Bücher am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung
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NZZ<strong>am</strong><strong>Sonntag</strong><br />
Nr.10|24. November 2013<br />
JohnleCarré<br />
Seit50Jahren<br />
Autorvon<br />
Geschenktipp<br />
Literaturfür<br />
Kinderund<br />
BernhardBueb<br />
Interviewüber<br />
dieMacht<br />
Karl derGrosse<br />
<strong>Neue</strong>Bücher<br />
zumKaiserdes<br />
Spionagekrimis Jugendliche derEhrlichen Abendlandes<br />
4<br />
14/15 16–18 20/21<br />
Bücher<br />
<strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong>
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Wünschen<br />
& Schenken<br />
Liaba S<strong>am</strong>ichlaus,<br />
das wunsch ich mir:<br />
Jussi Adler-Olsen<br />
Erwartung Nicholas Sparks<br />
Kein Ort ohne dich<br />
Jonas Jonasson<br />
Die Analphabetin,<br />
die rechnen konnte<br />
Cecelia Ahern<br />
Die Liebe deines<br />
Lebens<br />
Jojo Moyes<br />
Eine Handvoll<br />
Worte<br />
Jo Nesbo/<br />
Koma<br />
Alle Preise inkl. MwSt. und ohne Gewähr.
Inhalt<br />
LesenSieüber<br />
Spione,Pädagogen<br />
undmutigeKinder<br />
John le Carré<br />
(Seite4).<br />
Illustration von<br />
AndréCarrilho<br />
Mit«DerSpion,der ausder Kältek<strong>am</strong>»gelangJohn le Carré1963ein Welterfolg.<br />
DerThriller spielteimBerlin der 1960er Jahrekurz nach dem Bau<br />
der Mauer,als westliche und östliche Agenten wieSchachfiguren im<br />
zynischen Spiel der Geheimdienstegeopfert wurden. 50 Jahrespäter<br />
erscheintnun der Klassiker,den le Carréinfünf Wochen niedergeschrieben<br />
hatte, in einer mitDokumentenangereicherten Neuausgabe. Fast gleichzeitig<br />
mitseinem neusten 25. Spionageroman: «Empfindliche Wahrheit».<br />
PeterStuder,ein eingefleischterle-Carré-Fan, rezensiert für uns den<br />
packenden Band (Seite 4).<br />
Um Wahrheitund Lügegehtesauch im Gespräch mitBernhardBueb über<br />
sein neues Buch «Die Machtder Ehrlichen». Aha, werden Sie denken, das<br />
ist doch dieser Salem-Schulleitervom Bodensee, der mitseinem «Lob der<br />
Disziplin» die Empörungder deutschen Erzieherkasteauf sich gezogen<br />
hatte. Ja,aber lassen Sie sich überraschen: Bueb kann man auch als<br />
exzellentenReformpädagogen lesen (S.16).<br />
Ebenfalls <strong>am</strong> Bodensee spielen die fünf Steckborner Erzählungenvon Otto<br />
Frei, die uns ManfredPapst ans Herz legt (S.12).Empfehlen können wir<br />
Ihnen nichtzuletzt ein Dutzend Kinder- und Jugendbücher,denen wirwie<br />
immer vorWeihnachteneine Doppelseite widmen (S.14/15). –Wir<br />
wünschen Ihnen bis zur nächsten Ausgabe von«Bücher <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong>» <strong>am</strong><br />
26.Januar möglichst viele behagliche Lesestunden! Urs Rauber<br />
Belletristik<br />
4 John le Carré: Empfindliche Wahrheit<br />
John le Carré: Der Spion, der aus der Kältek<strong>am</strong><br />
VonPeter Studer<br />
7 Lisa O’Donnell: Bienensterben<br />
VonSimone vonBüren<br />
8 AnnettePehnt:Lexikon der Angst<br />
VonManfredKoch<br />
9 Abbé Prévost:Manon Lescaut<br />
VonStefana Sabin<br />
10 HervéLeTellier:Neun Tage in Lissabon<br />
VonMartin Zingg<br />
Inezvan L<strong>am</strong>sweerde,Vinoodh Matadin:<br />
Pretty Much Everything<br />
VonGerhardMack<br />
11 Dieter Zwicky: Slugo<br />
VonBruno Steiger<br />
12 OttoFrei: Bissich Nacht in die Augen senkt<br />
VonManfredPapst<br />
13 E-Krimi des Monats<br />
Gillian Flynn: Gone Girl<br />
VonChristine Brand<br />
Kurzkritiken Belletristik<br />
13 Charles Bukowski: Dasweingetränkte Notizbuch<br />
VonManfredPapst<br />
Pedro Lenz: Ibimeh aus eine<br />
VonRegula Freuler<br />
David Vogel: Eine Wiener Romanze<br />
VonRegula Freuler<br />
Rainer Malkowski: Aphorismen und kleine Prosa<br />
VonManfredPapst<br />
Kinder- undJugendbuch<br />
14 GaryGhislain: Wieich JohnnyDepps Alien-Braut<br />
abschleppte<br />
VonDaniel Ammann<br />
Oliver Scherz: Ben<br />
VonChristine Knödler<br />
AliceGabathuler:no_way_out<br />
VonVerena Hoenig<br />
Marian de Smet:Kein Empfang<br />
VonAndrea Lüthi<br />
RobertLouis Stevenson: Die Schatzinsel<br />
VonHans tenDoornkaat<br />
15 Michael Madeja u.a.: Denkste?!<br />
Alexander Rösler u.a.: 29 Fensterzum Gehirn<br />
VonSabine Sütterlin<br />
MaxKruse: Urmel saustdurch die Zeit<br />
VonAndrea Lüthi<br />
Virginie Aladjidi u.a.: Birke, Buche,Baobab<br />
VonAndrea Lüthi<br />
Sonja Eismann u.a.:<br />
Glückwunsch, du bistein<br />
Mädchen!<br />
VonChristine Knödler<br />
Ad<strong>am</strong> Jaromir:Fräulein<br />
EsthersletzteVorstellung<br />
VonVerena Hoenig<br />
Interview<br />
16 Bernhard Bueb,Reformpädagoge<br />
Die Wahrheitkommtnichtvon selbst<br />
ans Licht<br />
VonUrs Rauber<br />
Kolumne<br />
19 Charles Lewinsky<br />
Das Zitatvon Ezra Pound<br />
Kurzkritiken Sachbuch<br />
19 Martin Meyer:Die Welt verstehen<br />
VonManfredPapst<br />
Joseph Jung: Alfred EschersBriefwechsel<br />
1852–1866<br />
VonUrs Rauber<br />
Verena Wermuth: Wiedersehen mit Scheich<br />
Khalid<br />
VonUrs Rauber<br />
Susan Sontag: Ichschreibe,umherauszufinden,<br />
wasich denke<br />
VonKathrin Meier-Rust<br />
Sachbuch<br />
20 Die Zeit Karls des Grossen in der Schweiz<br />
Johannes Fried: Karl der Grosse<br />
StefanWeinfurter:Karl der Grosse<br />
Steffen Patzold: Ichund Karl der Grosse<br />
VonAlexis Schwarzenbach<br />
22 BarbaraThoma: Selma Lagerlöf<br />
VonKathrin Meier-Rust<br />
23 Hans Küng: Erlebte Menschlichkeit<br />
VonKlara Obermüller<br />
24 Carlo vonAh: Durch Dschungel und Intrigen<br />
VonUrs Rauber<br />
Florian Fisch: Ein Versuch<br />
VonPatrick Imhasly<br />
26 Ronen Steinke: FritzBauer oder Auschwitzvor<br />
Gericht<br />
Devin O. Pendas: Der Auschwitz-Prozess<br />
VonClaudia Kühner<br />
27 Patrick Braun, Axel Christoph G<strong>am</strong>pp:<br />
Emilie Linder 1797–1867<br />
VonGenevièveLüscher<br />
28 WolfgangSchuller:Cicero<br />
VonJanika Gelinek<br />
UdoWachtveitl u.a.: Schauplatz Tatort<br />
VonDavid Strohm<br />
29 Sytzevan der Zee: Schmerz<br />
VonSieglinde Geisel<br />
30 Ad<strong>am</strong> Grant:Geben und Nehmen<br />
VonMichael Holmes<br />
Das<strong>am</strong>erikanische Buch<br />
Diane Ravitch: Reign of Error.The Hoaxofthe<br />
Privatization Movement<br />
Michele Rhee: Radical<br />
VonAndreas Mink<br />
Agenda<br />
31 Elisabeth Fülscher:Kochbuch<br />
VonKathrin Meier-Rust<br />
Bestseller November 2013<br />
Belletristik und Sachbuch<br />
Agenda Dezember 2013<br />
Veranstaltungshinweise<br />
Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung),Regula Freuler (ruf.), GenevièveLüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), ManfredPapst (pap.)<br />
StändigeMitarbeit Urs Altermatt,Urs Bitterli, ManfredKoch, GunhildKübler,Sandra Leis, Charles Lewinsky,Beatrix Mesmer,Andreas Mink, Klara Obermüller,Angelika Overath,<br />
Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hans PeterHösli (Art Director), Susanne Meures (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), KorrektoratSt.Galler Tagblatt AG<br />
Verlag NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong>, «Bücher <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong>», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax0442617070,E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch<br />
24.November 2013 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 3
Belletristik<br />
Spionageroman DerKalte Kriegist Geschichte –und mitihm derliterarischeThriller rund um denEisernen<br />
Vorhang.DochJohn le Carrémeldet sich zurück miteinem Plot über Verbrechen im eigenen Land<br />
VomKaltenKrieg zur<br />
John le Carré: Empfindliche Wahrheit.<br />
Ullstein, Berlin 2013. 394Seiten,<br />
Fr.39.90,E-Book 24.40.<br />
John le Carré: Der Spion, der aus der Kälte<br />
k<strong>am</strong>.Neuauflagemit neuem Vorwort<br />
und Materialien. Ullstein, Berlin 2013.<br />
280 Seiten, Fr.25.90,E-Book 22.–.<br />
VonPeter Studer<br />
Während täglich neue belegte oder<br />
vermutete Abhörgeschichten aus dem<br />
Privatarchiv des geflüchteten US-<br />
Nachrichtenmanns EdwardSnowden erscheinen,<br />
mutet le Carrés neuer Thriller<br />
an wie eine vorausgeschriebene Erfindung,<br />
die Snowdens Enthüllungen ins<br />
Epische übersetzt. Simon Jenkins vom<br />
linksliberalen «Guardian» bestätigt den<br />
Befund: «Der Autorhat die alten Gewissheiten<br />
des Kalten Kriegs hinter sich gelassen<br />
und stapft im moralischen Sumpf<br />
rund um den Strahlemann Tony Blair<br />
herum. Der Held, ein junger Diplomat<br />
n<strong>am</strong>ens Toby Bell, wirkt wieein lebendig<br />
gewordener Snowden.»<br />
Worauf spielt der Originaltitel«ADelicate<br />
Truth» eigentlich an? Delikat ist,<br />
dass das Personal des Romans nicht<br />
mehr in Versuchunggerät, Gut und Böse,<br />
Richtig und Falsch nach den Fahnen der<br />
ideologischen Lager zu benennen. Le<br />
John le Carré<br />
John le Carré,1931 inEngland geboren,<br />
wuchs als Sohn eines wegen Betrugs einsitzenden<br />
Vaters und ohne Mutter auf.1948/49<br />
studierte er in Bern Germanistik. 1950 liess<br />
er sich vombritischen Nachrichtendienstim<br />
besetzten Österreich anstellen. 1963 publizierte<br />
er den Bestseller «Der Spion, der aus<br />
der Kältek<strong>am</strong>». Es folgten 20 weitere Bücher,<br />
etliche verfilmt.Eines befasste sich mit dem<br />
Schweizer Fall Jeanmaire («Ein guter Soldat»,<br />
1992). Dieses Jahr erschien «Empfindliche<br />
Wahrheit». Die UniversitätBern ernannte<br />
ihn 2008 zumEhrendoktor;2011 erhielt er<br />
die Goethe-Medaille für sein Lebenswerk.<br />
4 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013<br />
Carré, der kürzlich der schmucken, mit<br />
Dokumenten angereicherten Neuausgabe<br />
von «Der Spion, der aus der Kälte<br />
k<strong>am</strong>» ein Vorwort mitgab, blickt <strong>am</strong>üsiert<br />
50 Jahre zurück: Alle echten und<br />
vermeintlichen Experten glaubten d<strong>am</strong>als,<br />
hier breite ein Spion seine eigenen<br />
Erlebnisse aus. Das stimmte überhaupt<br />
nicht. «Meine Vorgesetzten hatten den<br />
binnen fünf Wochen niedergeschriebenen<br />
Text des kleinen Botschaftssekretärs<br />
in Bonn (meine d<strong>am</strong>alige Tarnung) nur<br />
freigegeben, weil er keine persönliche<br />
Erfahrung wiedergab und somit nicht<br />
gegen die Sicherheitsvorschriften verstiess.»<br />
Wenig späterverliess le Carréden<br />
Geheimdienst und tat, was er schon<br />
immer tun wollte: schreiben. Längst hat<br />
er sich neben die Pioniere des Fachs gestellt,<br />
neben Joseph Conrad, Somerset<br />
Maugh<strong>am</strong> und Grah<strong>am</strong> Greene.<br />
In seinen nächsten Büchern, angefangen<br />
mit «D<strong>am</strong>e, König, As, Spion», baute<br />
le Carré eine Pseudokulisse des britischen<br />
Geheimdienstes auf («Der Zirkus»),<br />
setzte den alten Geheimdienstmann<br />
George Smiley in das Zentrum der<br />
Dr<strong>am</strong>aturgie und liess ihn dem motivisch<br />
halbwegs verwandten sowjetischen Widerpart<br />
mitdem Deckn<strong>am</strong>en Karla nachspüren.<br />
Alec Guinness verkörperte den<br />
unergründlichen, aber nicht unsympathischen<br />
Smiley im Film. Es tauchtenFiguren<br />
auf,die vonferne an legendärebritische<br />
Doppelagenten und Verräter während<br />
der 50er bis 70er Jahreerinnerten.<br />
Knappe Prosa<br />
Aber mit dem Ende des Kalten Kriegs<br />
ging der Autor keineswegs in Pension.<br />
Hatte erschon vorher kritisch in britische<br />
und koloniale Milieus hineingeleuchtet–immer<br />
vorder Folie des Ost-<br />
West-Konflikts –, so wandte ersich jetzt<br />
voll den gefährlichen Strahlungen der<br />
eigenen Gier- und Konsumgesellschaft<br />
zu. Gewiss, oft in fremdartigen Landschaften,<br />
aber immer mitRückschlüssen<br />
auf vertrauteThemen und Akteure. «Der<br />
ewige Gärtner» (2001) beschrieb das Unwesen<br />
einer globalen Pharmaziefirma in<br />
Kenia, die Tuberkulosemedik<strong>am</strong>ente mit<br />
Nebenfolgen insgeheim an Afrikanern<br />
ausprobierte; eine grüne Aktivistin, Gattin<br />
eines britischen Botschaftssekretärs,<br />
entdeckte den Skandal und wurde ermordet.<br />
Ihr Mann machte sich auf die<br />
Spur und stiess auf Verzweigungen bis<br />
ins britische Foreign Office.<br />
Im Nachwort schrieb le Carré trocken:<br />
«Beim Vergleich mit der Realität erweist<br />
sich mein Szenario als harmlose Ferienpostkarte.»<br />
«Empfindliche Wahrheit»<br />
nun, le Carrés neues Buch, erinnert in<br />
der raffinierten Personenzeichnung und<br />
knappen Prosa an die besten früheren<br />
Werke des Autors. «Erster Akt (2008),<br />
Erste Szene, Gibraltar»: Der etwas langweilige<br />
britische alt Diplomat Christopher,Kit<br />
für seine Freunde, wird vonJunior<br />
Foreign Minister Fergus, einem ehrgeizigen<br />
Labour-Mann, für die vertrauliche<br />
«Sonderaktion Wildlife» rekrutiert;<br />
sein Deckn<strong>am</strong>e ist Paul. AufGibraltar soll<br />
er zus<strong>am</strong>men mitMännern vonden Special<br />
Forces bei der nächtlichen Festnahme<br />
eines gefährlichen mittelöstlichen<br />
Waffenhändlers zuschauen, sozusagen
Internetspionage<br />
«Zweiter Akt, erste Szene, ein Städtchen<br />
in Cornwall, drei Jahre später»: Sir<br />
Christopher Kit und seine moralfeste<br />
Frau haben sich in ein geerbtes Herrenhaus<br />
zurückgezogenund machen als Ehrengäste<br />
anFeiern des Städtchens mit.<br />
Hier hängt der Text etwas durch; das Behagen<br />
des Schilderers hängt vielleicht<br />
d<strong>am</strong>it zus<strong>am</strong>men, dass le Carré selber in<br />
Cornwall wohnt. Ein Hausierer bietet<br />
Ledersachen feil und gibt sich dem abwehrenden<br />
Sir Christopher als Unteroffizier<br />
des d<strong>am</strong>aligen Special-Forces-Te<strong>am</strong><br />
auf Gibraltar zu erkennen.<br />
als be<strong>am</strong>teter Aufseher. Eine private<br />
<strong>am</strong>erikanische Sicherheitsfirma, ominös<br />
Ethical Outcomes geheissen, wirkt mit.<br />
Auch ein CIA-Trupp soll voneinem Schiff<br />
aus landen. Paul fragt sich, ob Her<br />
Majesty’s Militäroperationen jetzt als<br />
«public private partnership» geführt<br />
würden. Alles ist unklar: Kompetenzen,<br />
Zielobjekt, Drehbuch. Schüsse fallen.<br />
Paul wird in einem Auto schnell weggefahren.<br />
«Mission gelungen», versichert<br />
man ihm, ohne dass er Genaueres erfährt.<br />
Lohn: Adelstitel für Kit alias Paul,<br />
netter Botschaftsposten in der Karibik,<br />
Pensionierung.<br />
«Erster Akt, Zweite Szene, London,<br />
Foreign Office»: Toby Bell rückt nach ersten<br />
Anfängerposten in der Diplomatie<br />
zum Privatsekretär des Junior Ministers<br />
Fergus auf. Toby kann’s mit den D<strong>am</strong>en,<br />
ist aber Idealist und «will etwas Nützliches<br />
bewirken». Der Junior Minister, der<br />
sich oft einschliesst und auf rätselhafte<br />
Auslandreisen fliegt, hat immer wieder<br />
merkwürdigen Umgang, wie Toby feststellt.<br />
Ethical Outcomes und eine bizarre<br />
christliche Milliardärin tauchen auf.Vage<br />
Gerüchte über Fergus wollen nicht verstummen.<br />
Man bedeutet Toby,sich nicht<br />
um die Sache zu kümmern.<br />
Der neue Thriller<br />
vonJohn le Carré<br />
beginnt in Gibraltar<br />
und endet nach<br />
spannungsgeladenen<br />
Jagden in London.<br />
DasBösemittenunter uns<br />
«Mission gelungen» d<strong>am</strong>als? Keineswegs.<br />
Peinliches oder verbrecherisches<br />
Resultat: Es entstand «Collateral d<strong>am</strong>age»,<br />
Zufallsschaden einer schlechtgeplantenOperation.<br />
(Die täglichen dürren<br />
Communiqués über zivile Drohnenopfer<br />
in Afghanistan schieben sich in den Lesevorgang).<br />
Eine arabische Flüchtlingsfrau<br />
mitKind war irrtümlich erschossen worden.<br />
Der Unteroffizier und Sir Christopher<br />
wollen jetzt doch noch das Foreign<br />
Office, notfalls die Öffentlichkeit, einschalten.<br />
Der Unteroffizier stirbt in<br />
Schottland unter mysteriösen Umständen<br />
–<strong>am</strong>tlicher Mord, folgert Toby vor<br />
Ort. Mit einer etwas halsbrecherischen<br />
Dr<strong>am</strong>aturgie –John Banville, einer der<br />
meistgepriesenen britischen Autoren,<br />
nenntsie «fehlerhaft» –hat sich unversehens<br />
der junge Toby eingemischt und<br />
geht Kitzur Hand.<br />
«Dritter Akt, London»: Toby wird binnen<br />
kurzem zum Hauptakteur.Die Ereignisse<br />
überschlagen sich. Das Foreign Office<br />
wiegelt ab. Alle werden immer und<br />
überall abgehört. Die private Söldnertruppe<br />
Ethical Outcomes, die in einer<br />
staatlichen Armeegarnison residiert, jagt<br />
Toby,der sich mitSir Christophers Tochterverbündet.<br />
Die Spannungsteigt.<br />
Im Vergleich zum «Spion, der aus der<br />
Kältek<strong>am</strong>» sitzt hier das Böse nichtbeidseits<br />
eines Eisernen Vorhangs, sondern –<br />
mit Fragezeichen –manchmal vielleicht<br />
auch im gemütlichen Grossbritannien.<br />
Jetzt, fast 50 Jahre später, macht essich<br />
frech mitten in den eigenen Institutionen<br />
breit und nutzt deren Instrumente:<br />
Polizei, Personal, Geheimniskult, Drohnen,<br />
digitale Hochtechnologie. Wohin<br />
führt das noch? Grosse Hoffnungen<br />
machtder 82-jährigeJohn le Carréweder<br />
sich noch uns. ●<br />
Peter Studer, früherChefredaktordes<br />
«Tages-Anzeigers» und desSchweizer<br />
Fernsehens, doziert heuteMedienrecht<br />
an derUniversität St.Gallen.<br />
24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 5
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Belletristik<br />
Roman DieBritin Lisa O’Donnell schreibtin<br />
ihrem Erstling mitscharfemWitz<br />
Wenneinem<br />
die«Lottereltern»<br />
fehlen<br />
Lisa O’Donnell: Bienensterben. Ausdem<br />
Englischen vonStefanie Jacobs. Dumont,<br />
Köln 2013. 320 Seiten, Fr.25.90,<br />
E-Book 22.–.<br />
Auseiner tragischen<br />
Vergangenheit in eine<br />
erträgliche Zukunft:<br />
zwei Schwestern an<br />
einem heiklen Punkt<br />
ihrer Entwicklung.<br />
VonSimone vonBüren<br />
Marnie ist fünfzehn, «zu jung zum Rauchen,<br />
zu jung zum Trinken und zu jung<br />
zum Ficken», und tut doch alles bereits.<br />
Ausserdem nimmt sie Ecstasy und «hier<br />
und da mal ein paar Benzos». Um sich<br />
den Sozialdienst vom Leib zu halten, arbeitetsie<br />
für einen drogendealenden Eisverkäufer<br />
in einer sozial benachteiligten<br />
Gegend Glasgows.<br />
Die abgehärtete Protagonistin von<br />
Lisa O’Donnells Debütroman «Bienensterben»<br />
ist die neusteineiner Reihe von<br />
Teenagern aus sozialen Krisenverhältnissen<br />
in der zeitgenössischen britischen<br />
Literatur. In einer provokativen Mischung<br />
aus Trotz, Humor und Wut<br />
schleudert sie uns ihre Situation entgegen:<br />
«Es ist nicht leicht, wenn die eigenen<br />
Eltern im Garten vermodern und keiner<br />
darf was merken.» Zus<strong>am</strong>men mit<br />
ihrer jüngeren Schwester hat sie die mit<br />
Drogen vollgepumpten Körper in flachen<br />
Gräbern vergraben und das Haus mit literweise<br />
Bleiche geputzt, ohne den Gestank<br />
wegzukriegen.<br />
Wie «die Lottereltern» umgekommen<br />
sind und was sie auf dem Gewissen<br />
haben, erfahren die meisten Romanfigurengar<br />
nie und der Leser erst spät. Denn<br />
Marnie und ihre selts<strong>am</strong>e Schwester<br />
Nelly, die so fanatisch Geige spielt, wie<br />
sie ihren Körper hasst, was –soahntman<br />
–wohl miteinem väterlichen Missbrauch<br />
zus<strong>am</strong>menhängt, halten ihr Geheimnis<br />
unter Verschluss. Sogar gegenüber dem<br />
älteren schwulen Nachbarn Lennie, der<br />
sich liebevoll um sie zu kümmern beginnt.<br />
O’Donnell stellt Marnies eigenwilliger<br />
Stimme die weit weniger überzeugenden<br />
von Nelly und Lennie gegenüber. Nelly<br />
wirkt in ihrer Naivität und ihrer altmodischen<br />
Sprechweise konstruiert. Und<br />
Lennie, der sich an seinen verstorbenen<br />
Geliebten wendet, wird zu oft dazu benutzt,<br />
Informationen zu vermitteln oder<br />
Bilanz zu ziehen, was ihn als Figur<br />
schwächt. Interessant ist jedoch das Geflecht<br />
von Lügen, gegenseitigen Beobachtungen<br />
und Unterstellungen, das die<br />
schottische Autorin zwischen den drei<br />
Erzählern webt. DerLeser sieht, werwas<br />
verschweigt oder missversteht, wer wen<br />
belügt oder verdächtigt. Denn so misstrauisch<br />
die Figuren einander und der<br />
Welt gegenüber sind, so ungeschützt<br />
äussern sie sich in ihren Gedankenprotokollen:<br />
Marnie, die sich aller Welt<br />
als abgebrühte Kämpferin präsentiert,<br />
gesteht hier, dass ihr ihre Eltern, «diese<br />
zwei abartigen Personen», fehlen. Die<br />
scheinbar gefügige Nelly plant heimlich,<br />
das Ruder zu übernehmen. Und Lennie,<br />
der Kuchen backende Gutmensch, bereut<br />
einen Moment mit offener Hose auf<br />
einer Kinderschaukel im Park.<br />
In diesen intimen Äusserungen<br />
kommt das Ambivalente zum Ausdruck,<br />
das auch O’Donnells Nebenfiguren prägt<br />
und eine Einteilung der Welt in Schwarz<br />
und Weiss erschwert: der russische Lehrer,<br />
der Marnie bei den Prüfungen hilft,<br />
aber Drogen handelt, weil er als Asylant<br />
in Schottland nicht unterrichten darf.<br />
Oder der streng religiöse Grossvater, der<br />
sich plötzlich um die Mädchen kümmern<br />
will, um das Vergehen an deren Mutter<br />
wiedergutzumachen, das sie ihm nicht<br />
zu verzeihen bereit sind. O’Donnells Figuren<br />
und ihre Biografien werfen alle<br />
möglichen moralischen Dilemmata auf:<br />
Kann man Drogengeld benutzen, um die<br />
Miete zubezahlen? Darf man zwei vernachlässigte<br />
Kinder betreuen, ohne den<br />
Sozialdienst zu benachrichtigen? Soll<br />
man die Lüge eines andern stehen lassen,<br />
wenn sie einem das Leben rettet?<br />
O’Donnell zeigt die Schwestern an<br />
einem heiklen Punkt ihrer Entwicklung.<br />
Sie sind drauf und dran, dieselben Fehler<br />
zu begehen, die die älteren Figuren bereuen.<br />
«Mit meiner Vorgeschichte müsste<br />
ich eigentlich eine Serienmörderin<br />
sein», sagt Marnie. Dass sie es nicht ist,<br />
macht das Hoffnungsvolle dieses starken,<br />
wenn auch sprachlich etwas holprigenDebüts<br />
aus, in dem Abgründiges und<br />
Graus<strong>am</strong>es auf scharfen Humor trifft und<br />
auf einen trotzigen Glauben an die Fähigkeit<br />
der Mädchen, sich herauszuarbeiten<br />
aus einer tragischen Vergangenheit in<br />
eine erträglichereZukunft. ●<br />
ALLESALLTAG<br />
«Schlicht das beste<br />
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dankbar, dass diese<br />
Texteendlich dem<br />
Vergessen entrissen<br />
wurden. Wir ahnen,<br />
da wurde ein Schatz<br />
gehoben.»<br />
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640 Seiten | 40 Abbildungen vierfarbig und s/w | Leinen | Fr.54.– | www.limmatverlag.ch<br />
AlfonsinaStorni | Meine Seelehat kein Geschlecht |Erzählungen, Kolumnen, Provokationen<br />
Herausgegeben, übersetztund eingeleitetvon Hildegard Elisabeth Keller |320 Seiten |Leinen<br />
Fr.44.– |www.limmatverlag.ch<br />
24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 7
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Belletristik<br />
Kurzgeschichten AnnettePehnt erkundet die<br />
Abgründeder Seele<br />
DieAngstvor<br />
derbrennenden<br />
Herdplatte<br />
AnnettePehnt:Lexikon der Angst. Piper,<br />
München 2013. 176 Seiten, Fr.27.90,<br />
E-Book 16.–.<br />
VonManfred Koch<br />
«In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost,<br />
ich habe die Welt überwunden»,<br />
spricht Jesus Christus in der Bibel. Die<br />
moderne Existenzphilosophie – von<br />
Kierkegaard über Heidegger bis Sartre –<br />
ist nicht mehr getrost, sie hat die Angst<br />
konsequent zur Grundbefindlichkeit des<br />
menschlichen Daseins erklärt. In der<br />
Welt sein, so lesen wir esbei Heidegger,<br />
heisst Angst haben, Angst gerade auch<br />
vor jener unheimlichen Gabe der Freiheit,<br />
über die der Mensch im Unterschied<br />
zum instinktgeleiteten Tier verfügt. Wir<br />
können unser Leben frei gestalten, in bestimmten<br />
Grenzen alles Mögliche aus<br />
uns machen. Wirkönnen uns grundsätzlich<br />
aber auch vor allem und jedem<br />
fürchten. Vermutlich ist das eine nur die<br />
Kehrseite des anderen.<br />
Phobienvon Abis Z<br />
Annette Pehnts neuestes Buch wartet<br />
mitvielen ungewöhnlichen Ängsten auf:<br />
der Angst vor dem Weiss der Milch. Der<br />
Angst vor explodierenden Frühlingsknospen.<br />
Der Angst einer Tochter vor<br />
den Kaugeräuschen ihrer Mutter (die,<br />
auf ein Zuckerstück beissend, wiederum<br />
Angst vor der unwirschen Reaktion der<br />
Tochter hat). Daneben gibt es in Pehnts<br />
«Lexikon der Angst» aber auch die jedermann<br />
vertrauten Ängste, die vor allem<br />
«Angst um» sind: die Furcht, den eigenen<br />
Kindern, dem Partner, dem geliebten<br />
Haustier könnte etwas zustossen.<br />
Und schliesslich begegnen wir den kleinen<br />
Verstörungen und Abwehrreaktionen,<br />
die unser Alltagsleben durchlöchern.<br />
Habe ich vergessen, den Herd auszuschalten,<br />
als ich die Wohnung verlassen<br />
habe?Wirdvon mir im Taxi erwartet,<br />
dass ich mit dem Fahrer rede? Muss ich<br />
der Einladung der Nachbarn zum Grillabend<br />
auf ihrem Balkon Folgeleisten?<br />
Pehntschildert diese Befindlichkeiten<br />
nicht als persönliches Erleben, sondern<br />
anhand der Heldinnen und Helden von<br />
45 Kurzgeschichten, die –mit zwei Ausnahmen<br />
–jeweils nur ein einziges Wort<br />
als Titel haben. Daraus ergibt sich die alphabetische,<br />
«lexikalische» Anordnung.<br />
Am Ende stehtein Gedicht, «Zittern», das<br />
nach dem Muster von Brechts berühmtemPoem<br />
«Vergnügungen» beängstigende<br />
Vorstellungen aneinanderreiht: «Den<br />
eigenen Bruder mitdem falschen N<strong>am</strong>en<br />
begrüssen. /Den Hund in der Tür zerquetschen.<br />
/Schweigend beim Essen sitzen.<br />
/Streitend beim Essen sitzen. /Gar<br />
nicht beim Essen sitzen. /ImRestaurant<br />
deutlich hörbar furzen müssen. /Einen<br />
Körperteil abgetrennt bekommen. /Sich<br />
beim Verwelken zusehen.»<br />
Die Schlusszeile lautet lakonisch: «Zittern,<br />
einfach so.» Die gleichmütige Haltung,<br />
mitder hier Schlimmes und Harmloses<br />
auf einer Ebene abgehandelt wird,<br />
bestimmtauch den Tonder Geschichten.<br />
Da ist die Frau, die an Verfolgungswahn<br />
leidet und ihren Vermieter verdächtigt,<br />
heimlich ihre Unterwäsche zu entwenden.<br />
Da ist der Mann, der beständig «ein<br />
hohes Sirren von elektronischer Gleichförmigkeit<br />
im linken Ohr» hört und<br />
Erlösung allenfalls im «wohltuenden<br />
Brausen» des Stadtverkehrs findet. Die<br />
Gedanken- und Gefühlswelt dieser<br />
AnnettePehnt kleidet fixe Ideen, die uns im Alltag begleiten, in bisweilen<br />
surreale Geschichten.<br />
Unglücksfiguren wird mit der gleichen<br />
unpathetischen Aufmerks<strong>am</strong>keit dargelegt<br />
wie diejenige der «Gesunden», die<br />
nur schüchtern sind oder verbreitete fixe<br />
Ideen pflegen (die brennende Herdplatte).<br />
Vor dem Auge dieser Erzählerin<br />
haben alle Ängsteihreeigene Würde.<br />
Lohnende Spracharbeit<br />
Bewusst mischt Pehnt auch ausgesprochen<br />
surreale Geschichten darunter.<br />
Eine Frau bekämpft ihre Weltangst,<br />
indem sie sich einen «schiefen Indianer»<br />
zulegt, der nur leider nicht spricht und<br />
sogleich, einer verwelkten Pflanze<br />
gleich, an ihrer Seite einschläft. Ein<br />
«Die tragische Biografie hat das Zeug zu einem Roman.» Schweizer Illustrierte<br />
Sie war die selbstbewusste Tochter eines mächtigen<br />
Pioniers, die unterforderte Ehefrau eines<br />
farblosen Bundesrat-Sohnes sowie für wenige Tage<br />
glückliche Geliebte eines leidenschaftlichen<br />
Künstlers, mit dem gemeins<strong>am</strong> sie die Flucht nach<br />
Rom ergriff: Lydia Welti-Escher. Doch der Preis<br />
für den Versuch eines selbstbestimmten Lebens<br />
war ihr früher Tod.<br />
Joseph Jung<br />
Lydia Welti-Escher (1858–1891)<br />
Mit einer Einführung<br />
von Hildegard Elisabeth Keller<br />
Neuausgabe 2013. 270 Seiten,<br />
153 Abbildungen, Halbleinen<br />
Format 17 ×24cm<br />
Fr. 39.–* /€34.–<br />
nzz-libro.ch<br />
8 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013
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GETTYIMAGES<br />
Mann fürchtetnichts mehr als den Schatten,<br />
den seine Mitmenschen und die<br />
Dinge um ihn herum werfen. Zu selten<br />
gelingt es Pehnt hier, das Absurde so ins<br />
Extrem zu treiben, dass es poetische<br />
Funken schlägt. Überzeugender sind die<br />
Passagen, in denen die ganz normalen,<br />
alltäglichen Ängste sinnlich spürbar gemachtwerden.<br />
Worin verdichtetsich der<br />
Widerwille der Frau gegendie Einladung<br />
zum nachbarlichen Grillfest? In der Erinnerung<br />
anihren ersten Besuch, bei dem<br />
man ihr, kaum dass sie eingetreten war,<br />
«schon etwas zwischen die Finger geschoben<br />
hatte, L<strong>am</strong>mkotelett in einer<br />
Serviette,diesich<strong>am</strong>heissenFleischrand<br />
auflöste, jemand goss ihr Ketchup über<br />
die Hand, lass es dir schmecken, wie<br />
heisst du eigentlich, du wohnst da drüben,<br />
wirhaben was zu feiern».<br />
Wastut eine Mutter,die ihren Sohn zu<br />
verlieren fürchtet, nicht plötzlich, durch<br />
einen Unfall, sondern ganz selbstverständlich<br />
durchs Erwachsenwerden? Sie<br />
beginnt, an ihm zu riechen, wenn er<br />
abends nach Hause kommt, auf der<br />
Suche nach Spuren von Nikotin, Alkohol<br />
oder anderen Drogen. «Aber er wich zurück<br />
und wolltenichtmehr umarmtwerden,<br />
und so presste sie nur seine Kleider<br />
an ihr Gesicht, bevor sie in die Wäsche<br />
k<strong>am</strong>en, atmetetief ein und schämte sich<br />
ihres Verdachts und roch doch nur den<br />
sauren Achselschweiss eines Mannes,<br />
der neulich noch ein Kind gewesen war.»<br />
In solchen Abschnitten, solchen Gesten<br />
nehmen gerade die unscheinbaren<br />
Ängste literarische Gestalt an. «Man<br />
kann an allem arbeiten, auch an der<br />
Angst», sagt eine der Figuren. Pehnts<br />
Buch zeigt, dass die Spracharbeitder lohnendsteWeg<br />
ist. ●<br />
Manon Lescaut isteine Femme fatale,die ihreLiebhaber ins Unglück reisst.ImBild eine Kurtisane des 19.Jahrhunderts, gemalt<br />
vonEugene Delacroix.<br />
Roman Abbé Prévosts berühmte,vielleichtbiografischeLiebesgeschichte<br />
GetriebenvonGierundLuxus<br />
Abbé Prévost: Manon Lescaut. Ausdem<br />
Französischen vonJörgTrobitius.<br />
Manesse, Zürich 2013. 384 Seiten,<br />
Fr.34.90.<br />
VonStefana Sabin<br />
Er war ein Dichter-Abenteurer wie Casanova<br />
und Da Ponte und wechselte zwischen<br />
einer militärischen und einer<br />
geistlichen Existenz: Antoine-François<br />
Prévost d’Exiles, 1697–1763, musste aus<br />
Paris fliehen, ging zuerst nach London,<br />
dann nach Holland und veröffentlichte<br />
dort 1731 die «Histoire duChevalier des<br />
Grieux et de Manon Lescaut». Obwohl er<br />
zwanzig Romane schrieb, ist sein Ruhm<br />
mit diesem einen eher schmalen Band<br />
verbunden. Vielleicht hat Prévost darin<br />
die Erlebnisse eines Freundes, des Herzogs<br />
von Brancas, oder gar seine eigene<br />
fulminante Affäre mit der Haager Kurtisane<br />
Lenki Eckhardt verarbeitet –jedenfalls<br />
hat ereine spannungs- und emotionsgeladene<br />
Geschichte gesponnen,<br />
deren Abenteuereinlagen an die Robinsonaden<br />
des 17. und deren Seeleneinblicke<br />
an die Liebesromane des<br />
18. Jahrhunderts anknüpfen.<br />
Prévost beschreibt eine verhängnisvolle<br />
Affäre: DerChevalier des Grieux ist<br />
in die Lebed<strong>am</strong>e Manon Lescaut derart<br />
verliebt, dass er trotz Lügen, Täuschungen<br />
und Erniedrigungen immer wieder<br />
zu ihr zurückkehrt und ihr auf einem<br />
Wegfolgt, der zwar mit erfüllten Liebeserlebnissen<br />
gepflastert ist, aber gleichwohl<br />
ins Gefängnis und zur Deportation<br />
in die <strong>Neue</strong> Welt führt.<br />
Manon ist eine Femme fatale, die ihre<br />
Liebhaber und sich selbst ins Unglück<br />
reisst. Von einer unbändigen Gier nach<br />
Luxus und Unterhaltung getrieben,<br />
kennt sie weder Empathie noch Güte –<br />
noch Reue. Schliesslich bezahlt sie für<br />
ihr ausschweifendes Leben mitdem Tod.<br />
Es ist der verliebte Chevalier, der als Erzähler<br />
fungiert und von seiner Liebe zu<br />
Manon Lescaut und seinen Abenteuern<br />
mit ihr erzählt –ein dankbarer Opernstoff,<br />
wie die zahlreichen Vertonungen<br />
von Auber, Massenet, Puccini bis hin zu<br />
Henzebezeugen.<br />
Schon 1756 erschien die erste deutsche<br />
Übersetzung, der in regelmässigen<br />
Zeitabständen weitere folgten. Nun hat<br />
Jörg Trobitius den Roman vonPrévost in<br />
ein spars<strong>am</strong>-schmiegs<strong>am</strong>es Deutsch gebracht.<br />
●<br />
EUGENE DELACROIX /LOUVRE<br />
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24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 9
Belletristik<br />
Roman HervéLeTellier erzähltmit Humor und Raffinementvon derLeidenschaft<br />
einesJournalisten<br />
EinMannsuchtdieGeliebteseinesFreundes<br />
HervéLeTellier:Neun Tage in Lissabon.<br />
Ausdem Französischen vonJürgenund<br />
Romy Ritte. Deutscher Taschenbuch<br />
Verlag, München 2013. 278 Seiten,<br />
Fr.21.90,E-Book 14.90.<br />
VonMartin Zingg<br />
Lissabon, im September 1985. Auf der<br />
Agenda der europäischen Medien steht<br />
in jenen Tagender Prozess gegenRicardo<br />
Pinheiro, einen Serienmörder. Vincent<br />
Balmer,Portugalkorrespondenteiner Pariser<br />
<strong>Zeitung</strong>, soll aus dem Gerichtssaal<br />
darüber berichten, zus<strong>am</strong>men mit António<br />
Flores, der als Fotograf arbeitet und<br />
Fotografie Stars,Mode, Kunst<br />
Paare haben ihre eigene Dyn<strong>am</strong>ik. Wieman nach solider<br />
Partnerschaft immer noch aufeinander fliegen kann,<br />
zeigen Inezvan L<strong>am</strong>sweerde und Vinoodh Matadin. Das<br />
niederländische Fotografenpaar lebtund arbeitet seit<br />
siebzehn Jahren zus<strong>am</strong>men und hatsich für unkonventionelle<br />
Bilder zwischen Kunstund Mode einen N<strong>am</strong>en<br />
gemacht.Gleich, ob sie die Sängerin Björk porträtierten<br />
oder eine Werbek<strong>am</strong>pagne für Givenchyschossen, stets<br />
haben sie das Spiel mit Erwartungen und Klischees<br />
kultiviert.Ein wenig Verrücktheit gehörtimLifestyle-<br />
Bereich zu den Musts. So darfdie D<strong>am</strong>e auf dem Selbstporträt<br />
«MeKissing Vinoodh (Eternally)» von2010<br />
(s.Bild) auch einmal ganz konventionell den wilden,<br />
nacktenParts<strong>am</strong>t Ganzkörperbemalung übernehmen<br />
und der Mann schön zurückhaltend bleiben. Der Band<br />
10 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013<br />
nach langer Zeit wieder in seine Heimatstadt<br />
zurückkehrt.<br />
Die beiden lassen sich in einem Hotel<br />
nieder –und hier setzt Hervé LeTelliers<br />
Roman «Neun Tage in Lissabon» ein. Erzählt<br />
wird er von Vincent, und zwar 26<br />
Jahre später, gestützt auf Notizen aus<br />
dem Jahr 1985, dem Jahr, als Italo Calvino<br />
starb und in Mexikodie Erde bebte.<br />
Vincentarbeitetinjener Zeitanzweiliterarischen<br />
Projekten. Zum einen übersetzt<br />
er täglich kurze Prosastücke eines<br />
gewissen Jaime Montestrela, bizarre Anekdoten.<br />
Montestrela – eine Erfindung<br />
Le Telliers, die es übrigens, wie somanche<br />
Fiktion, zu einem echtenWikipedia-<br />
Eintrag gebracht hat –kommt imRoman<br />
«Pretty Much Everything» vers<strong>am</strong>melt vonden Körpermanipulationen<br />
der neunziger Jahre bis zumHorrorporträt<br />
vonJulianne Moore 2011 alles, wasdas Fotografenpaar<br />
in Werbung und Kunstberühmt und begehrtgemacht<br />
hat.Nach der Luxusausgabe für die Reichen<br />
und Angesagten istder muntere Band nun auch für<br />
uns Normalos erhältlich. Zur Sicherheit im Flexi-Einband<br />
und im Schuber.Könntejasein, uns fällt beim Blättern in<br />
der Küche die Kinnlade runter,und der Kaffee sabbert<br />
aufsBuch. Dann kann man das einfach abwischen. Das<br />
Fotografenduo hatsich auch hier nach allen Seiten abgesichert.Gerhard<br />
Mack<br />
Inezvan L<strong>am</strong>sweerde,Vinoodh Matadin: Pretty Much<br />
Everything. Taschen, Köln 2013. 704Seiten, zahlreiche<br />
Abbildungen, Fr.66.90.<br />
immer wieder zu Wort, zus<strong>am</strong>men mit<br />
seinem HeteronymJaime Caixas, der berührende<br />
Gedichte hinterlassen hat. Wir<br />
sind in der Stadt Pessoas. Und Hervé Le<br />
Tellier ist aktiv beim «Oulipo», dem<br />
«Ouvroir de littérature potentielle», der<br />
Werkstatt für potenzielle Literatur, zu<br />
der einst auch Italo Calvino und Georges<br />
Pereczählten.<br />
Vincent übersetzt nicht nur, ermüht<br />
sich auch ab miteinem Roman, der in der<br />
Zus<strong>am</strong>menfassungziemlich schwurbelig<br />
erscheint. Und er ist ein Mensch, das<br />
wird schon bald einmal deutlich, dem<br />
bisher nichts richtig gelingen wollte.<br />
Nach Lissabon ist er gezogen, weil die<br />
Liebe zu Irene seit ihren Anfängen eine<br />
verkorkste Sache geblieben ist. Sie kann<br />
seine Leidenschaft nicht erwidern, und<br />
er verzehrt sich nach ihr.<br />
Lissabon verspricht Distanz. Mit Empathie<br />
hört er António zu, der vonseiner<br />
Lissaboner Jugendliebe erzählt, von<br />
«Pata», wie sie sich nannte, «Ente». Vincent<br />
erfährt von einer glühenden Liebe,<br />
die auch zu tun hatte mit dem «Carro<br />
eléctrico», der legendären Strassenbahn<br />
Lissabons. Dem«Eléctrico W» –den es als<br />
Linie nicht gibt, aber mit dem «W» an<br />
Georges Perecs «Woder die Kindheitserinnerungen»<br />
erinnert –ist der junge António<br />
seinerzeitnachgerannt, als die beiden<br />
erstmals aufeinander getroffen sind.<br />
Irgendwann wurde Pata von ihm<br />
schwanger, und d<strong>am</strong>als war die Moral rigide,<br />
die Diktatur vonSalazar noch lange<br />
nicht <strong>am</strong>Ende. Der Vater brachte seine<br />
Tochterbei Verwandten unter, und António<br />
zognach Paris, die beiden Liebenden<br />
verloren sich aus den Augen. Inzwischen<br />
ist er längst mit einer anderen Frau zus<strong>am</strong>men,<br />
aber diese scheint, wieAntónio<br />
gelegentlich andeutet, ziemlich anstrengend<br />
zu sein.<br />
Heimlich beginnt Vincent, nach Pata<br />
zu suchen: Vielleichtkann er,dem in Sachen<br />
Liebe nichts glücken will, für andere<br />
nach Jahrzehnten etwas retten. Zugleich<br />
kündigt Antónios Freundin ihren<br />
Besuch in Lissabon an –dass es ausgerechnet<br />
Irene ist, bringt den Erzähler und<br />
d<strong>am</strong>it den Roman gehörig in Fahrt. Er<br />
will der einst Geliebten nicht zunahe<br />
kommen, und das steuert ihn in etliche<br />
komische Situationen, die Le Tellier seinen<br />
Erzähler auf wunderbare Weise inszenieren<br />
und berichten lässt. Das von<br />
Vincentziemlich naivangestrebteHappy<br />
End kann es indes nicht geben, und mit<br />
Irene hatinzwischen auch António seine<br />
Mühe.<br />
«Alle schlechten Romane ähneln sich,<br />
aber jeder gute Roman ist auf seine Art<br />
gelungen», heisst es <strong>am</strong> Schluss in einer<br />
kleinen Tolstoi-Anspielung. Vincent Balmer<br />
und seinem Schirmherrn Le Tellier<br />
ist es tatsächlich gelungen, einen guten,<br />
ja höchst vergnüglichen, sprachspielund<br />
anspielungsreichen Roman aus den<br />
Notizen zu heben. Und Jürgenund Romy<br />
Ritte haben ihn auf präzise und bewundernswert<br />
elegante Weise aus dem Französischen<br />
ins Deutsche übersetzt. ●
Prosa DerinUster lebendeAutor<br />
Dieter Zwickyerweistsich wiedereinmal<br />
als phantasievoller Sprachkünstler<br />
Warten<br />
aufRobert<br />
Dieter Zwicky:Slugo. Ein Privatflughafengedicht.<br />
Edition pudelundpinscher,<br />
Erstfeld 2013. 160 Seiten, Fr.28.-.<br />
VonBruno Steiger<br />
Die Frage nach einer vergleichbaren<br />
«stofflichen» Essenz vonWelt, Wahrnehmung<br />
und Sprache beschäftigte Dieter<br />
Zwicky schon in seinem 2002 erschienenen<br />
ersten Buch. «Der Schwan, die Ratte<br />
in mir» lautete der Titel der S<strong>am</strong>mlung<br />
von lyrischer Kurzprosa; als «Buchwunder»<br />
feierte die einschlägige Kritik<br />
das Debüt des d<strong>am</strong>als 45-Jährigen. In all<br />
den äusserst sinnlichen Meditationen<br />
etwa über die verheerende Schönheit<br />
von verirrten Brieftauben und höhnisch<br />
gestimmten Gartenzwergen zeigte sich<br />
eine Imaginationskraft, die als absolut<br />
einzigartig wahrgenommen wurde. Ob<br />
man es mit Sur- oder gar Pararealismus<br />
zu tun hatte, liess sich nichtschlüssig beantworten;<br />
dasselbe galt auch für die<br />
nachfolgenden Bücher, mit denen Zwicky<br />
seine Position als exorbitanter, sich<br />
jeder simplen Enigmatik enthaltender<br />
Wortkünstler zu festigen vermochte.<br />
Wasbloss bedeutetSlugo?<br />
Dem Befund, Zwicky schreibe ausserhalb<br />
aller herkömmlichen Raster, begegnet<br />
der Autor nun mit der Etablierung<br />
eines neuen Genres. Als «Privatflughafengedicht»<br />
deklariert er sein Buch.<br />
Wasesd<strong>am</strong>itauf sich hat, wird schon im<br />
ersten Absatz deutlich –und wie! «Judith,<br />
das Essen ist fertig! /Ich rufe so<br />
froh, so frisch, weil ich auf dem Flughafen<br />
koche.» Man liest solches beinah<br />
schaudernd vor Freude, hier aber soll<br />
vorerst Inhaltliches zur Sprache kommen,<br />
mit einem Blick auf Dieter Zwickys<br />
Personal. Es ist Bodenpersonal in jedem<br />
Sinn des Wortes. Es setzt sich –auch wo<br />
man ab und an «in Dreierkolonne» auf<br />
dem Dach des Hangars zu stehen meint<br />
– aus gerade mal zwei Leuten zus<strong>am</strong>men:<br />
dem erzählenden Koch und seiner<br />
Frau Judith.<br />
Alles, was man Nebenfigur nennen<br />
könnte, hat sich vom Flughafen abgesetzt.<br />
Dies gilt für den «näselnden» Sohn<br />
Geoffrey ebenso wie für die beiden Stewards<br />
n<strong>am</strong>ens Brian und Holland, als<br />
«ausrangierte Flugplatzgeister» werden<br />
sie bezeichnet. Deneinzigen die Stellung<br />
Haltenden bleibt das Warten auf den<br />
Südafrikaner Robert, der mit dem<br />
«Nachmittagsflugzeug» eintreffen soll.<br />
Als «kirchliches Geschäft» betrachtenJudith<br />
und der Koch ihr Warten im ewigen<br />
Nachmittag des Flughafens. Die Zeitvertreiben<br />
sie sich mit Spekulationen über<br />
den Verbleib von Roberts Bruder Jean,<br />
Ein Hangar spielt im<br />
neuen Roman von<br />
Dieter Zwicky eine<br />
zentrale Rolle: Er<br />
istSperrbezirk und<br />
Spielfeld in einem.<br />
mit allerlei Betrachtungen über die Tierund<br />
Pflanzenwelt des Areals, mit der<br />
Frage, ob sich ein Wort wie «hochwirks<strong>am</strong>»<br />
träumen lässt –und mit dem Verzehr<br />
von«Slugo-Crackers».<br />
Womit wir beim Buchtitel und der<br />
Frage wären, was «Slugo», so es denn<br />
mehr wäre als bloss eine Art Jokerwort,<br />
sein und bedeuten könnte. Es bleibt<br />
lange offen; erst gegenSchluss des Buchs<br />
gibt der Koch seiner Erkenntnis Ausdruck,<br />
dass das Wort «kraft seiner Kürze<br />
von seinem Gehalt eigentümlich ablenkt».<br />
Nach einem denkbar knapp gehaltenen<br />
Exkurs zum Begriff «Verkürzung»<br />
wird er konkreter:«Slugoversteckt<br />
sich, es schiebt Schottland vor, Scotland.<br />
Slugonimmt sich einen Fjord und steckt<br />
Scotland direkt ans spitze Fjordende:<br />
Slugo. /Oder kanadische Waffeln. /Oder<br />
kanadisches Süssbrot, in das mittels<br />
Einwegpipetten vit<strong>am</strong>intechnisch wertvolle<br />
Lachssekrete eingespritzt worden<br />
sind.»<br />
Das ist nicht in irgendeine überinstrumentierte<br />
Beliebigkeit durchgesackte<br />
Metaphorik, das ist Zwicky-<br />
Sound in Vollendungund d<strong>am</strong>itsoetwas<br />
wie Klartext pur. Gleichwohl sieht man<br />
sich, als kritischer Leser und Agent eines<br />
Vermittlungsauftrags, herausgefordert,<br />
«Slugo», dem Wort wie der d<strong>am</strong>it bezeichneten<br />
Sache, auf den Grund zu<br />
gehen. Wenn man weiss, dass Zwicky in<br />
Theologie ebenso bewandert ist wie in<br />
philosophischen Fragen, bietet sich zuallererst<br />
eine allegorische Lesart an.<br />
Darin könnte Slugo als erste und eigentliche<br />
Ursubstanz der Materie gesehen<br />
werden, als etwas, was dem innersten<br />
Kern der Schöpfung Masse und Bestand<br />
verleiht. Eine mindestens ebenso plausible<br />
Interpretation ergibt sich aus der Recherche<br />
im Netz, wo das Wort als N<strong>am</strong>e<br />
einer Firma auftaucht, die «alternative»<br />
Bauklötzchen für Drei- bis Sechsjährige<br />
anbietet.<br />
In beiden Versionen bestätigt sich der<br />
Eindruck, dass Dieter Zwicky seinen<br />
Flugplatz als geschütztes, vollständig separiertes<br />
Spielfeld angelegt hat, als<br />
Sperrbezirk im Grunde, in welchem endlich<br />
einmal alles möglich werden darf,<br />
Betonung auf möglich. So kann er denn<br />
auf das, was man gemeinhin Handlung<br />
nennt, grosszügig verzichten. Er beschränkt<br />
sich auf die Entfaltung eines<br />
Settings. In einer ingeniösen Dr<strong>am</strong>aturgie<br />
vielfältig geschichteter Zeitverläufe<br />
hält er sich vorzugsweise an ein selbstvergessenes<br />
Abschweifen, in welchem<br />
«Slugo» als essenzieller blinder Fleck<br />
alles Sagbaren Gestalt annimmt.<br />
Wollüstige Höhenflüge<br />
In dem augenscheinlich schwer zubändigenden<br />
dunklen Enthusiasmus, der in<br />
und zwischen den Zeilen wirkt, erlaubt<br />
sich der Autor nebst so manchen fast<br />
wollüstig zelebrierten sprachlichen Höhenflügen<br />
immer wieder auch lapidare<br />
Einwürfe von geradezu monströser Erhabenheit.<br />
«Judith atmete. /Ich atmete.»<br />
Gerade bei solchen Sätzen kann man nur<br />
noch leer schlucken. Das dumme Wort<br />
Lesevergnügen darf bei diesem Buch unausgesprochen<br />
bleiben, das Lesen, das<br />
Sich-Einverleiben von «Slugo» bewirkt<br />
viel, viel mehr: Esmacht schlicht und<br />
einfach froh. ●<br />
24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 11<br />
RALF MEYER /VISUM
Belletristik<br />
Romanzyklus DerSchweizer AutorOttoFrei(1924–1990) verewigteinfünf Büchern seine frühen Jahre<br />
in Steckborn <strong>am</strong> Bodensee<br />
MonologendetimVatermord<br />
OttoFrei: Bissich Nacht in die Augen senkt.<br />
Die Steckborner Pentalogie. Hrsg. Charles<br />
Linsmayer. ReprintedbyHuber,<br />
Frauenfeld2013. 520 Seiten, Fr.41.90.<br />
VonManfred Papst<br />
Der Ostschweizer Schriftsteller Otto Frei<br />
zählt zu den zu Unrecht vergessenen<br />
Schweizer Autorendes 20.Jahrhunderts.<br />
Er war neben seiner Tätigkeitals langjähriger<br />
Korrespondentder «<strong>Neue</strong>n Zürcher<br />
<strong>Zeitung</strong>», für die er aus Berlin, Rom und<br />
dem Welschland berichtete, auch ein<br />
fruchtbarer Erzähler. Der 1924 als Sohn<br />
eines katholischen Holz- und Obsthändlers<br />
in Steckborn geborene Autor, der die<br />
Kantonsschule Frauenfeld besucht und<br />
in Zürich und Paris Geschichte sowie<br />
Germanistik studiert hatte, wirkte von<br />
1951 bis 1989für die NZZ.<br />
Seiner Heimat <strong>am</strong>Bodensee hat Otto<br />
Frei fünf schmale, höchst unterschiedliche<br />
Bücher gewidmet, die nun erstmals<br />
in einem Band der verdienstvollen Reihe<br />
«Reprinted byHuber» vorliegen. Natürlich<br />
verdanken wir diesen Fund einmal<br />
mehr dem so kundigen wie unermüdlichen<br />
Herausgeber Charles Linsmayer. Er<br />
stellt in seinem 85-seitigen, illustrierten<br />
Nachwort, das den Rangder bislangbesten<br />
und gründlichsten Frei-Monografie<br />
beanspruchen darf, das Schaffen seines<br />
Protagonisten umsichtig in den Kontext<br />
der Zeit. Zu Rechtwürdigt er die thematische<br />
und stilistische Vielfalt von Freis<br />
Schreiben, in dem sich Tragik, Humor<br />
und markige Fabulierfreude verbinden<br />
und das neben dem Steckborner Zyklus<br />
den Genfersee-Roman »Dorf <strong>am</strong> Rebhang«<br />
(1974), den Erzählband »Berliner<br />
Herbst« (1979) und die kritische Kurort-<br />
Darstellung»Abschied in Zermatt« (1980)<br />
umfasst.<br />
12 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013<br />
Der angehende JournalistOttoFrei, frisch verliebt,mit seiner FrauRuth<br />
Zimmerli 1949 in Venedig.<br />
NZZ-AutorwirdRomancier<br />
Linsmayers besonderes Augenmerk gilt<br />
indes dem biografisch grundierten Werk<br />
des Autors. Es besteht aus den Publikationen<br />
«Jugend <strong>am</strong> Ufer» (1973), «Beim<br />
Wirt <strong>am</strong> scharfen Eck» (1976), «Zu Vaters<br />
Zeit» (1978), «Bis sich Nachtindie Augen<br />
senkt» (1982) sowie «Rebell» (1987). Die<br />
fünf Bücher sind nun als «Steckborner<br />
Pentalogie» endlich wieder lieferbar,und<br />
sie laden dazu ein, Otto Frei, den welschen<br />
Alemannen und Thurgauer Romand,<br />
neu zu lesen.<br />
Otto Frei war schon 49 Jahre alt, als<br />
sein literarischer Erstling erschien, und<br />
er wurde von der Kritik kaum wahrgenommen.<br />
Für die meisten nahmen sich<br />
Freis Bücher, wie Linsmayer treffend<br />
schreibt, als «unzeitgemässe, harmlosburleske,<br />
ländlich provinzielle Unterhaltungsliteratur<br />
aus, Resultate der Freizeitbeschäftigung<br />
eines politischen Redaktors,<br />
der, wie man herablassend anzutönen<br />
nichtverfehlte, offenbar nach höherenWeihen<br />
strebte». Hinzu k<strong>am</strong> ein Politikum:<br />
Als NZZ-Mann stand Frei in der<br />
d<strong>am</strong>als von links engagierten Autoren<br />
wie Frisch, Muschg und Diggelmann<br />
geprägten Schweizer Literaturszene auf<br />
der falschen Seite, auf jener des konservativen<br />
Bürgertums nämlich. Über die<br />
Studentenunruhen in Berlin schrieb er<br />
derart negativ, dass es selbst der NZZ zu<br />
viel wurde; sie rief ihren Mitarbeiter in<br />
die Schweiz zurück.<br />
Bürgertum hin oder her:Epische Breite<br />
war nicht Otto Freis Fall. Vielmehr<br />
pflegteereinen schmucklosen, an seinen<br />
grossen welschen Kollegen Charles-Albert<br />
Cingria erinnernden Stil. Er beschrieb<br />
in kurzen Sätzen knappe Szenen,<br />
zog Dialoge Beschreibungen vor. Seine<br />
fünf autobiografischen Bücher sind<br />
gleichwohl sehr unterschiedlich. Die<br />
nostalgische Kindheitserzählung «Jugend<br />
<strong>am</strong> Ufer» und die Schilderung der<br />
Studienjahre in«Zu Vaters Zeit» sind in<br />
einem lockeren, episodischen Stil gehalten.<br />
In den anderen drei Bänden ist die<br />
Textur dichter, Träume und Reflexionen<br />
erweitern die Erzählung, und der abschliessende<br />
«Rebell» enthält einen heftigen<br />
inneren Monolog, der im Vaterund<br />
Sohnesmordendet.<br />
Freis ganze Pentalogie schildert den<br />
K<strong>am</strong>pf eines Sohnes mit seinem übermächtigen<br />
Vater, einem von der bäuerlichen<br />
Welt geprägten Unternehmer und<br />
passionierten Jäger ohne intellektuelle<br />
Ankränkelung. Der Sohn ist der erste in<br />
der F<strong>am</strong>ilie, der die Matura macht und<br />
studiert –zum Missfallen des Vaters, der<br />
sich unter dem Fach Geschichte nichts<br />
vorstellen kann und sich erst durch die<br />
Erklärung des Sohnes beruhigen lässt,<br />
man könne d<strong>am</strong>it Professor in Frauenfeld<br />
werden.<br />
Ewiger Aussenseiter<br />
Das Jahr 1949 markiert die entscheidende<br />
Zäsur in Otto Freis Leben. Am Neujahrstag<br />
stirbt der Vater mit knapp 65<br />
Jahren. Der Sohn hat diesen Tod immer<br />
wieder literarisch geschildert –und jedes<br />
Mal anders. Nun erst fühlt er sich frei.<br />
Die Doktorprüfung hat er abgelegt, das<br />
Diplom für das höhere Lehr<strong>am</strong>t erworben;<br />
zudem hatermit Ruth Zimmerli die<br />
Frau seines Lebens kennengelernt. Er<br />
wird Volontär bei den «Schaffhauser<br />
Nachrichten», bereist Italien, Frankreich,<br />
England, versucht sich als Dr<strong>am</strong>atiker –<br />
und landet bei der NZZ. Willy Bretscher<br />
stellt ihn ein. Fünfzehn Jahre lang berichtet<br />
Frei aus Berlin, unterbrochen lediglich<br />
durch eine einjährige Stellvertretung<br />
in Rom. Dann wird er von Fred<br />
Luchsinger zum Welschland-Korrespondenten<br />
berufen. Er zieht inden Weiler<br />
Bursinel bei Lyon. Dort wird er zum Romancier.<br />
Doch die Suche nach einem<br />
Verleger gestaltet sich schwierig. Es ist<br />
schliesslich kein Geringerer als Friedrich<br />
Dürrenmatt,der ihn in seinem Verlag unterbringt<br />
–inPeter Schifferlis «Arche».<br />
Klara Obermüller, d<strong>am</strong>als 33 Jahre alt,<br />
bespricht «Jugend <strong>am</strong> Ufer» in der NZZ.<br />
DerAutor liest die Rezension als «höflich<br />
verschleierten Verriss».<br />
Der 1978 erschienene Band «Zu Vaters<br />
Zeit» findet dagegen breite Zustimmung.<br />
Gleichwohl bleibt Otto Frei zeit seines<br />
Lebens ein Aussenseiterdes Literaturbetriebs,<br />
wieCharles Linsmayer, der als d<strong>am</strong>aliger<br />
Lektor des Arche-Verlags die Geschichte<br />
aufs Genaueste kennt, darlegt.<br />
Gewiss: Otto Frei war ein poeta minor.Es<br />
lohnt sich dennoch, ihn zu lesen: aus literarischen<br />
wie aus zeitgeschichtlichen<br />
Gründen. Und auch Psychologen dürften<br />
in dieser Bewältigung eines Sohn-Vater-<br />
Konflikts ihrefette Beutefinden. ●
E-Krimi desMonats<br />
Horror einer Bilderbuchehe<br />
Kurzkritiken Belletristik<br />
Gillian Flynn: Gone Girl. Das perfekte<br />
Opfer.Aus dem Amerikanischen von<br />
Christine Strüh. Fischer Scherz,<br />
Frankfurt 2013. 576Seiten, Fr.25.90,<br />
E-Book Fr.18.–.<br />
Charles Bukowski: Dasweingetränkte<br />
Notizbuch. Fischer,Frankfurt a. M. 2013.<br />
350 Seiten, Fr.28.90,E-Book 22.–.<br />
PedroLenz: Ibimeh aus eine. Cosmos 2013.<br />
75 Seiten, Fr.25.90.Als Hörbuch, mit<br />
Patrik Neuhaus <strong>am</strong> Piano: Fr.29.–.<br />
«Vermutlich hängensolche Fragen wie<br />
Gewitterwolken über jeder Ehe: Woran<br />
denkst Du?Wer bist Du?Was haben wir<br />
einander angetan?Was werden wir<br />
noch tun?» Diese Gedanken stolpern<br />
Nick Dunne durch den Kopf –<strong>am</strong>Tag,<br />
an dem seine Frau Amyverschwindet.<br />
Es ist ihr fünfter Hochzeitstag, an dem<br />
die Lifestyle-Fassade ihrer Leben zerbrichtund<br />
der Hass, der dahinterlauert,<br />
zum Vorschein kommt.<br />
Ein klassischer Thriller ist «Gone<br />
Girl» vonGillian Flynn nicht, eher ein<br />
hochspannendes Psychogr<strong>am</strong>m einer<br />
Ehe mitkriminalistischem Hintergrund.<br />
Aufgebaut ist der Plot als Parallelmontagezweier<br />
sich abwechselnder<br />
Ich-Erzählungen–baldberichtetAmy,<br />
teils in Form vonTagebucheinträgen,<br />
baldberichtetNick. Amyund Nick, das<br />
sind zwei trendigeMittdreissiger mit<br />
LuxusappartementinNew York, mit<br />
Jobs in der Medienbranche, sie führen<br />
eine Vorzeige-Ehe in einem Bilderbuchleben.<br />
Bis beide ihreStelle verlieren.<br />
Das Geld reichtnichtmehr für die<br />
Wohnung, nichtmehr für das teure<br />
Hipster-Leben. Und so ziehen sie weg,<br />
in die Kleinstadt, in der Nick gross geworden<br />
ist. Wo er untertrendigem<br />
N<strong>am</strong>en eine alteBar neu eröffnet. Und<br />
wo sein Untergangbeginnt. Weil sich<br />
die Oberflächlichkeitihres New Yorker<br />
Lebens im Kleinstadtalltag nichtaufrechterhalten<br />
lässt und sich plötzlich<br />
zeigt, dass der Partner die Idealvorstellungendes<br />
anderen nichterfüllt.<br />
Eines Tagesist Amyweg. Im Haus<br />
finden sich Spuren eines K<strong>am</strong>pfes. Nick<br />
gerätunter Verdacht. Es gibt Lügen. Es<br />
gibt Intrigen. Aber es gibt keine Leiche.<br />
Und <strong>am</strong> Schluss ist vieles anders, als<br />
man denkt. Das Buch ist ein eigentlicher<br />
Wettstreitzweier unzuverlässiger<br />
Erzähler,denen man beiden nichtso<br />
rechtglauben mag, und die um das Vertrauen<br />
der Leser buhlen. Amyund Nick<br />
schildern die an sich gleiche Geschichte,die<br />
aus den unterschiedlichen Perspektivennichtein<br />
und dieselbe ist.<br />
Langebleibt unklar,was <strong>am</strong> Tagvon<br />
Amys Verschwinden geschah. Derrasante<br />
Perspektivenwechsel deckt Stück<br />
um Stück den Horror auf,der sich in<br />
der Beziehungvon Amyund Nick eingenistet<br />
hatund ihreLeben kaputtzumachen<br />
droht. Dieser ist<br />
umso verstörender,als in<br />
ihrer Ehe viel Normalitätsteckt.<br />
Letztlich<br />
geht es darum, wie<br />
zwei, die sich einst<br />
liebten, so sehr voneinander<br />
entfernen<br />
können. Und um<br />
die Frage, ob man<br />
seinen Partner<br />
wirklich kennt.<br />
VonChristine<br />
Brand ●<br />
Charles Bukowski (1920–1994) war einer<br />
der unterhalts<strong>am</strong>sten Skandalautoren<br />
des 20. Jahrhunderts. Der in Deutschland<br />
geborene Amerikaner schöpfte aus<br />
seinem Leben in zahllosen schlecht bezahlten<br />
Jobs und dem Mix seiner Passionen:<br />
Alkohol, Sex, Pferderennen, klassische<br />
Musik. Er schildertesein verrücktes<br />
Leben in Los Angeles mit Lakonie und<br />
Witz –inGedichten, Storys und Romanen.<br />
Seit den späten 1970er-Jahren war<br />
Bukowski auch im deutschen Sprachraum<br />
ein Kultautor. Übersetzt wurde er<br />
über Jahrzehnte vonseinem Freund Carl<br />
Weissner (1940–2012). Dessen Verdienste<br />
in Ehren –esist gut, dass wir Bukowski<br />
nun auch einmal in anderer Auslegung<br />
lesen können. Malte Krutzsch hat «Das<br />
weingetränkte Notizbuch», einen 2008<br />
im Original erschienenen Band von<br />
«UncollectedStories and Essays» aus den<br />
Jahren 1944 bis 1990 mit Leidenschaft<br />
und Umsichtins Deutsche gebracht.<br />
ManfredPapst<br />
David Vogel: Eine Wiener Romanze. Roman.<br />
A. d. Hebräischen v. R. Achl<strong>am</strong>a. Aufbau,<br />
Berlin 2013. 316 S., Fr.33.90,E-Book 19.–.<br />
Michael Rost, 18 Jahrejung, verliess sein<br />
Elternhaus, weil er «neugierig auf sich<br />
selbst» war.Erkommtineine Grossstadt,<br />
wo sich ihm ein Millionär als Mäzen anbietet.<br />
Rost ergreift die Gelegenheit. Er<br />
mietet ein Zimmer bei der schönen Gertrud<br />
Stift und beginntmit ihr ein Liebesverhältnis,<br />
bis sich ihre 16-jährige Tochter<br />
inihn verliebt. Im letzten Kapitel erleben<br />
wireinen kaltschnäuzigen Michael<br />
Rost mit einer anderen Frau. Vermutlich<br />
hatte David Vogel, der 1891 in Podolien<br />
(Russisches Kaiserreich) zur Welt k<strong>am</strong><br />
und 1944 in Auschwitz ermordet wurde,<br />
den Text in den 1920er-Jahren in Paris<br />
verfasst und nicht abgeschlossen. Dafür<br />
spricht der Zustand des Manuskripts im<br />
Nachlass. Mit seiner «Wiener Romanze»<br />
zeigt uns Vogelein lebenspralles Bildvon<br />
Wien, wo er 1912 bis 1922 gelebt hat. Eine<br />
Entdeckung, die einen frösteln lässt ob<br />
der menschlichen Kälte.<br />
Regula Freuler<br />
«Andere Schriftsteller haben einen Brotjob<br />
als Lehrer. Mein Brotjob ist das Auftreten»,<br />
sagte Pedro Lenz neulich in<br />
einem Interview. Ein sauer verdientes<br />
Brot, denkt man mitBlick auf seine volle<br />
Agenda, die bis zu fünf Auftritte pro<br />
Woche aufführt. Aber der Berner Spoken-Word-Künstler<br />
und Mundart-Autor<br />
weiss es sich zu versüssen mit Bühnenpartnern.<br />
Einer von ihnen ist der Pianist<br />
Patrik Neuhaus. Zus<strong>am</strong>men treten sie<br />
seit 2002 als Duo «Hohe Stirnen» auf,<br />
«I bi meh aus eine» ist ihre fünfte Produktion.<br />
Erzählt wird die wahre Geschichte<br />
des Emmentalers n<strong>am</strong>ens Peter<br />
Wingeier, der in den 1860er-Jahren nach<br />
Argentinien auswandert und dort ein<br />
Dorf gründet. Lenz hatden Text so wunderbar<br />
rhythmisiert, dass viele Stellen<br />
wie Liedzeilen klingen. Die Geschichte<br />
böte Stoff zu üppigem Fabulieren, umso<br />
bedauerlicher, dass der Autor sich auf<br />
diese Kürzebeschränkt hat.<br />
Regula Freuler<br />
Rainer Malkowski: Aphorismen und kleine<br />
Prosa. Wallstein, Göttingen2013.<br />
123 Seiten, Fr.28.40,E-Book 19.–.<br />
Der in Berlin geborene Lyriker Rainer<br />
Malkowski (1939–2003) war in jungen<br />
Jahren als höchst erfolgreicher Werber<br />
tätig. Doch mit 33Jahren zog ersich völlig<br />
aus dem Betrieb zurück und lebte bis<br />
zu seinem Tod abgeschieden im bayrischen<br />
Brannenburg<strong>am</strong>Inn. In regelmässigen<br />
Abständen veröffentlichte er nun<br />
Lyrikbände, die ersten acht bei Suhrk<strong>am</strong>p,den<br />
letzten bei Hanser.Erwar ein<br />
Meister der kleinen Wahrnehmung und<br />
pflegte den freien Vers. Die Sorgfalt seiner<br />
Diktion k<strong>am</strong> ohne jede Überhöhung<br />
aus. Er gab dem brüchigen, fragmentierten<br />
Leben eine dichterische Form. Sein<br />
lyrisches Werk liegt bei Wallstein vor.<br />
Nun folgt als Nachlese ein wunderbarer<br />
kleiner Band mit Aphorismen und kleiner<br />
Prosa, «Was sein könnte, ist», lesen<br />
wir da. Mit einem emphatischen Nachwort<br />
herausgegeben wurdedas Buch von<br />
keinem Geringerenals Michael Krüger.<br />
ManfredPapst<br />
24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 13
Kinder- undJugendbuch<br />
Kurzkritiken<br />
GaryGhislain: Wieich JohnnyDepps<br />
Alien-Braut abschleppte. Fischer 2013.<br />
223 Seiten, Fr.21.90,E-Book 16.– (ab 12 J.).<br />
Oliver Scherz: Ben. Mitfarbigen<br />
Illustrationen. Thienemann, Stuttgart<br />
2013. 112 Seiten, Fr.19.90 (Vorlesen ab 5).<br />
Klassiker <strong>Neue</strong>Übersetzung<br />
DieSchatzinselin<br />
vollerLänge<br />
RobertLouis Stevenson: Die Schatzinsel.<br />
Hanser,München 2013. 384 Seiten,<br />
Fr.39.90,E-Book 29.90(ab 12 Jahren).<br />
Hörbuch, ungekürzteLesungvon Harry<br />
Rowohlt. Roof Music/tacheles!. 6CDs,<br />
489 Minuten, Fr.38.90.<br />
Für einen Verliebten ist die Auserwählte<br />
ein Wesen von einem anderen Stern. Da<br />
bildet der 14-jährige David keine Ausnahme,<br />
nur handelt es sich bei der delinquenten<br />
Patientin seines Vaters tatsächlich<br />
um eine Ausserirdische. Zelda kann<br />
astralzoomen, die Zeit krümmen und<br />
nimmt estrotz galaktischem Jetlag locker<br />
mit einer Horde Polizisten auf. Der<br />
Besucherin vom Planeten Vahalal bleibt<br />
wenig Zeit, auf der Erde ihren Seelenverwandten<br />
zu finden. Dass der Kandidat<br />
Johnny Depp heisst, macht die Mission<br />
nicht einfacher. David fügt sich in die<br />
Rolle des Gehilfen und versucht, das<br />
Schlimmstezuverhindern. GaryGhislain<br />
erzählt das turbulente Erdling-trifft-<br />
Spacegirl-Abenteuer mit gehörigem<br />
Wort- und Aberwitz. Dabei spielt er mit<br />
popkulturellen Versatzstücken und lehnt<br />
sich literarisch ans Comicgenrean.<br />
DanielAmmann<br />
AliceGabathuler:no_way_out.<br />
Thienemann, Stuttgart 2013. 336 Seiten,<br />
Fr.19.90,E-Book 15.- (ab 16 Jahren).<br />
Mick lebt auf der Strasse. Eines Tages<br />
fährt ein Luxuswagen den 17-Jährigen<br />
an. Gezielt, wiesich baldzeigt. Kurz darauf<br />
wird Mick ein Mord untergeschoben.<br />
Er gerät in Panik, reagiert falsch und<br />
muss in der Folge untertauchen. Hinter<br />
den Machenschaften steht ein rechtsgerichteter<br />
Bund, der «asoziale Elemente»<br />
aus der Gesellschaft entfernen will,<br />
indem er sie für nicht begangene Straftaten<br />
ins Gefängnis bringt. Jetzt erhält<br />
der hochspannende Thriller eine politische<br />
Dimension. Er machtauch deutlich,<br />
wie leicht die Berichterstattung ein falsches<br />
Bild der Geschehnisse evozieren<br />
kann. Aber da bilden Mick und seine<br />
Freunde eine Online-Community, ein<br />
neuer K<strong>am</strong>pf beginnt. Gabathulers Bücher<br />
behandeln brisante Themen, die Jugendliche<br />
interessieren und bewegen. Zu<br />
Rechtwächst ihreFangemeinde stetig.<br />
Verena Hoenig<br />
14 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013<br />
Inmitten der Superhelden, Hexen und<br />
anderer Überflieger im Kinderbuch ist<br />
Ben eine wohltuende Ausnahme: Er ist<br />
so herrlich normal. Mit seinem besten<br />
Freund, der SchildkröteHerrn Sowa, fluteterdas<br />
Badezimmer,entert das Baumhaus<br />
seines grossen Bruders, geht nachts<br />
angeln in Nachbars Garten und gemeins<strong>am</strong><br />
überstehen sie den Besuch beim<br />
Arzt –kurz: sie erleben schönste, bewältigbare<br />
Abenteuer und s<strong>am</strong>meln Erfahrungen.<br />
Zum Beispiel die, dass man sich<br />
ruhig fürchten darf (vor dem Keller, der<br />
Dunkelheit, der Schule) und dass Heimweh<br />
zum Leben gehört, weil man dann<br />
erst weiss, wie lieb man sich hat. Die<br />
zehn in sich abgeschlossenen Vorlese-<br />
Geschichten sind mit Poesie und Fantasie<br />
geschrieben; sie unterhalten mitten<br />
aus der Kinderwelt auf sachte Art und<br />
helfen, grösser zu werden.<br />
Christine Knödler<br />
Marian de Smet:Kein Empfang.<br />
Gerstenberg, Hildesheim 2013.<br />
192 Seiten, Fr.19.90 (ab 13 Jahren).<br />
Leo ist beim Wandern in ein Loch gefallen.<br />
Der Akku des Handys ist leer, der<br />
Fuss gebrochen –jetzt gilt es abzuwarten.<br />
Da tauchtdie rätselhafteNanou auf.<br />
Das Mädchen bringt LeoEssen, verarztet<br />
ihn, holt aber keine Hilfe. Nanou wird<br />
von ihrer Mutter versteckt gehalten und<br />
kennt keine anderen Menschen. Während<br />
sie zaghaft auf Leo zugeht und die<br />
beiden sich verlieben, belagern Journalisten<br />
unten imTal Leos Freund David.<br />
Auch eine F<strong>am</strong>ilie tauchtauf,deren Kind<br />
vor dreizehn Jahren hier spurlos verschwand.<br />
Der Thriller wird abwechselnd<br />
aus Nanous, Leos und Davids Perspektive<br />
erzählt. Rasch erahnt man die Zus<strong>am</strong>menhänge,<br />
die de Smet geschickt<br />
anklingen lässt. Ob die Vermutungen<br />
richtig sind, erfährt man nicht. Indem sie<br />
das Meisteoffen lässt, vermeidet die Autorin<br />
ein kitschiges Happy-End.<br />
Andrea Lüthi<br />
VonHans tenDoornkaat<br />
Glücklich, wer das Heben dieses Schatzes<br />
noch vor sich hat. Viele haben «Die<br />
Schatzinsel» nur in gekürzter Fassung<br />
«bearbeitet für die Jugend» gelesen. Die<br />
neueren Ausgaben mit den Bildern von<br />
John Lawrence (Sauerländer) oder den<br />
Farbtafeln von Robert Ingpen (Knesebeck)<br />
bedienen sich einer Übersetzung<br />
von1967.Doch warum nichtJugendliche<br />
erfahren lassen, dass auch ein klassischer<br />
Text beste Spannung bietet? Wenn<br />
die Piraten auftrumpfen, oder wenn<br />
Long John Silver als Kopf der Meuterei<br />
sein falsches Spiel spielt, dann ist die<br />
Neuübersetzung von Andreas Nohl den<br />
bisherigen vorzuziehen.<br />
Als Stevenson sich entschliesst, für<br />
alle Alter und Schichten zuschreiben,<br />
entwickelt er ein Spannungskonzept wie<br />
später Hitchcock: Wir wissen meist Bescheid<br />
über Tatenund Widersacher,und<br />
werden doch laufend überrascht. Allzu<br />
rasch sieht der Halbwaise Jim den geselligen<br />
Schiffskoch als väterlichen Freund.<br />
Zwar streut der Autor Hinweise ein, die<br />
unsere Zweifel und die Spannung erhöhen,<br />
aber der Junge muss erst – im<br />
Apfelfass versteckt –die Prahlereien der<br />
Verschwörer mit anhören, ehe er das<br />
Doppelspiel durchschaut. Dass ausgerechnet<br />
eine Vaterfigur sich als Verräter<br />
entpuppt, ist in einem Jugendklassiker<br />
brisant, und dass auch die gestandenen<br />
Herren darauf angewiesen sind, mitdem<br />
Schurken gemeins<strong>am</strong>e Sache zu machen,<br />
irritiert selbst ältereLeser.<br />
Harry Rowohlt kann in der ungekürzten<br />
Lesung nicht soausschweifend auftrumpfen,<br />
wie erund sein St<strong>am</strong>mpublikum<br />
es mögen. Aber wie ermit seinem<br />
rauen Bass die wechselnden Rollen des<br />
Schiffskochs inszeniert, und bei allzu<br />
viel Abenteuerromantik auch mal einen<br />
ironischen Unterton anklingen lässt, das<br />
ist ein Vergnügen im Sinne des Autors.<br />
Hoch anzurechnen ist dem Hörbuch<br />
auch, dass nach dem 32. Kapitelein vom<br />
Übersetzer neu entdeckter Text von Stevenson<br />
eingefügt ist, ein Dialog zwischen<br />
Silver und Kapitän Smollett über<br />
den Autor. Ohnehin sind Nachwort, Materialien<br />
über die Entstehung des Romans<br />
und Gedanken zur neuen Übertragung,<br />
ein Genuss für erwachsene Leser –<br />
und, falls gewünscht, eine Legitimation<br />
für den populären Lesestoff.Nötig ist sie<br />
indes nicht, denn von Henry J<strong>am</strong>es bis<br />
Ernst Bloch gibt es ausreichend Bekenntnisse<br />
zu dem Roman. ●
Neurobiologie Zwei reich bebilderte<br />
Sachbücher über dasHirn<br />
WasimKopfpassiert<br />
Michael Madeja, Janvon Holleben, Katja<br />
Naie: Denkste?! Verblüffende Fragen und<br />
Antworten rund ums Gehirn. Gabriel,<br />
Stuttgart 2013. 184 S., Fr.25.90 (ab 8J.).<br />
Alexander Rösler,Philipp Sterzer,Kai<br />
Pannen: 29 Fensterzum Gehirn. Genial<br />
einfach erklärt, was in unserem Kopf<br />
passiert. Arena, Würzburg2013.<br />
224Seiten, Fr.19.50 (ab 12 Jahren).<br />
VonSabine Sütterlin<br />
Was im Kopf vorgeht, fasziniert alle –<br />
aber alle anders. «Jüngere Kinder interessieren<br />
sich vor allem für Tiere und<br />
deren Gehirne, ältere Schüler für das<br />
Selbst und die Gehirnentwicklung, Erwachsene<br />
für die Frage nach dem freien<br />
Willen und die Alzheimer-Erkrankung»,<br />
sagt der Hirnforscher Michael Madeja.<br />
Er hatgemeins<strong>am</strong> mitder Neurobiologin<br />
Katja Naie ein Buch für Kinder geschrieben.<br />
Wie viele Gehirnwindungen<br />
hat eine Ameise? Ist das Gehirn innen<br />
hohl? Selbst solch verblüffende Fragen<br />
beantworten die Autoren ernsthaft, geradlinig<br />
und einfach. Doch obwohl die<br />
Texte jeweils höchstens eine halbe Seite<br />
lang sind, dürften sie es schwer haben,<br />
die Aufmerks<strong>am</strong>keit der Leser von den<br />
vielen bunten, aufwendig inszenierten<br />
Foto-Illustrationen abzuziehen, auf<br />
denen beispielsweise ein Mädchen mit<br />
drei Kindern zu jonglieren scheint.<br />
Grafisch weit weniger anspruchsvoll,<br />
aber vielfältiger in der Wahl der Vermittlungsformen<br />
und lockerer im Ton ist<br />
«29 Fenster zum Gehirn». Die NeurologenAlexander<br />
Rösler und Philipp Sterzer<br />
wenden sich d<strong>am</strong>it an Jugendliche ab<br />
zwölf. Die 29 Einblicke ins Gehirn und<br />
seine Funktionen sind in sieben Kapiteln<br />
von «Wahrnehmung und Bewusstsein»<br />
bis «Entscheidung und freier Wille» gegliedert.<br />
Dank Querverweisen und Glossar<br />
lassen sich aber problemlos einzelne<br />
Themen herauspicken.<br />
Die Autoren präsentieren den Stand<br />
der Forschung denkbar kurzweilig. Sie<br />
verblüffen mit Schilderungen aus ihrer<br />
Forschungspraxis, regen zu eigenen<br />
Experimenten an und verweisen auf<br />
weiterführende Internet-Links. Zwischendurch<br />
erzählt der pawlowsche<br />
Hund in radebrechendem<br />
Deutsch von der Entdeckung der<br />
Konditionierung. Und der Neurobiologe<br />
Professor Rastlos streitet<br />
sich mit der soziologischen Anthropologin<br />
und Theologin Professor<br />
Dr.Dr. Wirrwarr über Intelligenz<br />
und freien Willen.<br />
Der direkte Vergleich der zwei<br />
Gehirnbücher ist vielleicht unfair, da<br />
sie sich an unterschiedliche Altersgruppen<br />
richten. Aber die «29 Fenster»<br />
werden junge Menschen immer<br />
wieder gern in die Hand nehmen –<br />
auch noch als Erwachsene. ●<br />
Kurzkritiken<br />
MaxKruse: Urmel saustdurch die Zeit.<br />
Illustr.G.Jakobs. Thienemann, Stuttgart<br />
2013. 176 Seiten, Fr.18.90 (ab 8Jahren).<br />
Dreizehn Jahre nach dem letzten Urmel-<br />
Band erklärt Max Kruse anhand seiner<br />
berühmten Figur die Evolution: Unabsichtlich<br />
betätigt das Urmel den<br />
Starthebel von Professor Tibatongs Zeitmaschine<br />
und reist mitseinen Freunden<br />
durch die Zeit. Vonder Ursuppe gelangen<br />
sie zu den Dinosauriern, erleben einen<br />
Meteoriteneinschlag, begegnen Urmenschen<br />
und den ersten Siedlungen. Über<br />
ein Handy erläutert der Professor die<br />
Evolutionsstufen, während die Reisenden<br />
die Perspektive des Kindes einnehmen<br />
und bei unbekannten Begriffen<br />
nachfragen. Eingebettet inwitziges Geplänkel<br />
und abenteuerliche Begegnungen<br />
wird hier in kleinen Portionen Wissen<br />
vermittelt. Die Geschichte wirkt<br />
nicht aufgesetzt, <strong>am</strong> Ende des Buches<br />
sind alle Informationen noch einmal verständlich<br />
aufbereitet.<br />
Andrea Lüthi<br />
Sonja Eismann u. a.: Glückwunsch, du bist<br />
ein Mädchen! Beltz &Gelberg, Weinheim<br />
2013. 152 Seiten, Fr.24.50 (ab 14 Jahren).<br />
Braucht es den Untertitel «Eine Anleitung<br />
zum Klarkommen» für Mädchen<br />
heute wirklich noch? Ist diese noch<br />
nötig? Der Ratgeber will bekennend Mut<br />
machen und wirft dafür einen explizit<br />
weiblichen Blick aufs (noch nicht ganz)<br />
starke Geschlecht. Rosarot nebst Brille<br />
in derselben Farbe haben ausgedient,<br />
Schönheitsideale (wer sagt, dass dick<br />
hässlich ist?), Rollenverständnis (wer<br />
sagt, dass Mädchen dümmer sind?),<br />
Mode- und Selbstbewusstsein, Gefühle<br />
(Wut ist gut!), Verhaltensweisen (Schluss<br />
mit Lästern) werden auf den Prüfstand<br />
gestellt und gegen Klischees gebürstet.<br />
Dereigene Körper,Sex,Sport, Beziehungen,<br />
Freundschaft, Liebe –die Facetten<br />
zeigen ein buntesBild. Das ist zwar nicht<br />
neu, aber sehenswert, d<strong>am</strong>it esirgendwann<br />
ohne Einschränkung heisst:<br />
«Glückwunsch, du bist ein Mädchen!»<br />
Christine Knödler<br />
Virginie Aladjidi, Emmanuelle Tchoukriel:<br />
Birke, Buche,Baobab. Gerstenberg,<br />
Hildesheim 2013. 72 S., Fr.19.90 (ab 6J.).<br />
Aus dem Holz der Gemeinen Esche entstehen<br />
Snowboards oder Werkzeugstiele,<br />
die stinkenden Früchte des Durianbaums<br />
schmecken nach Vanille, und die Silber-<br />
Pappel soll ihre Farbe dem silbrigen<br />
Schweiss von Herakles verdanken. Gegliedert<br />
nach Laub-, Nadelbäumen und<br />
Palmen und nach Blatttypen aufgeteilt,<br />
gibt es zu jedem Baum eine kurze Beschreibung.<br />
Da geht es um Historisches,<br />
Symbolik, Mythologie sowie umBesonderheiten<br />
des Holzes oder der Früchte.<br />
Leider wirken manche Formulierungen<br />
der deutschsprachigen Ausgabe etwas<br />
umständlich. In seiner edlen Retro-Aufmachung,<br />
mit den bezifferten Bildtafeln<br />
und den kolorierten feinen Strichzeichnungen<br />
von Emmanuelle Tchoukriel erinnert<br />
das Buch an botanische Werkeaus<br />
dem 19. Jahrhundert und ist d<strong>am</strong>it auch<br />
ein Liebhaberbuch für Erwachsene.<br />
Andrea Lüthi<br />
Ad<strong>am</strong> Jaromir:Fräulein Esthersletzte<br />
Vorstellung. Gimpel, Langenhagen 2013.<br />
124Seiten, Fr.40.90 (ab 12 Jahren).<br />
Es ist Mai, doch das Leben im Warschauer<br />
Ghetto ist grau. Den 200 Waisen fehlt<br />
es an allem. Täglich geht der Arzt Janusz<br />
Korczak für seine Schützlinge betteln.<br />
Resignation macht sich breit. Um die<br />
Kinder auf andereGedanken zu bringen,<br />
studiert Fräulein Esther, eine der Angestellten,<br />
ein Theaterstück ein. Ausdrucksstarke<br />
Collagen, Dialoge und Tagebuchaufzeichnungen<br />
lassen die letzten<br />
Monate des Heims lebendig werden.<br />
Im August 1942 wird es aufgelöst, die<br />
Nationalsozialisten ermorden seine Bewohner<br />
in Treblinka. Fräulein Esthers<br />
Plan aber ist aufgegangen: Wenigstens<br />
für kurzeZeithat sie die Kinder aus ihrer<br />
Apathie reissen können. Das aufwendig<br />
gestaltete, dokumentarische wie lyrisch<br />
verdichtete Buch erinnert an Menschen,<br />
die Kindern auch in finsteren Zeiten mit<br />
Respekt und Kunst beistehen.<br />
Verena Hoenig<br />
24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 15
Interview<br />
Tagtäglich lügenMenschen, betrügen Firmen und tricksenRegierungen. IstEhrlichkeit nurnocheine<br />
antiquierte Tugend?ReformpädagogeBernhardBuebhältdagegen und findet, dass wir vermehrtder<br />
Ehrlichkeit zumDurchbruchverhelfen sollten–mit Klugheitund Phantasie. Interview: UrsRauber<br />
DieWahrheit<br />
kommtnicht von<br />
selbstansLicht<br />
Bücher <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong>: Ihre bisherigen Bücher<br />
waren Streitschriften: «Lob der Disziplin» (2006)<br />
und «Von der Pflicht zu führen» (2009). Ihr jetzigesBuch«Die<br />
Machtder Ehrlichen» trägt denUntertitel:<br />
Eine Provokation. Warum glauben Sie,<br />
provozierenzumüssen?<br />
Bernhard Bueb: Konservativen sagt man nach,<br />
dass sie ein pessimistisches Menschenbild<br />
haben. Als Konservativer provoziere ich dadurch,<br />
dass ich ein optimistisches Buch schreibe.<br />
D<strong>am</strong>itmöchte ich Menschen ermutigen, den<br />
Blick vonLug und Trug, denen sie überall in der<br />
Welt begegnen, zu wechseln auf die Macht der<br />
Wahrheit. So dass sie abends, wenn sie in den<br />
Nachrichten das Böse in der Welt sehen, sagen<br />
können: Welches Glück, dass es Menschen gibt,<br />
die das alles aufdecken und der Lüge das Handwerk<br />
legen.<br />
In Ihrem Buch schreiben Sie: «Der Wille zur Ehrlichkeit<br />
gehört zur menschlichen Natur wie der<br />
Macht- oderder Sexualtrieb.» Gilt das nicht auch<br />
fürdas Gegenteil: Lüge, Gierund Eigennutz?<br />
Die Lügeist in meinen Augenkeine aktive Kraft,<br />
sondern das Ergebnis einer Schwäche. Sie entsteht<br />
immer dann, wenn Menschen sich selbst<br />
nicht akzeptieren, wie sie sind. Sei’s, weil sie<br />
sich weniger begabt fühlen als andere oder benachteiligt.<br />
Sei’s, weil sie lieber reich oder schön<br />
oder mächtig sein wollen. Und da sie das nicht<br />
BernhardBueb<br />
Bernhard Bueb isteiner der profiliertestenPädagogen<br />
Deutschlands. Geboren 1938 in Tansania,<br />
studierte er Philosophie und katholische Theologie.Von<br />
1974 bis 2005 warerLeiter der internationalen<br />
Privatschule SchlossSalem in Baden-<br />
Württemberg. Seine Bücher «Lob der Disziplin»<br />
(2006)und «Von der Pflicht zu führen» (2008)<br />
wurden zu Bestsellern: in Erziehungskreisen umstritten,<br />
stiessen sie in der Öffentlichkeit teils auf<br />
grosse Zustimmung. Sein neustesBuch «Die<br />
Macht der Ehrlichen. Eine Provokation» (158 Seiten,<br />
Fr.27.90,E-Book 22.–) erschien soeben im<br />
Ullstein Verlag in Berlin. Bernhard Bueb istverheiratet,hat<br />
zwei erwachsene Töchter und lebtin<br />
Überlingen <strong>am</strong> Bodensee.<br />
16 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013<br />
sind, beginnen sie, andern, aber auch sich selbst,<br />
etwas vorzumachen oder durch Betrug ihre Situation<br />
zu verbessern. Diese Deutung der Lüge<br />
aus Schwäche unterscheidet sich von jener der<br />
Religion, die die Lüge als aktive Kraft in Satan<br />
personifiziert. Die Aufgabe der Eltern und Lehrer<br />
besteht darin, dieser Schwäche beizukommen.<br />
Und wie tutman das?<br />
Ehrlichkeitist eine vertrauensvolle Art zu leben.<br />
Die Bedingungen der Ehrlichkeit entstehen in<br />
der frühen Kindheit mit dem, was Psychologen<br />
das Urvertrauen nennen. Durch die liebevolle<br />
Zuwendung der Eltern gewinnt das Kind Vertrauen<br />
in sich und die Welt und legt den Grund<br />
dafür, dass es ja zu sich sagen kann. Kinder, die<br />
kein Urvertrauen haben, haben es schwer im<br />
Leben, ehrliche Menschen zu werden. Sie werden<br />
auf Kontrolle und Strafe angewiesen sein.<br />
Bei Kindern mit wenig Selbstvertrauen haben<br />
der Kindergarten und die Schule eine hohe Aufgabe,<br />
ergänzend zu wirken, wenn die Eltern es<br />
nicht geschafft haben. Die Eltern haben immer<br />
als Erste den Auftrag, Kinder in ihrem Selbstwertgefühl<br />
zu stärken.<br />
Ist die Schaffung des Urvertrauens sozusagen der<br />
Schlüsselzur späteren Ehrlichkeit?<br />
Ja,aber wenn Urvertrauen vorhanden ist, heisst<br />
das nicht, dass solche Kinder nicht auch ab und<br />
zu lügen. Es hat niemand ein derartiges Selbstvertrauen,<br />
dass er auf Lügen vollständig verzichtenkann.<br />
Wirsind bis zum Lebensende –ich<br />
bin jetzt 75 –immer gefährdet, uns selbst zu belügen.<br />
DerEhrliche unterscheidet sich dadurch,<br />
dass er es weiss.<br />
Sie sagen,Ehrlichkeit wirke ansteckend.Trifftdas<br />
nicht auchauf die Lügezu?<br />
Richtig, auch die Lügewirkt ansteckend. Es wird<br />
immer eine Auseinandersetzungzwischen Lüge<br />
und Wahrheit sein. Aber wichtig ist, dass die<br />
Welt im Gleichgewicht bleibt, dass die Lüge<br />
nichtüberhandnimmt.<br />
Gibt’sauchGefahren beider Ehrlichkeit?<br />
Das grössteUnheil richtenMenschen an, die die<br />
Wahrheitgenau kennen: die Fund<strong>am</strong>entalisten.<br />
Sie beherrschen sehr viele Teile der Welt. Die Vatikan-Ideologen,<br />
die Evangelikalen, die Isl<strong>am</strong>isten<br />
–die plakativen grossen Bewegungen. Aber<br />
es gibt auch die Fund<strong>am</strong>entalisten im Alltag.<br />
ZumBeispiel?<br />
Es gibt Menschen, die wissen genau, wo’s langgeht:<br />
Eltern, die von den Kindern nur ein bestimmtes<br />
moralisches Verhalten akzeptieren<br />
und sie, wenn sie davon abweichen, verwerfen.<br />
Das hat fund<strong>am</strong>entalistische Züge, denn sie<br />
«Die Lüge istkeine aktive<br />
Kraft, sonderndas Ergebnis<br />
einer Schwäche. Sie entsteht<br />
immer dann, wenn Menschen<br />
sich selbstnichtakzeptieren,<br />
wiesie sind.»<br />
scheinen zu wissen, was für das Kind das Richtige<br />
ist. Für das Kind ist das aber eine Katastrophe.<br />
Eltern müssen offen sein. Oder wenn Lehrer<br />
ihre Noten auf zwei Dezimalstellen berechnen<br />
und glauben, dass das objektiv sei. Das ist<br />
natürlich Quatsch. Ich kann einen Aufsatz, der<br />
so viele Variationen an Bewertungen zulässt,<br />
nichtmit einem 2,34 bewerten.<br />
Sie behaupten, die Schule verführe zum Lügen:<br />
durch Abschreiben, Lehreraustricksenund so weiter.<br />
Ein hartes Urteilfür einenPädagogen.<br />
Würden Sie das bestreiten?<br />
Nicht völlig. Doch wie verändert man die Schule,<br />
dass sie zurWahrheit stattzum Tricksenverleitet?<br />
Die Schule beruht auf einer Fiktion –nämlich<br />
dass alle Schüler gleich akademisch begabt<br />
seien. Und dass sie deswegen dieselben Prüfungen<br />
bestehen könnten. Akademisch gut begabt<br />
sind vielleichtein Drittel der Schüler,deswegen<br />
können die anders Begabten die Prüfungen<br />
nicht bestehen, wenn sie nicht betrügen. Also<br />
tun sie es. Es gibt ja kaum eine Einrichtung, in<br />
der es so viel Aufsicht gibt, so viel Kontrolle, so<br />
viel Strafewie die Schule. Das ist abenteuerlich!<br />
Hier läuft fund<strong>am</strong>ental etwas falsch. Man<br />
▼
«Esgibterlaubte Lügen, wenn dem Wertder Wahrhaftigkeit ein anderer Wertentgegensteht,der ebenbürtig ist», sagt der Pädagoge BernhardBueb (4.11.2013 <strong>am</strong> Bodensee).<br />
24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 17<br />
DANCERMAK
Interview<br />
kann das systembedingte Lügen minimieren,<br />
wenn man das Lernen individualisiert, das<br />
heisst, jedem Kind die Chance gibt, entsprechend<br />
seiner Begabung, seinen psychischen<br />
Voraussetzungenseinen Lernwegzugehen. Moderne<br />
reformpädagogische Schulen machen das<br />
ja: die Montessori-Schulen zum Beispiel.<br />
▼<br />
Trotz Individualisierung wird es aber Kinder<br />
geben, die die Schulziele nicht erreichen?<br />
Ja, ein Kind erfüllt vielleicht ein Ziel nicht, ist<br />
aber nicht sofrustriert, weil der Lehrer mit ihm<br />
sehr frühfestgestellt hat: dieser Wegist für dich<br />
zu steinig. Was ich vom Kind erwarte, sind<br />
Anstrengungsbereitschaft und Neugier. Ich<br />
muss versuchen, ihm einen Weganzubieten, auf<br />
dem es entsprechend seinen Möglichkeiten<br />
seine Neugier befriedigen und sich anstrengen<br />
kann. Es gibt viele begabte Menschen, die zum<br />
lebensfernen Lernen der Schule keinen Zugang<br />
finden und doch erfolgreich ihr Leben meistern.<br />
Oder anderelaufen wegvon der Schule wieThomas<br />
Mann. Jeder soll nach seiner Façon selig<br />
werden, ohne betrügen zu müssen.<br />
Sie schildern im Buch ein sehr schönes Beispiel,<br />
wie Elternein Kind zurEhrlichkeit erziehen.<br />
Es ist ja so schwierig, eine Lüge oder Fehlleistung<br />
einzugestehen, weil es das Bild gefährdet,<br />
das ich bei anderen aufgebaut habe. Eltern sollten<br />
Kindern phantasievoll Brücken bauen, wie<br />
jener Vater, der seine achtjährige Tochter dabei<br />
ertappt hat, wie sie den Nachtisch des Bruders<br />
weggegessen hat. Nach einer Weile fragt er sie:<br />
«Hast du nun das getan: ja, nein oder vielleicht?»<br />
Und ganz schnell sagt das Mädchen: «Vielleicht.»<br />
Und verschafft sich d<strong>am</strong>itgrosse Erleichterung.<br />
Man müsste dieses «vielleicht» auch indie Erwachsenenwelteinführen…<br />
Wie glücklich wären oft Erwachsene, könnten<br />
sie «vielleicht» sagen.<br />
In der Erwachsenenwelt wird jatäglich gelogen.<br />
Zum Beispiel Prominente, deren wissenschaftlicheArbeitenals<br />
Plagiateaufgedecktwerden.<br />
Eine neue empirische Untersuchungder Universität<br />
Bielefeld besagt, dass 79 Prozent der deutschen<br />
Studenten selbstverständlich plagiieren<br />
und dass die Dozenten das wenig kontrollieren,<br />
weil sie Angst haben vor den Konflikten. Hier<br />
meine ich, gibt es eine technische Lösung,<br />
indem man, wie anangelsächsischen Schulen<br />
üblich, jede studentische Arbeit ein Computerprogr<strong>am</strong>m<br />
durchlaufen lässt, das diese auf Plagiate<br />
durchsucht. Schüler, die das wissen, werden<br />
sich dem nicht aussetzen. Ich finde, man<br />
sollte die Menschen so weit wie möglich von<br />
moralischen Anstrengungenentlasten.<br />
Sie haben IhreDissertation 1968 über «Nietzsches<br />
Kritik der praktischen Vernunft» geschrieben.<br />
HabenSie da nirgends geschummelt?<br />
Ichwar nichtunversucht, genau das zu machen,<br />
was Annette Schavan, die frühere Bildungsministerin,<br />
getan hat. Es gab nämlich Zus<strong>am</strong>menfassungen<br />
von Gedankengängen, die einfach<br />
viel besser waren, als ich das hättemachen können.<br />
Ausirgendeinem Grund habe ich davonabgelassen,<br />
wahrscheinlich weil ich Angst hatte,<br />
dass mein Doktorvater, der sehr akribisch meine<br />
Elaborate las, dies entdeckt hätte.<br />
Gibt es erlaubteLügen?<br />
Ja,wenn dem Wert der Wahrhaftigkeitein andererWert<br />
entgegensteht, der ebenbürtig ist. Wenn<br />
Sie vorder Fragestehen, soll ich einem Todkranken<br />
die Wahrheit sagen, wissend, dass ihn das<br />
sofort umbringt oder depressivmacht, kann das<br />
Verschweigen geboten sein –zum Schutze des<br />
Kranken. Hier steht nicht Wahrheit gegen Lüge,<br />
sondern Wahrheit gegen Schutz des Lebens.<br />
18 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013<br />
«Die Spareinlagen sind sicher»: Angela Merkel und Peer Steinbrück bei ihrer Notlüge <strong>am</strong> 5. Oktober 2008.<br />
Oder ein aktuelles Beispiel: Als in Deutschland<br />
2008 Angela Merkel und Peer Steinbrück vordie<br />
Presse traten und erklärten, die Spareinlagen<br />
der Bürger sind sicher, war das glatt gelogen.<br />
Denn sie waren weder legitimiert noch mächtig<br />
genug, um das sicherzustellen. Aber sie haben<br />
mit Recht ihre Hände schmutzig gemacht, das<br />
heisst gelogen, weil der Wert des Schutzes der<br />
Wirtschaft höher war als der Wert der Ehrlichkeit.Das<br />
war eine Notlüge.<br />
Würden Sie deswegen Frau Merkel nicht als Lügnerinbezeichnen?<br />
Nein. Dieses Verhalten würdeich sogar erwarten<br />
von einem Politiker. Das kommt jaauch im Alltag<br />
vor. Sie müssen zum Beispiel ein Kind schützenvor<br />
der Wahrheit, weil es diese nichterträgt.<br />
«Kontrollen sind für uns ein<br />
Hilfsmittel, moralischer zu<br />
sein. Wenn ich weiss, dass der<br />
Schaffner regelmässigdurch<br />
den Zugkommt, werdeich<br />
immer ein Ticket kaufen.»<br />
Ist es nicht auch so, dass Wähler gelegentlich belogen<br />
werden wollen, weil sie gewisse Wahrheiten<br />
nicht ertragen?Wer die Wahrheit sagt, wirdoft an<br />
derUrneabgestraft.<br />
Frau Merkel sagt ihren Wählern: Ihr kenntmich,<br />
Ihr braucht sozusagen nicht mehr nachzudenken,<br />
weil Ihr wisst, dass ich das Richtigetue. Die<br />
Bürger lieben das, sie wollen nicht alles wissen,<br />
sondern einfach Ruhe haben, ihren Wohlstand<br />
und ihreSicherheitgeniessen. Dafür sind sie leider<br />
bereit, ihren Verstand abzugeben.<br />
Im Alltag schwindeln wir ja alle, zum Beispiel bei<br />
derHöflichkeit.<br />
Dazu kann ich nur Wilhelm Busch zitieren mit<br />
dem wunderbaren Gedicht: «Da lob ich mir die<br />
Höflichkeit, das zierliche Betrügen: Du weisst<br />
Bescheid, ich weiss Bescheid, und allen macht’s<br />
Vergnügen.» Man sollteunterscheiden zwischen<br />
Notlügen, die einem höheren Wert dienen, und<br />
Eigennutz. Moralisch zu verurteilen ist das<br />
Lügen aus Eigennutz: wenn man selber mehr<br />
sein möchte, sein Geld vermehren oder einem<br />
anderen schaden will. Bei der Höflichkeit aber<br />
ist es keine Frage von Lüge und Wahrheit, sondern<br />
einer Übereinkunft. Die Engländer haben<br />
mehr Sinn für solche Konventionen. Wenn<br />
ihnen ein Engländer nach einer kurzen Begegnung<br />
sagt: Ich würde Sie gerne wieder mal<br />
sehen, dann geht so ein deutscher Tollpatsch<br />
hin und will ihn sehen. Die Deutschen neigen zu<br />
einer Art lutherischen Ehrlichkeit und wollen<br />
gleich mit der Wahrheit ins Haus fallen, was<br />
auch anstrengend ist.<br />
SehenSie VorbilderanEhrlichkeit?<br />
Die sehe ich haufenweise. Es gibt sehr viele aufrechte,ehrliche<br />
Journalisten zum Beispiel. Oder<br />
es gibt unglaublich viele ehrliche mittelständische<br />
Unternehmer, denen es nicht nur um das<br />
Geldverdienen, sondern darum geht, ihre Kunden<br />
zu beraten, und nicht, sie zu verführen.<br />
Oder die vielen, die ehren<strong>am</strong>tlichen Tätigkeiten<br />
nachgehen und sich für andere Menschen einsetzen,<br />
ohne dafür Geld zu verlangen.<br />
Und die grossenVorbilder?<br />
Die sind rar geworden. Bei den Politikern fällt<br />
einem immer nur Mandela ein. Ich behaupte,<br />
dass es früher mehr Vorbilder gab –zumeiner<br />
Zeit: de Gaulle, Churchill, Macmillan, Adenauer.<br />
Sie waren auch Trickser, aber authentisch,<br />
glaubwürdig. Heutesind sie dünner gesät.<br />
Sie sagen, dass keine Gesellschaft auf Kontrolle<br />
und Strafe verzichten kann. Erhöhen Kontrollen<br />
die Ehrlichkeit?<br />
Kontrollen sind für jeden Menschen ein Hilfsmittel,<br />
moralischer zu sein, weil sie ihn weniger<br />
der Verführungaussetzen. Wenn ich weiss, dass<br />
der Schaffner regelmässig durch den Zug<br />
kommt, werde ich immer ein Ticket kaufen.<br />
Wenn ich weiss, dass er nichtkommt, werdeich<br />
es weniger tun.<br />
Ein weiterer vonvielenMerksätzeninIhrem Buch<br />
lautet: Es gibt keine ehrlichen Systeme, sondern<br />
nur ehrliche Menschen.<br />
Systeme sind neutral. Es gibt auch keine heilige<br />
Kirche, sondern es gibt Heiligeinder Kirche. Die<br />
Ehrlichen sind immer Einzelne. Versuche, ehrliche<br />
Systeme zu schaffen, misslingenständig. Es<br />
gibt ganz selten eine Revolution, die ohne eine<br />
Lügegross geworden ist. Die sozialistischen Systeme<br />
waren die grössten Lügengebäude, die<br />
überhaupt entstehen konnten –unter dem Anspruch,<br />
die Wahrheit zuvertreten. Viel zu viele<br />
Ehrliche meinen allerdings, die Wahrheit<br />
komme von selbst ans Licht. Das ist aber nicht<br />
der Fall, sondern dazu bedarf es der aktivenAufklärung.<br />
Jeder Ehrliche ist aufgerufen, wo er<br />
Lüge entdeckt, mitzuhelfen, dass diese Lüge<br />
aufgedeckt wird. Daran hindert ihn aber oft die<br />
Feigheitund die Trägheit.<br />
Braucht Ehrlichkeit Zivilcourage?<br />
Unbedingt. EhrlichkeitbrauchtKlugheit, Empathie<br />
und Phantasie. Und sie benötigt ebenso<br />
Ausdauer wieZivilcourage. l<br />
AP
Kolumne<br />
CharlesLewinskysZitatenlese<br />
Kurzkritiken Sachbuch<br />
Literatureisnewsthat<br />
STAYSnews.<br />
Ezra Pound<br />
Martin Meyer (Hrsg.): Die Welt verstehen.<br />
35 Beiträge. NZZ Libro, Zürich 2013.<br />
538 Seiten, Fr.39.90.<br />
Joseph Jung (Hrsg.): Alfred Eschers<br />
Briefwechsel 1852–1866. NZZ Libro,<br />
Zürich 2013. 441 Seiten, Fr.74.90.<br />
GAËTAN BALLY/KEYSTONE<br />
Der AutorCharles<br />
Lewinsky arbeitet in<br />
den verschiedensten<br />
Sparten. Sein neues<br />
Stück «Weg d<strong>am</strong>it!»<br />
wird<strong>am</strong>11. Dezember<br />
im TheaterRigiblick in<br />
Zürich uraufgeführt.<br />
Wussten Sie, dass «Sense And Sensibility»<br />
vonJoanna Trollope st<strong>am</strong>mt? Dass<br />
Alexander McCall Smith der Autorvon<br />
«Emma» ist?<br />
Das wussten Sie nicht? Dann sind Sie<br />
nichtauf der Höhe des zeitgenössischen<br />
Literaturbetriebs. Und wenn Sie jetzt<br />
auch noch einwenden, das seien doch<br />
zwei klassische Romane vonJane<br />
Austen, dann sind Sie, sorry, nachgerade<br />
altmodisch.<br />
Ein englischer Verleger ist nämlich<br />
auf den Gedanken gekommen, alle Romane<br />
vonJane Austen neu schreiben zu<br />
lassen. Aktualisiert und ins 21. Jahrhundert<br />
verlegt. D<strong>am</strong>itauch heutigeLeser<br />
endlich etwas mitden Geschichtenanfangen<br />
können. Man kann, so seine<br />
Überlegung, vonden Vertretern der<br />
YouTube-Generation nichterwarten,<br />
dass sie sich ins Seelenleben vonFigurendes<br />
frühen neunzehntenJahrhunderts<br />
einfühlen. Mitanderen Worten:<br />
Er hält moderne Leser für blöd.<br />
Ausgerechnet «Sense And Sensibility»,<br />
zu Deutsch: «Verstand und Vernunft»!<br />
Wo es diesem Projekt doch an<br />
beidem fehlt. Das Ganzeausgeheckt von<br />
einem Mann, der vonBeruf Verleger ist<br />
–eine Berufsbezeichnung, die in seinem<br />
Fall wahrscheinlich daher st<strong>am</strong>mt, dass<br />
er seinen literarischen Geschmack verlegt<br />
und nie wieder gefunden hat.<br />
Es ist ihm, das hatmich an der Ankündigung<strong>am</strong>meisten<br />
überrascht, auch<br />
tatsächlich gelungen, n<strong>am</strong>hafteAutoren<br />
für diesen Akt literarischer Leichenschändungzugewinnen.<br />
Sie müssen<br />
alle, so scheintmir,das Zehnfingersystem<br />
blind beherrschen. Man siehtja<br />
die Tastatur nicht, wenn man den Blick<br />
beim Schreiben die ganzeZeitstur auf<br />
die Kasse gerichtethat.<br />
Es stehtzubefürchten, dass die Umsatzzahlen<br />
zufriedenstellend ausfallen.<br />
Auch chemisch zus<strong>am</strong>mengemixte<br />
Lebensmittel-Imitate mit«naturähnlichen<br />
Aromen» verkaufen sich<br />
schliesslich gut.<br />
Und weil, im Gegensatz zum Sprichwort,<br />
das Schlechtere stets der Feind<br />
des Guten ist, werden wirbaldneuverfasstedeutsche<br />
Klassiker in den<br />
Schaufenstern der Buchhandlungen<br />
sehen. Da wird dann der junge Werther<br />
seine Lottebei einem Internet-Dating-<br />
Dienst kennenlernen, und Annebäbi<br />
Jowäger ihreF<strong>am</strong>ilie mithomöopathischen<br />
Kügelchen traktieren. Wenn Jane<br />
Austen nichtsicher ist, ist niemand<br />
mehr sicher,<br />
Mark Twain mochte Jane Austen<br />
nicht. Er erklärteeinmal, jede Bibliothek,<br />
die keines ihrer Bücher enthalte,<br />
sei nur schon deshalb<br />
eine guteBibliothek.<br />
Aber dieses Schicksal<br />
hättenichteinmal er ihr<br />
gewünscht.<br />
Das Schweizerische Institut für Auslandforschung<br />
(SIAF) wurde 1943 gegründet.<br />
In schwierigen Zeiten sollte esfür qualifizierte<br />
Information und Meinungsbildung<br />
sorgen. Nun kann das SIAF seinen<br />
70.Geburtstag feiern. Ausdiesem Anlass<br />
hat sein derzeitiger Präsident, der langjährige<br />
NZZ-Feuilletonchef Martin<br />
Meyer, einen Band mit 35Vorträgen zus<strong>am</strong>mengestellt,<br />
die im Lauf der Jahrzehnte<br />
<strong>am</strong> Institut gehalten wurden.<br />
Eindrücklich ist die Liste der zwei Referentinnen<br />
und dreiunddreissig Referenten:<br />
Sie reicht von Hannah Arendt und<br />
Karl R. Popper bis zu Ulrich Bremi und<br />
Urs Schoettli, von Otto Graf L<strong>am</strong>bsdorff<br />
und Helmut Schelsky bis zu Kaspar Villiger<br />
und Gerhard Schwarz. Es geht um<br />
Moral, Freiheit und Verantwortung, um<br />
die Wirtschaftspolitik der Schweiz und<br />
Europas im Wandel, um die Positionierung<br />
der Länder des Fernen Ostens im<br />
Kräftespiel der Weltmächte.<br />
ManfredPapst<br />
Verena Wermuth: Wiedersehen mit Scheich<br />
Khalid. Weltbild, Olten 2013. 175 Seiten,<br />
Fr.28.90.<br />
Die Kritiker-Gilde mag über solche Literatur<br />
lächeln: Doch Verena Wermuth hat<br />
mit«Die verbotene Frau» über ihreheimliche<br />
Liebe zu einem Scheich aus Dubai,<br />
den sie als 23-JährigeinLondon kennengelernt<br />
hatte, aber nicht heiraten durfte,<br />
2007 einen Bestseller geschrieben. Über<br />
300 000 mal wurde das Buch allein im<br />
deutschen Sprachraum verkauft. Nächste<br />
Woche wird das gleichn<strong>am</strong>igeTV-Dr<strong>am</strong>a<br />
auf Sat.1ausgestrahlt. Und Wermuth,<br />
inzwischen 57, die über ein bemerkenswertes<br />
Schreibtalent verfügt, legt einen<br />
Folgeband über das Wiedersehen mit<br />
Khalid vor. Beide sind heute mit andern<br />
Partnern verheiratet, treffen sich aber erneut<br />
nach 18 Jahren. Das Buch enthält<br />
alles, was den Erfolg ausmacht: Sehnsucht,<br />
Schmerz, unerfüllte Liebe und<br />
einen verzehrenden Mail- und SMS-Verkehr.<br />
Kitschig, aber wahr –ein Traum,<br />
den in dieser Welt ja so viele träumen.<br />
Urs Rauber<br />
Mitdem fünften und bisher letzten Band<br />
gibt Joseph Jung,Geschäftsführer der Alfred-Escher-Stiftung,<br />
106 Briefe von und<br />
an AlfredEscher zwischen 1852 und 1866<br />
heraus. Die Korrespondenz, die erstmals<br />
im vollen Wortlaut publiziert wird, gibt<br />
einen Einblick in die vielfältigen Themen,<br />
mit denen sich der d<strong>am</strong>alige Zürcher<br />
Regierungspräsident, National- und<br />
Kantonsrat, Eisenbahnpionier und Kreditanstalt-Chef<br />
beschäftigt hat. Dabei<br />
bleibt auch seine persönliche Entwicklung<br />
nicht ausgespart: seine Heirat und<br />
die Geburt der ersten Tochter, Lydia,<br />
aber auch der Tod der zweiten Tochter<br />
im Kindsalter 1862 («wie gross unser aller<br />
Schmerz ist»). Die sorgfältig edierte und<br />
kommentierte Briefs<strong>am</strong>mlung illustriert<br />
auch die aus heutiger Sicht schier unglaubliche<br />
Machtballungineiner Person,<br />
die in Bern wieinZürich die Wirtschafts-,<br />
Bildungs-, Bahn- und Aussenpolitik wie<br />
keine zweite geprägt hat.<br />
Urs Rauber<br />
Susan Sontag: Ichschreibe,um<br />
herauszufinden, wasich denke. Hanser,<br />
München 2013. 558 Seiten, Fr.36.90.<br />
Der erste Band der Tagebücher von<br />
Susan Sontag (Wiedergeboren, 2010) betraf<br />
einen unglaublich begabten und<br />
frühreifen Teenager. Dieses Faszinosum<br />
fällt nun weg. Im zweiten Band ist die<br />
Autorin eine 31- bis knapp 50-jährige Intellektuelle.<br />
Was diese tut, wo sie sich<br />
aufhält, wohin sie reist, wen sie trifft –<br />
davon erfahren wir leider nichts. Noch<br />
nichtmal über ihreErkrankunganBrustkrebs,<br />
die in diese Jahrefällt, schreibt sie<br />
mehr als einigeWorte. Nein, in ihren Tagebuchnotizen<br />
geht es einzig darum,<br />
was sie denkt –über Bücher,Filme, Menschen,<br />
was sie sehnlichst will –eine gute<br />
Schriftstellerin sein, und wo sie versagt<br />
–beim disziplinierten Aufstehen. Über<br />
Sontags Leben und Lieben erfahren wir<br />
hier nahezu nichts, über ihr Wesen umso<br />
mehr. Auch dank einem wie immer klugen<br />
und einfühls<strong>am</strong>en Vorwort ihres<br />
Sohnes und Herausgebers DavidRieff.<br />
KathrinMeier-Rust<br />
24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 19
Sachbuch<br />
Geschichte Am 28.Januar 2014jährtsich derTodestagvon Karl demGrossen(742–814). Derrömische<br />
Kaiser,der auch aufdem Bodender Schweiz Klöstergegründet hat, gilt als einer derbedeutendsten<br />
Herrscher des Abendlandes<br />
Erführtedie<br />
Schönschriftein<br />
Die Zeit Karls des Grossen in der Schweiz.<br />
Begleitband zur Ausstellungim<br />
Landesmuseum Zürich. Hrsg. Georges<br />
Descoeudres, Jürg Goll, Markus Riek.<br />
Benteli, Sulgen 2013. 336 Seiten,<br />
Fr.84.90.<br />
Johannes Fried: Karl der Grosse. Gewalt<br />
und Glaube. C. H. Beck, München 2013.<br />
736 Seiten, Fr.44.90,E-Book 30.90.<br />
StefanWeinfurter: Karl der Grosse. Der<br />
heiligeBarbar.Piper,München 2013.<br />
352 Seiten, Fr.34.90.<br />
Steffen Patzold: Ichund Karl der Grosse. Das<br />
Leben des Höflings Einhard. Klett-Cotta,<br />
Stuttgart 2013. 408 Seiten, Fr.35.90,<br />
E-Book 30.90.<br />
VonAlexis Schwarzenbach<br />
Der 1200. Todestag von Karl dem Grossen<br />
<strong>am</strong> 28.Januar 2014 beflügelt die Kulturindustrie.<br />
Während zahlreiche Verlage<br />
schon Publikationen auf den Markt<br />
gebrachthaben, beginntdie <strong>am</strong>bitionierteste<br />
museale Auseinandersetzung mit<br />
dem grossen Karolinger imJuni 2014 in<br />
seiner Lieblingsresidenz Aachen. Der<br />
König soll die Stadt unter anderem ihrer<br />
heissen Quellen wegen geschätzt haben<br />
und fand dort auch seine letzte Ruhestätte.<br />
Nichtweniger als drei Ausstellungenwerden<br />
sich in Aachen den Themenkreisen<br />
Macht, Kunst und Schätze widmen.<br />
Das Patronathat der deutsche Bundespräsident<br />
übernommen, und man<br />
hofft mitAttraktionen wiedem Lorscher<br />
Evangeliar oder dem Karlschrein in 3D<br />
auf Besuchermassen.<br />
Die Resultate der Jahrestagskultur<br />
sind von unterschiedlicher Qualität. Die<br />
seit September im Landesmuseum Zürich<br />
gezeigteSchau «Karl der Grosse und<br />
die Schweiz» legt den Fokus auf die kulturelle<br />
Hinterlassenschaft der Karolinger<br />
auf dem Gebiet der heutigen Schweiz. Da<br />
die Eidgenossenschaft mit den Klöstern<br />
St.Gallen und Müstair über kulturelle<br />
20 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013<br />
Hot Spots der Epoche verfügt, kann die<br />
karolingische Renaissance mit eindrücklichen<br />
Objekten veranschaulicht werden.<br />
Neben zahlreichen Büchern, in<br />
denen die unterKarl dem Grossen eingeführte<br />
Schönschrift, die karolingische<br />
Minuskel, bewundert werden kann, belegen<br />
auch Steinmetzarbeiten und Reliquiare<br />
den hohen kulturellen Stand der<br />
d<strong>am</strong>aligen Zeit.<br />
Der Begleitband zur Ausstellung ist<br />
eine klassische S<strong>am</strong>mlung von Gelehrtenaufsätzen,<br />
auf die sich die Ausstellung<br />
teilweise stützt. Er beleuchtet<br />
nacheinander Architektur, Skulptur,<br />
Wandmalereien, Kunsthandwerk sowie<br />
Schrift- und Buchkultur. Reich illustriert<br />
und mit einem ausführlichen Apparat<br />
versehen kann der Band dank einer<br />
Landkarte über «sichtbare karolingische<br />
Kunst in der Schweiz» auch zur Ausflugsplanungverwendet<br />
werden.<br />
Weinfurters Meisterwerk<br />
Wersich anhand eines historischen Textes<br />
ein Bild von Karl dem Grossen machen<br />
möchte, hat die Qual der Wahl. Die<br />
drei für diese Rezension untersuchten<br />
Bücher st<strong>am</strong>men vonHistorikern, die an<br />
renommierten deutschen Universitäten<br />
lehren bzw. gelehrt haben. Zwei davon<br />
ziert das Aachener Büstenreliquiar Karls<br />
aus dem Jahr 1349. D<strong>am</strong>it sind die Gemeins<strong>am</strong>keitender<br />
Werkedes emeritierten<br />
Frankfurter Historikers Johannes<br />
Fried und seines Heidelberger Kollegen<br />
Stefan Weinfurter indes bereits erschöpft.<br />
Denn wersich auf eine erhellende<br />
Darstellung einer historischen Figur<br />
freut, mitder man sich, wieder Autordes<br />
vorliegenden Beitrags, seit der Schule<br />
nicht mehr beschäftigt hat, wird bei der<br />
Lektüre von Johannes Frieds 736 Seiten<br />
starkem Werks bitter enttäuscht.<br />
Neben mangelndem Vorwissen auf<br />
Seiten des Lesers liegt dies vermutlich<br />
auch an einer allzu grossen Nähe des Autors<br />
zu seinem Thema. Denn obwohl<br />
Fried nicht weniger als 14 eigene Werke<br />
über Karl den Grossen in der Bibliografie<br />
aufführt, bietet er interessierten Laien<br />
keinen einfachen Zugangzuseinem Spezialgebiet.<br />
Eine romanhafte, mit Metaphern und<br />
szenischen Beschreibungen durchsetzte<br />
Sprache verschleiert den Zugang zuden<br />
wichtigsten Fakten, die für das Verständnis<br />
einer Epoche unabdingbar sind. Den<br />
verwirrten Leser lässt Fried mitAussagen<br />
wie «Annäherungen also, nur Annäherungen<br />
an jene fernen Epochen sind<br />
möglich», buchstäblich in dem Regen<br />
stehen, mit dessen Beschreibung ersein<br />
Buch beginnt.<br />
Einen ganz anderen<br />
Zugang zum Protagonisten<br />
vermittelt Stefan<br />
Weinfurter. Sein<br />
351 Seiten starkes<br />
Buch ist so gut geschrieben,<br />
dass man es<br />
auch dann gerne weiterliest,<br />
wenn man eigentlich<br />
etwas anderes<br />
tun müsste. Weinfurter stellt<br />
gleich zu Beginn vieles klar,nichtnur die<br />
wichtigsten Fakten und Ereignisse, sondern<br />
auch die eigene Position als Forscher.Transparenterklärt<br />
der Historiker,<br />
dass für ihn das Streben nach Eindeutigkeit<br />
die Herrschaft Karls des Grossen<br />
charakterisiere.<br />
Diese These wird anhand zahlreicher<br />
Beispiele erläutert, von der Einführung<br />
der karolingischen Minuskel bis hin zum<br />
politischen Projekt des Frankenkönigs,<br />
die Unordnung der nachrömischen Epoche<br />
durch die Errichtung eines neuen<br />
Kaiserreichs zu beenden. Dabei verweist<br />
Weinfurter stets auch auf die neusten<br />
Forschungsleistungenanderer und überlässt<br />
es seinen Leserinnen und Lesern,<br />
ob sie ihm in seiner These folgen möchtenoder<br />
nicht.<br />
Bevor erimvierten Kapitel auf Kindheit<br />
und Jugend des Frankenkönigs zu
Langzeit-Kaiser,<br />
Stratege und<br />
Kulturpatron: Karlder<br />
Grosse.Bronzestatue<br />
aus H<strong>am</strong>burg,<br />
19.Jahrhundert.<br />
IMAGEBROKER<br />
sprechen kommt, beginnt<br />
Stefan Weinfurter<br />
sein Buch mit<br />
der Analyse unseres<br />
Verhältnisses zu Karl<br />
dem Grossen sowie<br />
einer ausführlichen<br />
Quellenkritik. In<br />
einer einfachen<br />
Sprache vermittelt<br />
er komplexe Sachverhalte,<br />
die für das<br />
spätere Verständnis<br />
der Karlsvita erforderlich<br />
sind, aber<br />
auch empirische<br />
Fakten, wieman das<br />
gemeinhin von<br />
einem Biografen erwartet.<br />
So streicht der<br />
Autor ganz zu Beginn<br />
seines Buches<br />
die sehr lange Regentschaft<br />
Karls –sie dauerte<br />
fast ein halbes<br />
Jahrhundert –als Spezifikum<br />
heraus und<br />
erwähntwenig später,<br />
dass das Skelett des<br />
Kaisers auf eine Körpergrösse<br />
von 1,80 bis<br />
1,90 Meter schliessen<br />
lässt. Dazu bemerkt<br />
Weinfurter: «Die heute<br />
noch vorhandenen<br />
90 Knochen und Knochenfragmente<br />
sind<br />
die Gebeine eines<br />
Greises, so dass man<br />
den einen oder anderenZentimeter<br />
für den<br />
jungen Karl vielleicht<br />
noch dazurechnen<br />
darf.»<br />
Weinfurters Werk<br />
überzeugt durch einen<br />
klaren Aufbau, der chronologisch<br />
gegliedert ist, aber gleichzeitig<br />
den Bogen von den politischen Ereignissen<br />
bis hin zu den kulturellen Errungenschaften<br />
schlägt. Die Kriege gegen Langobarden,<br />
Baiern und Sachsen werden<br />
ebenso nachvollziehbar dargestellt wie<br />
der Aufbau eines internationalen Gelehrtenkreises<br />
oder die mit viel politischem<br />
Kalkül verfolgte Beziehung zum Papsttum.<br />
Besonders gelungenist die Analyse<br />
des F<strong>am</strong>ilienlebens von Karl dem Grossen.<br />
Die politisch-taktischen Überlegungen<br />
für die zahlreichen Ehen und Liebschaften<br />
des Monarchen werden ebenso<br />
offengelegt wie biografische Details, die<br />
F<strong>am</strong>ilienmitglieder menschlich fassbar<br />
machen. Auch die Kinderschar wird als<br />
Machtfaktor analysiert. Während Karl<br />
seine «allersüssesten Töchter» (dulcissimae<br />
filiae) zeitlebens bei sich behielt<br />
ohne sie zu verheiraten, um Machtansprüche<br />
von Schwiegersöhnen zu verhindern,<br />
schickte erzwei Söhne schon<br />
im Kindesalter als Regenten von Teilreichen<br />
in die Ferne.<br />
Ausder Sichteines Höflings<br />
Eine alternative Perspektive auf das<br />
Karlsthema wählte der Tübinger Geschichtsprofessor<br />
Steffen Patzold. Er<br />
schrieb die Lebensgeschichte des Höflings<br />
Einhard, der 829 eine Karlsvitaverfasste.<br />
D<strong>am</strong>it schuf Einhard nicht nur eine<br />
der wichtigsten Quellen über Karl den<br />
Grossen, sondern begründete auch das<br />
Genre der Herrscherbiografie neu, das<br />
seit der Antike inVergessenheit geraten<br />
war. Als enger Berater Karls des Grossen<br />
war Einhard selber ein wichtiger Augenzeuge,<br />
blieb darüber hinaus aber auch<br />
noch unter Karls Sohn und Nachfolger<br />
Ludwig dem Frommen bei Hof.<br />
So vermittelt Steffen Petzolds Einhard-Monografie<br />
wertvolle Einblicke in<br />
die auf die Karlszeit folgenden Wirren,<br />
die schliesslich in die Aufspaltung des<br />
Reiches mündeten. ●<br />
24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 21
10CFWMMQ4CMRADX7SRHccXwpbouhMFok-DqPl_xYUOWVNYGvs40gU_bvv9uT-SQHNUWL0l7TKwZb-4cPQk6QrqSpxRs_78AMcmaC4nyKAnERjBOqWzaD3MtQbK5_X-Atj-KZ-AAAAA<br />
10CAsNsjY0MDAx1TUyMDU2NwEAzTpvKw8AAAA=<br />
Sachbuch<br />
Erlesene<br />
Weine …<br />
DieSorte Heida wirdauchPaïen oder Savagnin<br />
genannt und st<strong>am</strong>mt vom Tr<strong>am</strong>iner ab. Sie<br />
gehört zum grossen kulturellen Schatz des<br />
Walliser Weinbaus und wird nur in homöopathischen<br />
Mengen angebaut.<br />
Mit Chandra Kurt zus<strong>am</strong>men hat Provins einen<br />
charakterstarken Weisswein produziert, der<br />
sich kraftvoll undgeschmeidiganden Gaumen<br />
schmiegt. Ein hervorragender Essensbegleiter<br />
mit viel Schmelz.<br />
Fr. 19.50<br />
Heida AOC Chandra Kurt<br />
Schweiz<br />
Wallis<br />
Heida<br />
10–12°C<br />
Aperitif oder als<br />
Begleiter zu<br />
Krustentieren<br />
22 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013<br />
Biografie Mit«Nils Holgersson» wurde Selma Lagerlöf (1858–1940) zur<br />
Übermutterder schwedischen Literatur<br />
AusderschäbigstenSituat<br />
Wunderbareszaubern<br />
BarbaraThoma: Selma Lagerlöf. Von<br />
Wildgänsen und wilden Kavalieren.<br />
Römerhof,Zürich 2013. 350 Seiten,<br />
Fr.39.90.<br />
VonKathrin Meier-Rust<br />
Selma Lagerlöf war über vierzig und bereits<br />
eine berühmte Schriftstellerin, als<br />
sie eine ungewöhnliche Anfrage erreichte:<br />
Das einzige inder Schule nebst Katechismus<br />
und Bibel zugelassene Lesebuch<br />
sei veraltet, schrieb ihr eine Kommission<br />
der Nationalen Schwedischen<br />
Lehrervereinigung. Ob die Schriftstellerin,<br />
selbst einmal Lehrerin, an einem «literarischen<br />
Geografiebuch» mitarbeiten<br />
möchte, das Schulkindern die verschiedenen<br />
Regionen Schwedens mit Naturschilderungen,<br />
Sagen, Gedichten und<br />
Erzählungen nahebringen würde? Der<br />
Auftrag interessierteLagerlöf sehr,erfüllen<br />
wollte sie ihn jedoch auf ihre eigene<br />
Art: In höflichen Briefen stellte sie klar,<br />
dass sie ein solches Buch nur ganz alleine<br />
schreiben wolle, d<strong>am</strong>it es«durchgängig<br />
eine …volkliche schwedische Stimmung<br />
habe».<br />
In der Folge unternahm die Schriftstellerin<br />
mehrere Recherche-Reisen,<br />
s<strong>am</strong>melte Unmengen an Fachliteratur<br />
und lokalen Legenden, Sagen und Geschichten,<br />
die sie seitKindertagen liebte.<br />
Lange suchte sie nach einer Erzähltechnik,<br />
um das überreiche Material kindgerechtzupräsentieren.<br />
Bis ihr,wie sie spätererzählte,<br />
die Tierbücher vonRudyard<br />
Kiplingeingefallen seien –und d<strong>am</strong>itdie<br />
Lösung.<br />
Mit dem fliegenden<br />
Nils Holgersson wurde<br />
die schwedische<br />
Schriftstellerin<br />
Selma Lagerlöf1906<br />
weltberühmt.<br />
Wenn Kraniche tanzen<br />
Das Volksschullehrbuch für Geografie,<br />
das 1906/07 in zwei Bänden erschien,<br />
hiess «Nils Holgerssons wunderbare<br />
Reise». Im Zeitalter vor Harry Potter war<br />
es das gewaltigste literarische Werk, das<br />
je für Kinder geschrieben wurde. Die Parallelen<br />
zu Kiplings Dschungelbuch sind<br />
tatsächlich frappierend: dem Wolfsrudel<br />
im Dschungel entspricht in Schweden<br />
die Schar der Wildgänse; wie dort die<br />
Elefanten, tanzen hier die Kraniche; der<br />
schwarze Panther wird zum schwarzen<br />
Raben und der schreckliche Tiger Shere<br />
Khan zum gerissenen Fuchs Smirre. Und<br />
doch ist die abenteuerliche Flugreise des<br />
14jährigen Nils, der zur Strafe für seine<br />
Bosheit ineinen Däumling verwandelt<br />
wird und nun die Sprache der Tiere versteht,<br />
eine ganz und gar eigene Schöpfung,<br />
in der sich, wie immer bei Selma<br />
Lagerlöf,die reale Welt mitdem Übernatürlichen<br />
und Mythischen ganz zwanglos<br />
verbindet.<br />
Mit Nils Holgersson begann ein «Höhenflug»<br />
–soBarbara Thoma in ihrer liebevollen<br />
neuen Biografie –, der Lagerlöf<br />
als erste Frau zum Literatur-Nobelpreis<br />
trug (1909). Und weiter zur Rolle als prominente<br />
Pazifistin und Frauenrechtlerin,<br />
als erstes weibliches Mitglied der Schwedischen<br />
Akademie (1914), als Gutsherrin<br />
über den verlorenen elterlichen Hof, den<br />
sie zurückkaufen konnte, und als weltweit<br />
verehrte Überfigur der schwedischen<br />
Literatur.<br />
Selma –die Biografin nenntsie durchwegs<br />
beim Vorn<strong>am</strong>en, wie dies selbst in<br />
der wissenschaftlichen Literatur in<br />
Schweden Brauch sei –wuchs als viertes<br />
von fünf Kindern auf dem Gutshof<br />
Marbacka (heuteein Museum) im schwedischen<br />
Värmland auf. Während die beiden<br />
Brüder die Schule besuchten, wurden<br />
die drei Mädchen vonGouvernanten<br />
unterrichtet. Selma, die an einem Hüftleiden<br />
litt,das sie zeitlebens hinken liess,<br />
liebte die Märchen, Spukgeschichten<br />
und Lieder ihrer Grossmutter über alles<br />
und begann schon als kleines Mädchen<br />
zu dichtenund zu schreiben.<br />
Während der trunksüchtige Vater den<br />
Hof ruinierte, studierte die begabte<br />
Selma <strong>am</strong> Königlichen Höheren Lehrerseminar<br />
in Stockholm. Als Lehrerin vermochte<br />
sie endlich ihre ersten, in alle<br />
Stil- und Gattungsrichtungen ausufernden<br />
Schreibversuche zu einem Roman zu<br />
bündeln: Zu «Gösta Berling», der Saga<br />
um zwölf wilde Kavaliere, insbesondere<br />
um den schönen, aber sündigen Pfarrer<br />
Gösta, dem die Frauen reihenweise verfallen,<br />
den <strong>am</strong> Ende aber die wahreLiebe<br />
läutert.<br />
«Gösta Berling» fand enorme Beachtung.<br />
Doch im wahren Leben war von<br />
wilden Kavalieren keine Spur zu sehen;<br />
bis heute hat die Lagerlöf-Forschung<br />
noch nicht einmal einen N<strong>am</strong>en eines<br />
Verehrers der klugen jungen Selma gefunden.<br />
Dafür treten nun Frauen in ihr
10CFXMsQ6DMBCD4Se6yOZwQnpjxYYYEPstiJn3n9p06-Dt879toYLf3ut-rkcQmGUT5E1BqXTUaIsKewuSmkB_fVUlZ_5xA3t1eA5ipFFJGGTOBJn0EchxBspz3R-DNjhFfwAAAA==<br />
10CAsNsjY0MDAx1TUyMDU2NwUAWwpoXA8AAAA=<br />
ionetwas<br />
Leben. Zunächst die etwas ältere, ebenso<br />
gebildete wie weltgewandte jüdische<br />
Schriftstellerin Sophie Elkan, die Selma<br />
zu langenexotischen Bildungsreisen entführt:<br />
nach Italien, Ägypten, Jerusalem.<br />
«Man lernt, frei zu sein» schrieb Selma<br />
d<strong>am</strong>als nach Hause. 27 Jahre lang, bis zu<br />
Sophies Tod imJahr 1921, schrieben sich<br />
die Freundinnen regelmässig zwei Briefe<br />
proWoche.<br />
Längst gab es da schon eine zweite<br />
Briefpartnerin, mit der Selma über<br />
40 Jahre korrespondieren sollte: Valborg<br />
Olander, eine junge Professorin für<br />
schwedische Literatur, die ihr bald zur<br />
unentbehrlichen Lektorin, Sekretärin<br />
und Organisatorin wurde: «Eine richtige<br />
Schriftsteller-Ehefrau» nennt Selma sie<br />
zärtlich-ironisch in einem Brief.<br />
Frauenliebschaften<br />
Sophie und Valborgignorierten sich nach<br />
Kräften. Beide lebten zwar in Lagerlöfs<br />
Haus, jedoch nie gleichzeitig. Gemunkelt<br />
wurde zwar schon d<strong>am</strong>als, doch der<br />
Skandal platzte erst über sechzig Jahre<br />
nach Lagerlöfs Tod, im Jahr 2006,als die<br />
Publikation ihrer Briefeunmissverständlich<br />
klarmachte, dass die weibliche ménage<br />
àtrois durchaus nicht nur platonischer<br />
Art gewesen war.<br />
Feinfühlig und klar erzählt Barbara<br />
Thoma von solch komplizierten Verhältnissen,<br />
kundig referiert sie über Entstehung,<br />
Inhalt und Aufnahme des grossen,<br />
und heutezum grossen Teil vergessenen<br />
Lagerlöf’schen Werkes. Selma selbst<br />
kommt bei alledem ebenso reichlich zu<br />
Wort, wie ihre Zeitgenossen, Schüler,<br />
Verehrer und Kritiker.D<strong>am</strong>itentstehtein<br />
abgerundetes Bild dieser leidenschaftlichen<br />
Geschichtenerzählerin, deren<br />
Credo es war, «auch aus schäbigsten Situationen<br />
das poetisch Wunderschöne<br />
zum Vorschein zu bringen.» ●<br />
CHRISTOPH RUCKSTUHL /NZZ<br />
Theologie DerdritteTeil vonHans Küngs<br />
Lebenserinnerungen wirdzuseinem<br />
Vermächtnis<br />
EinMachtloser<br />
unterMächtigen<br />
Hans Küng: Erlebte Menschlichkeit.<br />
Erinnerungen. Piper,München 2013.<br />
752 Seiten, Fr.39.90,E-Book 25.90.<br />
VonKlaraObermüller<br />
Autobiografien schreiben viele. Wenn<br />
Hans Küng es tut, dann wird aus der<br />
Lebensgeschichte persönlich reflektierte<br />
Welt- und Kirchengeschichte. Der<br />
Schweizer Theologeist in diesem Jahr 85<br />
geworden. Er hat alles erlebt, was nach<br />
1945 in Kirche und Welt von Bedeutung<br />
war. Durch seine unbeugs<strong>am</strong>e Haltung<br />
gegenüber Rom ist er zum Repräsentanten<br />
einer kritischen Theologie geworden.<br />
Durch seinen Einsatz für den Dialog<br />
unter den Weltreligionen und die Lancierung<br />
des Projekts «Weltethos» hat er<br />
sich Gehör bei Regierungschefs und internationalen<br />
Organisationen verschafft.<br />
Der soeben erschienene dritte Band seiner<br />
Lebenserinnerungen legt davon beredtes<br />
Zeugnis ab.<br />
Das Buch setzt dort ein, wo Küngs<br />
Leben seine radikalste Wendung erfahren<br />
hat: beim Entzug der Lehrbefugnis<br />
durch Papst Johannes Paul II. Und es<br />
endet an der Schwelle zur unmittelbaren<br />
Gegenwart mit Überlegungen zur jüngstenPapstwahl<br />
und ersten Schritten einer<br />
Annäherung zwischen Tübingen und<br />
Rom. Innerhalb dieser beiden Pole lässt<br />
Küng, der sich ein Leben lang als einen<br />
«aufgeklärten, ökumenisch offenen und<br />
gesellschaftskritischen Christen» verstanden<br />
hat, die Themen seines Lebens<br />
noch einmal Revue passieren. Es sind<br />
dies: «Die unausweichliche Frage nach<br />
Gott –Orientierung anJesus Christus –<br />
Kirche, Konzil und Reform –die mögliche<br />
Einheitder Christenheit.»<br />
Buchstäblich mit letzter Kraft hat sich<br />
der schweranParkinson erkrankteTheologedieser<br />
gewaltigen Aufgabe entledigt<br />
und ein Werk vorgelegt, das durch seine<br />
Klarheit besticht und durch seine Offenheitberührt.<br />
Es mag in manchen Teilen etwas gar<br />
ausführlich geratensein; doch Küngsgesellschaftliche<br />
Bedeutung, seine theologischen<br />
Positionen, seine religionspolitischen<br />
Impulse und sein<br />
Verständnis einer zwar entschiedenen,<br />
aber stets loyalen Opposition<br />
innerhalb der Kirche rechtfertigen<br />
den Umfangdes Buches allemal.<br />
Geradezu zum Vermächtnis<br />
wird es im letzten Kapitel,<br />
in dem ein alt gewordener<br />
Kämpfer sich seiner<br />
Endlichkeit stellt und in<br />
schonungsloser Ehrlichkeit<br />
der Frage<br />
nachgeht, wie er<br />
dem eigenen Leiden<br />
und Sterben<br />
zu begegnen gedenkt.<br />
●<br />
Erlesene<br />
Weine …<br />
Die F<strong>am</strong>ilie Tessari produziert seit 130 Jahren<br />
Wein, bei Soave imVeneto. Das Weingut hat<br />
sich ein hervorragendes Renomée im Weisswein<br />
erarbeitet. Die Weine zeichnen sich vor<br />
allem durch ihre Eleganz und Trinkfreude aus.<br />
Dieselbe Trinkfreude findet man in den klassisch,<br />
traditionellen Rotweinenvon Ca’Rugate.<br />
Der Ripasso C<strong>am</strong>poBastigliaist einsehrschönes<br />
Beispiel, wie sich Kraft, Trinkfreude und<br />
Konzentration in perfekter Harmonieergänzen.<br />
Das Weingut Ca’Rugate wurde im G<strong>am</strong>bero<br />
Rosso 2013 als einziges Weingut Italiens mit<br />
2x3 Bicchieri ausgezeichnet.<br />
Fr. 18.90<br />
Ripasso Valpolicella C<strong>am</strong>po Bastiglia Ca’Rugate<br />
Italien<br />
Veneto<br />
Corvina,<br />
Rondinella,<br />
Corvinone<br />
14–16°C<br />
Zürcher Geschnetzeltes,<br />
Hirschpfeffer und<br />
Hartkäse<br />
24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 23
10CFXMoQ7DQAwD0C_Kyb4sSW-BU1lVMI2HTMP9f7ReWYElg2dvW1rDlde6f9Z3EniYdJiGJ83agGcs1jgiSVoH9XmqOLvHzQs4XKE1jZBCK0JgoqMivKjzoeYavR3f3x_5ejchgAAAAA==<br />
10CAsNsjY0MDAx1TUyMDU2NwMA4VthxQ8AAAA=<br />
Erlesene<br />
Weine …<br />
Gigondas, im Herzen der Côtes du Rhône<br />
gelegen, wird nicht zu unrecht als kleiner<br />
Brudervon Châteauneuf du Pape gehandelt. Die<br />
Weinberge an den Hängen der Dentelles des<br />
Montmirail bringen kraftvolle und gut strukturierteWeinehervor,die<br />
sich durchihreHarmonieund<br />
Eleganz auszeichnen. Der Gigondasder<br />
DomaineSaint-François-Xavier präsentiert sich<br />
kräuterig, würzig mit Noten von roten Früchten.<br />
Im Gaumen zeigen sich Aromen von<br />
Kirschen, wirkt vollmundig mit runden Tanninen<br />
und einem langanhaltenden Abgang.<br />
Fr. 19.90<br />
Gigondas Prestige Dentelles<br />
Frankreich<br />
Côtes du Rhône<br />
Grenache, Syrah,<br />
Mourvedre, Cinsault<br />
16–18°C<br />
Wild, Ente und<br />
Coq au vin<br />
Sachbuch<br />
Biografie DerObwaldner Hans Imfeld (1902–1947) warein<br />
Abenteurer,der als französischer Offizier in Vietn<strong>am</strong> und<br />
Laos kämpfte<br />
VonSarnenin<br />
denDschungel<br />
Indochinas<br />
Carlo vonAh: Durch Dschungel und Intrigen.<br />
Ein Innerschweizer in Indochinas<br />
Kriegswirren. Martin Wallimann,<br />
Alpnach 2013. 375 Seiten, Fr.29.–.<br />
VonUrs Rauber<br />
Schweizer Söldner in fremden Diensten<br />
kennen eine lange Tradition. Ein spezieller<br />
Fall stellt jener von Hans Imfeld<br />
(1902–1947) aus Sarnen (OW) dar, der als<br />
französischer Offizier <strong>am</strong> Ende des Zweiten<br />
Weltkrieges in Indochina kämpfte<br />
und scheiterte.<br />
Imfeld hatte als Bub das Kollegium in<br />
Sarnen besucht, das Handelsdiplom in<br />
Fribourg erworben und war später als<br />
Sohn einer französischen Mutter nach<br />
Frankreich gezogen. In Fontainebleau<br />
absolviert er die Offiziersschule. 1938<br />
schickteman ihn nach Indochina, um als<br />
militärischer Anführer mitzuhelfen, die<br />
französische Kolonialherrschaft in Vietn<strong>am</strong><br />
und Laos zu sichern. Imfeldwar ein<br />
Abenteurer, Guerillakrieger, Patriot und<br />
Opiumsüchtiger. Zudem ein bigotter Katholik,<br />
der viel betete und in höchster<br />
Gefahr gelobte, «eine Wallfahrt zu Fuss<br />
von Sarnen nach Lourdes» zu unternehmen.<br />
Konfliktfreudig, oft undiplomatisch,<br />
aufbrausend, jähzornig verlangte<br />
er sich und seinen Leuten viel ab,haderte<br />
im Unglück und war ein zutiefst vereins<strong>am</strong>terMensch.<br />
Carlo von Aherzählt Imfelds Lebensgeschichte<br />
aufgrund vondessen erhaltenen<br />
Tagebüchern, insges<strong>am</strong>t rund 800<br />
Seiten, und reichert diese mit fiktiven<br />
Forschung Florian Fisch analysiert dieKontroverse um gentechnisch veränderte<br />
Riesenstreit umwinzigenVersuch<br />
Florian Fisch: Ein Versuch. Genforschung<br />
zwischen den Fronten. Helden,<br />
Zürich 2013. 224Seiten, Fr.36.–.<br />
VonPatrickImhasly<br />
Gentechnisch verändertePflanzen wachsen<br />
weltweit auf Millionen Hektaren<br />
Ackerfläche. Dank ihrer Eigenschaften<br />
sind sie zum Beispiel vorSchädlingengeschützt<br />
– zum Nutzen des Menschen.<br />
Einen nachweisbaren Schaden hat von<br />
ihrem Anbau bisher niemand erlitten.<br />
Trotzdem gelten diese Pflanzen in Europa<br />
vielen Bauern und Naturfreunden<br />
Dialogen an, die er aus weiteren Quellen<br />
und Gesprächen mit Bekannten Imfelds<br />
schöpfte. Der manchmal ausschweifende<br />
«Dokumentarroman» gibt Einblick in<br />
das französische Kolonialgebaren im<br />
Fernen Osten, das die fremden Völker<br />
«zivilisieren» wollteund sich gleichzeitig<br />
der japanischen und chinesischen «Konkurrenz»<br />
erwehrte, die ebenfalls ihre<br />
Einflusssphären zu vergrössern suchten.<br />
Der Krieg im vietn<strong>am</strong>esischen und laotischen<br />
Dschungel war begleitet von<br />
Angst, Hunger, Elend und Chaos –aber<br />
auch vom Zwist zwischen den französischen<br />
Résistance-Anhängern und den<br />
Vichy-Franzosen in Indochina.<br />
Kurz vor der Kapitulation Japans <strong>am</strong><br />
11. August 1945 war Imfeldzum französischen<br />
Kommissar für das Königreich<br />
Laos in Luang Prabang ernannt worden.<br />
Doch schon im September 1945 entwaffneten<br />
die viel stärkeren chinesischen<br />
Truppen die Franzosen; es war für Imfeld<br />
«der schlimmste Augenblick meines<br />
Lebens».<br />
Die persönliche Niederlage Imfelds<br />
ist verwoben mit der Agonie der französischen<br />
Kolonialherrschaft in Asien.<br />
Gleichzeitig stieg im benachbarten Vietn<strong>am</strong><br />
der asketische Ho Chi Minh, der clever<br />
zwischen den Fronten agierte, zum<br />
Befreier auf. Das Buch schildert diese<br />
weltpolitisch bedeuts<strong>am</strong>e Entwicklung<br />
aus einer eindrücklichen Nahsicht. Sarkastisch<br />
werden hingegen de Gaulles<br />
Durchhaltebefehle beschrieben, die er<br />
per Fallschirm an die französischen<br />
Kämpfer absetzen liess. Imfelds Urteil:<br />
de Gaulle habe über «grossartige Rheto-<br />
als des Teufels. Warum ist die Debatte<br />
um die grüne Gentechnik gerade auch in<br />
der Schweiz dermassen emotional aufgeladen?<br />
Dieser Frage geht der Wissenschaftsjournalist<br />
Florian Fisch in seinem<br />
Buch «Ein Versuch –Genforschung zwischen<br />
den Fronten» nach.<br />
Grosse Rätsel lassen sich <strong>am</strong> besten im<br />
Kleinen erkunden, deshalb hatFisch den<br />
richtigen Ansatz gewählt, indem er die<br />
Kontroverse an einem Beispiel aufarbeitet.<br />
Als Modellfall dient ihm der Freisetzungsversuch<br />
von gentechnisch verändertem<br />
Weizen durch den ETH-Dozenten<br />
Christoph Sautter im Jahre 2004.<br />
Akribisch hatFisch die Geschichte dieses<br />
24 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013
10CFXMoQ6AMBAD0C-6pb3jNsYkwREEwZ8haP5fwXCIiiavXdfmCV_mZTuWvREYXBRupTS6p4rcyuiJ9e2kK2hTV6SV_PMC1myw6EZIoQchMDGNQTVo_SH6Bkj3eT1ULJ9hgAAAAA==<br />
10CAsNsjY0MDAx1TUyMDU2NwcAd2tmsg8AAAA=<br />
Erlesene<br />
Weine …<br />
Unweit vonAlba, im Herzendes Piemont, liegt<br />
das Weingut der F<strong>am</strong>ilie Grasso. Seit 1927<br />
produziert die F<strong>am</strong>ilie hier hochwertige<br />
Piemonteser Weine. Diese spiegeln die Landschaft<br />
und Böden in Reinkultur wider. Der<br />
Barberaist ein ausgezeichnetes Beispielfür das<br />
Schaffen vonFederico Grasso, derheutefür die<br />
Weine verantwortlich ist. Intensiv, rubinrote<br />
Farbe, duftet nach Himbeeren und Erdbeeren.<br />
Sehr schöne Säure und eine gute Struktur. Der<br />
Barbera ist ein kräftiger Wein, jedoch schön<br />
und saftig zutrinken.<br />
Fr. 15.40<br />
rik» verfügt, doch über keinerlei Kenntnisse<br />
der lokalen Verhältnisse.<br />
Die reichlich eingestreuten Tagebuchauszüge<br />
geben die Wut, Verzweiflung<br />
und den Schmerz des Verfassers in einer<br />
nicht selten rüden, von Flüchen durchsetzten<br />
Sprache wider. Spürbar wird die<br />
Schmach des 44-Jährigen Berufsoffiziers,<br />
als er aus Laos abgezogen wird und<br />
für ihn monatelang keine weitere VerwendunginAussichtsteht.<br />
Am 14. Juli 1946 schliesslich wird Imfeld<br />
in Saigon zum Ritter der Ehrenlegion<br />
befördert und danach zum Kommandanten<br />
der K<strong>am</strong>pfgruppe Nordwest in Dien<br />
Pflanzen in derSchweiz<br />
Experiments und dessen politische Instrumentalisierung<br />
recherchiert. Er hat<br />
mit allen relevanten Akteuren gesprochen,<br />
die an dem Versuch beteiligt waren<br />
–vom Chef des zuständigen Bundes<strong>am</strong>ts<br />
(d<strong>am</strong>als Buwal), Philippe Roche, bis zur<br />
Ikone der Gentechgegner,der Basler Biologin<br />
Florianne Koechlin.<br />
Florian Fisch erzählt die Geschichte in<br />
einer packenden Mischung von Hintergrundbericht,<br />
Interviews und rekonstruierten<br />
Reportageelementen. Man ist<br />
dabei, wenn Christoph Sautterbeim Versuchsfeld<br />
in Lindau übernachtet, aus<br />
Angst die Greenpeace-Aktivisten könnten<br />
sein Versuchsfeld vernichten. Unnö-<br />
Bien Phu. Doch der Krieg verlief für<br />
Frankreich desaströs, und Imfeld wurde<br />
in die Heimatzurückbeordert. Einen Tag<br />
vorseiner Abreise nach Frankreich fiel er<br />
dem Attentat eines Vietminh-Agenten<br />
zum Opfer, der ihn mit einem anderen<br />
Offizier verwechselt hatte.<br />
Zwei Jahre später –imApril 1949 –<br />
wurdeHans ImfeldinSarnen beigesetzt.<br />
Das gut geschriebene Buch aus dem Obwaldner<br />
Wallimann Verlag erzählt diese<br />
unbekannte Söldnergeschichte spannend;<br />
nur schade, dass es weder ein Inhaltsverzeichnis<br />
noch ein Personenregisterenthält.<br />
●<br />
Hans Imfeld (Zweiter<br />
vonrechts)ineiner<br />
Opiumhöhle in Saigon,<br />
um 1940.<br />
tig nur, dass sich der Autor Florian Fisch<br />
auf die eine Seite schlägt. «Das Buch ...<br />
nimmt Stellung für eine Partei, die sich<br />
schwertut, ihre Position klar zu vermitteln:<br />
die Wissenschaft», schreibt Fisch.<br />
Dabei hätten die Fakten doch für<br />
sich gesprochen. So gesteht Buwal-Chef<br />
Philippe Roche, der d<strong>am</strong>als neutral hätte<br />
sein sollen, ein, er habe «nicht viel Sympathie<br />
für das Projekt» gehabt. Und dass<br />
der Berner Chefbe<strong>am</strong>te vor der ersten<br />
Ablehnung des Experiments, statt die<br />
Umstände nüchtern abzuwägen, den<br />
Entscheid «in einer Art Meditation» gefällt<br />
hat, schlägt dem Fass noch heute<br />
den Boden aus. ●<br />
Barbera d’Alba Silvio Grasso DOC<br />
Italien<br />
Piemont<br />
Barbera<br />
16–18°C<br />
Pasta, Trockenfleisch,<br />
typisch<br />
italienische Küche<br />
24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 25
Sachbuch<br />
Nationalsozialismus Im Dezember vor50Jahren begann in Frankfurtder Auschwitz-Prozess.Der<br />
jüdischeEmigrant Fritz Bauer dirigierte dieAnklage<br />
«IhrhättetNeinsagenmüssen»<br />
Ronen Steinke: FritzBauer oder Auschwitz<br />
vorGericht. Piper,München 2013.<br />
352 Seiten, Fr.34.90,E-Book 19.–.<br />
Devin O. Pendas: Der Auschwitz-Prozess.<br />
Völkermordvor Gericht. Siedler,<br />
München 2013. 432Seiten, Fr.37.90,<br />
E-Book 24.90.<br />
VonClaudia Kühner<br />
«Wenn ich aus dem Bürokomme, betrete<br />
ich feindliches Ausland», sagte Fritz<br />
Bauer zu Anfang der sechziger Jahre. Er<br />
war jetzt Generalstaatsanwalt in Hessen<br />
und hatte sich viele Gegner gemacht<br />
durch Verfahren, die mit der NS-Zeit zu<br />
tun hatten. Die Justiz war durchsetzt mit<br />
Altnazis –und mitten unterihnen wirkte<br />
der Jude, Emigrant und Sozialdemokrat,<br />
der es sich zur Aufgabe gemacht hatte,<br />
die grosse Öffentlichkeitmit den Mitteln<br />
des Rechts über die Verbrechen des Dritten<br />
Reichs aufzuklären. Anfeindungen<br />
bis hin zu Morddrohungen gehörten zu<br />
seinem Alltag. Man fand ihn <strong>am</strong> 1. Juli<br />
1968 totinder Badewanne. Die Gerichtsmedizin<br />
attestierte einen natürlichen<br />
Tod.<br />
Fürimmer mitBauers N<strong>am</strong>en verbunden<br />
ist der Auschwitz-Prozess, der im<br />
Dezember 1963eröffnet wurde. Ohne ihn<br />
hätte esdieses Verfahren nicht gegeben.<br />
Bauers Haltung war: Jeder, der mitgemacht<br />
hat, ist schuldig, auch wenn er<br />
nicht eigenhändig gemordet hat. D<strong>am</strong>it<br />
stand er unterJuristen ziemlich alleine.<br />
Eineins<strong>am</strong>er Mensch<br />
Zum 50. Jahrestag des Auschwitz-Prozesses<br />
hat der Jurist und Journalist<br />
Ronen Steinkeeine Biografie Bauers vorgelegt.<br />
Kein leichtes Unterfangen, denn<br />
als Mensch war Fritz Bauer extrem verschlossen.<br />
Mutmasslich war er homosexuell.<br />
Jedenfalls blieb er zeitlebens allein,<br />
und auch einige Freundschaften<br />
wie jene zu Thomas Harlan, dem Sohn<br />
des NS-Filmregisseurs, nahmen ihm die<br />
Eins<strong>am</strong>keit nicht. Die flüssig geschriebene<br />
Biografie ist dennoch informativ,<br />
denn im Vordergrund steht Bauers öffentliches<br />
Wirken. Steinke erschliesst<br />
auch neue Quellen über die frühen Jahre.<br />
1903 inStuttgart geboren, Sohn assimilierter<br />
Juden, studierte Fritz Bauer in<br />
Heidelbergund TübingenJura. Er machte<br />
bei einer jüdischen Verbindung mit,<br />
war an jüdischen Themen interessiert.<br />
Sein tiefes Engagementaber galt baldder<br />
Sozialdemokratie. Schon dies machte<br />
den jungen Juristen im württembergischen<br />
Staatsdienst zum Aussenseiter.<br />
Nach einer mehrmonatigen KZ-Haft entk<strong>am</strong><br />
Bauer 1936 nach Dänemark und<br />
1943 nach Schweden. Hier schloss er sich<br />
anderen emigrierten Sozialdemokraten<br />
wie Willy Brandt und Bruno Kreisky an.<br />
Hier arbeitete er an seinen Ideen über<br />
Kriegsverbrechen vorGericht.<br />
Um diese Vorstellungen umzusetzen,<br />
wollte Bauer nach Kriegsende zurück<br />
Am 20.Dezember<br />
1963 begann in<br />
Frankfurt,im<br />
Rathaus Römer,der<br />
Auschwitz-Prozess.<br />
FritzBauer dirigierte<br />
die Anklage,blieb<br />
aber selber im<br />
Hintergrund.<br />
nach Deutschland. 1949 wurde erzum<br />
Generalstaatsanwalt in Braunschweig<br />
berufen. Hier führte er1952 seinen ersten<br />
Prozess mit öffentlicher Wirkung.<br />
Verhandelt wurden der 20. Juli und die<br />
Frage, ob es Verleumdungwar,die Attentäterals<br />
«Verräter» zu bezeichnen.<br />
Für Bauer hatte der Widerstand nicht<br />
nur legitim, sondern auch legal gehandelt,<br />
und den Millionen ehemaliger<br />
Wehrmachtsangehörigen hielt er ein «Ihr<br />
hättet Nein sagen müssen» entgegen.<br />
Jenseits des Strafrechts strebte Bauer<br />
eine Art «Reeducation» an. Zu diesem<br />
Zweck zogerZeithistoriker als Gutachter<br />
heran. Und machte sich d<strong>am</strong>it ringsum<br />
Feinde. Bauer vermied es, seine jüdische<br />
Herkunft zu erwähnen. Nur schon weil<br />
zurückgekehrteJuden, zumal ein Staatsanwalt,<br />
im Nachkriegsdeutschland gern<br />
als «Rächer» verunglimpft wurden.<br />
1956 wurde Bauer zum Generalstaatsanwalt<br />
nach Hessen berufen, und in<br />
Frankfurt erreichten ihn Hinweise aus<br />
Buenos Aires auf Eichmanns Versteck.<br />
Misstrauisch, wieerinzwischen war,gab<br />
er sie nicht andie deutschen Behörden<br />
weiter,sondern an den israelischen Mossad,<br />
der Eichmann 1960 dann entführte.<br />
Bauer wollte verhindern, dass der Organisatordes<br />
Holocaust gewarntwürde.<br />
Nur durch Zufall gerieten auch erste<br />
konkrete schriftliche Hinweise auf Täter<br />
in Auschwitz in die Hände der Justiz,<br />
und Bauer «lotste» das Verfahren nach<br />
Frankfurt. 22 Angeklagte standen<br />
schliesslich in einem fast zweijährigen<br />
Verfahren vor Gericht. Bauer dirigierte<br />
die Anklage, überliess den Gerichtssaal<br />
aber jungen, nicht belasteten Staatsanwälten,<br />
was Steinke als «einzigartigen<br />
Glücksfall» bezeichnet. Bauers grosses<br />
Ziel war es, mit dem Prozess Lehren für<br />
einen demokratischen Rechtsstaat aufzuzeigen.<br />
Für die Richter aber standen<br />
die konkreten Tatumstände im Zentrum.<br />
In früheren Verfahren waren Hitler,<br />
Himmler, Heydrich bereits zu «Haupttätern»<br />
erklärt worden, alle anderen galten<br />
in der deutschen Rechtssprechung von<br />
da an als Mittäter und wurden meist nur<br />
wegen Beihilfe verurteilt. Dies geschah<br />
dann 1965 auch im Auschwitz-Prozess.<br />
Als fehlgeschlagen bezeichnet Steinke<br />
Bauers Absicht, die Deutschen aufzuklären,<br />
obwohl der Prozess medial breit begleitetwurde.<br />
Bauer vereins<strong>am</strong>te immer mehr, arbeitete<br />
bis zum Umfallen, rauchte Kette.<br />
Wenige Monate vor seinem plötzlichen<br />
Tod 1968 gewann die NPD in Baden-<br />
Württemberg, seiner alten Heimat,<br />
9,8 Prozent der Stimmen.<br />
Gescheiterter Prozess<br />
Wer sich vor allem für die rechtlichen,<br />
prozesstaktischen und historiografischen<br />
Imperative des Auschwitz-Prozesses<br />
interessiert, dem bietet der <strong>am</strong>erikanische<br />
Historiker Devon O.Pendas eine<br />
ausgezeichnete und leicht verständliche<br />
Ergänzung.<br />
Pendas untersucht inerster Linie die<br />
Rolle der Richter, Anwälte und Zeugen,<br />
deren erlebte Wahrheit eine andere war<br />
als die rechtlich massgebende. Er legt<br />
dar, wie unmöglich es war, diesem<br />
Menschheitsverbrechen mit dem Deutschen<br />
Strafgesetzbuch von 1871 beizukommen.<br />
Pendas wertet den Prozess als<br />
ein gewissenhaft geführtes Verfahren,<br />
das jedoch unfähig blieb, die historische<br />
Dimension mitzuverhandeln. An Fritz<br />
Bauer aber lag dies nicht. ●<br />
26 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013
10CFWMMQ4CMQwEX-Ro18lezrhE150o0PVuEDX_r1DoKKabmfNMNfy4H4_reCaBIXNIwaTUAsq5qzFmkpSD_cYhkNP3P9_A2Dp6LcdIo4rDRph7jZjFvg61aqB9Xu8vJ3AueoAAAAA=<br />
10CAsNsjY0MDAx1TUyMDW1NAQAfp8LwQ8AAAA=<br />
Frauengeschichte DieBaslerin EmilieLinder (1797–1867)war eine<br />
bedeutendeMäzenin dereuropäischen Kulturgeschichte<br />
SiekaufteKunstund<br />
unterstütztedieArmen<br />
Patrick Braun, Axel Christoph G<strong>am</strong>pp<br />
(Hrsg.): Emilie Linder 1797–1867. Malerin,<br />
Mäzenin, Kunsts<strong>am</strong>mlerin. Merian,<br />
Basel 2013. 303Seiten, Fr.37.90.<br />
VonGeneviève Lüscher<br />
Die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft<br />
SRG, eine von der ganzen<br />
Bevölkerung finanzierte Institution,<br />
strahlte im November eine vierteilige<br />
Serie zur Schweizer Geschichte aus, in<br />
der die Hälfte dieser Bevölkerung keine<br />
Rolle spielte. Als ob Frauen keinen historischen<br />
Beitrag zu heutigen Schweiz geleistet<br />
hätten. Natürlich haben sie das<br />
getan. Emilie Linder zum Beispiel, auch<br />
wenn dieser N<strong>am</strong>e heute den wenigsten<br />
geläufig sein wird. Die Baslerin stand –<br />
wie soviele Frauen –imSchatten ihrer<br />
Zeitgenossen, zum Beispiel demjenigen<br />
von Clemens Brentano, der sie glühend<br />
verehrte.<br />
Aus diesem Schatten haben sie nun<br />
der Historiker Patrick Braun und der<br />
Kunsthistoriker Axel Christoph G<strong>am</strong>pp<br />
herausgeholt. Sie lassen in ihrem S<strong>am</strong>melband<br />
verschiedene Fachleute zu<br />
Wort kommen, die das facettenreiche<br />
Leben dieser Schweizerin beleuchten.<br />
Schon die Kapitelüberschriften lassen<br />
erahnen, dass es keine gewöhnliche<br />
Frauenvita war: Nach Beiträgen zu «Persönlichkeit<br />
und Kontext» folgen Artikel<br />
zu den Themen «Nazarener, Künstlerinnen<br />
der Romantik, die Malerin», während<br />
das letzte Kapitel der «Wohltäterin,<br />
Marienkirche, Kunstökumene» gewidmet<br />
ist.<br />
Emilie Linder wurde 1797 in eine<br />
wohlhabende protestantische Basler F<strong>am</strong>ilie<br />
hineingeboren. Geprägt hat sie ihr<br />
Grossvater, ein bekannter Kunsts<strong>am</strong>mler,<br />
der ihren ausgefallenen Berufswunsch<br />
«Historienmalerin» unterstützte.<br />
Ihr vermachte er auch sein Vermögen<br />
und seine bedeutende Bilders<strong>am</strong>mlung.<br />
Emilie genoss die übliche Erziehung, beschloss<br />
aber schon früh, nicht zuheiraten.<br />
D<strong>am</strong>als eine mutige Entscheidung!<br />
Mit27Jahren gingsie nach München, um<br />
an der Kunstakademie zu studieren, wo<br />
die religiöse Richtung der Nazarener gefördert<br />
wurde. Es folgten Jahre inBasel,<br />
Romund wieder München, in denen Linder<br />
rege <strong>am</strong> gesellschaftlichen Leben<br />
teilnahm.<br />
Das beträchtliche Vermögen ermöglichte<br />
eine unabhängige Lebensweise.<br />
Sie reiste mit anderen Frauen, unter anderem<br />
der Malerkollegin Rosalie Wieland-Rottmann,<br />
die ihre Freundin einfühls<strong>am</strong><br />
porträtierte. Linder malte auch<br />
selber,allerdings war sie der Auffassung,<br />
dass die zentrale Aufgabe der Kunst das<br />
Darstellen und Vermitteln vonGlaubensinhalten<br />
war. Malen war für sie eine religiöse<br />
Handlung, ein spirituelles Gespräch<br />
mitGott.<br />
UndatiertesPorträt<br />
der Baslerin Emilie<br />
Linder,gemalt von<br />
ihrer Freundin Rosalie<br />
Wieland-Rottmann.<br />
In Rom entwickelte sie sich immer<br />
mehr von der Malerin zur Mäzenin und<br />
Kunsts<strong>am</strong>mlerin, wobei sie gezielt Bilder<br />
der Nazarener Richtung kaufte und mit<br />
entsprechenden Künstlern Verträge abschloss.<br />
Mit der Unterstützung dieser<br />
Kunstrichtung betrieb sie indirekt Gesellschaftspolitik,<br />
denn die Nazarener<br />
waren ein Teil der restaurativen Gegenbewegungzur<br />
Aufklärung.<br />
In München, wo sie bis zu ihrem Tod<br />
1867 lebte, gab Linder Gesellschaften,<br />
unterhielt einen Salon, in dem sich die<br />
Grössen ihrer Zeit trafen. Hier bot sich<br />
beiden Geschlechtern zwanglos die Möglichkeit<br />
des intellektuellen Austauschs<br />
und der Pflege von Freundschaften. Clemens<br />
Brentano, der Linder verehrte und<br />
gar heiraten wollte, holte sich allerdings<br />
einen Korb. Die Angebetete bestand auf<br />
einer gleichberechtigten, intellektuellen<br />
Freundschaft und auf Unabhängigkeit.<br />
1843konvertierteLinder,wie viele Romantiker,<br />
zum Katholizismus und zog<br />
sich zurück. Sie half bedürftigen Menschen<br />
und F<strong>am</strong>ilien, unterstützte Kirchen,<br />
Klöster, Schulen und Spitäler. Ihre<br />
zunehmend religiös motivierte Lebensführung<br />
prägte später das Bild der frommen<br />
Wohltäterin, während ihr Kunstsinn<br />
und ihre Intellektualität aus dem Blick<br />
gerieten. Die vorliegende Publikation<br />
rückt diese Aspekte eines für die d<strong>am</strong>alige<br />
Zeit ungewöhnlichen Frauenlebens<br />
wieder ins Licht. ●<br />
KUNSTMUSEUM BASEL<br />
©iStock<br />
DU KANNST SIE<br />
ZUM SCHWEIGEN<br />
BRINGEN –<br />
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IHRE KNOCHEN<br />
WERDEN<br />
DICH VERRATEN<br />
Ein getötetes Mädchen im Straßengraben,<br />
ein Schmugglerring,<br />
der keine Gnade kennt: der neue<br />
Fall für Tempe Brennan.<br />
Kathy Reichs’ packende Romane<br />
sind Vorlage für die erfolgreiche<br />
Fernsehserie „BONES –die Knochenjägerin“.<br />
448 Seiten ICHF 28,50 (empf. VK-Preis)<br />
E-Book und Hörbuch bei Random House Audio<br />
Lese- und Hörprobe auf blessing-verlag.de<br />
24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 27
Sachbuch<br />
Antike DerrömischeKonsul MarcusTullius Cicero (106–43v.Chr.) erhälteine neue Biografieaus der<br />
Federdes AlthistorikersWolfgang Schuller<br />
InMachtkämpfenzerrieben<br />
Wolfgang Schuller:Cicero. Oder der letzte<br />
K<strong>am</strong>pf um die Republik. C. H. Beck,<br />
München 2013. 256 Seiten, Fr.37.90.<br />
VonJanika Gelinek<br />
Kultkrimi Lieblingsorte desGrauens<br />
DieKrimiserie istKult.Millionen setzensich sonntagabends<br />
vorden Fernseher und schauen das Grauen. Sie<br />
fiebern mit,wenn die populären Ermittlerte<strong>am</strong>s die<br />
«Tatort»-Verbrechen aufklären. Sie freuen sich an den<br />
Running-Gags und Dialogen der Protagonisten, an ihren<br />
Marotten und Schwächen. Die eigentlichen Orte des<br />
Geschehens treten dabei oftinden Hintergrund. Licht<br />
in das Dunkel bringt der S<strong>am</strong>melband «Schauplatz Tatort–Die<br />
Architektur,der Film und der Tod», an dem<br />
einer der Altmeisterdes Fachs, der den Münchner Kommissar<br />
Franz Leitmayr spielende Schauspieler Udo<br />
28 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013<br />
Wachtveitl, mitgewirkthat.Faktenzuallen 36 Kommissaren<br />
der Serie,inklusivedes Luzerner Duos und der<br />
Lieblinge aus Wien, ihre F<strong>am</strong>ilien- und Wohnverhältnisse,die<br />
Vorlieben, die Städteund Gebäude,indenen<br />
sie Verbrecher jagen und die Ermittlungen führen –all<br />
das istindem 200Seiten schweren Band vereint.«Tatort»-Fans<br />
bietet das Buch einen aufschlussreichen Fundus<br />
an Erkenntnissen. David Strohm<br />
UdoWachtveitl u. a.: Schauplatz Tatort.Die Architektur,<br />
der Film und der Tod. Callwey,München 2013.<br />
192Seiten, Fr.56.90.<br />
Inmitten einer politisch höchst turbulenten<br />
Zeit, in der Cäsar soeben Konsul geworden<br />
war und er selbst massiv anEinfluss<br />
eingebüsst hatte, schreibt Marcus<br />
Tullius Cicero59v.Chr.anseinen Freund<br />
Atticus: «Was aber werden wohl über unzähligeJahrhundertehin<br />
die Geschichtswerkerühmend<br />
über mich hervorheben?<br />
Vordiesen empfinde ich in der Tat viel<br />
mehr Scheu als vor dem nichtigen Gerede<br />
unserer Zeitgenossen.»<br />
Er hätte sich keine Sorgen machen<br />
müssen. Bereits in der Antike begann<br />
eine bis heuteandauernde Cicero-Rezeption.<br />
Das liegt zum einen an der ungewöhnlich<br />
umfangreichen Quellenlage –<br />
etwa 50 Reden sind neben Ciceros politischen<br />
und rhetorischen Schriften erhalten,<br />
darüber hinaus fast 1000 Privatbriefe,<br />
die einen faszinierenden Einblick in<br />
sein Denken und in den Alltag der ausgehenden<br />
römischen Republik geben.<br />
Zum anderen bietet Cicero mit seinen<br />
vielfältigen Tätigkeiten als Anwalt und<br />
Politiker, als Schriftsteller, Philosoph<br />
und Rhetoriker bis heute weitreichende<br />
Anschlussmöglichkeiten. Entsprechend<br />
muss sich eine neue Cicero-Biografie,<br />
wiesie der Althistoriker WolfgangSchuller<br />
nun vorgelegt hat, an der Frage messen<br />
lassen, welche Aufschlüsse sie über<br />
diese so satts<strong>am</strong> erforschte Persönlichkeit<br />
neu zu geben vermag.<br />
Schuller wählt dafür überraschenderweise<br />
eine Art moralisch-menschlicher<br />
Verortung: «Er hatte ein Leben voll staunenswerter<br />
Stärken und beklagenswerter<br />
Schwächen geführt, ein gutes, nicht<br />
in allem beispielhaftes, ein menschliches<br />
Leben.» Cicero sei ein «empfänglicher,<br />
emotionaler, generöser, gelegentlich<br />
leichtgläubiger und weicher Mensch» gewesen,<br />
der in den schnell changierenden<br />
Machtkonstellationen der zerfallenden<br />
römischen Republik zum Scheitern verurteilt<br />
war. Dafür versucht Schuller, den<br />
höchst unübersichtlichen Beziehungsgeflechtenzwischen<br />
60 und 43 v. Chr., in<br />
denen Cicero sich – zuerst zwischen<br />
Pompeius und Cäsar,dann zwischen Antonius<br />
und Octavian lavierend –befand,<br />
zu folgen. Dabei differenziert er allerdings<br />
weder hinreichend zwischen politischen<br />
(und vor allem rhetorischen)<br />
Strategien Ciceros und seiner persönlichen<br />
Integrität, noch gelingt es ihm, dem<br />
Leser einen wirklichen Überblick über<br />
die Geschehnisse zu verschaffen. Stattdessen<br />
fragt Schuller, als im Jahr 55<br />
v. Chr. Pompeius und Crassus mit Cäsar<br />
um das Konsulat schachern, reguläre<br />
Wahlen verhindern und schliesslich<br />
unter Tumult gewählt werden: «Wirft es<br />
nichtein gutes Lichtauf Cicero, dass er in<br />
all diese Machenschaften nicht einbezogenwurde?»<br />
Andererseits erscheint esihm als «bedenkliche<br />
Tatsache», wie Cicero inder<br />
Folge inein Abhängigkeitsverhältnis zu<br />
Cäsar gerätund dieses in «bemühtlockerem<br />
Ton» seinem Freund Atticus darzustellen<br />
versucht. Während sich Bautätigkeiten<br />
für Cäsar nach aussen hin vielleicht<br />
noch rechtfertigen liessen, sei die<br />
von Cicero übernommene Verteidigung<br />
Vartinius, der «doch wirklich die übelstenHandlangerdiensteinCäsars<br />
tadelnswertesten<br />
Unternehmungen geleistet»<br />
hatte, «einfach nur demütigend» gewesen.<br />
Ciceros Position als homo novus, der<br />
auch als Emporkömmlingseine Politik in<br />
den Dienst der ideologischen Rechtfertigung<br />
der Nobilitätsherrschaft stellte,<br />
wird kaum beleuchtet, vielmehr wird er<br />
als «Erzzivilist» charakterisiert, der den<br />
Untergang der Republik als «persönliche<br />
Beleidigung» empfunden habe.<br />
Doch ist es tatsächlich relevant, mit<br />
Hilfe moralischer Kriterien 2000 Jahre<br />
alte politische Winkelzüge oder auch<br />
persönliches Versagen zu bewerten? Ist<br />
es aus heutiger Perspektive notwendig,<br />
die Gefühlslage Ciceros nachzuvollziehen<br />
und als «quälend», «gradlinig»,<br />
«überraschend» oder «erfreulich» zu verstehen?<br />
Anstelle einer fundierten These,<br />
die Ciceros politisches Taktieren plausibel<br />
machen würde, nimmt Schuller ihn<br />
auch auf sprachlich häufig umständliche<br />
Weise in Schutz, so als geltees, ihn noch<br />
einmal gegen das historische Diktum<br />
Theodor Mommsens zu verteidigen, der<br />
ihn im 19.Jahrhundert als Wendehals<br />
und Opportunisten beschrieben hatte<br />
und d<strong>am</strong>it das Cicero-Bild auf Jahrzehnte<br />
geprägt hatte.<br />
Doch die umfangreiche Rezeptionsgeschichte<br />
Ciceros spielt bei Wolfgang<br />
Schuller keine Rolle; seine Bibliografie<br />
bleibt auch weitgehend auf den deutschen<br />
Sprachraum begrenzt. So sehr ihm<br />
daran gelegen ist, Cicero der Leserschaft<br />
nahezubringen, gilt <strong>am</strong> Ende das Bonmot<br />
des römischen Historikers Livius,<br />
der in seinem Nekrolog nach Ciceros Tod<br />
bemerkte: «Um ihn recht zuloben, hätte<br />
man einen Cicero als Lobredner gebraucht.»<br />
●
Gesundheit Jederman kenntSchmerzen, dennochwissenwir erstaunlich wenig über sie<br />
Wo dieSchulmedizin<br />
anihreGrenzenstösst<br />
Sytzevan der Zee: Schmerz. Eine Biografie.<br />
Knaus, München 2013. 377Seiten,<br />
Fr.34.90,E-Book 23.90.<br />
VonSieglinde Geisel<br />
Jeder Mensch, auch jeder gesunde,<br />
macht regelmässig Erfahrungen mit<br />
Schmerz –und doch wissen wir erstaunlich<br />
wenig über diese Empfindung. Für<br />
viele Arten vonSchmerz hatdie Medizin<br />
keine schlüssigeErklärungparat, und die<br />
Frage danach, wie man Schmerzen bekämpfen<br />
kann, ist ebenso komplex wie<br />
diejenige, warum Schmerz unter bestimmten<br />
Umständen Lust erzeugen<br />
kann.<br />
Funktion als Selbstschutz<br />
Derniederländische Journalist Sytzevan<br />
der Zee hat eine «Biografie» des Schmerzes<br />
geschrieben. In 37 kurzen Kapiteln<br />
nähert er sich dem Schmerz aus den verschiedensten<br />
Perspektiven: Patientenberichte<br />
wechseln ab mit recherchierten<br />
Passagen, in denen wiederum Ärzte und<br />
Therapeuten zu Wort kommen. Der Alltag<br />
in einem Schmerzzentrum wird geschildert,<br />
zwischendurch geht es um<br />
Meilensteine in der Geschichte der<br />
Schmerztherapie: die Entwicklung der<br />
Anästhesie etwa, die «TiefeHirnstimulation»<br />
oder die Spiegeltherapie für die Behandlung<br />
von Phantomschmerzen. Und<br />
fast jede Art vonSchmerz kommtvor:die<br />
Migräne-Attacken einer 13-Jährigen<br />
ebenso wie die Leiden eines Patienten<br />
mitSchmetterlingskrankheit, es geht um<br />
Krebskranke, Amputierte mit Phantomschmerzen<br />
und um Menschen, die sich<br />
selbst verletzen.<br />
Montaigne zählte den Schmerz bekanntlich<br />
zu «den grössten Übeln der<br />
Menschheit». Doch gerade weil wir ihn<br />
nicht aushalten, ist der Schmerz der<br />
beste Selbstschutz, das zeigt ein Kapitel<br />
über Menschen, die ohne Schmerzempfinden<br />
geboren werden. DerPreis für ein<br />
Leben, das keinen Schmerz kennt, ist<br />
hoch: Die durchschnittliche Lebenserwartung<br />
beträgt in diesem Fall nur gerade<br />
fünfzehn Jahre. Die Schulmedizin<br />
hadert mit dem Schmerz: Lange Zeit<br />
habe man auf Schmerztherapeuten herabgeschaut,<br />
so van der Zee. Auch in den<br />
Patientenberichtenseines Buchs spiegelt<br />
sich die Nachlässigkeit, ja Kältemancher<br />
Ärzte. «Dann lassen sie’s eben bleiben»,<br />
soll ein Arzt einer Patientin geantwortet<br />
haben, die vor Schmerzen kaum mehr<br />
gehen konnte.<br />
Der zynisch anmutende Terminus<br />
«failed back surgery syndrom» lässt<br />
ahnen, dass die Medizin Schmerzen<br />
nicht nur bekämpfen, sondern auch verursachen<br />
kann. In der Tatverhält sich gerade<br />
die orthopädische Medizin bisweilen<br />
überraschend lebensfern. In den Industriestaaten<br />
leiden, je nach Land,<br />
Viele Menschen<br />
leiden –anKopf,<br />
Rücken und Nerven.<br />
Oft sind Schmerzen<br />
Ausdruck seelischer<br />
Spannungen.<br />
zwölf bis dreissig Prozent der Menschen<br />
an chronischen Schmerzen, wobei Rückenschmerzen<br />
<strong>am</strong> häufigsten genannt<br />
werden. Obwohl man in jeder Gymnastik-oder<br />
Yogastunde <strong>am</strong> eigenen Leib erfahren<br />
kann, in welchem Mass gerade<br />
diese Schmerzen eine Folge unserer Lebensweise<br />
sind, greifen viele Ärzte<br />
schnell zum Skalpell –auch in van der<br />
Zees Buch spielt der Bewegungsmangel<br />
eine überraschend geringe Rolle.<br />
Die legendären Irrtümer der Medizin<br />
in Sachen Schmerzbehandlung dagegen<br />
beschreibt der Autordetailliert: Bis in die<br />
1980er-Jahre wurde bei Operationen an<br />
Säuglingen auf eine Narkose verzichtet,<br />
denn aufgrund der noch nicht ausgebildeten<br />
Myelinschicht ihrer Nervenbahnen<br />
hätten Säuglinge kein Schmerzempfinden,<br />
so die d<strong>am</strong>alige Lehrmeinung.<br />
Dies lässt sich aus heutiger Sicht ebenso<br />
wenig nachvollziehen wie die Tatsache,<br />
dass die Lobotomie, bei der durch eine<br />
krude Operation die Nervenverbindungen<br />
zwischen dem Frontallappen und<br />
dem restlichen Gehirn durchtrennt werden,<br />
im Jahr 1946 mitdem Nobelpreis für<br />
Medizin ausgezeichnet wurde.<br />
Enorme Stofffülle<br />
BeiSchmerzpatientenstösst die Medizin<br />
an ihreGrenzen: Wenn sich keine körperliche<br />
Ursache finden lässt, sind Schmerzen<br />
oft Ausdruck seelischer Spannungen.<br />
Schmerzen seien «auch etwas, hinter<br />
dem man sich verstecken kann und<br />
sich irgendwann für nichts mehr verantwortlich<br />
fühlt», so eine Therapeutin.<br />
«Der Patientmuss mitmachen.» Auch die<br />
Gesellschaft hat einen Einfluss auf die<br />
Schmerzwahrnehmung: Die Leute akzeptierten<br />
heute nicht mehr, «dass<br />
Schmerz zum Leben dazugehört», wird<br />
etwa ein Schmerz-Arzt zitiert.<br />
Angesichts all dieser Befunde ist es<br />
kein Wunder, dass sich viele Patienten<br />
der Alternativmedizin zuwenden. Sytze<br />
van der Zee allerdings bekennt sich zur<br />
Schulmedizin, entsprechend nachlässig<br />
behandelt er das –zugegebenermassen<br />
kaum überschaubare–Feldder alternativenHeilmethoden.<br />
Im Kapitel über Akupunktur erfährt<br />
man etwa, dass die Kommunistische Partei<br />
Chinas die Traditionelle Chinesische<br />
Medizin (TCM) in jüngster Zeit wieder<br />
stärker favorisiere, hingegen bestünden<br />
Zweifel an der Seriosität des WHO-Berichts<br />
von1979,der die Wirks<strong>am</strong>keitvon<br />
Akupunktur für eine Listevon Krankheitenbelegte.<br />
Über manche Heilmethoden<br />
der TCM schüttelten westliche Mediziner<br />
nur den Kopf, vermerkt van der Zee<br />
–nur um wenigeSeitenspätereinen Arzt<br />
mitder Überzeugungzuzitieren, dass es<br />
für Akupunktur eine biologische Erklärung<br />
geben müsse und dass man vor<br />
allem bei chronischem Schmerz viel<br />
d<strong>am</strong>iterreichen könne.<br />
Hier sprichtkein Experte, sondern ein<br />
unermüdlich recherchierender Publizist.<br />
Sytzevan der Zee ist durch einen Magendurchbruch<br />
auf das Thema Schmerz gestossen<br />
–dabei war es gerade die auffallend<br />
geringe Schmerzempfindlichkeit,<br />
die sein Interesse weckte. Seinem vielstimmigen<br />
Buch mangelt es bisweilen<br />
etwas an Stringenz, oft muss man sich als<br />
Leser selbst ein Urteil bilden. Doch die<br />
enorme Stofffülle bietet viele Anregungen<br />
in alle Richtungen der Schmerzerforschung.<br />
●<br />
GETTYIMAGES<br />
24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 29
Sachbuch<br />
Verhalten DerUS-PsychologeAd<strong>am</strong> Grantplädiertfür eine altruistischeLebensführung<br />
MitHilfsbereitschaftzumErfolg<br />
Ad<strong>am</strong> Grant:Geben und Nehmen.<br />
Erfolgreich sein zum Vorteil aller.<br />
Droemer,München 2013. 448Seiten,<br />
Fr.29.90,E-Book 22.–.<br />
VonMichaelHolmes<br />
Viele glauben es, wenige sagen es laut:<br />
Wahre Hilfsbereitschaft zeigen wir gegenüber<br />
Verwandten, Freunden und<br />
Notleidenden. Aber im Geschäftsleben,<br />
wo der K<strong>am</strong>pf aller gegen alle tobt, ist<br />
Mitgefühl eine Schwäche und Rücksichtslosigkeitein<br />
Gewinn.<br />
In seinem US-Bestseller «Geben und<br />
Nehmen» widerlegt der <strong>am</strong>erikanische<br />
Psychologieprofessor Ad<strong>am</strong> Grantdieses<br />
traurige Menschenbild. Er unterscheidet<br />
drei Persönlichkeitstypen: Nehmer wollen<br />
möglichst viel für sich selbst herausholen.<br />
Geber möchten ihren Mitmenschen<br />
behilflich sein. Die meisten Menschen<br />
bewegen sich als Tauscher im Mittelfelddes<br />
Verhaltensspektrums. Fürgewöhnlich<br />
handeln sie gemäss der Devise:<br />
«Wie du mir, soich dir». Studien zufolge<br />
besitzen wir feine Antennen für diese<br />
Verhaltensmuster.<br />
Ad<strong>am</strong> Grant belegt, dass die Geber in<br />
vielen Berufen sowohl die untersten als<br />
auch die obersten Stufen der Erfolgsleiter<br />
dominieren. Sie sind überdurchschnittlich<br />
häufig Fussabtreter, aber<br />
auch Überflieger.<br />
Für diesen bemerkenswerten Forschungsbefund<br />
bietet er mehrere Erklärungen,<br />
die er mit zahlreichen Studien<br />
untermauert. Geber gehen unter, wenn<br />
sie eigene Bedürfnisse leugnen und sich<br />
alles gefallen lassen. Sie haben die Nase<br />
vorn, wenn sie viele Herzen für altruistische<br />
Ziele gewinnen und Kraft aus der<br />
Gemeinschaft ziehen. «Gebt, so wird<br />
euch gegeben» –Grants Analysen bestätigendiese<br />
biblische Weisheit.<br />
Er illustriert seine Thesen mit vergnüglichen<br />
Geschichten von Alltagshelden,<br />
die wie imMärchen zu Ruhm und<br />
Reichtum kommen, obwohl sie nur<br />
Gutes im Schilde führen. Ein Software-<br />
Unternehmer steigt mit Wohltaten zum<br />
besten Netzwerker der USA auf. Ein erfolgreicher<br />
Risikoanleger lädt Rivalen zu<br />
Konferenzen ein. Eine Lehrerin findet<br />
nach einem Burnout neuen Sinn in der<br />
harten Arbeitmit Unterschichtskindern.<br />
Untersuchungen legen nahe, dass<br />
jeder Mensch die Kunst des Gebens erlernen<br />
kann. Wer allerdings nur aus taktischem<br />
Kalkül gibt, wird den Zauber wahrer<br />
Nächstenliebe nicht erleben. Manchmal<br />
besteht die beste Erfolgsstrategie<br />
darin, keine zu haben. Dieses faktenreiche<br />
Buch ist ein Meilenstein auf dem<br />
Wegzueiner Wissenschaft vomGuten. ●<br />
Das<strong>am</strong>erikanische Buch Streit um die Zukunftder Schule<br />
Lassen die öffentlichen Schulen Amerikas<br />
Jugend im Stich?Sind standardisierteLeistungstests<br />
die besteMesslatte<br />
für die Beurteilungdes Bildungswesens?Und<br />
wersoll das Sagenhaben in<br />
den Klassenzimmern –Behörden und<br />
Lehrergewerkschaften, oder Privatschulen<br />
unterKontrolle vonStiftungen<br />
und Hedge-Funds?Diese Debatterührt<br />
an die Grundfesten der <strong>am</strong>erikanischen<br />
Gesellschaft und hatnun die Bestseller-Listen<br />
erreicht. Wurzel des Konflikts<br />
ist die Erziehungsreform von<br />
George W. Bush, die Tests vorgeschrieben<br />
hat, ohne Bildungshaushalteaufzustocken.<br />
Daran knüpft auch Barack<br />
Ob<strong>am</strong>a an, der die Privatisierungvon<br />
Schulen unterstützt und nationale Bildungsziele<br />
eingeführt hat. Diese sind<br />
ebenfalls an Tests gekoppelt und haben<br />
wegenmangelhafter Ergebnisse bereits<br />
zu der SchliessungHunderter Lehranstalten<br />
geführt.<br />
In Zeitenknapper Budgets und wachsender<br />
Einkommens-Unterschiede hat<br />
der Streitumdie Zukunft der Schulen<br />
Amerikas eine Hitzeerreicht, die sich<br />
eindrücklich an Reign of Error.The<br />
Hoaxofthe Privatization Movement<br />
and the Danger to America´s Public<br />
Schools (Knopf,396 Seiten) ablesen<br />
lässt, dem neuen Bestseller von Diane<br />
Ravitch. Die an der New York University<br />
lehrende Erziehungswissenschaftlerin<br />
gilt als führende Expertin ihres<br />
Fachs, so die «New York Review of<br />
Books» in einer positivenBesprechung.<br />
«Reign of Error» («Herrschaft des Irrtums»)<br />
ist eine K<strong>am</strong>pfschrift gegendie<br />
Privatisierungs-Bewegung. Dabei tritt<br />
Ravitchden Behauptungender «Schul-<br />
Reformer» miteiner Flut vonStatistikenund<br />
wissenschaftlichen Studien<br />
entgegen. Sie benutzt dabei einen hitzigen<br />
Ton, der den Leser zu ermüden<br />
Schulen in den USA:<br />
Privatisierung oder<br />
Reform?Autorin<br />
Diane Ravitch (unten).<br />
droht. Aber Ravitchkann belegen, dass<br />
Amerikas öffentliche Schulen den Leistungsstand<br />
ihrer Zöglinge seitJahrzehntenstetig<br />
erhöhthaben. Dennoch sieht<br />
sie dringenden Handlungsbedarf: Die<br />
Vorbereitungauf Pflichttests nehme<br />
Lehrern Zeitvon ihren eigentlichen Aufgaben<br />
weg, nämlich die Heranbildung<br />
vonUrteilsvermögen und Bürgersinn<br />
bei ihren Schülern. Zudem schlagedie<br />
Armut in den vonSchwarzen und Latinos<br />
bewohntenBezirken direkt auf die<br />
Qualitätder vonlokalen Steuern finanzierten<br />
Schulen durch. Dort bleiben die<br />
Zöglinge weiterhin und deutlich hinter<br />
GETTYIMAGES<br />
den Leistungeninwohlhabenden, vorwiegend<br />
vonWeissen bewohntenBezirken<br />
zurück.<br />
Um hier gegenzusteuern, plädiert<br />
Ravitchfür staatliche Hilfen und die<br />
Reduktion der Leistungstests. Und sie<br />
attackiert die seitder Bush-Ära gegründeten<br />
«Charter Schools», die nichtlokalen<br />
Schulbehörden unterstehen, aber<br />
dennoch aus Steuergeldern mitfinanziert<br />
werden. Dieser Aspekt lockt Investoren<br />
an, die Privatschulen als neue<br />
Profitzentren und Lehrergewerkschaftenals<br />
Störenfriede betrachten.<br />
Ravitchführt den Nachweis, dass derartigeAnstalten<br />
bei staatlichen Tests<br />
deshalb besser abschneiden, weil sie<br />
behinderteund schwererziehbareKinder<br />
abweisen und zusätzlich vonStiftungenund<br />
vermögenden Eltern unterstützt<br />
werden.<br />
Besonders scharf geht Ravitchindes<br />
mit MicheleRhee ins Gericht, die 2007<br />
bis 2010 die Schulen der <strong>am</strong>erikanischen<br />
Hauptstadt verwaltet hatund<br />
seither die Entstaatlichungdes Erziehungswesens<br />
im ganzen Land propagiert.<br />
Rhee will die Lehrergewerkschaftenentmachten,<br />
die etwa die Entlassungselbst<br />
nachweislich unfähiger<br />
Pädagogen zu blockieren pflegen.<br />
Dafür hatsie nun mit Radical. Fighting<br />
to Put Students First (Harper,286 Seiten)<br />
ebenfalls eine K<strong>am</strong>pfschrift publiziert.<br />
Diese dientüber viele Seiten auch<br />
der Darstellungihrer eigenen Leistungen.<br />
Ravitchweist dagegen nach, dass<br />
überraschend guteTestergebnisse in<br />
Washington unterRhee zumindest teilweise<br />
auf Fälschungenberuhten. Dass<br />
Ravitchdie vonvielen Eltern beklagten<br />
Probleme mitden Lehrergewerkschaftenweitgehend<br />
ignoriert, stärkt dagegendie<br />
Argumente Rhees.<br />
VonAndreas Mink ●<br />
30 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013
Agenda<br />
Fülscher Standardwerk derSchweizer Küche<br />
Agenda Dezember13<br />
Die Speisen wurden auf Platten angerichtet d<strong>am</strong>als, und<br />
die Platten waren voll, randvoll, genauso wie die Farbtafeln<br />
im Fülscher,die auch immer randvoll sind, denn<br />
Farbbilder waren teuer,und so musste jedes vonihnen<br />
ein ganzes Arrangement vonGerichten zeigen. Wieein<br />
Proustsches Madeleine verströmt die Neuauflage des<br />
Kochbuchs vonElisabeth Fülscher –sie istein Faksimile<br />
der 8. Auflage von1966–den Duft einer Kindheit in den<br />
5oer Jahren. Über 1700 Rezepte hatElisabeth Fülscher<br />
(1895–1970)vers<strong>am</strong>melt,jedes mit einer Nummer,dazu<br />
Bildtafeln vonHans Finsler (schwarz-weiss) und Hans<br />
Moosbrugger (Farbe). Aufunserem Bild sehen wir das<br />
RizColonial Nr.739 mit CurrysauceNr. 568. DasGanze<br />
ergänztmit genauen Anweisungen zumfachgerechten<br />
Blanchieren, Tranchieren, Dressieren, Fl<strong>am</strong>bieren und<br />
Verzieren. Werden wir es wieder brauchen?Für Auberginen<br />
mit Mayonnaise-Füllung, Spaghetti-Salat–oder<br />
vielleicht Madeleines? Kathrin Meier-Rust<br />
Elisabeth Fülscher:Kochbuch. Kommentierte Neuauflage.Herausgegeben<br />
vonSusanne Vögeli und Max<br />
Rigendinger.Hier +Jetzt, Baden 2013. 823 Seiten,<br />
50 Abbildungen, Fr.68.–.<br />
Basel<br />
Dienstag, 3.Dezember,19Uhr<br />
Monika Maron: Zwischenspiel.<br />
Lesung, Fr.17.–.<br />
Literaturhaus, Barfüssergasse<br />
3, Tel. 061 261 29 50.<br />
Donnerstag, 5. Dezember,19Uhr<br />
VeranstaltungFriedrich Glauser zum<br />
75. Todestag. Collageaus Texten und<br />
Briefen, mitBernhardEchte und Manfred<br />
Papst, Fr.17.–. Literaturhaus (s.oben).<br />
Dienstag, 10.Dezember,19Uhr<br />
FriederikeMayröcker:Vom Umhalsen<br />
der Sperlingswand. Lesungmit Musik<br />
vonPetra Ronner und PeterSchweiger,<br />
Fr.17.–. Literaturhaus (s.oben).<br />
Bern<br />
Mittwoch, 4. Dezember,20.30 Uhr<br />
Bern ist überall: Ir Chuchi. Hörbuchtaufe<br />
mitPerformance, Fr.20.–. Stauffacher<br />
Buchhandlungen, <strong>Neue</strong>ngasse 25/37,<br />
Reservation: Tel. 031313 63 63.<br />
Freitag, 13.Dezember,17Uhr<br />
Paul Niederhauser (Text) und Werner<br />
Aeschbacher (Musik): Bärndütschi Wienachtsgschichte,Fr.<br />
22.–. Ab 12 Jahren.<br />
Berner Puppentheater, Gerechtigkeitsgasse<br />
31. Reservation: Tel. 031311 95 85.<br />
Freitag, 13.Dezember,12.30 Uhr<br />
Roswitha Menke: Advent,Advent, ein<br />
jeder rennt! Adventsgeschichtenund<br />
heisse Suppe. BuchhandlungHaupt,<br />
Falkenplatz 14. Res.: Tel. 031309 09 09.<br />
Bestseller November 2013<br />
Belletristik<br />
1<br />
2<br />
Jussi<br />
3<br />
Cecelia<br />
4<br />
Joël<br />
5<br />
Jonas<br />
6<br />
Henning<br />
7<br />
Jens<br />
8<br />
Gillian<br />
9<br />
AlexCapus:<br />
10<br />
Khaled Hosseini: Traums<strong>am</strong>mler.<br />
S. Fischer. 448Seiten, Fr.31.90.<br />
Adler-Olsen: Erwartung.<br />
dtv. 576Seiten, Fr.27.90.<br />
Ahern: Die Liebe deines Lebens.<br />
FischerKrüger. 400Seiten, Fr.25.90.<br />
Dicker:Die Wahrheit über den Fall Harry<br />
Quebert.Piper. 736Seiten, Fr.36.90.<br />
Jonasson: Der Hundertjährige.<br />
Carl’sBooks. 412Seiten, Fr.21.90.<br />
Mankell: Mord im Herbst.<br />
Zsolnay. 144 Seiten,Fr. 24.90.<br />
Steiner:Car<strong>am</strong>bole.<br />
Dörlemann.224 Seiten,Fr. 27.–.<br />
Flynn: Gone Girl –Das perfekteOpfer.<br />
FischerScherz. 576Seiten, Fr.25.90.<br />
Der Fälscher,die Spionin und der<br />
Bombenbauer. Hanser. 281 Seiten,Fr. 23.90.<br />
Franz Hohler:Gleis 4.<br />
Luchterhand.224 Seiten,Fr. 23.90.<br />
Sachbuch<br />
ErhebungMedia Control im Auftrag des SBVV;12.11.2013. Preise laut Angaben vonwww.buch.ch.<br />
1<br />
2<br />
Verena<br />
3<br />
Malala<br />
4<br />
GuinnessWorld<br />
5<br />
Alain<br />
6<br />
MaryC.<br />
7<br />
Bronnie<br />
8<br />
Hans<br />
9<br />
Ruth<br />
10<br />
Christiane V. Felscherinow: Christiane F. –Mein<br />
zweites Leben. Levante, 336 Seiten,Fr. 22.90.<br />
Wermuth: Wiedersehen mit Scheich<br />
Khalid. Weltbild.175 Seiten,Fr. 28.90.<br />
Yousafzai, Christina L<strong>am</strong>b:Ich bin Malala.<br />
Droemer/Knaur.400 Seiten,Fr. 32.90.<br />
Records 2014.<br />
BibliographischesInstitut. 272S., Fr.28.90.<br />
Sutter:Stressfrei glücklich sein.<br />
Giger.200 Seiten,Fr. 37.90.<br />
Neal: Einmal Himmel und zurück.<br />
Allegria.208 Seiten,Fr. 27.90.<br />
Ware: 5Dinge,die Sterbende <strong>am</strong><br />
meistenbereuen. Arkana.351 Seiten,Fr. 29.90.<br />
Küng: Erlebte Menschlichkeit.<br />
Piper. 752Seiten, Fr.39.90.<br />
Maria Kubitschek: Anmutig älter werden.<br />
Nymphenburger. 156 Seiten,Fr. 29.90.<br />
Pascal Voggenhuber:Kinder in der geistigen<br />
Welt. Giger.200 Seiten,Fr. 35.90.<br />
Zürich<br />
Montag, 2. Dezember,20Uhr<br />
Regula Stämpfli und Bascha Mika: Schön<br />
ungeschminkt. Live-Literaturclub,<br />
Fr.25.–. Kaufleuten, Festsaal, Pelikanplatz<br />
1, Tel. 044 225 33 77.<br />
Montag, 9. Dezember,20Uhr<br />
Hans Magnus Enzensbergerliest aus seinen<br />
Werken. Fr.25.–. Kaufleuten (s.oben).<br />
Donnerstag, 12.Dezember,19Uhr<br />
ReaBrändle: Wildfremd, hautnah.<br />
Zürcher Völkerschauen. Lesungund Gespräch,<br />
Apéro. Völkerkundemuseum Uni<br />
Zürich, Pelikanstr.40. Tel. 044 6349011.<br />
Donnerstag, 12.Dezember,19Uhr<br />
Matthias Senn: Leseabend voller schräger<br />
WeihnachtsgeschichtenimSchweizerischen<br />
Landesmuseum.<br />
Reservation: Tel. 044 218 65 11.<br />
Donnerstag, 12. Dezember,<br />
20 Uhr<br />
René Lüchinger: Elisabeth<br />
Kopp.Buchvernissage<br />
mitElisabeth Kopp,Fr. 25.–.<br />
Kaufleuten (s.oben).<br />
Bücher<strong>am</strong><strong>Sonntag</strong>Nr.1<br />
erscheint<strong>am</strong>26.1.2014<br />
WeitereExemplareder Literaturbeilage «Bücher <strong>am</strong><br />
<strong>Sonntag</strong>» können bestellt werden per Fax044 258 13 60<br />
oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind<br />
–solange Vorrat –beim Kundendienstder NZZ,<br />
Falkenstrasse 11,8001Zürich, erhältlich.<br />
24.November 2013 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 31
10CFWMqw6AMBRDv2hLex9sY5LgCILgZwia_1eMOUSTpuek21Y9YmRZ93M9KgHzICDp1YtHSVPNIhGWOmTuSGcqiaImPz-AZVJo-5xABOZGjoKWXMSsD_q9tPGA-Fz3C7U2VL2EAAAA<br />
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