; nach der – in vielen Fällen trotz intensiver Bemühungen nicht erfolgreich ab geschlossenen – Erledigung der For - malitäten erhielten die Eltern meist zwischen zwei und vierzehn Tagen vor dem Abreisetermin die offizielle information über den Kinder trans port. Wie verzweifelt und dramatisch sich diese Situation für betroffene Eltern und Kinder gestaltete, beschreibt Lo re Segal in ihrem autobiographischen Roman „Wo andere Leute wohnen“: „An - fang Dezember gab es ein Gerücht über einen versuchsweisen Kinder trans - port, der nach England gehen sollte. mein Vater nahm mich zur Jü di schen Kultusgemeinde mit, die ihren Sitz in den leeren Tempel verlegt hat te. Was wie tausende Kinder und Eltern aussah, bewegte sich unten durch aus - gebrannte Gemäuer der Halle und stand in einer Schlange entlang der Em pore, wo die Frauen zu den Hohen Feiertagen mit ihren Hüten und schwar zen Gewändern gesessen wa - ren. […] in der Elektrischen auf dem Heimweg hielt mein Vater meine Hand. Er sagte: ‚Du fährst nach Eng - land.‘ ich sagte: ‚Allein?‘, und ich erinnere mich deutlich an dieses Ge - fühl, als habe man mir plötzlich die Eingeweide herausgerissen. Gleich zei - tig klang mir dieses ‚nach-Eng land- Gehen‘ sehr mutig. ‘nicht ganz al lein!‘ sagte mein Vater. ‚Es fahren noch sechs hundert andere Kinder.‘ ‘Wann?‘ fragte ich. ‘Donnerstag‘, sagte mein Vater. ‚Übermorgen.‘ Dann spürte ich diesen eisigen Schauer gleich unter der Brust, dort wo ich vorher meine Ein geweide gehabt hatte.“ Emotio nen, die Lore Segal mit unzähligen der 10.000 jüdischen Kinder und Ju gend - li chen teilte. (Über)Leben in Großbritannien. Die psychische Situation aller Betei - lig ten, sowohl der Eltern als auch der Kinder war so selbstverständlich über - aus ambivalent, zur simultanen Er - leic h terung und Verzweiflung der Eltern trat die mischung aus Ver zweif - lung, Destabilisierung und manchmal auch Aufregung angesichts der Reise auf Seiten der Kinder. “meine mutter liebte mich nicht mehr. ich war ihr völlig egal; darum hatte sie mich verstoßen. Es vergingen viele Jahre, bis ich ahnte: diese Frau hatte mir ein zweites mal das Leben ge - schenkt, indem sie mich zu völlig Frem den gab,“ erinnert sich Ruth Ru - binstein. Diese tiefe Traumatisie rung manifestierte sich gerade bei jenen, die ihre Eltern nicht mehr wiedersahen, in lebenslangen Schuldgefühlen. Hinzu kam die radikale Veränderung der Le benssituation für die Kinder und Jugendlichen in Großbritannien, die über die Problematik der Akkultu ra - tion an ein fremdes Land, eine fremde Sprache und unbekannte Kultur hinaus durch das Leben in bis dahin völlig fremden Pflegefamilien, die Tren - nung von Freunden und allzu oft auch von Geschwistern, in vielen Kindern verständlicherweise Gefühle der Angst, des Verlorenseins und des im mi - nenten, durch die verbreitete Praxis sie mit neuen, anglisierten namen aus zu - statten beförderten identi tätsver lus tes auslösten. Die aus der plötzlichen, die Kinder überfordernden Konfronta ti on mit völlig neuen Lebensumständen resultierende Traumatisierung wurde nicht nur durch das ihnen mitunter trotz ihrer jüdischen identität entge - gen gebrachte antideutsche Resse n t i - ment, die Bemühungen um die Auf - rechter hal tung des Kontaktes mit den Eltern und der selten erfolgreichen Be schaf fung von Visa für diese, oder die Probleme in der Fortsetzung ihrer Schulausbildung, sondern auch durch die oftmals neue Transferierung in Heime oder zu neuen Pflegefamilien während der Bombardierung Groß bri - tanniens durch die deutsche Luft waffe verstärkt und vertieft, auch wenn die mehrheit der Kinder von grundsätzlich © Archiv positiven Erfahrungen in ihren Pfle ge - familien berichten. Der Ausbruch des Krieges zwang auch die Organisatoren der Kinder - trans porte die Problematik der Re mi - gration zu überdenken. Ursprünglich war man davon ausgegangen, dass die mehrzahl der Kinder und Jugend - li chen in andere Länder weiter emigrieren würden, 1941 stellte sich je doch heraus, dass etwa die Hälfte von ih nen in England bleiben würde. Ein Teil der Kinder und Jugendlichen je doch re migrierte allein oder mit ihren El tern in die USA, deren kollektive Bio gra - phie Gerhard Sonnert und Ge rald Hol ton in ihrer am 24. Juni 2008 an der Universität Wien im Rahmen der Wiener Vorlesungsreihe „AB SCHIE DE 1938. Die Vernichtung des geistigen Wien“ präsentierten Studie „Was geschah mit den Kindern? Erfolg und Trauma jun ger Flüchtlinge, die von den Natio nal s o zia lis - ten vertrieben wurden“ erstmals sozialwissenschaftlich und historisch fundiert dokumentierten und analysierten. „I became the parent, they became the children.“ i Emigration in die USA „Sie alle waren Flichtlinge. […] Die bei - den Jungen Wolfy und Bernhard wa - ren ohnehin noch zu klein, um zu wis - sen, was sie waren. Sie wußten al ler - dings, daß sie in Panik aufgebrochen und in Züge gestiegen und tausendmal hochgehoben und wieder abgesetzt worden waren. Dann war’s auf ein Schiff gegangen, und plötzlich wa - ren sie woanders, an einem Ort, an dem ihre Eltern Flichtlinge und manch - mal auch Flichtlingspack genannt wurden.“ Zvi Jagendorfs literarische Cha - rakteristik der Situation des Exils in 36 August 2008/Aw 5768
Schwerpunkt 1938/2008 Groß britannien in Die fabelhaften Stru - delbakers weist zahlreiche Analo gi en zur Situation der jüdischen Emi gran - ten in den USA auf, als sie nicht nur mit der restriktiven offiziellen im mi - gra tionspolitik der Vereinigten Staa ten, sondern auch mit antisemitischem Res sentiment aus einer noch unter den sozioökonomischen Folgen der großen Depression leidenden und für im mi - granten wenig Empathie zeigenden amerikanischen Bevölkerung konfron - tiert waren. Ambivalent war auch die Position des amerikanischen Ju den - tums, als man zum einen ein An stei gen des Antisemitismus durch die ver - stärkte Präsenz jüdischer Flücht lin ge aus Europa fürchtete, zum an deren je - doch gerade private jüdische institu - tionen und Organisatio nen eine zentrale Rolle in der Organisie rung von Vi sa für Exilanten, der politischen Auf - klärung über das nationalsozialistische Regime ebenso wie in ihrer finanziellen und gesellschaftlichen Unterstüt - zung zukam. Zeigten sich für die Kin - der und Jugendlichen in den USA ähn - liche Erfahrungen der Entfremdung, Entwurzelung und Trau matisierung durch Flucht, Ver treibung und die Ak - kulturations pro blematik an eine ih nen aufgrund ih rer mitteleuropäisch-jüdischen Sozia lisation fremde amerikanische Kultur, verschärfte sich im amerikanischen Exil das bereits aus dem Dritten Reich bekannte Phänomen der Verände rung der Familienstruktur, die mitunter zu einer Umkehr des Ver hält - nisses von Eltern und Kinder führte. An ge sichts des absoluten Kontroll - ver lustes der Eltern, der häufig schmerz haften gesellschaftlichen De - klassierung der in ihrer majorität zu vor in Deutsch land und Österreich dem Bürgertum angehörenden Familien, waren auch Kinder und Jugendliche ge zwungen, größere Verantwortung und oftmals eine mittlerposition zwischen der amerikanischen Kultur, an welche sie sich nicht nur durch ihr jüngeres Alter, son dern auch den Schul - be such schnel ler akkulturierten, und den Eltern zu übernehmen. Dies legte jedoch einen Teil des Fun - da ments für den im Vergleich mit an - de ren immigrantengruppen oder ge - bür t igen Amerikanern überproportional hohen sozioökonomischen Er folg dieser Gruppe. Denn obwohl die Be - din gungen anfangs keineswegs ideal waren, entwickelten sich viele der Kin - der und Jugendlichen außerordentlich gut und zu herausragenden Schülern und Studenten, deren Verhältnis zu den Eltern selten von Rebellion, sondern vielmehr von enger Bindung und tiefem Verantwortungsgefühl getragen war, wie sich ein ehemaliger Emi grant erinnert: „meine Schwester und ich haben immer, bis zum heutigen Tag, alles darangesetzt, ständig unser Bes - tes zu geben … ich glaube das auch des halb so, weil wir unseren Eltern nicht noch zusätzliche Sorgen bereiten wollten … Wir hatten das Gefühl, dass das eine möglichkeit war, das Leben für sie ein bisschen leichter zu ma chen.“ Kinder, die versuchten Eltern durch ihre Erfolge für die erlittenen Demütigungen zu entschädigen. „But there is a cost.“ ii Sozioökonomische Erfolge der jugendlichen Emigranten in den USA Exzeptionell im negativen Sinne wa ren nicht nur die Kindheitserfahrungen der Diskriminierung und Vertreibung jüdischer Kinder und Jugendlicher aus dem nationalsozialistischen Deutsch - land und Österreich, exzeptionell im positiven Sinne ist in ihrer weiteren Entwicklung auch der außerordentliche sozioökonomische Erfolg, das er - staunlich hohe kollektive Bildungs ni - veau und der erreichte soziale Sta tus, der sie demographisch von anderen immigrantengruppen oder gebürtigen Amerikanern abhebt. Die Diskon ti - ©Flor Kent nuität des Exils, der Verfolgung und des sozialen Abstiegs in der Genera ti on ih rer Eltern scheint in den Biogra phi en ihrer Kinder keine Kontinuität zu finden. Sonnert und Holton führen diesen Umstand in ihrer Studie, die dafür ne - ben interviews und Fragebögen die sta tistischen und soziodemographischen Daten des U.S. Census von 1970, des National Jewish Population Survey 1970 und des Who’s Who vergleichend untersucht, nicht ausschließlich auf das frühe Ende der Kindheit durch die na - tionalsozialistische Vernichtungs dro - hung oder den allgemeinen ökonomischen Aufschwung der USA nach dem Zweiten Weltkrieg zurück, von dem die eingebürgerten Emigranten ebenso profitierten wie gebürtige nichtjüdische und jüdische Amerikaner, sondern besonders auf das von Pierre Bour di eu entwickelte Konzept des „kulturellen Kapitals“ zurück, das die jüdischen Emi granten aus den deutschen und ös terreichischen Gesellschaften als in - korporiertes, unveräußerliches Kul tur - kapital mit in die Emigration brach ten, zu dem gerade die Erziehung und Bil - dungsorientierung zählten, während das objektive oder instituti o na lisierte kulturelle Kapital, gewisse be rufliche Qualifikationen, Lizenzen oder Titel für die Elterngeneration in vielen Fäl - len nicht konvertierbar war. Besonders die Bedeutung intellek tu - August 2008/Aw 5768 37
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