22.01.2014 Aufrufe

Bücher am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung

Bücher am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung

Bücher am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

NZZ<strong>am</strong><strong>Sonntag</strong><br />

Nr.10|24. November 2013<br />

JohnleCarré<br />

Seit50Jahren<br />

Autorvon<br />

Geschenktipp<br />

Literaturfür<br />

Kinderund<br />

BernhardBueb<br />

Interviewüber<br />

dieMacht<br />

Karl derGrosse<br />

<strong>Neue</strong>Bücher<br />

zumKaiserdes<br />

Spionagekrimis Jugendliche derEhrlichen Abendlandes<br />

4<br />

14/15 16–18 20/21<br />

Bücher<br />

<strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong>


10CFWMqw7DMBRDvyiRfR-5yy6cwqqCqjxkGt7_ozZjAz4yOPa2pVf88hr7OY4kYF4EzUzSu1eJlg-RCoskaQLqk1T1iN7__AL2ptC5nEIW2rypsooKJ3U9zLUG6_f9uQDE-q3HgAAAAA==<br />

10CAsNsjY0MDAx1TUyMDMxMQIAUHXb_g8AAAA=<br />

Bis zu20%Rabatt<br />

www.buch.ch/aktion<br />

Wünschen<br />

& Schenken<br />

Liaba S<strong>am</strong>ichlaus,<br />

das wunsch ich mir:<br />

Jussi Adler-Olsen<br />

Erwartung Nicholas Sparks<br />

Kein Ort ohne dich<br />

Jonas Jonasson<br />

Die Analphabetin,<br />

die rechnen konnte<br />

Cecelia Ahern<br />

Die Liebe deines<br />

Lebens<br />

Jojo Moyes<br />

Eine Handvoll<br />

Worte<br />

Jo Nesbo/<br />

Koma<br />

Alle Preise inkl. MwSt. und ohne Gewähr.


Inhalt<br />

LesenSieüber<br />

Spione,Pädagogen<br />

undmutigeKinder<br />

John le Carré<br />

(Seite4).<br />

Illustration von<br />

AndréCarrilho<br />

Mit«DerSpion,der ausder Kältek<strong>am</strong>»gelangJohn le Carré1963ein Welterfolg.<br />

DerThriller spielteimBerlin der 1960er Jahrekurz nach dem Bau<br />

der Mauer,als westliche und östliche Agenten wieSchachfiguren im<br />

zynischen Spiel der Geheimdienstegeopfert wurden. 50 Jahrespäter<br />

erscheintnun der Klassiker,den le Carréinfünf Wochen niedergeschrieben<br />

hatte, in einer mitDokumentenangereicherten Neuausgabe. Fast gleichzeitig<br />

mitseinem neusten 25. Spionageroman: «Empfindliche Wahrheit».<br />

PeterStuder,ein eingefleischterle-Carré-Fan, rezensiert für uns den<br />

packenden Band (Seite 4).<br />

Um Wahrheitund Lügegehtesauch im Gespräch mitBernhardBueb über<br />

sein neues Buch «Die Machtder Ehrlichen». Aha, werden Sie denken, das<br />

ist doch dieser Salem-Schulleitervom Bodensee, der mitseinem «Lob der<br />

Disziplin» die Empörungder deutschen Erzieherkasteauf sich gezogen<br />

hatte. Ja,aber lassen Sie sich überraschen: Bueb kann man auch als<br />

exzellentenReformpädagogen lesen (S.16).<br />

Ebenfalls <strong>am</strong> Bodensee spielen die fünf Steckborner Erzählungenvon Otto<br />

Frei, die uns ManfredPapst ans Herz legt (S.12).Empfehlen können wir<br />

Ihnen nichtzuletzt ein Dutzend Kinder- und Jugendbücher,denen wirwie<br />

immer vorWeihnachteneine Doppelseite widmen (S.14/15). –Wir<br />

wünschen Ihnen bis zur nächsten Ausgabe von«Bücher <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong>» <strong>am</strong><br />

26.Januar möglichst viele behagliche Lesestunden! Urs Rauber<br />

Belletristik<br />

4 John le Carré: Empfindliche Wahrheit<br />

John le Carré: Der Spion, der aus der Kältek<strong>am</strong><br />

VonPeter Studer<br />

7 Lisa O’Donnell: Bienensterben<br />

VonSimone vonBüren<br />

8 AnnettePehnt:Lexikon der Angst<br />

VonManfredKoch<br />

9 Abbé Prévost:Manon Lescaut<br />

VonStefana Sabin<br />

10 HervéLeTellier:Neun Tage in Lissabon<br />

VonMartin Zingg<br />

Inezvan L<strong>am</strong>sweerde,Vinoodh Matadin:<br />

Pretty Much Everything<br />

VonGerhardMack<br />

11 Dieter Zwicky: Slugo<br />

VonBruno Steiger<br />

12 OttoFrei: Bissich Nacht in die Augen senkt<br />

VonManfredPapst<br />

13 E-Krimi des Monats<br />

Gillian Flynn: Gone Girl<br />

VonChristine Brand<br />

Kurzkritiken Belletristik<br />

13 Charles Bukowski: Dasweingetränkte Notizbuch<br />

VonManfredPapst<br />

Pedro Lenz: Ibimeh aus eine<br />

VonRegula Freuler<br />

David Vogel: Eine Wiener Romanze<br />

VonRegula Freuler<br />

Rainer Malkowski: Aphorismen und kleine Prosa<br />

VonManfredPapst<br />

Kinder- undJugendbuch<br />

14 GaryGhislain: Wieich JohnnyDepps Alien-Braut<br />

abschleppte<br />

VonDaniel Ammann<br />

Oliver Scherz: Ben<br />

VonChristine Knödler<br />

AliceGabathuler:no_way_out<br />

VonVerena Hoenig<br />

Marian de Smet:Kein Empfang<br />

VonAndrea Lüthi<br />

RobertLouis Stevenson: Die Schatzinsel<br />

VonHans tenDoornkaat<br />

15 Michael Madeja u.a.: Denkste?!<br />

Alexander Rösler u.a.: 29 Fensterzum Gehirn<br />

VonSabine Sütterlin<br />

MaxKruse: Urmel saustdurch die Zeit<br />

VonAndrea Lüthi<br />

Virginie Aladjidi u.a.: Birke, Buche,Baobab<br />

VonAndrea Lüthi<br />

Sonja Eismann u.a.:<br />

Glückwunsch, du bistein<br />

Mädchen!<br />

VonChristine Knödler<br />

Ad<strong>am</strong> Jaromir:Fräulein<br />

EsthersletzteVorstellung<br />

VonVerena Hoenig<br />

Interview<br />

16 Bernhard Bueb,Reformpädagoge<br />

Die Wahrheitkommtnichtvon selbst<br />

ans Licht<br />

VonUrs Rauber<br />

Kolumne<br />

19 Charles Lewinsky<br />

Das Zitatvon Ezra Pound<br />

Kurzkritiken Sachbuch<br />

19 Martin Meyer:Die Welt verstehen<br />

VonManfredPapst<br />

Joseph Jung: Alfred EschersBriefwechsel<br />

1852–1866<br />

VonUrs Rauber<br />

Verena Wermuth: Wiedersehen mit Scheich<br />

Khalid<br />

VonUrs Rauber<br />

Susan Sontag: Ichschreibe,umherauszufinden,<br />

wasich denke<br />

VonKathrin Meier-Rust<br />

Sachbuch<br />

20 Die Zeit Karls des Grossen in der Schweiz<br />

Johannes Fried: Karl der Grosse<br />

StefanWeinfurter:Karl der Grosse<br />

Steffen Patzold: Ichund Karl der Grosse<br />

VonAlexis Schwarzenbach<br />

22 BarbaraThoma: Selma Lagerlöf<br />

VonKathrin Meier-Rust<br />

23 Hans Küng: Erlebte Menschlichkeit<br />

VonKlara Obermüller<br />

24 Carlo vonAh: Durch Dschungel und Intrigen<br />

VonUrs Rauber<br />

Florian Fisch: Ein Versuch<br />

VonPatrick Imhasly<br />

26 Ronen Steinke: FritzBauer oder Auschwitzvor<br />

Gericht<br />

Devin O. Pendas: Der Auschwitz-Prozess<br />

VonClaudia Kühner<br />

27 Patrick Braun, Axel Christoph G<strong>am</strong>pp:<br />

Emilie Linder 1797–1867<br />

VonGenevièveLüscher<br />

28 WolfgangSchuller:Cicero<br />

VonJanika Gelinek<br />

UdoWachtveitl u.a.: Schauplatz Tatort<br />

VonDavid Strohm<br />

29 Sytzevan der Zee: Schmerz<br />

VonSieglinde Geisel<br />

30 Ad<strong>am</strong> Grant:Geben und Nehmen<br />

VonMichael Holmes<br />

Das<strong>am</strong>erikanische Buch<br />

Diane Ravitch: Reign of Error.The Hoaxofthe<br />

Privatization Movement<br />

Michele Rhee: Radical<br />

VonAndreas Mink<br />

Agenda<br />

31 Elisabeth Fülscher:Kochbuch<br />

VonKathrin Meier-Rust<br />

Bestseller November 2013<br />

Belletristik und Sachbuch<br />

Agenda Dezember 2013<br />

Veranstaltungshinweise<br />

Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung),Regula Freuler (ruf.), GenevièveLüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), ManfredPapst (pap.)<br />

StändigeMitarbeit Urs Altermatt,Urs Bitterli, ManfredKoch, GunhildKübler,Sandra Leis, Charles Lewinsky,Beatrix Mesmer,Andreas Mink, Klara Obermüller,Angelika Overath,<br />

Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hans PeterHösli (Art Director), Susanne Meures (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), KorrektoratSt.Galler Tagblatt AG<br />

Verlag NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong>, «Bücher <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong>», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax0442617070,E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch<br />

24.November 2013 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 3


Belletristik<br />

Spionageroman DerKalte Kriegist Geschichte –und mitihm derliterarischeThriller rund um denEisernen<br />

Vorhang.DochJohn le Carrémeldet sich zurück miteinem Plot über Verbrechen im eigenen Land<br />

VomKaltenKrieg zur<br />

John le Carré: Empfindliche Wahrheit.<br />

Ullstein, Berlin 2013. 394Seiten,<br />

Fr.39.90,E-Book 24.40.<br />

John le Carré: Der Spion, der aus der Kälte<br />

k<strong>am</strong>.Neuauflagemit neuem Vorwort<br />

und Materialien. Ullstein, Berlin 2013.<br />

280 Seiten, Fr.25.90,E-Book 22.–.<br />

VonPeter Studer<br />

Während täglich neue belegte oder<br />

vermutete Abhörgeschichten aus dem<br />

Privatarchiv des geflüchteten US-<br />

Nachrichtenmanns EdwardSnowden erscheinen,<br />

mutet le Carrés neuer Thriller<br />

an wie eine vorausgeschriebene Erfindung,<br />

die Snowdens Enthüllungen ins<br />

Epische übersetzt. Simon Jenkins vom<br />

linksliberalen «Guardian» bestätigt den<br />

Befund: «Der Autorhat die alten Gewissheiten<br />

des Kalten Kriegs hinter sich gelassen<br />

und stapft im moralischen Sumpf<br />

rund um den Strahlemann Tony Blair<br />

herum. Der Held, ein junger Diplomat<br />

n<strong>am</strong>ens Toby Bell, wirkt wieein lebendig<br />

gewordener Snowden.»<br />

Worauf spielt der Originaltitel«ADelicate<br />

Truth» eigentlich an? Delikat ist,<br />

dass das Personal des Romans nicht<br />

mehr in Versuchunggerät, Gut und Böse,<br />

Richtig und Falsch nach den Fahnen der<br />

ideologischen Lager zu benennen. Le<br />

John le Carré<br />

John le Carré,1931 inEngland geboren,<br />

wuchs als Sohn eines wegen Betrugs einsitzenden<br />

Vaters und ohne Mutter auf.1948/49<br />

studierte er in Bern Germanistik. 1950 liess<br />

er sich vombritischen Nachrichtendienstim<br />

besetzten Österreich anstellen. 1963 publizierte<br />

er den Bestseller «Der Spion, der aus<br />

der Kältek<strong>am</strong>». Es folgten 20 weitere Bücher,<br />

etliche verfilmt.Eines befasste sich mit dem<br />

Schweizer Fall Jeanmaire («Ein guter Soldat»,<br />

1992). Dieses Jahr erschien «Empfindliche<br />

Wahrheit». Die UniversitätBern ernannte<br />

ihn 2008 zumEhrendoktor;2011 erhielt er<br />

die Goethe-Medaille für sein Lebenswerk.<br />

4 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013<br />

Carré, der kürzlich der schmucken, mit<br />

Dokumenten angereicherten Neuausgabe<br />

von «Der Spion, der aus der Kälte<br />

k<strong>am</strong>» ein Vorwort mitgab, blickt <strong>am</strong>üsiert<br />

50 Jahre zurück: Alle echten und<br />

vermeintlichen Experten glaubten d<strong>am</strong>als,<br />

hier breite ein Spion seine eigenen<br />

Erlebnisse aus. Das stimmte überhaupt<br />

nicht. «Meine Vorgesetzten hatten den<br />

binnen fünf Wochen niedergeschriebenen<br />

Text des kleinen Botschaftssekretärs<br />

in Bonn (meine d<strong>am</strong>alige Tarnung) nur<br />

freigegeben, weil er keine persönliche<br />

Erfahrung wiedergab und somit nicht<br />

gegen die Sicherheitsvorschriften verstiess.»<br />

Wenig späterverliess le Carréden<br />

Geheimdienst und tat, was er schon<br />

immer tun wollte: schreiben. Längst hat<br />

er sich neben die Pioniere des Fachs gestellt,<br />

neben Joseph Conrad, Somerset<br />

Maugh<strong>am</strong> und Grah<strong>am</strong> Greene.<br />

In seinen nächsten Büchern, angefangen<br />

mit «D<strong>am</strong>e, König, As, Spion», baute<br />

le Carré eine Pseudokulisse des britischen<br />

Geheimdienstes auf («Der Zirkus»),<br />

setzte den alten Geheimdienstmann<br />

George Smiley in das Zentrum der<br />

Dr<strong>am</strong>aturgie und liess ihn dem motivisch<br />

halbwegs verwandten sowjetischen Widerpart<br />

mitdem Deckn<strong>am</strong>en Karla nachspüren.<br />

Alec Guinness verkörperte den<br />

unergründlichen, aber nicht unsympathischen<br />

Smiley im Film. Es tauchtenFiguren<br />

auf,die vonferne an legendärebritische<br />

Doppelagenten und Verräter während<br />

der 50er bis 70er Jahreerinnerten.<br />

Knappe Prosa<br />

Aber mit dem Ende des Kalten Kriegs<br />

ging der Autor keineswegs in Pension.<br />

Hatte erschon vorher kritisch in britische<br />

und koloniale Milieus hineingeleuchtet–immer<br />

vorder Folie des Ost-<br />

West-Konflikts –, so wandte ersich jetzt<br />

voll den gefährlichen Strahlungen der<br />

eigenen Gier- und Konsumgesellschaft<br />

zu. Gewiss, oft in fremdartigen Landschaften,<br />

aber immer mitRückschlüssen<br />

auf vertrauteThemen und Akteure. «Der<br />

ewige Gärtner» (2001) beschrieb das Unwesen<br />

einer globalen Pharmaziefirma in<br />

Kenia, die Tuberkulosemedik<strong>am</strong>ente mit<br />

Nebenfolgen insgeheim an Afrikanern<br />

ausprobierte; eine grüne Aktivistin, Gattin<br />

eines britischen Botschaftssekretärs,<br />

entdeckte den Skandal und wurde ermordet.<br />

Ihr Mann machte sich auf die<br />

Spur und stiess auf Verzweigungen bis<br />

ins britische Foreign Office.<br />

Im Nachwort schrieb le Carré trocken:<br />

«Beim Vergleich mit der Realität erweist<br />

sich mein Szenario als harmlose Ferienpostkarte.»<br />

«Empfindliche Wahrheit»<br />

nun, le Carrés neues Buch, erinnert in<br />

der raffinierten Personenzeichnung und<br />

knappen Prosa an die besten früheren<br />

Werke des Autors. «Erster Akt (2008),<br />

Erste Szene, Gibraltar»: Der etwas langweilige<br />

britische alt Diplomat Christopher,Kit<br />

für seine Freunde, wird vonJunior<br />

Foreign Minister Fergus, einem ehrgeizigen<br />

Labour-Mann, für die vertrauliche<br />

«Sonderaktion Wildlife» rekrutiert;<br />

sein Deckn<strong>am</strong>e ist Paul. AufGibraltar soll<br />

er zus<strong>am</strong>men mitMännern vonden Special<br />

Forces bei der nächtlichen Festnahme<br />

eines gefährlichen mittelöstlichen<br />

Waffenhändlers zuschauen, sozusagen


Internetspionage<br />

«Zweiter Akt, erste Szene, ein Städtchen<br />

in Cornwall, drei Jahre später»: Sir<br />

Christopher Kit und seine moralfeste<br />

Frau haben sich in ein geerbtes Herrenhaus<br />

zurückgezogenund machen als Ehrengäste<br />

anFeiern des Städtchens mit.<br />

Hier hängt der Text etwas durch; das Behagen<br />

des Schilderers hängt vielleicht<br />

d<strong>am</strong>it zus<strong>am</strong>men, dass le Carré selber in<br />

Cornwall wohnt. Ein Hausierer bietet<br />

Ledersachen feil und gibt sich dem abwehrenden<br />

Sir Christopher als Unteroffizier<br />

des d<strong>am</strong>aligen Special-Forces-Te<strong>am</strong><br />

auf Gibraltar zu erkennen.<br />

als be<strong>am</strong>teter Aufseher. Eine private<br />

<strong>am</strong>erikanische Sicherheitsfirma, ominös<br />

Ethical Outcomes geheissen, wirkt mit.<br />

Auch ein CIA-Trupp soll voneinem Schiff<br />

aus landen. Paul fragt sich, ob Her<br />

Majesty’s Militäroperationen jetzt als<br />

«public private partnership» geführt<br />

würden. Alles ist unklar: Kompetenzen,<br />

Zielobjekt, Drehbuch. Schüsse fallen.<br />

Paul wird in einem Auto schnell weggefahren.<br />

«Mission gelungen», versichert<br />

man ihm, ohne dass er Genaueres erfährt.<br />

Lohn: Adelstitel für Kit alias Paul,<br />

netter Botschaftsposten in der Karibik,<br />

Pensionierung.<br />

«Erster Akt, Zweite Szene, London,<br />

Foreign Office»: Toby Bell rückt nach ersten<br />

Anfängerposten in der Diplomatie<br />

zum Privatsekretär des Junior Ministers<br />

Fergus auf. Toby kann’s mit den D<strong>am</strong>en,<br />

ist aber Idealist und «will etwas Nützliches<br />

bewirken». Der Junior Minister, der<br />

sich oft einschliesst und auf rätselhafte<br />

Auslandreisen fliegt, hat immer wieder<br />

merkwürdigen Umgang, wie Toby feststellt.<br />

Ethical Outcomes und eine bizarre<br />

christliche Milliardärin tauchen auf.Vage<br />

Gerüchte über Fergus wollen nicht verstummen.<br />

Man bedeutet Toby,sich nicht<br />

um die Sache zu kümmern.<br />

Der neue Thriller<br />

vonJohn le Carré<br />

beginnt in Gibraltar<br />

und endet nach<br />

spannungsgeladenen<br />

Jagden in London.<br />

DasBösemittenunter uns<br />

«Mission gelungen» d<strong>am</strong>als? Keineswegs.<br />

Peinliches oder verbrecherisches<br />

Resultat: Es entstand «Collateral d<strong>am</strong>age»,<br />

Zufallsschaden einer schlechtgeplantenOperation.<br />

(Die täglichen dürren<br />

Communiqués über zivile Drohnenopfer<br />

in Afghanistan schieben sich in den Lesevorgang).<br />

Eine arabische Flüchtlingsfrau<br />

mitKind war irrtümlich erschossen worden.<br />

Der Unteroffizier und Sir Christopher<br />

wollen jetzt doch noch das Foreign<br />

Office, notfalls die Öffentlichkeit, einschalten.<br />

Der Unteroffizier stirbt in<br />

Schottland unter mysteriösen Umständen<br />

–<strong>am</strong>tlicher Mord, folgert Toby vor<br />

Ort. Mit einer etwas halsbrecherischen<br />

Dr<strong>am</strong>aturgie –John Banville, einer der<br />

meistgepriesenen britischen Autoren,<br />

nenntsie «fehlerhaft» –hat sich unversehens<br />

der junge Toby eingemischt und<br />

geht Kitzur Hand.<br />

«Dritter Akt, London»: Toby wird binnen<br />

kurzem zum Hauptakteur.Die Ereignisse<br />

überschlagen sich. Das Foreign Office<br />

wiegelt ab. Alle werden immer und<br />

überall abgehört. Die private Söldnertruppe<br />

Ethical Outcomes, die in einer<br />

staatlichen Armeegarnison residiert, jagt<br />

Toby,der sich mitSir Christophers Tochterverbündet.<br />

Die Spannungsteigt.<br />

Im Vergleich zum «Spion, der aus der<br />

Kältek<strong>am</strong>» sitzt hier das Böse nichtbeidseits<br />

eines Eisernen Vorhangs, sondern –<br />

mit Fragezeichen –manchmal vielleicht<br />

auch im gemütlichen Grossbritannien.<br />

Jetzt, fast 50 Jahre später, macht essich<br />

frech mitten in den eigenen Institutionen<br />

breit und nutzt deren Instrumente:<br />

Polizei, Personal, Geheimniskult, Drohnen,<br />

digitale Hochtechnologie. Wohin<br />

führt das noch? Grosse Hoffnungen<br />

machtder 82-jährigeJohn le Carréweder<br />

sich noch uns. ●<br />

Peter Studer, früherChefredaktordes<br />

«Tages-Anzeigers» und desSchweizer<br />

Fernsehens, doziert heuteMedienrecht<br />

an derUniversität St.Gallen.<br />

24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 5


10CFWMMQ7DMAwDXySDlCzZrsYiW5AhyO6l6Nz_T427deABBI7c9_SCX57bcW1nEqguCu2jpQ8v2iK7akFtSaIqaA-SQbXR_3wBRxhsLkdIQZ036cKYGnex9TDXGiyf1_sLr_2weoAAAAA=<br />

10CAsNsjY0MDAx1TUyMLKwNAcAoZFnvQ8AAAA=<br />

Geschenke<br />

entdecken


10CFWMoQ7DMAxEv8jRnVPbSQOnsmpgKjepivv_aEvZwNORd2_fhxU8vLb3sX0GgcVE4d5iWLei4YNdS9hvSVWwrlQE0dj_fAG7V9ScjpBCTarART2jLck6CznfQLnP6wtcXklugAAAAA==<br />

10CAsNsjY0MDAx1TUyMDOzMAcAvRqAIQ8AAAA=<br />

Belletristik<br />

Roman DieBritin Lisa O’Donnell schreibtin<br />

ihrem Erstling mitscharfemWitz<br />

Wenneinem<br />

die«Lottereltern»<br />

fehlen<br />

Lisa O’Donnell: Bienensterben. Ausdem<br />

Englischen vonStefanie Jacobs. Dumont,<br />

Köln 2013. 320 Seiten, Fr.25.90,<br />

E-Book 22.–.<br />

Auseiner tragischen<br />

Vergangenheit in eine<br />

erträgliche Zukunft:<br />

zwei Schwestern an<br />

einem heiklen Punkt<br />

ihrer Entwicklung.<br />

VonSimone vonBüren<br />

Marnie ist fünfzehn, «zu jung zum Rauchen,<br />

zu jung zum Trinken und zu jung<br />

zum Ficken», und tut doch alles bereits.<br />

Ausserdem nimmt sie Ecstasy und «hier<br />

und da mal ein paar Benzos». Um sich<br />

den Sozialdienst vom Leib zu halten, arbeitetsie<br />

für einen drogendealenden Eisverkäufer<br />

in einer sozial benachteiligten<br />

Gegend Glasgows.<br />

Die abgehärtete Protagonistin von<br />

Lisa O’Donnells Debütroman «Bienensterben»<br />

ist die neusteineiner Reihe von<br />

Teenagern aus sozialen Krisenverhältnissen<br />

in der zeitgenössischen britischen<br />

Literatur. In einer provokativen Mischung<br />

aus Trotz, Humor und Wut<br />

schleudert sie uns ihre Situation entgegen:<br />

«Es ist nicht leicht, wenn die eigenen<br />

Eltern im Garten vermodern und keiner<br />

darf was merken.» Zus<strong>am</strong>men mit<br />

ihrer jüngeren Schwester hat sie die mit<br />

Drogen vollgepumpten Körper in flachen<br />

Gräbern vergraben und das Haus mit literweise<br />

Bleiche geputzt, ohne den Gestank<br />

wegzukriegen.<br />

Wie «die Lottereltern» umgekommen<br />

sind und was sie auf dem Gewissen<br />

haben, erfahren die meisten Romanfigurengar<br />

nie und der Leser erst spät. Denn<br />

Marnie und ihre selts<strong>am</strong>e Schwester<br />

Nelly, die so fanatisch Geige spielt, wie<br />

sie ihren Körper hasst, was –soahntman<br />

–wohl miteinem väterlichen Missbrauch<br />

zus<strong>am</strong>menhängt, halten ihr Geheimnis<br />

unter Verschluss. Sogar gegenüber dem<br />

älteren schwulen Nachbarn Lennie, der<br />

sich liebevoll um sie zu kümmern beginnt.<br />

O’Donnell stellt Marnies eigenwilliger<br />

Stimme die weit weniger überzeugenden<br />

von Nelly und Lennie gegenüber. Nelly<br />

wirkt in ihrer Naivität und ihrer altmodischen<br />

Sprechweise konstruiert. Und<br />

Lennie, der sich an seinen verstorbenen<br />

Geliebten wendet, wird zu oft dazu benutzt,<br />

Informationen zu vermitteln oder<br />

Bilanz zu ziehen, was ihn als Figur<br />

schwächt. Interessant ist jedoch das Geflecht<br />

von Lügen, gegenseitigen Beobachtungen<br />

und Unterstellungen, das die<br />

schottische Autorin zwischen den drei<br />

Erzählern webt. DerLeser sieht, werwas<br />

verschweigt oder missversteht, wer wen<br />

belügt oder verdächtigt. Denn so misstrauisch<br />

die Figuren einander und der<br />

Welt gegenüber sind, so ungeschützt<br />

äussern sie sich in ihren Gedankenprotokollen:<br />

Marnie, die sich aller Welt<br />

als abgebrühte Kämpferin präsentiert,<br />

gesteht hier, dass ihr ihre Eltern, «diese<br />

zwei abartigen Personen», fehlen. Die<br />

scheinbar gefügige Nelly plant heimlich,<br />

das Ruder zu übernehmen. Und Lennie,<br />

der Kuchen backende Gutmensch, bereut<br />

einen Moment mit offener Hose auf<br />

einer Kinderschaukel im Park.<br />

In diesen intimen Äusserungen<br />

kommt das Ambivalente zum Ausdruck,<br />

das auch O’Donnells Nebenfiguren prägt<br />

und eine Einteilung der Welt in Schwarz<br />

und Weiss erschwert: der russische Lehrer,<br />

der Marnie bei den Prüfungen hilft,<br />

aber Drogen handelt, weil er als Asylant<br />

in Schottland nicht unterrichten darf.<br />

Oder der streng religiöse Grossvater, der<br />

sich plötzlich um die Mädchen kümmern<br />

will, um das Vergehen an deren Mutter<br />

wiedergutzumachen, das sie ihm nicht<br />

zu verzeihen bereit sind. O’Donnells Figuren<br />

und ihre Biografien werfen alle<br />

möglichen moralischen Dilemmata auf:<br />

Kann man Drogengeld benutzen, um die<br />

Miete zubezahlen? Darf man zwei vernachlässigte<br />

Kinder betreuen, ohne den<br />

Sozialdienst zu benachrichtigen? Soll<br />

man die Lüge eines andern stehen lassen,<br />

wenn sie einem das Leben rettet?<br />

O’Donnell zeigt die Schwestern an<br />

einem heiklen Punkt ihrer Entwicklung.<br />

Sie sind drauf und dran, dieselben Fehler<br />

zu begehen, die die älteren Figuren bereuen.<br />

«Mit meiner Vorgeschichte müsste<br />

ich eigentlich eine Serienmörderin<br />

sein», sagt Marnie. Dass sie es nicht ist,<br />

macht das Hoffnungsvolle dieses starken,<br />

wenn auch sprachlich etwas holprigenDebüts<br />

aus, in dem Abgründiges und<br />

Graus<strong>am</strong>es auf scharfen Humor trifft und<br />

auf einen trotzigen Glauben an die Fähigkeit<br />

der Mädchen, sich herauszuarbeiten<br />

aus einer tragischen Vergangenheit in<br />

eine erträglichereZukunft. ●<br />

ALLESALLTAG<br />

«Schlicht das beste<br />

Buch des Jahres.»<br />

Schweizer Buchhandel<br />

Buchtaufe<br />

Donnerstag, 5. Dezember 2013, 19.30<br />

Mit Urs Allemann, Endo Anaconda,<br />

Isabelle Menke, RogerPerret, SchiferSchafer<br />

Migros-Hochhaus Limmatplatz, Zürich<br />

Reservation www.literaturhaus.ch<br />

«Wir Leser, wirsind<br />

dankbar, dass diese<br />

Texteendlich dem<br />

Vergessen entrissen<br />

wurden. Wir ahnen,<br />

da wurde ein Schatz<br />

gehoben.»<br />

Elke Heidenreich<br />

Moderne Poesie inder Schweiz | Eine Anthologie von Roger Perret<br />

640 Seiten | 40 Abbildungen vierfarbig und s/w | Leinen | Fr.54.– | www.limmatverlag.ch<br />

AlfonsinaStorni | Meine Seelehat kein Geschlecht |Erzählungen, Kolumnen, Provokationen<br />

Herausgegeben, übersetztund eingeleitetvon Hildegard Elisabeth Keller |320 Seiten |Leinen<br />

Fr.44.– |www.limmatverlag.ch<br />

24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 7


10CFWMoQ7DMBBDv-giOxcnuQVOZdXANH5kGt7_o7VlA9YDfva-LxVcuW-P1_ZcBJqsondvS6FSR1-MWoYOkq2CfkNoYrr45xsY3eF5OkYaWyJM4yhyaiT9fMhrjfJ9f36a1L_2gAAAAA==<br />

10CAsNsjY0MDAx1TUyMDMzNgEAzJJ9Ww8AAAA=<br />

Belletristik<br />

Kurzgeschichten AnnettePehnt erkundet die<br />

Abgründeder Seele<br />

DieAngstvor<br />

derbrennenden<br />

Herdplatte<br />

AnnettePehnt:Lexikon der Angst. Piper,<br />

München 2013. 176 Seiten, Fr.27.90,<br />

E-Book 16.–.<br />

VonManfred Koch<br />

«In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost,<br />

ich habe die Welt überwunden»,<br />

spricht Jesus Christus in der Bibel. Die<br />

moderne Existenzphilosophie – von<br />

Kierkegaard über Heidegger bis Sartre –<br />

ist nicht mehr getrost, sie hat die Angst<br />

konsequent zur Grundbefindlichkeit des<br />

menschlichen Daseins erklärt. In der<br />

Welt sein, so lesen wir esbei Heidegger,<br />

heisst Angst haben, Angst gerade auch<br />

vor jener unheimlichen Gabe der Freiheit,<br />

über die der Mensch im Unterschied<br />

zum instinktgeleiteten Tier verfügt. Wir<br />

können unser Leben frei gestalten, in bestimmten<br />

Grenzen alles Mögliche aus<br />

uns machen. Wirkönnen uns grundsätzlich<br />

aber auch vor allem und jedem<br />

fürchten. Vermutlich ist das eine nur die<br />

Kehrseite des anderen.<br />

Phobienvon Abis Z<br />

Annette Pehnts neuestes Buch wartet<br />

mitvielen ungewöhnlichen Ängsten auf:<br />

der Angst vor dem Weiss der Milch. Der<br />

Angst vor explodierenden Frühlingsknospen.<br />

Der Angst einer Tochter vor<br />

den Kaugeräuschen ihrer Mutter (die,<br />

auf ein Zuckerstück beissend, wiederum<br />

Angst vor der unwirschen Reaktion der<br />

Tochter hat). Daneben gibt es in Pehnts<br />

«Lexikon der Angst» aber auch die jedermann<br />

vertrauten Ängste, die vor allem<br />

«Angst um» sind: die Furcht, den eigenen<br />

Kindern, dem Partner, dem geliebten<br />

Haustier könnte etwas zustossen.<br />

Und schliesslich begegnen wir den kleinen<br />

Verstörungen und Abwehrreaktionen,<br />

die unser Alltagsleben durchlöchern.<br />

Habe ich vergessen, den Herd auszuschalten,<br />

als ich die Wohnung verlassen<br />

habe?Wirdvon mir im Taxi erwartet,<br />

dass ich mit dem Fahrer rede? Muss ich<br />

der Einladung der Nachbarn zum Grillabend<br />

auf ihrem Balkon Folgeleisten?<br />

Pehntschildert diese Befindlichkeiten<br />

nicht als persönliches Erleben, sondern<br />

anhand der Heldinnen und Helden von<br />

45 Kurzgeschichten, die –mit zwei Ausnahmen<br />

–jeweils nur ein einziges Wort<br />

als Titel haben. Daraus ergibt sich die alphabetische,<br />

«lexikalische» Anordnung.<br />

Am Ende stehtein Gedicht, «Zittern», das<br />

nach dem Muster von Brechts berühmtemPoem<br />

«Vergnügungen» beängstigende<br />

Vorstellungen aneinanderreiht: «Den<br />

eigenen Bruder mitdem falschen N<strong>am</strong>en<br />

begrüssen. /Den Hund in der Tür zerquetschen.<br />

/Schweigend beim Essen sitzen.<br />

/Streitend beim Essen sitzen. /Gar<br />

nicht beim Essen sitzen. /ImRestaurant<br />

deutlich hörbar furzen müssen. /Einen<br />

Körperteil abgetrennt bekommen. /Sich<br />

beim Verwelken zusehen.»<br />

Die Schlusszeile lautet lakonisch: «Zittern,<br />

einfach so.» Die gleichmütige Haltung,<br />

mitder hier Schlimmes und Harmloses<br />

auf einer Ebene abgehandelt wird,<br />

bestimmtauch den Tonder Geschichten.<br />

Da ist die Frau, die an Verfolgungswahn<br />

leidet und ihren Vermieter verdächtigt,<br />

heimlich ihre Unterwäsche zu entwenden.<br />

Da ist der Mann, der beständig «ein<br />

hohes Sirren von elektronischer Gleichförmigkeit<br />

im linken Ohr» hört und<br />

Erlösung allenfalls im «wohltuenden<br />

Brausen» des Stadtverkehrs findet. Die<br />

Gedanken- und Gefühlswelt dieser<br />

AnnettePehnt kleidet fixe Ideen, die uns im Alltag begleiten, in bisweilen<br />

surreale Geschichten.<br />

Unglücksfiguren wird mit der gleichen<br />

unpathetischen Aufmerks<strong>am</strong>keit dargelegt<br />

wie diejenige der «Gesunden», die<br />

nur schüchtern sind oder verbreitete fixe<br />

Ideen pflegen (die brennende Herdplatte).<br />

Vor dem Auge dieser Erzählerin<br />

haben alle Ängsteihreeigene Würde.<br />

Lohnende Spracharbeit<br />

Bewusst mischt Pehnt auch ausgesprochen<br />

surreale Geschichten darunter.<br />

Eine Frau bekämpft ihre Weltangst,<br />

indem sie sich einen «schiefen Indianer»<br />

zulegt, der nur leider nicht spricht und<br />

sogleich, einer verwelkten Pflanze<br />

gleich, an ihrer Seite einschläft. Ein<br />

«Die tragische Biografie hat das Zeug zu einem Roman.» Schweizer Illustrierte<br />

Sie war die selbstbewusste Tochter eines mächtigen<br />

Pioniers, die unterforderte Ehefrau eines<br />

farblosen Bundesrat-Sohnes sowie für wenige Tage<br />

glückliche Geliebte eines leidenschaftlichen<br />

Künstlers, mit dem gemeins<strong>am</strong> sie die Flucht nach<br />

Rom ergriff: Lydia Welti-Escher. Doch der Preis<br />

für den Versuch eines selbstbestimmten Lebens<br />

war ihr früher Tod.<br />

Joseph Jung<br />

Lydia Welti-Escher (1858–1891)<br />

Mit einer Einführung<br />

von Hildegard Elisabeth Keller<br />

Neuausgabe 2013. 270 Seiten,<br />

153 Abbildungen, Halbleinen<br />

Format 17 ×24cm<br />

Fr. 39.–* /€34.–<br />

nzz-libro.ch<br />

8 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013


10CE2MsQ6AIBBDv-hIy3EgMho24mDcWYyz_z8JTg5N2-S1rRVz-LTV_axHIRBMuMRMFsvmfIqF2btkw8HkQV2pwVMH8ccFzFGhfSJCCFMfIVCUHYGjzIM-x6B7rvsFR7ojjH8AAAA=<br />

10CAsNsjY0MDAx1TW0MLM0NAQAk3qZpA8AAAA=<br />

GETTYIMAGES<br />

Mann fürchtetnichts mehr als den Schatten,<br />

den seine Mitmenschen und die<br />

Dinge um ihn herum werfen. Zu selten<br />

gelingt es Pehnt hier, das Absurde so ins<br />

Extrem zu treiben, dass es poetische<br />

Funken schlägt. Überzeugender sind die<br />

Passagen, in denen die ganz normalen,<br />

alltäglichen Ängste sinnlich spürbar gemachtwerden.<br />

Worin verdichtetsich der<br />

Widerwille der Frau gegendie Einladung<br />

zum nachbarlichen Grillfest? In der Erinnerung<br />

anihren ersten Besuch, bei dem<br />

man ihr, kaum dass sie eingetreten war,<br />

«schon etwas zwischen die Finger geschoben<br />

hatte, L<strong>am</strong>mkotelett in einer<br />

Serviette,diesich<strong>am</strong>heissenFleischrand<br />

auflöste, jemand goss ihr Ketchup über<br />

die Hand, lass es dir schmecken, wie<br />

heisst du eigentlich, du wohnst da drüben,<br />

wirhaben was zu feiern».<br />

Wastut eine Mutter,die ihren Sohn zu<br />

verlieren fürchtet, nicht plötzlich, durch<br />

einen Unfall, sondern ganz selbstverständlich<br />

durchs Erwachsenwerden? Sie<br />

beginnt, an ihm zu riechen, wenn er<br />

abends nach Hause kommt, auf der<br />

Suche nach Spuren von Nikotin, Alkohol<br />

oder anderen Drogen. «Aber er wich zurück<br />

und wolltenichtmehr umarmtwerden,<br />

und so presste sie nur seine Kleider<br />

an ihr Gesicht, bevor sie in die Wäsche<br />

k<strong>am</strong>en, atmetetief ein und schämte sich<br />

ihres Verdachts und roch doch nur den<br />

sauren Achselschweiss eines Mannes,<br />

der neulich noch ein Kind gewesen war.»<br />

In solchen Abschnitten, solchen Gesten<br />

nehmen gerade die unscheinbaren<br />

Ängste literarische Gestalt an. «Man<br />

kann an allem arbeiten, auch an der<br />

Angst», sagt eine der Figuren. Pehnts<br />

Buch zeigt, dass die Spracharbeitder lohnendsteWeg<br />

ist. ●<br />

Manon Lescaut isteine Femme fatale,die ihreLiebhaber ins Unglück reisst.ImBild eine Kurtisane des 19.Jahrhunderts, gemalt<br />

vonEugene Delacroix.<br />

Roman Abbé Prévosts berühmte,vielleichtbiografischeLiebesgeschichte<br />

GetriebenvonGierundLuxus<br />

Abbé Prévost: Manon Lescaut. Ausdem<br />

Französischen vonJörgTrobitius.<br />

Manesse, Zürich 2013. 384 Seiten,<br />

Fr.34.90.<br />

VonStefana Sabin<br />

Er war ein Dichter-Abenteurer wie Casanova<br />

und Da Ponte und wechselte zwischen<br />

einer militärischen und einer<br />

geistlichen Existenz: Antoine-François<br />

Prévost d’Exiles, 1697–1763, musste aus<br />

Paris fliehen, ging zuerst nach London,<br />

dann nach Holland und veröffentlichte<br />

dort 1731 die «Histoire duChevalier des<br />

Grieux et de Manon Lescaut». Obwohl er<br />

zwanzig Romane schrieb, ist sein Ruhm<br />

mit diesem einen eher schmalen Band<br />

verbunden. Vielleicht hat Prévost darin<br />

die Erlebnisse eines Freundes, des Herzogs<br />

von Brancas, oder gar seine eigene<br />

fulminante Affäre mit der Haager Kurtisane<br />

Lenki Eckhardt verarbeitet –jedenfalls<br />

hat ereine spannungs- und emotionsgeladene<br />

Geschichte gesponnen,<br />

deren Abenteuereinlagen an die Robinsonaden<br />

des 17. und deren Seeleneinblicke<br />

an die Liebesromane des<br />

18. Jahrhunderts anknüpfen.<br />

Prévost beschreibt eine verhängnisvolle<br />

Affäre: DerChevalier des Grieux ist<br />

in die Lebed<strong>am</strong>e Manon Lescaut derart<br />

verliebt, dass er trotz Lügen, Täuschungen<br />

und Erniedrigungen immer wieder<br />

zu ihr zurückkehrt und ihr auf einem<br />

Wegfolgt, der zwar mit erfüllten Liebeserlebnissen<br />

gepflastert ist, aber gleichwohl<br />

ins Gefängnis und zur Deportation<br />

in die <strong>Neue</strong> Welt führt.<br />

Manon ist eine Femme fatale, die ihre<br />

Liebhaber und sich selbst ins Unglück<br />

reisst. Von einer unbändigen Gier nach<br />

Luxus und Unterhaltung getrieben,<br />

kennt sie weder Empathie noch Güte –<br />

noch Reue. Schliesslich bezahlt sie für<br />

ihr ausschweifendes Leben mitdem Tod.<br />

Es ist der verliebte Chevalier, der als Erzähler<br />

fungiert und von seiner Liebe zu<br />

Manon Lescaut und seinen Abenteuern<br />

mit ihr erzählt –ein dankbarer Opernstoff,<br />

wie die zahlreichen Vertonungen<br />

von Auber, Massenet, Puccini bis hin zu<br />

Henzebezeugen.<br />

Schon 1756 erschien die erste deutsche<br />

Übersetzung, der in regelmässigen<br />

Zeitabständen weitere folgten. Nun hat<br />

Jörg Trobitius den Roman vonPrévost in<br />

ein spars<strong>am</strong>-schmiegs<strong>am</strong>es Deutsch gebracht.<br />

●<br />

EUGENE DELACROIX /LOUVRE<br />

Onlineshop für gebrauchte Bücher<br />

Angebot<br />

Über 35’000 Bücher<br />

aus zweiter Hand<br />

Kontakt 071 393 41 71<br />

http://facebook.com/buchplanet.ch<br />

http://blog.buchplanet.ch<br />

Ein soziales Projekt der Stiftung Tos<strong>am</strong><br />

www.tos<strong>am</strong>.ch<br />

24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 9


Belletristik<br />

Roman HervéLeTellier erzähltmit Humor und Raffinementvon derLeidenschaft<br />

einesJournalisten<br />

EinMannsuchtdieGeliebteseinesFreundes<br />

HervéLeTellier:Neun Tage in Lissabon.<br />

Ausdem Französischen vonJürgenund<br />

Romy Ritte. Deutscher Taschenbuch<br />

Verlag, München 2013. 278 Seiten,<br />

Fr.21.90,E-Book 14.90.<br />

VonMartin Zingg<br />

Lissabon, im September 1985. Auf der<br />

Agenda der europäischen Medien steht<br />

in jenen Tagender Prozess gegenRicardo<br />

Pinheiro, einen Serienmörder. Vincent<br />

Balmer,Portugalkorrespondenteiner Pariser<br />

<strong>Zeitung</strong>, soll aus dem Gerichtssaal<br />

darüber berichten, zus<strong>am</strong>men mit António<br />

Flores, der als Fotograf arbeitet und<br />

Fotografie Stars,Mode, Kunst<br />

Paare haben ihre eigene Dyn<strong>am</strong>ik. Wieman nach solider<br />

Partnerschaft immer noch aufeinander fliegen kann,<br />

zeigen Inezvan L<strong>am</strong>sweerde und Vinoodh Matadin. Das<br />

niederländische Fotografenpaar lebtund arbeitet seit<br />

siebzehn Jahren zus<strong>am</strong>men und hatsich für unkonventionelle<br />

Bilder zwischen Kunstund Mode einen N<strong>am</strong>en<br />

gemacht.Gleich, ob sie die Sängerin Björk porträtierten<br />

oder eine Werbek<strong>am</strong>pagne für Givenchyschossen, stets<br />

haben sie das Spiel mit Erwartungen und Klischees<br />

kultiviert.Ein wenig Verrücktheit gehörtimLifestyle-<br />

Bereich zu den Musts. So darfdie D<strong>am</strong>e auf dem Selbstporträt<br />

«MeKissing Vinoodh (Eternally)» von2010<br />

(s.Bild) auch einmal ganz konventionell den wilden,<br />

nacktenParts<strong>am</strong>t Ganzkörperbemalung übernehmen<br />

und der Mann schön zurückhaltend bleiben. Der Band<br />

10 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013<br />

nach langer Zeit wieder in seine Heimatstadt<br />

zurückkehrt.<br />

Die beiden lassen sich in einem Hotel<br />

nieder –und hier setzt Hervé LeTelliers<br />

Roman «Neun Tage in Lissabon» ein. Erzählt<br />

wird er von Vincent, und zwar 26<br />

Jahre später, gestützt auf Notizen aus<br />

dem Jahr 1985, dem Jahr, als Italo Calvino<br />

starb und in Mexikodie Erde bebte.<br />

Vincentarbeitetinjener Zeitanzweiliterarischen<br />

Projekten. Zum einen übersetzt<br />

er täglich kurze Prosastücke eines<br />

gewissen Jaime Montestrela, bizarre Anekdoten.<br />

Montestrela – eine Erfindung<br />

Le Telliers, die es übrigens, wie somanche<br />

Fiktion, zu einem echtenWikipedia-<br />

Eintrag gebracht hat –kommt imRoman<br />

«Pretty Much Everything» vers<strong>am</strong>melt vonden Körpermanipulationen<br />

der neunziger Jahre bis zumHorrorporträt<br />

vonJulianne Moore 2011 alles, wasdas Fotografenpaar<br />

in Werbung und Kunstberühmt und begehrtgemacht<br />

hat.Nach der Luxusausgabe für die Reichen<br />

und Angesagten istder muntere Band nun auch für<br />

uns Normalos erhältlich. Zur Sicherheit im Flexi-Einband<br />

und im Schuber.Könntejasein, uns fällt beim Blättern in<br />

der Küche die Kinnlade runter,und der Kaffee sabbert<br />

aufsBuch. Dann kann man das einfach abwischen. Das<br />

Fotografenduo hatsich auch hier nach allen Seiten abgesichert.Gerhard<br />

Mack<br />

Inezvan L<strong>am</strong>sweerde,Vinoodh Matadin: Pretty Much<br />

Everything. Taschen, Köln 2013. 704Seiten, zahlreiche<br />

Abbildungen, Fr.66.90.<br />

immer wieder zu Wort, zus<strong>am</strong>men mit<br />

seinem HeteronymJaime Caixas, der berührende<br />

Gedichte hinterlassen hat. Wir<br />

sind in der Stadt Pessoas. Und Hervé Le<br />

Tellier ist aktiv beim «Oulipo», dem<br />

«Ouvroir de littérature potentielle», der<br />

Werkstatt für potenzielle Literatur, zu<br />

der einst auch Italo Calvino und Georges<br />

Pereczählten.<br />

Vincent übersetzt nicht nur, ermüht<br />

sich auch ab miteinem Roman, der in der<br />

Zus<strong>am</strong>menfassungziemlich schwurbelig<br />

erscheint. Und er ist ein Mensch, das<br />

wird schon bald einmal deutlich, dem<br />

bisher nichts richtig gelingen wollte.<br />

Nach Lissabon ist er gezogen, weil die<br />

Liebe zu Irene seit ihren Anfängen eine<br />

verkorkste Sache geblieben ist. Sie kann<br />

seine Leidenschaft nicht erwidern, und<br />

er verzehrt sich nach ihr.<br />

Lissabon verspricht Distanz. Mit Empathie<br />

hört er António zu, der vonseiner<br />

Lissaboner Jugendliebe erzählt, von<br />

«Pata», wie sie sich nannte, «Ente». Vincent<br />

erfährt von einer glühenden Liebe,<br />

die auch zu tun hatte mit dem «Carro<br />

eléctrico», der legendären Strassenbahn<br />

Lissabons. Dem«Eléctrico W» –den es als<br />

Linie nicht gibt, aber mit dem «W» an<br />

Georges Perecs «Woder die Kindheitserinnerungen»<br />

erinnert –ist der junge António<br />

seinerzeitnachgerannt, als die beiden<br />

erstmals aufeinander getroffen sind.<br />

Irgendwann wurde Pata von ihm<br />

schwanger, und d<strong>am</strong>als war die Moral rigide,<br />

die Diktatur vonSalazar noch lange<br />

nicht <strong>am</strong>Ende. Der Vater brachte seine<br />

Tochterbei Verwandten unter, und António<br />

zognach Paris, die beiden Liebenden<br />

verloren sich aus den Augen. Inzwischen<br />

ist er längst mit einer anderen Frau zus<strong>am</strong>men,<br />

aber diese scheint, wieAntónio<br />

gelegentlich andeutet, ziemlich anstrengend<br />

zu sein.<br />

Heimlich beginnt Vincent, nach Pata<br />

zu suchen: Vielleichtkann er,dem in Sachen<br />

Liebe nichts glücken will, für andere<br />

nach Jahrzehnten etwas retten. Zugleich<br />

kündigt Antónios Freundin ihren<br />

Besuch in Lissabon an –dass es ausgerechnet<br />

Irene ist, bringt den Erzähler und<br />

d<strong>am</strong>it den Roman gehörig in Fahrt. Er<br />

will der einst Geliebten nicht zunahe<br />

kommen, und das steuert ihn in etliche<br />

komische Situationen, die Le Tellier seinen<br />

Erzähler auf wunderbare Weise inszenieren<br />

und berichten lässt. Das von<br />

Vincentziemlich naivangestrebteHappy<br />

End kann es indes nicht geben, und mit<br />

Irene hatinzwischen auch António seine<br />

Mühe.<br />

«Alle schlechten Romane ähneln sich,<br />

aber jeder gute Roman ist auf seine Art<br />

gelungen», heisst es <strong>am</strong> Schluss in einer<br />

kleinen Tolstoi-Anspielung. Vincent Balmer<br />

und seinem Schirmherrn Le Tellier<br />

ist es tatsächlich gelungen, einen guten,<br />

ja höchst vergnüglichen, sprachspielund<br />

anspielungsreichen Roman aus den<br />

Notizen zu heben. Und Jürgenund Romy<br />

Ritte haben ihn auf präzise und bewundernswert<br />

elegante Weise aus dem Französischen<br />

ins Deutsche übersetzt. ●


Prosa DerinUster lebendeAutor<br />

Dieter Zwickyerweistsich wiedereinmal<br />

als phantasievoller Sprachkünstler<br />

Warten<br />

aufRobert<br />

Dieter Zwicky:Slugo. Ein Privatflughafengedicht.<br />

Edition pudelundpinscher,<br />

Erstfeld 2013. 160 Seiten, Fr.28.-.<br />

VonBruno Steiger<br />

Die Frage nach einer vergleichbaren<br />

«stofflichen» Essenz vonWelt, Wahrnehmung<br />

und Sprache beschäftigte Dieter<br />

Zwicky schon in seinem 2002 erschienenen<br />

ersten Buch. «Der Schwan, die Ratte<br />

in mir» lautete der Titel der S<strong>am</strong>mlung<br />

von lyrischer Kurzprosa; als «Buchwunder»<br />

feierte die einschlägige Kritik<br />

das Debüt des d<strong>am</strong>als 45-Jährigen. In all<br />

den äusserst sinnlichen Meditationen<br />

etwa über die verheerende Schönheit<br />

von verirrten Brieftauben und höhnisch<br />

gestimmten Gartenzwergen zeigte sich<br />

eine Imaginationskraft, die als absolut<br />

einzigartig wahrgenommen wurde. Ob<br />

man es mit Sur- oder gar Pararealismus<br />

zu tun hatte, liess sich nichtschlüssig beantworten;<br />

dasselbe galt auch für die<br />

nachfolgenden Bücher, mit denen Zwicky<br />

seine Position als exorbitanter, sich<br />

jeder simplen Enigmatik enthaltender<br />

Wortkünstler zu festigen vermochte.<br />

Wasbloss bedeutetSlugo?<br />

Dem Befund, Zwicky schreibe ausserhalb<br />

aller herkömmlichen Raster, begegnet<br />

der Autor nun mit der Etablierung<br />

eines neuen Genres. Als «Privatflughafengedicht»<br />

deklariert er sein Buch.<br />

Wasesd<strong>am</strong>itauf sich hat, wird schon im<br />

ersten Absatz deutlich –und wie! «Judith,<br />

das Essen ist fertig! /Ich rufe so<br />

froh, so frisch, weil ich auf dem Flughafen<br />

koche.» Man liest solches beinah<br />

schaudernd vor Freude, hier aber soll<br />

vorerst Inhaltliches zur Sprache kommen,<br />

mit einem Blick auf Dieter Zwickys<br />

Personal. Es ist Bodenpersonal in jedem<br />

Sinn des Wortes. Es setzt sich –auch wo<br />

man ab und an «in Dreierkolonne» auf<br />

dem Dach des Hangars zu stehen meint<br />

– aus gerade mal zwei Leuten zus<strong>am</strong>men:<br />

dem erzählenden Koch und seiner<br />

Frau Judith.<br />

Alles, was man Nebenfigur nennen<br />

könnte, hat sich vom Flughafen abgesetzt.<br />

Dies gilt für den «näselnden» Sohn<br />

Geoffrey ebenso wie für die beiden Stewards<br />

n<strong>am</strong>ens Brian und Holland, als<br />

«ausrangierte Flugplatzgeister» werden<br />

sie bezeichnet. Deneinzigen die Stellung<br />

Haltenden bleibt das Warten auf den<br />

Südafrikaner Robert, der mit dem<br />

«Nachmittagsflugzeug» eintreffen soll.<br />

Als «kirchliches Geschäft» betrachtenJudith<br />

und der Koch ihr Warten im ewigen<br />

Nachmittag des Flughafens. Die Zeitvertreiben<br />

sie sich mit Spekulationen über<br />

den Verbleib von Roberts Bruder Jean,<br />

Ein Hangar spielt im<br />

neuen Roman von<br />

Dieter Zwicky eine<br />

zentrale Rolle: Er<br />

istSperrbezirk und<br />

Spielfeld in einem.<br />

mit allerlei Betrachtungen über die Tierund<br />

Pflanzenwelt des Areals, mit der<br />

Frage, ob sich ein Wort wie «hochwirks<strong>am</strong>»<br />

träumen lässt –und mit dem Verzehr<br />

von«Slugo-Crackers».<br />

Womit wir beim Buchtitel und der<br />

Frage wären, was «Slugo», so es denn<br />

mehr wäre als bloss eine Art Jokerwort,<br />

sein und bedeuten könnte. Es bleibt<br />

lange offen; erst gegenSchluss des Buchs<br />

gibt der Koch seiner Erkenntnis Ausdruck,<br />

dass das Wort «kraft seiner Kürze<br />

von seinem Gehalt eigentümlich ablenkt».<br />

Nach einem denkbar knapp gehaltenen<br />

Exkurs zum Begriff «Verkürzung»<br />

wird er konkreter:«Slugoversteckt<br />

sich, es schiebt Schottland vor, Scotland.<br />

Slugonimmt sich einen Fjord und steckt<br />

Scotland direkt ans spitze Fjordende:<br />

Slugo. /Oder kanadische Waffeln. /Oder<br />

kanadisches Süssbrot, in das mittels<br />

Einwegpipetten vit<strong>am</strong>intechnisch wertvolle<br />

Lachssekrete eingespritzt worden<br />

sind.»<br />

Das ist nicht in irgendeine überinstrumentierte<br />

Beliebigkeit durchgesackte<br />

Metaphorik, das ist Zwicky-<br />

Sound in Vollendungund d<strong>am</strong>itsoetwas<br />

wie Klartext pur. Gleichwohl sieht man<br />

sich, als kritischer Leser und Agent eines<br />

Vermittlungsauftrags, herausgefordert,<br />

«Slugo», dem Wort wie der d<strong>am</strong>it bezeichneten<br />

Sache, auf den Grund zu<br />

gehen. Wenn man weiss, dass Zwicky in<br />

Theologie ebenso bewandert ist wie in<br />

philosophischen Fragen, bietet sich zuallererst<br />

eine allegorische Lesart an.<br />

Darin könnte Slugo als erste und eigentliche<br />

Ursubstanz der Materie gesehen<br />

werden, als etwas, was dem innersten<br />

Kern der Schöpfung Masse und Bestand<br />

verleiht. Eine mindestens ebenso plausible<br />

Interpretation ergibt sich aus der Recherche<br />

im Netz, wo das Wort als N<strong>am</strong>e<br />

einer Firma auftaucht, die «alternative»<br />

Bauklötzchen für Drei- bis Sechsjährige<br />

anbietet.<br />

In beiden Versionen bestätigt sich der<br />

Eindruck, dass Dieter Zwicky seinen<br />

Flugplatz als geschütztes, vollständig separiertes<br />

Spielfeld angelegt hat, als<br />

Sperrbezirk im Grunde, in welchem endlich<br />

einmal alles möglich werden darf,<br />

Betonung auf möglich. So kann er denn<br />

auf das, was man gemeinhin Handlung<br />

nennt, grosszügig verzichten. Er beschränkt<br />

sich auf die Entfaltung eines<br />

Settings. In einer ingeniösen Dr<strong>am</strong>aturgie<br />

vielfältig geschichteter Zeitverläufe<br />

hält er sich vorzugsweise an ein selbstvergessenes<br />

Abschweifen, in welchem<br />

«Slugo» als essenzieller blinder Fleck<br />

alles Sagbaren Gestalt annimmt.<br />

Wollüstige Höhenflüge<br />

In dem augenscheinlich schwer zubändigenden<br />

dunklen Enthusiasmus, der in<br />

und zwischen den Zeilen wirkt, erlaubt<br />

sich der Autor nebst so manchen fast<br />

wollüstig zelebrierten sprachlichen Höhenflügen<br />

immer wieder auch lapidare<br />

Einwürfe von geradezu monströser Erhabenheit.<br />

«Judith atmete. /Ich atmete.»<br />

Gerade bei solchen Sätzen kann man nur<br />

noch leer schlucken. Das dumme Wort<br />

Lesevergnügen darf bei diesem Buch unausgesprochen<br />

bleiben, das Lesen, das<br />

Sich-Einverleiben von «Slugo» bewirkt<br />

viel, viel mehr: Esmacht schlicht und<br />

einfach froh. ●<br />

24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 11<br />

RALF MEYER /VISUM


Belletristik<br />

Romanzyklus DerSchweizer AutorOttoFrei(1924–1990) verewigteinfünf Büchern seine frühen Jahre<br />

in Steckborn <strong>am</strong> Bodensee<br />

MonologendetimVatermord<br />

OttoFrei: Bissich Nacht in die Augen senkt.<br />

Die Steckborner Pentalogie. Hrsg. Charles<br />

Linsmayer. ReprintedbyHuber,<br />

Frauenfeld2013. 520 Seiten, Fr.41.90.<br />

VonManfred Papst<br />

Der Ostschweizer Schriftsteller Otto Frei<br />

zählt zu den zu Unrecht vergessenen<br />

Schweizer Autorendes 20.Jahrhunderts.<br />

Er war neben seiner Tätigkeitals langjähriger<br />

Korrespondentder «<strong>Neue</strong>n Zürcher<br />

<strong>Zeitung</strong>», für die er aus Berlin, Rom und<br />

dem Welschland berichtete, auch ein<br />

fruchtbarer Erzähler. Der 1924 als Sohn<br />

eines katholischen Holz- und Obsthändlers<br />

in Steckborn geborene Autor, der die<br />

Kantonsschule Frauenfeld besucht und<br />

in Zürich und Paris Geschichte sowie<br />

Germanistik studiert hatte, wirkte von<br />

1951 bis 1989für die NZZ.<br />

Seiner Heimat <strong>am</strong>Bodensee hat Otto<br />

Frei fünf schmale, höchst unterschiedliche<br />

Bücher gewidmet, die nun erstmals<br />

in einem Band der verdienstvollen Reihe<br />

«Reprinted byHuber» vorliegen. Natürlich<br />

verdanken wir diesen Fund einmal<br />

mehr dem so kundigen wie unermüdlichen<br />

Herausgeber Charles Linsmayer. Er<br />

stellt in seinem 85-seitigen, illustrierten<br />

Nachwort, das den Rangder bislangbesten<br />

und gründlichsten Frei-Monografie<br />

beanspruchen darf, das Schaffen seines<br />

Protagonisten umsichtig in den Kontext<br />

der Zeit. Zu Rechtwürdigt er die thematische<br />

und stilistische Vielfalt von Freis<br />

Schreiben, in dem sich Tragik, Humor<br />

und markige Fabulierfreude verbinden<br />

und das neben dem Steckborner Zyklus<br />

den Genfersee-Roman »Dorf <strong>am</strong> Rebhang«<br />

(1974), den Erzählband »Berliner<br />

Herbst« (1979) und die kritische Kurort-<br />

Darstellung»Abschied in Zermatt« (1980)<br />

umfasst.<br />

12 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013<br />

Der angehende JournalistOttoFrei, frisch verliebt,mit seiner FrauRuth<br />

Zimmerli 1949 in Venedig.<br />

NZZ-AutorwirdRomancier<br />

Linsmayers besonderes Augenmerk gilt<br />

indes dem biografisch grundierten Werk<br />

des Autors. Es besteht aus den Publikationen<br />

«Jugend <strong>am</strong> Ufer» (1973), «Beim<br />

Wirt <strong>am</strong> scharfen Eck» (1976), «Zu Vaters<br />

Zeit» (1978), «Bis sich Nachtindie Augen<br />

senkt» (1982) sowie «Rebell» (1987). Die<br />

fünf Bücher sind nun als «Steckborner<br />

Pentalogie» endlich wieder lieferbar,und<br />

sie laden dazu ein, Otto Frei, den welschen<br />

Alemannen und Thurgauer Romand,<br />

neu zu lesen.<br />

Otto Frei war schon 49 Jahre alt, als<br />

sein literarischer Erstling erschien, und<br />

er wurde von der Kritik kaum wahrgenommen.<br />

Für die meisten nahmen sich<br />

Freis Bücher, wie Linsmayer treffend<br />

schreibt, als «unzeitgemässe, harmlosburleske,<br />

ländlich provinzielle Unterhaltungsliteratur<br />

aus, Resultate der Freizeitbeschäftigung<br />

eines politischen Redaktors,<br />

der, wie man herablassend anzutönen<br />

nichtverfehlte, offenbar nach höherenWeihen<br />

strebte». Hinzu k<strong>am</strong> ein Politikum:<br />

Als NZZ-Mann stand Frei in der<br />

d<strong>am</strong>als von links engagierten Autoren<br />

wie Frisch, Muschg und Diggelmann<br />

geprägten Schweizer Literaturszene auf<br />

der falschen Seite, auf jener des konservativen<br />

Bürgertums nämlich. Über die<br />

Studentenunruhen in Berlin schrieb er<br />

derart negativ, dass es selbst der NZZ zu<br />

viel wurde; sie rief ihren Mitarbeiter in<br />

die Schweiz zurück.<br />

Bürgertum hin oder her:Epische Breite<br />

war nicht Otto Freis Fall. Vielmehr<br />

pflegteereinen schmucklosen, an seinen<br />

grossen welschen Kollegen Charles-Albert<br />

Cingria erinnernden Stil. Er beschrieb<br />

in kurzen Sätzen knappe Szenen,<br />

zog Dialoge Beschreibungen vor. Seine<br />

fünf autobiografischen Bücher sind<br />

gleichwohl sehr unterschiedlich. Die<br />

nostalgische Kindheitserzählung «Jugend<br />

<strong>am</strong> Ufer» und die Schilderung der<br />

Studienjahre in«Zu Vaters Zeit» sind in<br />

einem lockeren, episodischen Stil gehalten.<br />

In den anderen drei Bänden ist die<br />

Textur dichter, Träume und Reflexionen<br />

erweitern die Erzählung, und der abschliessende<br />

«Rebell» enthält einen heftigen<br />

inneren Monolog, der im Vaterund<br />

Sohnesmordendet.<br />

Freis ganze Pentalogie schildert den<br />

K<strong>am</strong>pf eines Sohnes mit seinem übermächtigen<br />

Vater, einem von der bäuerlichen<br />

Welt geprägten Unternehmer und<br />

passionierten Jäger ohne intellektuelle<br />

Ankränkelung. Der Sohn ist der erste in<br />

der F<strong>am</strong>ilie, der die Matura macht und<br />

studiert –zum Missfallen des Vaters, der<br />

sich unter dem Fach Geschichte nichts<br />

vorstellen kann und sich erst durch die<br />

Erklärung des Sohnes beruhigen lässt,<br />

man könne d<strong>am</strong>it Professor in Frauenfeld<br />

werden.<br />

Ewiger Aussenseiter<br />

Das Jahr 1949 markiert die entscheidende<br />

Zäsur in Otto Freis Leben. Am Neujahrstag<br />

stirbt der Vater mit knapp 65<br />

Jahren. Der Sohn hat diesen Tod immer<br />

wieder literarisch geschildert –und jedes<br />

Mal anders. Nun erst fühlt er sich frei.<br />

Die Doktorprüfung hat er abgelegt, das<br />

Diplom für das höhere Lehr<strong>am</strong>t erworben;<br />

zudem hatermit Ruth Zimmerli die<br />

Frau seines Lebens kennengelernt. Er<br />

wird Volontär bei den «Schaffhauser<br />

Nachrichten», bereist Italien, Frankreich,<br />

England, versucht sich als Dr<strong>am</strong>atiker –<br />

und landet bei der NZZ. Willy Bretscher<br />

stellt ihn ein. Fünfzehn Jahre lang berichtet<br />

Frei aus Berlin, unterbrochen lediglich<br />

durch eine einjährige Stellvertretung<br />

in Rom. Dann wird er von Fred<br />

Luchsinger zum Welschland-Korrespondenten<br />

berufen. Er zieht inden Weiler<br />

Bursinel bei Lyon. Dort wird er zum Romancier.<br />

Doch die Suche nach einem<br />

Verleger gestaltet sich schwierig. Es ist<br />

schliesslich kein Geringerer als Friedrich<br />

Dürrenmatt,der ihn in seinem Verlag unterbringt<br />

–inPeter Schifferlis «Arche».<br />

Klara Obermüller, d<strong>am</strong>als 33 Jahre alt,<br />

bespricht «Jugend <strong>am</strong> Ufer» in der NZZ.<br />

DerAutor liest die Rezension als «höflich<br />

verschleierten Verriss».<br />

Der 1978 erschienene Band «Zu Vaters<br />

Zeit» findet dagegen breite Zustimmung.<br />

Gleichwohl bleibt Otto Frei zeit seines<br />

Lebens ein Aussenseiterdes Literaturbetriebs,<br />

wieCharles Linsmayer, der als d<strong>am</strong>aliger<br />

Lektor des Arche-Verlags die Geschichte<br />

aufs Genaueste kennt, darlegt.<br />

Gewiss: Otto Frei war ein poeta minor.Es<br />

lohnt sich dennoch, ihn zu lesen: aus literarischen<br />

wie aus zeitgeschichtlichen<br />

Gründen. Und auch Psychologen dürften<br />

in dieser Bewältigung eines Sohn-Vater-<br />

Konflikts ihrefette Beutefinden. ●


E-Krimi desMonats<br />

Horror einer Bilderbuchehe<br />

Kurzkritiken Belletristik<br />

Gillian Flynn: Gone Girl. Das perfekte<br />

Opfer.Aus dem Amerikanischen von<br />

Christine Strüh. Fischer Scherz,<br />

Frankfurt 2013. 576Seiten, Fr.25.90,<br />

E-Book Fr.18.–.<br />

Charles Bukowski: Dasweingetränkte<br />

Notizbuch. Fischer,Frankfurt a. M. 2013.<br />

350 Seiten, Fr.28.90,E-Book 22.–.<br />

PedroLenz: Ibimeh aus eine. Cosmos 2013.<br />

75 Seiten, Fr.25.90.Als Hörbuch, mit<br />

Patrik Neuhaus <strong>am</strong> Piano: Fr.29.–.<br />

«Vermutlich hängensolche Fragen wie<br />

Gewitterwolken über jeder Ehe: Woran<br />

denkst Du?Wer bist Du?Was haben wir<br />

einander angetan?Was werden wir<br />

noch tun?» Diese Gedanken stolpern<br />

Nick Dunne durch den Kopf –<strong>am</strong>Tag,<br />

an dem seine Frau Amyverschwindet.<br />

Es ist ihr fünfter Hochzeitstag, an dem<br />

die Lifestyle-Fassade ihrer Leben zerbrichtund<br />

der Hass, der dahinterlauert,<br />

zum Vorschein kommt.<br />

Ein klassischer Thriller ist «Gone<br />

Girl» vonGillian Flynn nicht, eher ein<br />

hochspannendes Psychogr<strong>am</strong>m einer<br />

Ehe mitkriminalistischem Hintergrund.<br />

Aufgebaut ist der Plot als Parallelmontagezweier<br />

sich abwechselnder<br />

Ich-Erzählungen–baldberichtetAmy,<br />

teils in Form vonTagebucheinträgen,<br />

baldberichtetNick. Amyund Nick, das<br />

sind zwei trendigeMittdreissiger mit<br />

LuxusappartementinNew York, mit<br />

Jobs in der Medienbranche, sie führen<br />

eine Vorzeige-Ehe in einem Bilderbuchleben.<br />

Bis beide ihreStelle verlieren.<br />

Das Geld reichtnichtmehr für die<br />

Wohnung, nichtmehr für das teure<br />

Hipster-Leben. Und so ziehen sie weg,<br />

in die Kleinstadt, in der Nick gross geworden<br />

ist. Wo er untertrendigem<br />

N<strong>am</strong>en eine alteBar neu eröffnet. Und<br />

wo sein Untergangbeginnt. Weil sich<br />

die Oberflächlichkeitihres New Yorker<br />

Lebens im Kleinstadtalltag nichtaufrechterhalten<br />

lässt und sich plötzlich<br />

zeigt, dass der Partner die Idealvorstellungendes<br />

anderen nichterfüllt.<br />

Eines Tagesist Amyweg. Im Haus<br />

finden sich Spuren eines K<strong>am</strong>pfes. Nick<br />

gerätunter Verdacht. Es gibt Lügen. Es<br />

gibt Intrigen. Aber es gibt keine Leiche.<br />

Und <strong>am</strong> Schluss ist vieles anders, als<br />

man denkt. Das Buch ist ein eigentlicher<br />

Wettstreitzweier unzuverlässiger<br />

Erzähler,denen man beiden nichtso<br />

rechtglauben mag, und die um das Vertrauen<br />

der Leser buhlen. Amyund Nick<br />

schildern die an sich gleiche Geschichte,die<br />

aus den unterschiedlichen Perspektivennichtein<br />

und dieselbe ist.<br />

Langebleibt unklar,was <strong>am</strong> Tagvon<br />

Amys Verschwinden geschah. Derrasante<br />

Perspektivenwechsel deckt Stück<br />

um Stück den Horror auf,der sich in<br />

der Beziehungvon Amyund Nick eingenistet<br />

hatund ihreLeben kaputtzumachen<br />

droht. Dieser ist<br />

umso verstörender,als in<br />

ihrer Ehe viel Normalitätsteckt.<br />

Letztlich<br />

geht es darum, wie<br />

zwei, die sich einst<br />

liebten, so sehr voneinander<br />

entfernen<br />

können. Und um<br />

die Frage, ob man<br />

seinen Partner<br />

wirklich kennt.<br />

VonChristine<br />

Brand ●<br />

Charles Bukowski (1920–1994) war einer<br />

der unterhalts<strong>am</strong>sten Skandalautoren<br />

des 20. Jahrhunderts. Der in Deutschland<br />

geborene Amerikaner schöpfte aus<br />

seinem Leben in zahllosen schlecht bezahlten<br />

Jobs und dem Mix seiner Passionen:<br />

Alkohol, Sex, Pferderennen, klassische<br />

Musik. Er schildertesein verrücktes<br />

Leben in Los Angeles mit Lakonie und<br />

Witz –inGedichten, Storys und Romanen.<br />

Seit den späten 1970er-Jahren war<br />

Bukowski auch im deutschen Sprachraum<br />

ein Kultautor. Übersetzt wurde er<br />

über Jahrzehnte vonseinem Freund Carl<br />

Weissner (1940–2012). Dessen Verdienste<br />

in Ehren –esist gut, dass wir Bukowski<br />

nun auch einmal in anderer Auslegung<br />

lesen können. Malte Krutzsch hat «Das<br />

weingetränkte Notizbuch», einen 2008<br />

im Original erschienenen Band von<br />

«UncollectedStories and Essays» aus den<br />

Jahren 1944 bis 1990 mit Leidenschaft<br />

und Umsichtins Deutsche gebracht.<br />

ManfredPapst<br />

David Vogel: Eine Wiener Romanze. Roman.<br />

A. d. Hebräischen v. R. Achl<strong>am</strong>a. Aufbau,<br />

Berlin 2013. 316 S., Fr.33.90,E-Book 19.–.<br />

Michael Rost, 18 Jahrejung, verliess sein<br />

Elternhaus, weil er «neugierig auf sich<br />

selbst» war.Erkommtineine Grossstadt,<br />

wo sich ihm ein Millionär als Mäzen anbietet.<br />

Rost ergreift die Gelegenheit. Er<br />

mietet ein Zimmer bei der schönen Gertrud<br />

Stift und beginntmit ihr ein Liebesverhältnis,<br />

bis sich ihre 16-jährige Tochter<br />

inihn verliebt. Im letzten Kapitel erleben<br />

wireinen kaltschnäuzigen Michael<br />

Rost mit einer anderen Frau. Vermutlich<br />

hatte David Vogel, der 1891 in Podolien<br />

(Russisches Kaiserreich) zur Welt k<strong>am</strong><br />

und 1944 in Auschwitz ermordet wurde,<br />

den Text in den 1920er-Jahren in Paris<br />

verfasst und nicht abgeschlossen. Dafür<br />

spricht der Zustand des Manuskripts im<br />

Nachlass. Mit seiner «Wiener Romanze»<br />

zeigt uns Vogelein lebenspralles Bildvon<br />

Wien, wo er 1912 bis 1922 gelebt hat. Eine<br />

Entdeckung, die einen frösteln lässt ob<br />

der menschlichen Kälte.<br />

Regula Freuler<br />

«Andere Schriftsteller haben einen Brotjob<br />

als Lehrer. Mein Brotjob ist das Auftreten»,<br />

sagte Pedro Lenz neulich in<br />

einem Interview. Ein sauer verdientes<br />

Brot, denkt man mitBlick auf seine volle<br />

Agenda, die bis zu fünf Auftritte pro<br />

Woche aufführt. Aber der Berner Spoken-Word-Künstler<br />

und Mundart-Autor<br />

weiss es sich zu versüssen mit Bühnenpartnern.<br />

Einer von ihnen ist der Pianist<br />

Patrik Neuhaus. Zus<strong>am</strong>men treten sie<br />

seit 2002 als Duo «Hohe Stirnen» auf,<br />

«I bi meh aus eine» ist ihre fünfte Produktion.<br />

Erzählt wird die wahre Geschichte<br />

des Emmentalers n<strong>am</strong>ens Peter<br />

Wingeier, der in den 1860er-Jahren nach<br />

Argentinien auswandert und dort ein<br />

Dorf gründet. Lenz hatden Text so wunderbar<br />

rhythmisiert, dass viele Stellen<br />

wie Liedzeilen klingen. Die Geschichte<br />

böte Stoff zu üppigem Fabulieren, umso<br />

bedauerlicher, dass der Autor sich auf<br />

diese Kürzebeschränkt hat.<br />

Regula Freuler<br />

Rainer Malkowski: Aphorismen und kleine<br />

Prosa. Wallstein, Göttingen2013.<br />

123 Seiten, Fr.28.40,E-Book 19.–.<br />

Der in Berlin geborene Lyriker Rainer<br />

Malkowski (1939–2003) war in jungen<br />

Jahren als höchst erfolgreicher Werber<br />

tätig. Doch mit 33Jahren zog ersich völlig<br />

aus dem Betrieb zurück und lebte bis<br />

zu seinem Tod abgeschieden im bayrischen<br />

Brannenburg<strong>am</strong>Inn. In regelmässigen<br />

Abständen veröffentlichte er nun<br />

Lyrikbände, die ersten acht bei Suhrk<strong>am</strong>p,den<br />

letzten bei Hanser.Erwar ein<br />

Meister der kleinen Wahrnehmung und<br />

pflegte den freien Vers. Die Sorgfalt seiner<br />

Diktion k<strong>am</strong> ohne jede Überhöhung<br />

aus. Er gab dem brüchigen, fragmentierten<br />

Leben eine dichterische Form. Sein<br />

lyrisches Werk liegt bei Wallstein vor.<br />

Nun folgt als Nachlese ein wunderbarer<br />

kleiner Band mit Aphorismen und kleiner<br />

Prosa, «Was sein könnte, ist», lesen<br />

wir da. Mit einem emphatischen Nachwort<br />

herausgegeben wurdedas Buch von<br />

keinem Geringerenals Michael Krüger.<br />

ManfredPapst<br />

24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 13


Kinder- undJugendbuch<br />

Kurzkritiken<br />

GaryGhislain: Wieich JohnnyDepps<br />

Alien-Braut abschleppte. Fischer 2013.<br />

223 Seiten, Fr.21.90,E-Book 16.– (ab 12 J.).<br />

Oliver Scherz: Ben. Mitfarbigen<br />

Illustrationen. Thienemann, Stuttgart<br />

2013. 112 Seiten, Fr.19.90 (Vorlesen ab 5).<br />

Klassiker <strong>Neue</strong>Übersetzung<br />

DieSchatzinselin<br />

vollerLänge<br />

RobertLouis Stevenson: Die Schatzinsel.<br />

Hanser,München 2013. 384 Seiten,<br />

Fr.39.90,E-Book 29.90(ab 12 Jahren).<br />

Hörbuch, ungekürzteLesungvon Harry<br />

Rowohlt. Roof Music/tacheles!. 6CDs,<br />

489 Minuten, Fr.38.90.<br />

Für einen Verliebten ist die Auserwählte<br />

ein Wesen von einem anderen Stern. Da<br />

bildet der 14-jährige David keine Ausnahme,<br />

nur handelt es sich bei der delinquenten<br />

Patientin seines Vaters tatsächlich<br />

um eine Ausserirdische. Zelda kann<br />

astralzoomen, die Zeit krümmen und<br />

nimmt estrotz galaktischem Jetlag locker<br />

mit einer Horde Polizisten auf. Der<br />

Besucherin vom Planeten Vahalal bleibt<br />

wenig Zeit, auf der Erde ihren Seelenverwandten<br />

zu finden. Dass der Kandidat<br />

Johnny Depp heisst, macht die Mission<br />

nicht einfacher. David fügt sich in die<br />

Rolle des Gehilfen und versucht, das<br />

Schlimmstezuverhindern. GaryGhislain<br />

erzählt das turbulente Erdling-trifft-<br />

Spacegirl-Abenteuer mit gehörigem<br />

Wort- und Aberwitz. Dabei spielt er mit<br />

popkulturellen Versatzstücken und lehnt<br />

sich literarisch ans Comicgenrean.<br />

DanielAmmann<br />

AliceGabathuler:no_way_out.<br />

Thienemann, Stuttgart 2013. 336 Seiten,<br />

Fr.19.90,E-Book 15.- (ab 16 Jahren).<br />

Mick lebt auf der Strasse. Eines Tages<br />

fährt ein Luxuswagen den 17-Jährigen<br />

an. Gezielt, wiesich baldzeigt. Kurz darauf<br />

wird Mick ein Mord untergeschoben.<br />

Er gerät in Panik, reagiert falsch und<br />

muss in der Folge untertauchen. Hinter<br />

den Machenschaften steht ein rechtsgerichteter<br />

Bund, der «asoziale Elemente»<br />

aus der Gesellschaft entfernen will,<br />

indem er sie für nicht begangene Straftaten<br />

ins Gefängnis bringt. Jetzt erhält<br />

der hochspannende Thriller eine politische<br />

Dimension. Er machtauch deutlich,<br />

wie leicht die Berichterstattung ein falsches<br />

Bild der Geschehnisse evozieren<br />

kann. Aber da bilden Mick und seine<br />

Freunde eine Online-Community, ein<br />

neuer K<strong>am</strong>pf beginnt. Gabathulers Bücher<br />

behandeln brisante Themen, die Jugendliche<br />

interessieren und bewegen. Zu<br />

Rechtwächst ihreFangemeinde stetig.<br />

Verena Hoenig<br />

14 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013<br />

Inmitten der Superhelden, Hexen und<br />

anderer Überflieger im Kinderbuch ist<br />

Ben eine wohltuende Ausnahme: Er ist<br />

so herrlich normal. Mit seinem besten<br />

Freund, der SchildkröteHerrn Sowa, fluteterdas<br />

Badezimmer,entert das Baumhaus<br />

seines grossen Bruders, geht nachts<br />

angeln in Nachbars Garten und gemeins<strong>am</strong><br />

überstehen sie den Besuch beim<br />

Arzt –kurz: sie erleben schönste, bewältigbare<br />

Abenteuer und s<strong>am</strong>meln Erfahrungen.<br />

Zum Beispiel die, dass man sich<br />

ruhig fürchten darf (vor dem Keller, der<br />

Dunkelheit, der Schule) und dass Heimweh<br />

zum Leben gehört, weil man dann<br />

erst weiss, wie lieb man sich hat. Die<br />

zehn in sich abgeschlossenen Vorlese-<br />

Geschichten sind mit Poesie und Fantasie<br />

geschrieben; sie unterhalten mitten<br />

aus der Kinderwelt auf sachte Art und<br />

helfen, grösser zu werden.<br />

Christine Knödler<br />

Marian de Smet:Kein Empfang.<br />

Gerstenberg, Hildesheim 2013.<br />

192 Seiten, Fr.19.90 (ab 13 Jahren).<br />

Leo ist beim Wandern in ein Loch gefallen.<br />

Der Akku des Handys ist leer, der<br />

Fuss gebrochen –jetzt gilt es abzuwarten.<br />

Da tauchtdie rätselhafteNanou auf.<br />

Das Mädchen bringt LeoEssen, verarztet<br />

ihn, holt aber keine Hilfe. Nanou wird<br />

von ihrer Mutter versteckt gehalten und<br />

kennt keine anderen Menschen. Während<br />

sie zaghaft auf Leo zugeht und die<br />

beiden sich verlieben, belagern Journalisten<br />

unten imTal Leos Freund David.<br />

Auch eine F<strong>am</strong>ilie tauchtauf,deren Kind<br />

vor dreizehn Jahren hier spurlos verschwand.<br />

Der Thriller wird abwechselnd<br />

aus Nanous, Leos und Davids Perspektive<br />

erzählt. Rasch erahnt man die Zus<strong>am</strong>menhänge,<br />

die de Smet geschickt<br />

anklingen lässt. Ob die Vermutungen<br />

richtig sind, erfährt man nicht. Indem sie<br />

das Meisteoffen lässt, vermeidet die Autorin<br />

ein kitschiges Happy-End.<br />

Andrea Lüthi<br />

VonHans tenDoornkaat<br />

Glücklich, wer das Heben dieses Schatzes<br />

noch vor sich hat. Viele haben «Die<br />

Schatzinsel» nur in gekürzter Fassung<br />

«bearbeitet für die Jugend» gelesen. Die<br />

neueren Ausgaben mit den Bildern von<br />

John Lawrence (Sauerländer) oder den<br />

Farbtafeln von Robert Ingpen (Knesebeck)<br />

bedienen sich einer Übersetzung<br />

von1967.Doch warum nichtJugendliche<br />

erfahren lassen, dass auch ein klassischer<br />

Text beste Spannung bietet? Wenn<br />

die Piraten auftrumpfen, oder wenn<br />

Long John Silver als Kopf der Meuterei<br />

sein falsches Spiel spielt, dann ist die<br />

Neuübersetzung von Andreas Nohl den<br />

bisherigen vorzuziehen.<br />

Als Stevenson sich entschliesst, für<br />

alle Alter und Schichten zuschreiben,<br />

entwickelt er ein Spannungskonzept wie<br />

später Hitchcock: Wir wissen meist Bescheid<br />

über Tatenund Widersacher,und<br />

werden doch laufend überrascht. Allzu<br />

rasch sieht der Halbwaise Jim den geselligen<br />

Schiffskoch als väterlichen Freund.<br />

Zwar streut der Autor Hinweise ein, die<br />

unsere Zweifel und die Spannung erhöhen,<br />

aber der Junge muss erst – im<br />

Apfelfass versteckt –die Prahlereien der<br />

Verschwörer mit anhören, ehe er das<br />

Doppelspiel durchschaut. Dass ausgerechnet<br />

eine Vaterfigur sich als Verräter<br />

entpuppt, ist in einem Jugendklassiker<br />

brisant, und dass auch die gestandenen<br />

Herren darauf angewiesen sind, mitdem<br />

Schurken gemeins<strong>am</strong>e Sache zu machen,<br />

irritiert selbst ältereLeser.<br />

Harry Rowohlt kann in der ungekürzten<br />

Lesung nicht soausschweifend auftrumpfen,<br />

wie erund sein St<strong>am</strong>mpublikum<br />

es mögen. Aber wie ermit seinem<br />

rauen Bass die wechselnden Rollen des<br />

Schiffskochs inszeniert, und bei allzu<br />

viel Abenteuerromantik auch mal einen<br />

ironischen Unterton anklingen lässt, das<br />

ist ein Vergnügen im Sinne des Autors.<br />

Hoch anzurechnen ist dem Hörbuch<br />

auch, dass nach dem 32. Kapitelein vom<br />

Übersetzer neu entdeckter Text von Stevenson<br />

eingefügt ist, ein Dialog zwischen<br />

Silver und Kapitän Smollett über<br />

den Autor. Ohnehin sind Nachwort, Materialien<br />

über die Entstehung des Romans<br />

und Gedanken zur neuen Übertragung,<br />

ein Genuss für erwachsene Leser –<br />

und, falls gewünscht, eine Legitimation<br />

für den populären Lesestoff.Nötig ist sie<br />

indes nicht, denn von Henry J<strong>am</strong>es bis<br />

Ernst Bloch gibt es ausreichend Bekenntnisse<br />

zu dem Roman. ●


Neurobiologie Zwei reich bebilderte<br />

Sachbücher über dasHirn<br />

WasimKopfpassiert<br />

Michael Madeja, Janvon Holleben, Katja<br />

Naie: Denkste?! Verblüffende Fragen und<br />

Antworten rund ums Gehirn. Gabriel,<br />

Stuttgart 2013. 184 S., Fr.25.90 (ab 8J.).<br />

Alexander Rösler,Philipp Sterzer,Kai<br />

Pannen: 29 Fensterzum Gehirn. Genial<br />

einfach erklärt, was in unserem Kopf<br />

passiert. Arena, Würzburg2013.<br />

224Seiten, Fr.19.50 (ab 12 Jahren).<br />

VonSabine Sütterlin<br />

Was im Kopf vorgeht, fasziniert alle –<br />

aber alle anders. «Jüngere Kinder interessieren<br />

sich vor allem für Tiere und<br />

deren Gehirne, ältere Schüler für das<br />

Selbst und die Gehirnentwicklung, Erwachsene<br />

für die Frage nach dem freien<br />

Willen und die Alzheimer-Erkrankung»,<br />

sagt der Hirnforscher Michael Madeja.<br />

Er hatgemeins<strong>am</strong> mitder Neurobiologin<br />

Katja Naie ein Buch für Kinder geschrieben.<br />

Wie viele Gehirnwindungen<br />

hat eine Ameise? Ist das Gehirn innen<br />

hohl? Selbst solch verblüffende Fragen<br />

beantworten die Autoren ernsthaft, geradlinig<br />

und einfach. Doch obwohl die<br />

Texte jeweils höchstens eine halbe Seite<br />

lang sind, dürften sie es schwer haben,<br />

die Aufmerks<strong>am</strong>keit der Leser von den<br />

vielen bunten, aufwendig inszenierten<br />

Foto-Illustrationen abzuziehen, auf<br />

denen beispielsweise ein Mädchen mit<br />

drei Kindern zu jonglieren scheint.<br />

Grafisch weit weniger anspruchsvoll,<br />

aber vielfältiger in der Wahl der Vermittlungsformen<br />

und lockerer im Ton ist<br />

«29 Fenster zum Gehirn». Die NeurologenAlexander<br />

Rösler und Philipp Sterzer<br />

wenden sich d<strong>am</strong>it an Jugendliche ab<br />

zwölf. Die 29 Einblicke ins Gehirn und<br />

seine Funktionen sind in sieben Kapiteln<br />

von «Wahrnehmung und Bewusstsein»<br />

bis «Entscheidung und freier Wille» gegliedert.<br />

Dank Querverweisen und Glossar<br />

lassen sich aber problemlos einzelne<br />

Themen herauspicken.<br />

Die Autoren präsentieren den Stand<br />

der Forschung denkbar kurzweilig. Sie<br />

verblüffen mit Schilderungen aus ihrer<br />

Forschungspraxis, regen zu eigenen<br />

Experimenten an und verweisen auf<br />

weiterführende Internet-Links. Zwischendurch<br />

erzählt der pawlowsche<br />

Hund in radebrechendem<br />

Deutsch von der Entdeckung der<br />

Konditionierung. Und der Neurobiologe<br />

Professor Rastlos streitet<br />

sich mit der soziologischen Anthropologin<br />

und Theologin Professor<br />

Dr.Dr. Wirrwarr über Intelligenz<br />

und freien Willen.<br />

Der direkte Vergleich der zwei<br />

Gehirnbücher ist vielleicht unfair, da<br />

sie sich an unterschiedliche Altersgruppen<br />

richten. Aber die «29 Fenster»<br />

werden junge Menschen immer<br />

wieder gern in die Hand nehmen –<br />

auch noch als Erwachsene. ●<br />

Kurzkritiken<br />

MaxKruse: Urmel saustdurch die Zeit.<br />

Illustr.G.Jakobs. Thienemann, Stuttgart<br />

2013. 176 Seiten, Fr.18.90 (ab 8Jahren).<br />

Dreizehn Jahre nach dem letzten Urmel-<br />

Band erklärt Max Kruse anhand seiner<br />

berühmten Figur die Evolution: Unabsichtlich<br />

betätigt das Urmel den<br />

Starthebel von Professor Tibatongs Zeitmaschine<br />

und reist mitseinen Freunden<br />

durch die Zeit. Vonder Ursuppe gelangen<br />

sie zu den Dinosauriern, erleben einen<br />

Meteoriteneinschlag, begegnen Urmenschen<br />

und den ersten Siedlungen. Über<br />

ein Handy erläutert der Professor die<br />

Evolutionsstufen, während die Reisenden<br />

die Perspektive des Kindes einnehmen<br />

und bei unbekannten Begriffen<br />

nachfragen. Eingebettet inwitziges Geplänkel<br />

und abenteuerliche Begegnungen<br />

wird hier in kleinen Portionen Wissen<br />

vermittelt. Die Geschichte wirkt<br />

nicht aufgesetzt, <strong>am</strong> Ende des Buches<br />

sind alle Informationen noch einmal verständlich<br />

aufbereitet.<br />

Andrea Lüthi<br />

Sonja Eismann u. a.: Glückwunsch, du bist<br />

ein Mädchen! Beltz &Gelberg, Weinheim<br />

2013. 152 Seiten, Fr.24.50 (ab 14 Jahren).<br />

Braucht es den Untertitel «Eine Anleitung<br />

zum Klarkommen» für Mädchen<br />

heute wirklich noch? Ist diese noch<br />

nötig? Der Ratgeber will bekennend Mut<br />

machen und wirft dafür einen explizit<br />

weiblichen Blick aufs (noch nicht ganz)<br />

starke Geschlecht. Rosarot nebst Brille<br />

in derselben Farbe haben ausgedient,<br />

Schönheitsideale (wer sagt, dass dick<br />

hässlich ist?), Rollenverständnis (wer<br />

sagt, dass Mädchen dümmer sind?),<br />

Mode- und Selbstbewusstsein, Gefühle<br />

(Wut ist gut!), Verhaltensweisen (Schluss<br />

mit Lästern) werden auf den Prüfstand<br />

gestellt und gegen Klischees gebürstet.<br />

Dereigene Körper,Sex,Sport, Beziehungen,<br />

Freundschaft, Liebe –die Facetten<br />

zeigen ein buntesBild. Das ist zwar nicht<br />

neu, aber sehenswert, d<strong>am</strong>it esirgendwann<br />

ohne Einschränkung heisst:<br />

«Glückwunsch, du bist ein Mädchen!»<br />

Christine Knödler<br />

Virginie Aladjidi, Emmanuelle Tchoukriel:<br />

Birke, Buche,Baobab. Gerstenberg,<br />

Hildesheim 2013. 72 S., Fr.19.90 (ab 6J.).<br />

Aus dem Holz der Gemeinen Esche entstehen<br />

Snowboards oder Werkzeugstiele,<br />

die stinkenden Früchte des Durianbaums<br />

schmecken nach Vanille, und die Silber-<br />

Pappel soll ihre Farbe dem silbrigen<br />

Schweiss von Herakles verdanken. Gegliedert<br />

nach Laub-, Nadelbäumen und<br />

Palmen und nach Blatttypen aufgeteilt,<br />

gibt es zu jedem Baum eine kurze Beschreibung.<br />

Da geht es um Historisches,<br />

Symbolik, Mythologie sowie umBesonderheiten<br />

des Holzes oder der Früchte.<br />

Leider wirken manche Formulierungen<br />

der deutschsprachigen Ausgabe etwas<br />

umständlich. In seiner edlen Retro-Aufmachung,<br />

mit den bezifferten Bildtafeln<br />

und den kolorierten feinen Strichzeichnungen<br />

von Emmanuelle Tchoukriel erinnert<br />

das Buch an botanische Werkeaus<br />

dem 19. Jahrhundert und ist d<strong>am</strong>it auch<br />

ein Liebhaberbuch für Erwachsene.<br />

Andrea Lüthi<br />

Ad<strong>am</strong> Jaromir:Fräulein Esthersletzte<br />

Vorstellung. Gimpel, Langenhagen 2013.<br />

124Seiten, Fr.40.90 (ab 12 Jahren).<br />

Es ist Mai, doch das Leben im Warschauer<br />

Ghetto ist grau. Den 200 Waisen fehlt<br />

es an allem. Täglich geht der Arzt Janusz<br />

Korczak für seine Schützlinge betteln.<br />

Resignation macht sich breit. Um die<br />

Kinder auf andereGedanken zu bringen,<br />

studiert Fräulein Esther, eine der Angestellten,<br />

ein Theaterstück ein. Ausdrucksstarke<br />

Collagen, Dialoge und Tagebuchaufzeichnungen<br />

lassen die letzten<br />

Monate des Heims lebendig werden.<br />

Im August 1942 wird es aufgelöst, die<br />

Nationalsozialisten ermorden seine Bewohner<br />

in Treblinka. Fräulein Esthers<br />

Plan aber ist aufgegangen: Wenigstens<br />

für kurzeZeithat sie die Kinder aus ihrer<br />

Apathie reissen können. Das aufwendig<br />

gestaltete, dokumentarische wie lyrisch<br />

verdichtete Buch erinnert an Menschen,<br />

die Kindern auch in finsteren Zeiten mit<br />

Respekt und Kunst beistehen.<br />

Verena Hoenig<br />

24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 15


Interview<br />

Tagtäglich lügenMenschen, betrügen Firmen und tricksenRegierungen. IstEhrlichkeit nurnocheine<br />

antiquierte Tugend?ReformpädagogeBernhardBuebhältdagegen und findet, dass wir vermehrtder<br />

Ehrlichkeit zumDurchbruchverhelfen sollten–mit Klugheitund Phantasie. Interview: UrsRauber<br />

DieWahrheit<br />

kommtnicht von<br />

selbstansLicht<br />

Bücher <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong>: Ihre bisherigen Bücher<br />

waren Streitschriften: «Lob der Disziplin» (2006)<br />

und «Von der Pflicht zu führen» (2009). Ihr jetzigesBuch«Die<br />

Machtder Ehrlichen» trägt denUntertitel:<br />

Eine Provokation. Warum glauben Sie,<br />

provozierenzumüssen?<br />

Bernhard Bueb: Konservativen sagt man nach,<br />

dass sie ein pessimistisches Menschenbild<br />

haben. Als Konservativer provoziere ich dadurch,<br />

dass ich ein optimistisches Buch schreibe.<br />

D<strong>am</strong>itmöchte ich Menschen ermutigen, den<br />

Blick vonLug und Trug, denen sie überall in der<br />

Welt begegnen, zu wechseln auf die Macht der<br />

Wahrheit. So dass sie abends, wenn sie in den<br />

Nachrichten das Böse in der Welt sehen, sagen<br />

können: Welches Glück, dass es Menschen gibt,<br />

die das alles aufdecken und der Lüge das Handwerk<br />

legen.<br />

In Ihrem Buch schreiben Sie: «Der Wille zur Ehrlichkeit<br />

gehört zur menschlichen Natur wie der<br />

Macht- oderder Sexualtrieb.» Gilt das nicht auch<br />

fürdas Gegenteil: Lüge, Gierund Eigennutz?<br />

Die Lügeist in meinen Augenkeine aktive Kraft,<br />

sondern das Ergebnis einer Schwäche. Sie entsteht<br />

immer dann, wenn Menschen sich selbst<br />

nicht akzeptieren, wie sie sind. Sei’s, weil sie<br />

sich weniger begabt fühlen als andere oder benachteiligt.<br />

Sei’s, weil sie lieber reich oder schön<br />

oder mächtig sein wollen. Und da sie das nicht<br />

BernhardBueb<br />

Bernhard Bueb isteiner der profiliertestenPädagogen<br />

Deutschlands. Geboren 1938 in Tansania,<br />

studierte er Philosophie und katholische Theologie.Von<br />

1974 bis 2005 warerLeiter der internationalen<br />

Privatschule SchlossSalem in Baden-<br />

Württemberg. Seine Bücher «Lob der Disziplin»<br />

(2006)und «Von der Pflicht zu führen» (2008)<br />

wurden zu Bestsellern: in Erziehungskreisen umstritten,<br />

stiessen sie in der Öffentlichkeit teils auf<br />

grosse Zustimmung. Sein neustesBuch «Die<br />

Macht der Ehrlichen. Eine Provokation» (158 Seiten,<br />

Fr.27.90,E-Book 22.–) erschien soeben im<br />

Ullstein Verlag in Berlin. Bernhard Bueb istverheiratet,hat<br />

zwei erwachsene Töchter und lebtin<br />

Überlingen <strong>am</strong> Bodensee.<br />

16 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013<br />

sind, beginnen sie, andern, aber auch sich selbst,<br />

etwas vorzumachen oder durch Betrug ihre Situation<br />

zu verbessern. Diese Deutung der Lüge<br />

aus Schwäche unterscheidet sich von jener der<br />

Religion, die die Lüge als aktive Kraft in Satan<br />

personifiziert. Die Aufgabe der Eltern und Lehrer<br />

besteht darin, dieser Schwäche beizukommen.<br />

Und wie tutman das?<br />

Ehrlichkeitist eine vertrauensvolle Art zu leben.<br />

Die Bedingungen der Ehrlichkeit entstehen in<br />

der frühen Kindheit mit dem, was Psychologen<br />

das Urvertrauen nennen. Durch die liebevolle<br />

Zuwendung der Eltern gewinnt das Kind Vertrauen<br />

in sich und die Welt und legt den Grund<br />

dafür, dass es ja zu sich sagen kann. Kinder, die<br />

kein Urvertrauen haben, haben es schwer im<br />

Leben, ehrliche Menschen zu werden. Sie werden<br />

auf Kontrolle und Strafe angewiesen sein.<br />

Bei Kindern mit wenig Selbstvertrauen haben<br />

der Kindergarten und die Schule eine hohe Aufgabe,<br />

ergänzend zu wirken, wenn die Eltern es<br />

nicht geschafft haben. Die Eltern haben immer<br />

als Erste den Auftrag, Kinder in ihrem Selbstwertgefühl<br />

zu stärken.<br />

Ist die Schaffung des Urvertrauens sozusagen der<br />

Schlüsselzur späteren Ehrlichkeit?<br />

Ja,aber wenn Urvertrauen vorhanden ist, heisst<br />

das nicht, dass solche Kinder nicht auch ab und<br />

zu lügen. Es hat niemand ein derartiges Selbstvertrauen,<br />

dass er auf Lügen vollständig verzichtenkann.<br />

Wirsind bis zum Lebensende –ich<br />

bin jetzt 75 –immer gefährdet, uns selbst zu belügen.<br />

DerEhrliche unterscheidet sich dadurch,<br />

dass er es weiss.<br />

Sie sagen,Ehrlichkeit wirke ansteckend.Trifftdas<br />

nicht auchauf die Lügezu?<br />

Richtig, auch die Lügewirkt ansteckend. Es wird<br />

immer eine Auseinandersetzungzwischen Lüge<br />

und Wahrheit sein. Aber wichtig ist, dass die<br />

Welt im Gleichgewicht bleibt, dass die Lüge<br />

nichtüberhandnimmt.<br />

Gibt’sauchGefahren beider Ehrlichkeit?<br />

Das grössteUnheil richtenMenschen an, die die<br />

Wahrheitgenau kennen: die Fund<strong>am</strong>entalisten.<br />

Sie beherrschen sehr viele Teile der Welt. Die Vatikan-Ideologen,<br />

die Evangelikalen, die Isl<strong>am</strong>isten<br />

–die plakativen grossen Bewegungen. Aber<br />

es gibt auch die Fund<strong>am</strong>entalisten im Alltag.<br />

ZumBeispiel?<br />

Es gibt Menschen, die wissen genau, wo’s langgeht:<br />

Eltern, die von den Kindern nur ein bestimmtes<br />

moralisches Verhalten akzeptieren<br />

und sie, wenn sie davon abweichen, verwerfen.<br />

Das hat fund<strong>am</strong>entalistische Züge, denn sie<br />

«Die Lüge istkeine aktive<br />

Kraft, sonderndas Ergebnis<br />

einer Schwäche. Sie entsteht<br />

immer dann, wenn Menschen<br />

sich selbstnichtakzeptieren,<br />

wiesie sind.»<br />

scheinen zu wissen, was für das Kind das Richtige<br />

ist. Für das Kind ist das aber eine Katastrophe.<br />

Eltern müssen offen sein. Oder wenn Lehrer<br />

ihre Noten auf zwei Dezimalstellen berechnen<br />

und glauben, dass das objektiv sei. Das ist<br />

natürlich Quatsch. Ich kann einen Aufsatz, der<br />

so viele Variationen an Bewertungen zulässt,<br />

nichtmit einem 2,34 bewerten.<br />

Sie behaupten, die Schule verführe zum Lügen:<br />

durch Abschreiben, Lehreraustricksenund so weiter.<br />

Ein hartes Urteilfür einenPädagogen.<br />

Würden Sie das bestreiten?<br />

Nicht völlig. Doch wie verändert man die Schule,<br />

dass sie zurWahrheit stattzum Tricksenverleitet?<br />

Die Schule beruht auf einer Fiktion –nämlich<br />

dass alle Schüler gleich akademisch begabt<br />

seien. Und dass sie deswegen dieselben Prüfungen<br />

bestehen könnten. Akademisch gut begabt<br />

sind vielleichtein Drittel der Schüler,deswegen<br />

können die anders Begabten die Prüfungen<br />

nicht bestehen, wenn sie nicht betrügen. Also<br />

tun sie es. Es gibt ja kaum eine Einrichtung, in<br />

der es so viel Aufsicht gibt, so viel Kontrolle, so<br />

viel Strafewie die Schule. Das ist abenteuerlich!<br />

Hier läuft fund<strong>am</strong>ental etwas falsch. Man<br />


«Esgibterlaubte Lügen, wenn dem Wertder Wahrhaftigkeit ein anderer Wertentgegensteht,der ebenbürtig ist», sagt der Pädagoge BernhardBueb (4.11.2013 <strong>am</strong> Bodensee).<br />

24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 17<br />

DANCERMAK


Interview<br />

kann das systembedingte Lügen minimieren,<br />

wenn man das Lernen individualisiert, das<br />

heisst, jedem Kind die Chance gibt, entsprechend<br />

seiner Begabung, seinen psychischen<br />

Voraussetzungenseinen Lernwegzugehen. Moderne<br />

reformpädagogische Schulen machen das<br />

ja: die Montessori-Schulen zum Beispiel.<br />

▼<br />

Trotz Individualisierung wird es aber Kinder<br />

geben, die die Schulziele nicht erreichen?<br />

Ja, ein Kind erfüllt vielleicht ein Ziel nicht, ist<br />

aber nicht sofrustriert, weil der Lehrer mit ihm<br />

sehr frühfestgestellt hat: dieser Wegist für dich<br />

zu steinig. Was ich vom Kind erwarte, sind<br />

Anstrengungsbereitschaft und Neugier. Ich<br />

muss versuchen, ihm einen Weganzubieten, auf<br />

dem es entsprechend seinen Möglichkeiten<br />

seine Neugier befriedigen und sich anstrengen<br />

kann. Es gibt viele begabte Menschen, die zum<br />

lebensfernen Lernen der Schule keinen Zugang<br />

finden und doch erfolgreich ihr Leben meistern.<br />

Oder anderelaufen wegvon der Schule wieThomas<br />

Mann. Jeder soll nach seiner Façon selig<br />

werden, ohne betrügen zu müssen.<br />

Sie schildern im Buch ein sehr schönes Beispiel,<br />

wie Elternein Kind zurEhrlichkeit erziehen.<br />

Es ist ja so schwierig, eine Lüge oder Fehlleistung<br />

einzugestehen, weil es das Bild gefährdet,<br />

das ich bei anderen aufgebaut habe. Eltern sollten<br />

Kindern phantasievoll Brücken bauen, wie<br />

jener Vater, der seine achtjährige Tochter dabei<br />

ertappt hat, wie sie den Nachtisch des Bruders<br />

weggegessen hat. Nach einer Weile fragt er sie:<br />

«Hast du nun das getan: ja, nein oder vielleicht?»<br />

Und ganz schnell sagt das Mädchen: «Vielleicht.»<br />

Und verschafft sich d<strong>am</strong>itgrosse Erleichterung.<br />

Man müsste dieses «vielleicht» auch indie Erwachsenenwelteinführen…<br />

Wie glücklich wären oft Erwachsene, könnten<br />

sie «vielleicht» sagen.<br />

In der Erwachsenenwelt wird jatäglich gelogen.<br />

Zum Beispiel Prominente, deren wissenschaftlicheArbeitenals<br />

Plagiateaufgedecktwerden.<br />

Eine neue empirische Untersuchungder Universität<br />

Bielefeld besagt, dass 79 Prozent der deutschen<br />

Studenten selbstverständlich plagiieren<br />

und dass die Dozenten das wenig kontrollieren,<br />

weil sie Angst haben vor den Konflikten. Hier<br />

meine ich, gibt es eine technische Lösung,<br />

indem man, wie anangelsächsischen Schulen<br />

üblich, jede studentische Arbeit ein Computerprogr<strong>am</strong>m<br />

durchlaufen lässt, das diese auf Plagiate<br />

durchsucht. Schüler, die das wissen, werden<br />

sich dem nicht aussetzen. Ich finde, man<br />

sollte die Menschen so weit wie möglich von<br />

moralischen Anstrengungenentlasten.<br />

Sie haben IhreDissertation 1968 über «Nietzsches<br />

Kritik der praktischen Vernunft» geschrieben.<br />

HabenSie da nirgends geschummelt?<br />

Ichwar nichtunversucht, genau das zu machen,<br />

was Annette Schavan, die frühere Bildungsministerin,<br />

getan hat. Es gab nämlich Zus<strong>am</strong>menfassungen<br />

von Gedankengängen, die einfach<br />

viel besser waren, als ich das hättemachen können.<br />

Ausirgendeinem Grund habe ich davonabgelassen,<br />

wahrscheinlich weil ich Angst hatte,<br />

dass mein Doktorvater, der sehr akribisch meine<br />

Elaborate las, dies entdeckt hätte.<br />

Gibt es erlaubteLügen?<br />

Ja,wenn dem Wert der Wahrhaftigkeitein andererWert<br />

entgegensteht, der ebenbürtig ist. Wenn<br />

Sie vorder Fragestehen, soll ich einem Todkranken<br />

die Wahrheit sagen, wissend, dass ihn das<br />

sofort umbringt oder depressivmacht, kann das<br />

Verschweigen geboten sein –zum Schutze des<br />

Kranken. Hier steht nicht Wahrheit gegen Lüge,<br />

sondern Wahrheit gegen Schutz des Lebens.<br />

18 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013<br />

«Die Spareinlagen sind sicher»: Angela Merkel und Peer Steinbrück bei ihrer Notlüge <strong>am</strong> 5. Oktober 2008.<br />

Oder ein aktuelles Beispiel: Als in Deutschland<br />

2008 Angela Merkel und Peer Steinbrück vordie<br />

Presse traten und erklärten, die Spareinlagen<br />

der Bürger sind sicher, war das glatt gelogen.<br />

Denn sie waren weder legitimiert noch mächtig<br />

genug, um das sicherzustellen. Aber sie haben<br />

mit Recht ihre Hände schmutzig gemacht, das<br />

heisst gelogen, weil der Wert des Schutzes der<br />

Wirtschaft höher war als der Wert der Ehrlichkeit.Das<br />

war eine Notlüge.<br />

Würden Sie deswegen Frau Merkel nicht als Lügnerinbezeichnen?<br />

Nein. Dieses Verhalten würdeich sogar erwarten<br />

von einem Politiker. Das kommt jaauch im Alltag<br />

vor. Sie müssen zum Beispiel ein Kind schützenvor<br />

der Wahrheit, weil es diese nichterträgt.<br />

«Kontrollen sind für uns ein<br />

Hilfsmittel, moralischer zu<br />

sein. Wenn ich weiss, dass der<br />

Schaffner regelmässigdurch<br />

den Zugkommt, werdeich<br />

immer ein Ticket kaufen.»<br />

Ist es nicht auch so, dass Wähler gelegentlich belogen<br />

werden wollen, weil sie gewisse Wahrheiten<br />

nicht ertragen?Wer die Wahrheit sagt, wirdoft an<br />

derUrneabgestraft.<br />

Frau Merkel sagt ihren Wählern: Ihr kenntmich,<br />

Ihr braucht sozusagen nicht mehr nachzudenken,<br />

weil Ihr wisst, dass ich das Richtigetue. Die<br />

Bürger lieben das, sie wollen nicht alles wissen,<br />

sondern einfach Ruhe haben, ihren Wohlstand<br />

und ihreSicherheitgeniessen. Dafür sind sie leider<br />

bereit, ihren Verstand abzugeben.<br />

Im Alltag schwindeln wir ja alle, zum Beispiel bei<br />

derHöflichkeit.<br />

Dazu kann ich nur Wilhelm Busch zitieren mit<br />

dem wunderbaren Gedicht: «Da lob ich mir die<br />

Höflichkeit, das zierliche Betrügen: Du weisst<br />

Bescheid, ich weiss Bescheid, und allen macht’s<br />

Vergnügen.» Man sollteunterscheiden zwischen<br />

Notlügen, die einem höheren Wert dienen, und<br />

Eigennutz. Moralisch zu verurteilen ist das<br />

Lügen aus Eigennutz: wenn man selber mehr<br />

sein möchte, sein Geld vermehren oder einem<br />

anderen schaden will. Bei der Höflichkeit aber<br />

ist es keine Frage von Lüge und Wahrheit, sondern<br />

einer Übereinkunft. Die Engländer haben<br />

mehr Sinn für solche Konventionen. Wenn<br />

ihnen ein Engländer nach einer kurzen Begegnung<br />

sagt: Ich würde Sie gerne wieder mal<br />

sehen, dann geht so ein deutscher Tollpatsch<br />

hin und will ihn sehen. Die Deutschen neigen zu<br />

einer Art lutherischen Ehrlichkeit und wollen<br />

gleich mit der Wahrheit ins Haus fallen, was<br />

auch anstrengend ist.<br />

SehenSie VorbilderanEhrlichkeit?<br />

Die sehe ich haufenweise. Es gibt sehr viele aufrechte,ehrliche<br />

Journalisten zum Beispiel. Oder<br />

es gibt unglaublich viele ehrliche mittelständische<br />

Unternehmer, denen es nicht nur um das<br />

Geldverdienen, sondern darum geht, ihre Kunden<br />

zu beraten, und nicht, sie zu verführen.<br />

Oder die vielen, die ehren<strong>am</strong>tlichen Tätigkeiten<br />

nachgehen und sich für andere Menschen einsetzen,<br />

ohne dafür Geld zu verlangen.<br />

Und die grossenVorbilder?<br />

Die sind rar geworden. Bei den Politikern fällt<br />

einem immer nur Mandela ein. Ich behaupte,<br />

dass es früher mehr Vorbilder gab –zumeiner<br />

Zeit: de Gaulle, Churchill, Macmillan, Adenauer.<br />

Sie waren auch Trickser, aber authentisch,<br />

glaubwürdig. Heutesind sie dünner gesät.<br />

Sie sagen, dass keine Gesellschaft auf Kontrolle<br />

und Strafe verzichten kann. Erhöhen Kontrollen<br />

die Ehrlichkeit?<br />

Kontrollen sind für jeden Menschen ein Hilfsmittel,<br />

moralischer zu sein, weil sie ihn weniger<br />

der Verführungaussetzen. Wenn ich weiss, dass<br />

der Schaffner regelmässig durch den Zug<br />

kommt, werde ich immer ein Ticket kaufen.<br />

Wenn ich weiss, dass er nichtkommt, werdeich<br />

es weniger tun.<br />

Ein weiterer vonvielenMerksätzeninIhrem Buch<br />

lautet: Es gibt keine ehrlichen Systeme, sondern<br />

nur ehrliche Menschen.<br />

Systeme sind neutral. Es gibt auch keine heilige<br />

Kirche, sondern es gibt Heiligeinder Kirche. Die<br />

Ehrlichen sind immer Einzelne. Versuche, ehrliche<br />

Systeme zu schaffen, misslingenständig. Es<br />

gibt ganz selten eine Revolution, die ohne eine<br />

Lügegross geworden ist. Die sozialistischen Systeme<br />

waren die grössten Lügengebäude, die<br />

überhaupt entstehen konnten –unter dem Anspruch,<br />

die Wahrheit zuvertreten. Viel zu viele<br />

Ehrliche meinen allerdings, die Wahrheit<br />

komme von selbst ans Licht. Das ist aber nicht<br />

der Fall, sondern dazu bedarf es der aktivenAufklärung.<br />

Jeder Ehrliche ist aufgerufen, wo er<br />

Lüge entdeckt, mitzuhelfen, dass diese Lüge<br />

aufgedeckt wird. Daran hindert ihn aber oft die<br />

Feigheitund die Trägheit.<br />

Braucht Ehrlichkeit Zivilcourage?<br />

Unbedingt. EhrlichkeitbrauchtKlugheit, Empathie<br />

und Phantasie. Und sie benötigt ebenso<br />

Ausdauer wieZivilcourage. l<br />

AP


Kolumne<br />

CharlesLewinskysZitatenlese<br />

Kurzkritiken Sachbuch<br />

Literatureisnewsthat<br />

STAYSnews.<br />

Ezra Pound<br />

Martin Meyer (Hrsg.): Die Welt verstehen.<br />

35 Beiträge. NZZ Libro, Zürich 2013.<br />

538 Seiten, Fr.39.90.<br />

Joseph Jung (Hrsg.): Alfred Eschers<br />

Briefwechsel 1852–1866. NZZ Libro,<br />

Zürich 2013. 441 Seiten, Fr.74.90.<br />

GAËTAN BALLY/KEYSTONE<br />

Der AutorCharles<br />

Lewinsky arbeitet in<br />

den verschiedensten<br />

Sparten. Sein neues<br />

Stück «Weg d<strong>am</strong>it!»<br />

wird<strong>am</strong>11. Dezember<br />

im TheaterRigiblick in<br />

Zürich uraufgeführt.<br />

Wussten Sie, dass «Sense And Sensibility»<br />

vonJoanna Trollope st<strong>am</strong>mt? Dass<br />

Alexander McCall Smith der Autorvon<br />

«Emma» ist?<br />

Das wussten Sie nicht? Dann sind Sie<br />

nichtauf der Höhe des zeitgenössischen<br />

Literaturbetriebs. Und wenn Sie jetzt<br />

auch noch einwenden, das seien doch<br />

zwei klassische Romane vonJane<br />

Austen, dann sind Sie, sorry, nachgerade<br />

altmodisch.<br />

Ein englischer Verleger ist nämlich<br />

auf den Gedanken gekommen, alle Romane<br />

vonJane Austen neu schreiben zu<br />

lassen. Aktualisiert und ins 21. Jahrhundert<br />

verlegt. D<strong>am</strong>itauch heutigeLeser<br />

endlich etwas mitden Geschichtenanfangen<br />

können. Man kann, so seine<br />

Überlegung, vonden Vertretern der<br />

YouTube-Generation nichterwarten,<br />

dass sie sich ins Seelenleben vonFigurendes<br />

frühen neunzehntenJahrhunderts<br />

einfühlen. Mitanderen Worten:<br />

Er hält moderne Leser für blöd.<br />

Ausgerechnet «Sense And Sensibility»,<br />

zu Deutsch: «Verstand und Vernunft»!<br />

Wo es diesem Projekt doch an<br />

beidem fehlt. Das Ganzeausgeheckt von<br />

einem Mann, der vonBeruf Verleger ist<br />

–eine Berufsbezeichnung, die in seinem<br />

Fall wahrscheinlich daher st<strong>am</strong>mt, dass<br />

er seinen literarischen Geschmack verlegt<br />

und nie wieder gefunden hat.<br />

Es ist ihm, das hatmich an der Ankündigung<strong>am</strong>meisten<br />

überrascht, auch<br />

tatsächlich gelungen, n<strong>am</strong>hafteAutoren<br />

für diesen Akt literarischer Leichenschändungzugewinnen.<br />

Sie müssen<br />

alle, so scheintmir,das Zehnfingersystem<br />

blind beherrschen. Man siehtja<br />

die Tastatur nicht, wenn man den Blick<br />

beim Schreiben die ganzeZeitstur auf<br />

die Kasse gerichtethat.<br />

Es stehtzubefürchten, dass die Umsatzzahlen<br />

zufriedenstellend ausfallen.<br />

Auch chemisch zus<strong>am</strong>mengemixte<br />

Lebensmittel-Imitate mit«naturähnlichen<br />

Aromen» verkaufen sich<br />

schliesslich gut.<br />

Und weil, im Gegensatz zum Sprichwort,<br />

das Schlechtere stets der Feind<br />

des Guten ist, werden wirbaldneuverfasstedeutsche<br />

Klassiker in den<br />

Schaufenstern der Buchhandlungen<br />

sehen. Da wird dann der junge Werther<br />

seine Lottebei einem Internet-Dating-<br />

Dienst kennenlernen, und Annebäbi<br />

Jowäger ihreF<strong>am</strong>ilie mithomöopathischen<br />

Kügelchen traktieren. Wenn Jane<br />

Austen nichtsicher ist, ist niemand<br />

mehr sicher,<br />

Mark Twain mochte Jane Austen<br />

nicht. Er erklärteeinmal, jede Bibliothek,<br />

die keines ihrer Bücher enthalte,<br />

sei nur schon deshalb<br />

eine guteBibliothek.<br />

Aber dieses Schicksal<br />

hättenichteinmal er ihr<br />

gewünscht.<br />

Das Schweizerische Institut für Auslandforschung<br />

(SIAF) wurde 1943 gegründet.<br />

In schwierigen Zeiten sollte esfür qualifizierte<br />

Information und Meinungsbildung<br />

sorgen. Nun kann das SIAF seinen<br />

70.Geburtstag feiern. Ausdiesem Anlass<br />

hat sein derzeitiger Präsident, der langjährige<br />

NZZ-Feuilletonchef Martin<br />

Meyer, einen Band mit 35Vorträgen zus<strong>am</strong>mengestellt,<br />

die im Lauf der Jahrzehnte<br />

<strong>am</strong> Institut gehalten wurden.<br />

Eindrücklich ist die Liste der zwei Referentinnen<br />

und dreiunddreissig Referenten:<br />

Sie reicht von Hannah Arendt und<br />

Karl R. Popper bis zu Ulrich Bremi und<br />

Urs Schoettli, von Otto Graf L<strong>am</strong>bsdorff<br />

und Helmut Schelsky bis zu Kaspar Villiger<br />

und Gerhard Schwarz. Es geht um<br />

Moral, Freiheit und Verantwortung, um<br />

die Wirtschaftspolitik der Schweiz und<br />

Europas im Wandel, um die Positionierung<br />

der Länder des Fernen Ostens im<br />

Kräftespiel der Weltmächte.<br />

ManfredPapst<br />

Verena Wermuth: Wiedersehen mit Scheich<br />

Khalid. Weltbild, Olten 2013. 175 Seiten,<br />

Fr.28.90.<br />

Die Kritiker-Gilde mag über solche Literatur<br />

lächeln: Doch Verena Wermuth hat<br />

mit«Die verbotene Frau» über ihreheimliche<br />

Liebe zu einem Scheich aus Dubai,<br />

den sie als 23-JährigeinLondon kennengelernt<br />

hatte, aber nicht heiraten durfte,<br />

2007 einen Bestseller geschrieben. Über<br />

300 000 mal wurde das Buch allein im<br />

deutschen Sprachraum verkauft. Nächste<br />

Woche wird das gleichn<strong>am</strong>igeTV-Dr<strong>am</strong>a<br />

auf Sat.1ausgestrahlt. Und Wermuth,<br />

inzwischen 57, die über ein bemerkenswertes<br />

Schreibtalent verfügt, legt einen<br />

Folgeband über das Wiedersehen mit<br />

Khalid vor. Beide sind heute mit andern<br />

Partnern verheiratet, treffen sich aber erneut<br />

nach 18 Jahren. Das Buch enthält<br />

alles, was den Erfolg ausmacht: Sehnsucht,<br />

Schmerz, unerfüllte Liebe und<br />

einen verzehrenden Mail- und SMS-Verkehr.<br />

Kitschig, aber wahr –ein Traum,<br />

den in dieser Welt ja so viele träumen.<br />

Urs Rauber<br />

Mitdem fünften und bisher letzten Band<br />

gibt Joseph Jung,Geschäftsführer der Alfred-Escher-Stiftung,<br />

106 Briefe von und<br />

an AlfredEscher zwischen 1852 und 1866<br />

heraus. Die Korrespondenz, die erstmals<br />

im vollen Wortlaut publiziert wird, gibt<br />

einen Einblick in die vielfältigen Themen,<br />

mit denen sich der d<strong>am</strong>alige Zürcher<br />

Regierungspräsident, National- und<br />

Kantonsrat, Eisenbahnpionier und Kreditanstalt-Chef<br />

beschäftigt hat. Dabei<br />

bleibt auch seine persönliche Entwicklung<br />

nicht ausgespart: seine Heirat und<br />

die Geburt der ersten Tochter, Lydia,<br />

aber auch der Tod der zweiten Tochter<br />

im Kindsalter 1862 («wie gross unser aller<br />

Schmerz ist»). Die sorgfältig edierte und<br />

kommentierte Briefs<strong>am</strong>mlung illustriert<br />

auch die aus heutiger Sicht schier unglaubliche<br />

Machtballungineiner Person,<br />

die in Bern wieinZürich die Wirtschafts-,<br />

Bildungs-, Bahn- und Aussenpolitik wie<br />

keine zweite geprägt hat.<br />

Urs Rauber<br />

Susan Sontag: Ichschreibe,um<br />

herauszufinden, wasich denke. Hanser,<br />

München 2013. 558 Seiten, Fr.36.90.<br />

Der erste Band der Tagebücher von<br />

Susan Sontag (Wiedergeboren, 2010) betraf<br />

einen unglaublich begabten und<br />

frühreifen Teenager. Dieses Faszinosum<br />

fällt nun weg. Im zweiten Band ist die<br />

Autorin eine 31- bis knapp 50-jährige Intellektuelle.<br />

Was diese tut, wo sie sich<br />

aufhält, wohin sie reist, wen sie trifft –<br />

davon erfahren wir leider nichts. Noch<br />

nichtmal über ihreErkrankunganBrustkrebs,<br />

die in diese Jahrefällt, schreibt sie<br />

mehr als einigeWorte. Nein, in ihren Tagebuchnotizen<br />

geht es einzig darum,<br />

was sie denkt –über Bücher,Filme, Menschen,<br />

was sie sehnlichst will –eine gute<br />

Schriftstellerin sein, und wo sie versagt<br />

–beim disziplinierten Aufstehen. Über<br />

Sontags Leben und Lieben erfahren wir<br />

hier nahezu nichts, über ihr Wesen umso<br />

mehr. Auch dank einem wie immer klugen<br />

und einfühls<strong>am</strong>en Vorwort ihres<br />

Sohnes und Herausgebers DavidRieff.<br />

KathrinMeier-Rust<br />

24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 19


Sachbuch<br />

Geschichte Am 28.Januar 2014jährtsich derTodestagvon Karl demGrossen(742–814). Derrömische<br />

Kaiser,der auch aufdem Bodender Schweiz Klöstergegründet hat, gilt als einer derbedeutendsten<br />

Herrscher des Abendlandes<br />

Erführtedie<br />

Schönschriftein<br />

Die Zeit Karls des Grossen in der Schweiz.<br />

Begleitband zur Ausstellungim<br />

Landesmuseum Zürich. Hrsg. Georges<br />

Descoeudres, Jürg Goll, Markus Riek.<br />

Benteli, Sulgen 2013. 336 Seiten,<br />

Fr.84.90.<br />

Johannes Fried: Karl der Grosse. Gewalt<br />

und Glaube. C. H. Beck, München 2013.<br />

736 Seiten, Fr.44.90,E-Book 30.90.<br />

StefanWeinfurter: Karl der Grosse. Der<br />

heiligeBarbar.Piper,München 2013.<br />

352 Seiten, Fr.34.90.<br />

Steffen Patzold: Ichund Karl der Grosse. Das<br />

Leben des Höflings Einhard. Klett-Cotta,<br />

Stuttgart 2013. 408 Seiten, Fr.35.90,<br />

E-Book 30.90.<br />

VonAlexis Schwarzenbach<br />

Der 1200. Todestag von Karl dem Grossen<br />

<strong>am</strong> 28.Januar 2014 beflügelt die Kulturindustrie.<br />

Während zahlreiche Verlage<br />

schon Publikationen auf den Markt<br />

gebrachthaben, beginntdie <strong>am</strong>bitionierteste<br />

museale Auseinandersetzung mit<br />

dem grossen Karolinger imJuni 2014 in<br />

seiner Lieblingsresidenz Aachen. Der<br />

König soll die Stadt unter anderem ihrer<br />

heissen Quellen wegen geschätzt haben<br />

und fand dort auch seine letzte Ruhestätte.<br />

Nichtweniger als drei Ausstellungenwerden<br />

sich in Aachen den Themenkreisen<br />

Macht, Kunst und Schätze widmen.<br />

Das Patronathat der deutsche Bundespräsident<br />

übernommen, und man<br />

hofft mitAttraktionen wiedem Lorscher<br />

Evangeliar oder dem Karlschrein in 3D<br />

auf Besuchermassen.<br />

Die Resultate der Jahrestagskultur<br />

sind von unterschiedlicher Qualität. Die<br />

seit September im Landesmuseum Zürich<br />

gezeigteSchau «Karl der Grosse und<br />

die Schweiz» legt den Fokus auf die kulturelle<br />

Hinterlassenschaft der Karolinger<br />

auf dem Gebiet der heutigen Schweiz. Da<br />

die Eidgenossenschaft mit den Klöstern<br />

St.Gallen und Müstair über kulturelle<br />

20 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013<br />

Hot Spots der Epoche verfügt, kann die<br />

karolingische Renaissance mit eindrücklichen<br />

Objekten veranschaulicht werden.<br />

Neben zahlreichen Büchern, in<br />

denen die unterKarl dem Grossen eingeführte<br />

Schönschrift, die karolingische<br />

Minuskel, bewundert werden kann, belegen<br />

auch Steinmetzarbeiten und Reliquiare<br />

den hohen kulturellen Stand der<br />

d<strong>am</strong>aligen Zeit.<br />

Der Begleitband zur Ausstellung ist<br />

eine klassische S<strong>am</strong>mlung von Gelehrtenaufsätzen,<br />

auf die sich die Ausstellung<br />

teilweise stützt. Er beleuchtet<br />

nacheinander Architektur, Skulptur,<br />

Wandmalereien, Kunsthandwerk sowie<br />

Schrift- und Buchkultur. Reich illustriert<br />

und mit einem ausführlichen Apparat<br />

versehen kann der Band dank einer<br />

Landkarte über «sichtbare karolingische<br />

Kunst in der Schweiz» auch zur Ausflugsplanungverwendet<br />

werden.<br />

Weinfurters Meisterwerk<br />

Wersich anhand eines historischen Textes<br />

ein Bild von Karl dem Grossen machen<br />

möchte, hat die Qual der Wahl. Die<br />

drei für diese Rezension untersuchten<br />

Bücher st<strong>am</strong>men vonHistorikern, die an<br />

renommierten deutschen Universitäten<br />

lehren bzw. gelehrt haben. Zwei davon<br />

ziert das Aachener Büstenreliquiar Karls<br />

aus dem Jahr 1349. D<strong>am</strong>it sind die Gemeins<strong>am</strong>keitender<br />

Werkedes emeritierten<br />

Frankfurter Historikers Johannes<br />

Fried und seines Heidelberger Kollegen<br />

Stefan Weinfurter indes bereits erschöpft.<br />

Denn wersich auf eine erhellende<br />

Darstellung einer historischen Figur<br />

freut, mitder man sich, wieder Autordes<br />

vorliegenden Beitrags, seit der Schule<br />

nicht mehr beschäftigt hat, wird bei der<br />

Lektüre von Johannes Frieds 736 Seiten<br />

starkem Werks bitter enttäuscht.<br />

Neben mangelndem Vorwissen auf<br />

Seiten des Lesers liegt dies vermutlich<br />

auch an einer allzu grossen Nähe des Autors<br />

zu seinem Thema. Denn obwohl<br />

Fried nicht weniger als 14 eigene Werke<br />

über Karl den Grossen in der Bibliografie<br />

aufführt, bietet er interessierten Laien<br />

keinen einfachen Zugangzuseinem Spezialgebiet.<br />

Eine romanhafte, mit Metaphern und<br />

szenischen Beschreibungen durchsetzte<br />

Sprache verschleiert den Zugang zuden<br />

wichtigsten Fakten, die für das Verständnis<br />

einer Epoche unabdingbar sind. Den<br />

verwirrten Leser lässt Fried mitAussagen<br />

wie «Annäherungen also, nur Annäherungen<br />

an jene fernen Epochen sind<br />

möglich», buchstäblich in dem Regen<br />

stehen, mit dessen Beschreibung ersein<br />

Buch beginnt.<br />

Einen ganz anderen<br />

Zugang zum Protagonisten<br />

vermittelt Stefan<br />

Weinfurter. Sein<br />

351 Seiten starkes<br />

Buch ist so gut geschrieben,<br />

dass man es<br />

auch dann gerne weiterliest,<br />

wenn man eigentlich<br />

etwas anderes<br />

tun müsste. Weinfurter stellt<br />

gleich zu Beginn vieles klar,nichtnur die<br />

wichtigsten Fakten und Ereignisse, sondern<br />

auch die eigene Position als Forscher.Transparenterklärt<br />

der Historiker,<br />

dass für ihn das Streben nach Eindeutigkeit<br />

die Herrschaft Karls des Grossen<br />

charakterisiere.<br />

Diese These wird anhand zahlreicher<br />

Beispiele erläutert, von der Einführung<br />

der karolingischen Minuskel bis hin zum<br />

politischen Projekt des Frankenkönigs,<br />

die Unordnung der nachrömischen Epoche<br />

durch die Errichtung eines neuen<br />

Kaiserreichs zu beenden. Dabei verweist<br />

Weinfurter stets auch auf die neusten<br />

Forschungsleistungenanderer und überlässt<br />

es seinen Leserinnen und Lesern,<br />

ob sie ihm in seiner These folgen möchtenoder<br />

nicht.<br />

Bevor erimvierten Kapitel auf Kindheit<br />

und Jugend des Frankenkönigs zu


Langzeit-Kaiser,<br />

Stratege und<br />

Kulturpatron: Karlder<br />

Grosse.Bronzestatue<br />

aus H<strong>am</strong>burg,<br />

19.Jahrhundert.<br />

IMAGEBROKER<br />

sprechen kommt, beginnt<br />

Stefan Weinfurter<br />

sein Buch mit<br />

der Analyse unseres<br />

Verhältnisses zu Karl<br />

dem Grossen sowie<br />

einer ausführlichen<br />

Quellenkritik. In<br />

einer einfachen<br />

Sprache vermittelt<br />

er komplexe Sachverhalte,<br />

die für das<br />

spätere Verständnis<br />

der Karlsvita erforderlich<br />

sind, aber<br />

auch empirische<br />

Fakten, wieman das<br />

gemeinhin von<br />

einem Biografen erwartet.<br />

So streicht der<br />

Autor ganz zu Beginn<br />

seines Buches<br />

die sehr lange Regentschaft<br />

Karls –sie dauerte<br />

fast ein halbes<br />

Jahrhundert –als Spezifikum<br />

heraus und<br />

erwähntwenig später,<br />

dass das Skelett des<br />

Kaisers auf eine Körpergrösse<br />

von 1,80 bis<br />

1,90 Meter schliessen<br />

lässt. Dazu bemerkt<br />

Weinfurter: «Die heute<br />

noch vorhandenen<br />

90 Knochen und Knochenfragmente<br />

sind<br />

die Gebeine eines<br />

Greises, so dass man<br />

den einen oder anderenZentimeter<br />

für den<br />

jungen Karl vielleicht<br />

noch dazurechnen<br />

darf.»<br />

Weinfurters Werk<br />

überzeugt durch einen<br />

klaren Aufbau, der chronologisch<br />

gegliedert ist, aber gleichzeitig<br />

den Bogen von den politischen Ereignissen<br />

bis hin zu den kulturellen Errungenschaften<br />

schlägt. Die Kriege gegen Langobarden,<br />

Baiern und Sachsen werden<br />

ebenso nachvollziehbar dargestellt wie<br />

der Aufbau eines internationalen Gelehrtenkreises<br />

oder die mit viel politischem<br />

Kalkül verfolgte Beziehung zum Papsttum.<br />

Besonders gelungenist die Analyse<br />

des F<strong>am</strong>ilienlebens von Karl dem Grossen.<br />

Die politisch-taktischen Überlegungen<br />

für die zahlreichen Ehen und Liebschaften<br />

des Monarchen werden ebenso<br />

offengelegt wie biografische Details, die<br />

F<strong>am</strong>ilienmitglieder menschlich fassbar<br />

machen. Auch die Kinderschar wird als<br />

Machtfaktor analysiert. Während Karl<br />

seine «allersüssesten Töchter» (dulcissimae<br />

filiae) zeitlebens bei sich behielt<br />

ohne sie zu verheiraten, um Machtansprüche<br />

von Schwiegersöhnen zu verhindern,<br />

schickte erzwei Söhne schon<br />

im Kindesalter als Regenten von Teilreichen<br />

in die Ferne.<br />

Ausder Sichteines Höflings<br />

Eine alternative Perspektive auf das<br />

Karlsthema wählte der Tübinger Geschichtsprofessor<br />

Steffen Patzold. Er<br />

schrieb die Lebensgeschichte des Höflings<br />

Einhard, der 829 eine Karlsvitaverfasste.<br />

D<strong>am</strong>it schuf Einhard nicht nur eine<br />

der wichtigsten Quellen über Karl den<br />

Grossen, sondern begründete auch das<br />

Genre der Herrscherbiografie neu, das<br />

seit der Antike inVergessenheit geraten<br />

war. Als enger Berater Karls des Grossen<br />

war Einhard selber ein wichtiger Augenzeuge,<br />

blieb darüber hinaus aber auch<br />

noch unter Karls Sohn und Nachfolger<br />

Ludwig dem Frommen bei Hof.<br />

So vermittelt Steffen Petzolds Einhard-Monografie<br />

wertvolle Einblicke in<br />

die auf die Karlszeit folgenden Wirren,<br />

die schliesslich in die Aufspaltung des<br />

Reiches mündeten. ●<br />

24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 21


10CFWMMQ4CMRADX7SRHccXwpbouhMFok-DqPl_xYUOWVNYGvs40gU_bvv9uT-SQHNUWL0l7TKwZb-4cPQk6QrqSpxRs_78AMcmaC4nyKAnERjBOqWzaD3MtQbK5_X-Atj-KZ-AAAAA<br />

10CAsNsjY0MDAx1TUyMDU2NwEAzTpvKw8AAAA=<br />

Sachbuch<br />

Erlesene<br />

Weine …<br />

DieSorte Heida wirdauchPaïen oder Savagnin<br />

genannt und st<strong>am</strong>mt vom Tr<strong>am</strong>iner ab. Sie<br />

gehört zum grossen kulturellen Schatz des<br />

Walliser Weinbaus und wird nur in homöopathischen<br />

Mengen angebaut.<br />

Mit Chandra Kurt zus<strong>am</strong>men hat Provins einen<br />

charakterstarken Weisswein produziert, der<br />

sich kraftvoll undgeschmeidiganden Gaumen<br />

schmiegt. Ein hervorragender Essensbegleiter<br />

mit viel Schmelz.<br />

Fr. 19.50<br />

Heida AOC Chandra Kurt<br />

Schweiz<br />

Wallis<br />

Heida<br />

10–12°C<br />

Aperitif oder als<br />

Begleiter zu<br />

Krustentieren<br />

22 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013<br />

Biografie Mit«Nils Holgersson» wurde Selma Lagerlöf (1858–1940) zur<br />

Übermutterder schwedischen Literatur<br />

AusderschäbigstenSituat<br />

Wunderbareszaubern<br />

BarbaraThoma: Selma Lagerlöf. Von<br />

Wildgänsen und wilden Kavalieren.<br />

Römerhof,Zürich 2013. 350 Seiten,<br />

Fr.39.90.<br />

VonKathrin Meier-Rust<br />

Selma Lagerlöf war über vierzig und bereits<br />

eine berühmte Schriftstellerin, als<br />

sie eine ungewöhnliche Anfrage erreichte:<br />

Das einzige inder Schule nebst Katechismus<br />

und Bibel zugelassene Lesebuch<br />

sei veraltet, schrieb ihr eine Kommission<br />

der Nationalen Schwedischen<br />

Lehrervereinigung. Ob die Schriftstellerin,<br />

selbst einmal Lehrerin, an einem «literarischen<br />

Geografiebuch» mitarbeiten<br />

möchte, das Schulkindern die verschiedenen<br />

Regionen Schwedens mit Naturschilderungen,<br />

Sagen, Gedichten und<br />

Erzählungen nahebringen würde? Der<br />

Auftrag interessierteLagerlöf sehr,erfüllen<br />

wollte sie ihn jedoch auf ihre eigene<br />

Art: In höflichen Briefen stellte sie klar,<br />

dass sie ein solches Buch nur ganz alleine<br />

schreiben wolle, d<strong>am</strong>it es«durchgängig<br />

eine …volkliche schwedische Stimmung<br />

habe».<br />

In der Folge unternahm die Schriftstellerin<br />

mehrere Recherche-Reisen,<br />

s<strong>am</strong>melte Unmengen an Fachliteratur<br />

und lokalen Legenden, Sagen und Geschichten,<br />

die sie seitKindertagen liebte.<br />

Lange suchte sie nach einer Erzähltechnik,<br />

um das überreiche Material kindgerechtzupräsentieren.<br />

Bis ihr,wie sie spätererzählte,<br />

die Tierbücher vonRudyard<br />

Kiplingeingefallen seien –und d<strong>am</strong>itdie<br />

Lösung.<br />

Mit dem fliegenden<br />

Nils Holgersson wurde<br />

die schwedische<br />

Schriftstellerin<br />

Selma Lagerlöf1906<br />

weltberühmt.<br />

Wenn Kraniche tanzen<br />

Das Volksschullehrbuch für Geografie,<br />

das 1906/07 in zwei Bänden erschien,<br />

hiess «Nils Holgerssons wunderbare<br />

Reise». Im Zeitalter vor Harry Potter war<br />

es das gewaltigste literarische Werk, das<br />

je für Kinder geschrieben wurde. Die Parallelen<br />

zu Kiplings Dschungelbuch sind<br />

tatsächlich frappierend: dem Wolfsrudel<br />

im Dschungel entspricht in Schweden<br />

die Schar der Wildgänse; wie dort die<br />

Elefanten, tanzen hier die Kraniche; der<br />

schwarze Panther wird zum schwarzen<br />

Raben und der schreckliche Tiger Shere<br />

Khan zum gerissenen Fuchs Smirre. Und<br />

doch ist die abenteuerliche Flugreise des<br />

14jährigen Nils, der zur Strafe für seine<br />

Bosheit ineinen Däumling verwandelt<br />

wird und nun die Sprache der Tiere versteht,<br />

eine ganz und gar eigene Schöpfung,<br />

in der sich, wie immer bei Selma<br />

Lagerlöf,die reale Welt mitdem Übernatürlichen<br />

und Mythischen ganz zwanglos<br />

verbindet.<br />

Mit Nils Holgersson begann ein «Höhenflug»<br />

–soBarbara Thoma in ihrer liebevollen<br />

neuen Biografie –, der Lagerlöf<br />

als erste Frau zum Literatur-Nobelpreis<br />

trug (1909). Und weiter zur Rolle als prominente<br />

Pazifistin und Frauenrechtlerin,<br />

als erstes weibliches Mitglied der Schwedischen<br />

Akademie (1914), als Gutsherrin<br />

über den verlorenen elterlichen Hof, den<br />

sie zurückkaufen konnte, und als weltweit<br />

verehrte Überfigur der schwedischen<br />

Literatur.<br />

Selma –die Biografin nenntsie durchwegs<br />

beim Vorn<strong>am</strong>en, wie dies selbst in<br />

der wissenschaftlichen Literatur in<br />

Schweden Brauch sei –wuchs als viertes<br />

von fünf Kindern auf dem Gutshof<br />

Marbacka (heuteein Museum) im schwedischen<br />

Värmland auf. Während die beiden<br />

Brüder die Schule besuchten, wurden<br />

die drei Mädchen vonGouvernanten<br />

unterrichtet. Selma, die an einem Hüftleiden<br />

litt,das sie zeitlebens hinken liess,<br />

liebte die Märchen, Spukgeschichten<br />

und Lieder ihrer Grossmutter über alles<br />

und begann schon als kleines Mädchen<br />

zu dichtenund zu schreiben.<br />

Während der trunksüchtige Vater den<br />

Hof ruinierte, studierte die begabte<br />

Selma <strong>am</strong> Königlichen Höheren Lehrerseminar<br />

in Stockholm. Als Lehrerin vermochte<br />

sie endlich ihre ersten, in alle<br />

Stil- und Gattungsrichtungen ausufernden<br />

Schreibversuche zu einem Roman zu<br />

bündeln: Zu «Gösta Berling», der Saga<br />

um zwölf wilde Kavaliere, insbesondere<br />

um den schönen, aber sündigen Pfarrer<br />

Gösta, dem die Frauen reihenweise verfallen,<br />

den <strong>am</strong> Ende aber die wahreLiebe<br />

läutert.<br />

«Gösta Berling» fand enorme Beachtung.<br />

Doch im wahren Leben war von<br />

wilden Kavalieren keine Spur zu sehen;<br />

bis heute hat die Lagerlöf-Forschung<br />

noch nicht einmal einen N<strong>am</strong>en eines<br />

Verehrers der klugen jungen Selma gefunden.<br />

Dafür treten nun Frauen in ihr


10CFXMsQ6DMBCD4Se6yOZwQnpjxYYYEPstiJn3n9p06-Dt879toYLf3ut-rkcQmGUT5E1BqXTUaIsKewuSmkB_fVUlZ_5xA3t1eA5ipFFJGGTOBJn0EchxBspz3R-DNjhFfwAAAA==<br />

10CAsNsjY0MDAx1TUyMDU2NwUAWwpoXA8AAAA=<br />

ionetwas<br />

Leben. Zunächst die etwas ältere, ebenso<br />

gebildete wie weltgewandte jüdische<br />

Schriftstellerin Sophie Elkan, die Selma<br />

zu langenexotischen Bildungsreisen entführt:<br />

nach Italien, Ägypten, Jerusalem.<br />

«Man lernt, frei zu sein» schrieb Selma<br />

d<strong>am</strong>als nach Hause. 27 Jahre lang, bis zu<br />

Sophies Tod imJahr 1921, schrieben sich<br />

die Freundinnen regelmässig zwei Briefe<br />

proWoche.<br />

Längst gab es da schon eine zweite<br />

Briefpartnerin, mit der Selma über<br />

40 Jahre korrespondieren sollte: Valborg<br />

Olander, eine junge Professorin für<br />

schwedische Literatur, die ihr bald zur<br />

unentbehrlichen Lektorin, Sekretärin<br />

und Organisatorin wurde: «Eine richtige<br />

Schriftsteller-Ehefrau» nennt Selma sie<br />

zärtlich-ironisch in einem Brief.<br />

Frauenliebschaften<br />

Sophie und Valborgignorierten sich nach<br />

Kräften. Beide lebten zwar in Lagerlöfs<br />

Haus, jedoch nie gleichzeitig. Gemunkelt<br />

wurde zwar schon d<strong>am</strong>als, doch der<br />

Skandal platzte erst über sechzig Jahre<br />

nach Lagerlöfs Tod, im Jahr 2006,als die<br />

Publikation ihrer Briefeunmissverständlich<br />

klarmachte, dass die weibliche ménage<br />

àtrois durchaus nicht nur platonischer<br />

Art gewesen war.<br />

Feinfühlig und klar erzählt Barbara<br />

Thoma von solch komplizierten Verhältnissen,<br />

kundig referiert sie über Entstehung,<br />

Inhalt und Aufnahme des grossen,<br />

und heutezum grossen Teil vergessenen<br />

Lagerlöf’schen Werkes. Selma selbst<br />

kommt bei alledem ebenso reichlich zu<br />

Wort, wie ihre Zeitgenossen, Schüler,<br />

Verehrer und Kritiker.D<strong>am</strong>itentstehtein<br />

abgerundetes Bild dieser leidenschaftlichen<br />

Geschichtenerzählerin, deren<br />

Credo es war, «auch aus schäbigsten Situationen<br />

das poetisch Wunderschöne<br />

zum Vorschein zu bringen.» ●<br />

CHRISTOPH RUCKSTUHL /NZZ<br />

Theologie DerdritteTeil vonHans Küngs<br />

Lebenserinnerungen wirdzuseinem<br />

Vermächtnis<br />

EinMachtloser<br />

unterMächtigen<br />

Hans Küng: Erlebte Menschlichkeit.<br />

Erinnerungen. Piper,München 2013.<br />

752 Seiten, Fr.39.90,E-Book 25.90.<br />

VonKlaraObermüller<br />

Autobiografien schreiben viele. Wenn<br />

Hans Küng es tut, dann wird aus der<br />

Lebensgeschichte persönlich reflektierte<br />

Welt- und Kirchengeschichte. Der<br />

Schweizer Theologeist in diesem Jahr 85<br />

geworden. Er hat alles erlebt, was nach<br />

1945 in Kirche und Welt von Bedeutung<br />

war. Durch seine unbeugs<strong>am</strong>e Haltung<br />

gegenüber Rom ist er zum Repräsentanten<br />

einer kritischen Theologie geworden.<br />

Durch seinen Einsatz für den Dialog<br />

unter den Weltreligionen und die Lancierung<br />

des Projekts «Weltethos» hat er<br />

sich Gehör bei Regierungschefs und internationalen<br />

Organisationen verschafft.<br />

Der soeben erschienene dritte Band seiner<br />

Lebenserinnerungen legt davon beredtes<br />

Zeugnis ab.<br />

Das Buch setzt dort ein, wo Küngs<br />

Leben seine radikalste Wendung erfahren<br />

hat: beim Entzug der Lehrbefugnis<br />

durch Papst Johannes Paul II. Und es<br />

endet an der Schwelle zur unmittelbaren<br />

Gegenwart mit Überlegungen zur jüngstenPapstwahl<br />

und ersten Schritten einer<br />

Annäherung zwischen Tübingen und<br />

Rom. Innerhalb dieser beiden Pole lässt<br />

Küng, der sich ein Leben lang als einen<br />

«aufgeklärten, ökumenisch offenen und<br />

gesellschaftskritischen Christen» verstanden<br />

hat, die Themen seines Lebens<br />

noch einmal Revue passieren. Es sind<br />

dies: «Die unausweichliche Frage nach<br />

Gott –Orientierung anJesus Christus –<br />

Kirche, Konzil und Reform –die mögliche<br />

Einheitder Christenheit.»<br />

Buchstäblich mit letzter Kraft hat sich<br />

der schweranParkinson erkrankteTheologedieser<br />

gewaltigen Aufgabe entledigt<br />

und ein Werk vorgelegt, das durch seine<br />

Klarheit besticht und durch seine Offenheitberührt.<br />

Es mag in manchen Teilen etwas gar<br />

ausführlich geratensein; doch Küngsgesellschaftliche<br />

Bedeutung, seine theologischen<br />

Positionen, seine religionspolitischen<br />

Impulse und sein<br />

Verständnis einer zwar entschiedenen,<br />

aber stets loyalen Opposition<br />

innerhalb der Kirche rechtfertigen<br />

den Umfangdes Buches allemal.<br />

Geradezu zum Vermächtnis<br />

wird es im letzten Kapitel,<br />

in dem ein alt gewordener<br />

Kämpfer sich seiner<br />

Endlichkeit stellt und in<br />

schonungsloser Ehrlichkeit<br />

der Frage<br />

nachgeht, wie er<br />

dem eigenen Leiden<br />

und Sterben<br />

zu begegnen gedenkt.<br />

●<br />

Erlesene<br />

Weine …<br />

Die F<strong>am</strong>ilie Tessari produziert seit 130 Jahren<br />

Wein, bei Soave imVeneto. Das Weingut hat<br />

sich ein hervorragendes Renomée im Weisswein<br />

erarbeitet. Die Weine zeichnen sich vor<br />

allem durch ihre Eleganz und Trinkfreude aus.<br />

Dieselbe Trinkfreude findet man in den klassisch,<br />

traditionellen Rotweinenvon Ca’Rugate.<br />

Der Ripasso C<strong>am</strong>poBastigliaist einsehrschönes<br />

Beispiel, wie sich Kraft, Trinkfreude und<br />

Konzentration in perfekter Harmonieergänzen.<br />

Das Weingut Ca’Rugate wurde im G<strong>am</strong>bero<br />

Rosso 2013 als einziges Weingut Italiens mit<br />

2x3 Bicchieri ausgezeichnet.<br />

Fr. 18.90<br />

Ripasso Valpolicella C<strong>am</strong>po Bastiglia Ca’Rugate<br />

Italien<br />

Veneto<br />

Corvina,<br />

Rondinella,<br />

Corvinone<br />

14–16°C<br />

Zürcher Geschnetzeltes,<br />

Hirschpfeffer und<br />

Hartkäse<br />

24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 23


10CFXMoQ7DQAwD0C_Kyb4sSW-BU1lVMI2HTMP9f7ReWYElg2dvW1rDlde6f9Z3EniYdJiGJ83agGcs1jgiSVoH9XmqOLvHzQs4XKE1jZBCK0JgoqMivKjzoeYavR3f3x_5ejchgAAAAA==<br />

10CAsNsjY0MDAx1TUyMDU2NwMA4VthxQ8AAAA=<br />

Erlesene<br />

Weine …<br />

Gigondas, im Herzen der Côtes du Rhône<br />

gelegen, wird nicht zu unrecht als kleiner<br />

Brudervon Châteauneuf du Pape gehandelt. Die<br />

Weinberge an den Hängen der Dentelles des<br />

Montmirail bringen kraftvolle und gut strukturierteWeinehervor,die<br />

sich durchihreHarmonieund<br />

Eleganz auszeichnen. Der Gigondasder<br />

DomaineSaint-François-Xavier präsentiert sich<br />

kräuterig, würzig mit Noten von roten Früchten.<br />

Im Gaumen zeigen sich Aromen von<br />

Kirschen, wirkt vollmundig mit runden Tanninen<br />

und einem langanhaltenden Abgang.<br />

Fr. 19.90<br />

Gigondas Prestige Dentelles<br />

Frankreich<br />

Côtes du Rhône<br />

Grenache, Syrah,<br />

Mourvedre, Cinsault<br />

16–18°C<br />

Wild, Ente und<br />

Coq au vin<br />

Sachbuch<br />

Biografie DerObwaldner Hans Imfeld (1902–1947) warein<br />

Abenteurer,der als französischer Offizier in Vietn<strong>am</strong> und<br />

Laos kämpfte<br />

VonSarnenin<br />

denDschungel<br />

Indochinas<br />

Carlo vonAh: Durch Dschungel und Intrigen.<br />

Ein Innerschweizer in Indochinas<br />

Kriegswirren. Martin Wallimann,<br />

Alpnach 2013. 375 Seiten, Fr.29.–.<br />

VonUrs Rauber<br />

Schweizer Söldner in fremden Diensten<br />

kennen eine lange Tradition. Ein spezieller<br />

Fall stellt jener von Hans Imfeld<br />

(1902–1947) aus Sarnen (OW) dar, der als<br />

französischer Offizier <strong>am</strong> Ende des Zweiten<br />

Weltkrieges in Indochina kämpfte<br />

und scheiterte.<br />

Imfeld hatte als Bub das Kollegium in<br />

Sarnen besucht, das Handelsdiplom in<br />

Fribourg erworben und war später als<br />

Sohn einer französischen Mutter nach<br />

Frankreich gezogen. In Fontainebleau<br />

absolviert er die Offiziersschule. 1938<br />

schickteman ihn nach Indochina, um als<br />

militärischer Anführer mitzuhelfen, die<br />

französische Kolonialherrschaft in Vietn<strong>am</strong><br />

und Laos zu sichern. Imfeldwar ein<br />

Abenteurer, Guerillakrieger, Patriot und<br />

Opiumsüchtiger. Zudem ein bigotter Katholik,<br />

der viel betete und in höchster<br />

Gefahr gelobte, «eine Wallfahrt zu Fuss<br />

von Sarnen nach Lourdes» zu unternehmen.<br />

Konfliktfreudig, oft undiplomatisch,<br />

aufbrausend, jähzornig verlangte<br />

er sich und seinen Leuten viel ab,haderte<br />

im Unglück und war ein zutiefst vereins<strong>am</strong>terMensch.<br />

Carlo von Aherzählt Imfelds Lebensgeschichte<br />

aufgrund vondessen erhaltenen<br />

Tagebüchern, insges<strong>am</strong>t rund 800<br />

Seiten, und reichert diese mit fiktiven<br />

Forschung Florian Fisch analysiert dieKontroverse um gentechnisch veränderte<br />

Riesenstreit umwinzigenVersuch<br />

Florian Fisch: Ein Versuch. Genforschung<br />

zwischen den Fronten. Helden,<br />

Zürich 2013. 224Seiten, Fr.36.–.<br />

VonPatrickImhasly<br />

Gentechnisch verändertePflanzen wachsen<br />

weltweit auf Millionen Hektaren<br />

Ackerfläche. Dank ihrer Eigenschaften<br />

sind sie zum Beispiel vorSchädlingengeschützt<br />

– zum Nutzen des Menschen.<br />

Einen nachweisbaren Schaden hat von<br />

ihrem Anbau bisher niemand erlitten.<br />

Trotzdem gelten diese Pflanzen in Europa<br />

vielen Bauern und Naturfreunden<br />

Dialogen an, die er aus weiteren Quellen<br />

und Gesprächen mit Bekannten Imfelds<br />

schöpfte. Der manchmal ausschweifende<br />

«Dokumentarroman» gibt Einblick in<br />

das französische Kolonialgebaren im<br />

Fernen Osten, das die fremden Völker<br />

«zivilisieren» wollteund sich gleichzeitig<br />

der japanischen und chinesischen «Konkurrenz»<br />

erwehrte, die ebenfalls ihre<br />

Einflusssphären zu vergrössern suchten.<br />

Der Krieg im vietn<strong>am</strong>esischen und laotischen<br />

Dschungel war begleitet von<br />

Angst, Hunger, Elend und Chaos –aber<br />

auch vom Zwist zwischen den französischen<br />

Résistance-Anhängern und den<br />

Vichy-Franzosen in Indochina.<br />

Kurz vor der Kapitulation Japans <strong>am</strong><br />

11. August 1945 war Imfeldzum französischen<br />

Kommissar für das Königreich<br />

Laos in Luang Prabang ernannt worden.<br />

Doch schon im September 1945 entwaffneten<br />

die viel stärkeren chinesischen<br />

Truppen die Franzosen; es war für Imfeld<br />

«der schlimmste Augenblick meines<br />

Lebens».<br />

Die persönliche Niederlage Imfelds<br />

ist verwoben mit der Agonie der französischen<br />

Kolonialherrschaft in Asien.<br />

Gleichzeitig stieg im benachbarten Vietn<strong>am</strong><br />

der asketische Ho Chi Minh, der clever<br />

zwischen den Fronten agierte, zum<br />

Befreier auf. Das Buch schildert diese<br />

weltpolitisch bedeuts<strong>am</strong>e Entwicklung<br />

aus einer eindrücklichen Nahsicht. Sarkastisch<br />

werden hingegen de Gaulles<br />

Durchhaltebefehle beschrieben, die er<br />

per Fallschirm an die französischen<br />

Kämpfer absetzen liess. Imfelds Urteil:<br />

de Gaulle habe über «grossartige Rheto-<br />

als des Teufels. Warum ist die Debatte<br />

um die grüne Gentechnik gerade auch in<br />

der Schweiz dermassen emotional aufgeladen?<br />

Dieser Frage geht der Wissenschaftsjournalist<br />

Florian Fisch in seinem<br />

Buch «Ein Versuch –Genforschung zwischen<br />

den Fronten» nach.<br />

Grosse Rätsel lassen sich <strong>am</strong> besten im<br />

Kleinen erkunden, deshalb hatFisch den<br />

richtigen Ansatz gewählt, indem er die<br />

Kontroverse an einem Beispiel aufarbeitet.<br />

Als Modellfall dient ihm der Freisetzungsversuch<br />

von gentechnisch verändertem<br />

Weizen durch den ETH-Dozenten<br />

Christoph Sautter im Jahre 2004.<br />

Akribisch hatFisch die Geschichte dieses<br />

24 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013


10CFXMoQ6AMBAD0C-6pb3jNsYkwREEwZ8haP5fwXCIiiavXdfmCV_mZTuWvREYXBRupTS6p4rcyuiJ9e2kK2hTV6SV_PMC1myw6EZIoQchMDGNQTVo_SH6Bkj3eT1ULJ9hgAAAAA==<br />

10CAsNsjY0MDAx1TUyMDU2NwcAd2tmsg8AAAA=<br />

Erlesene<br />

Weine …<br />

Unweit vonAlba, im Herzendes Piemont, liegt<br />

das Weingut der F<strong>am</strong>ilie Grasso. Seit 1927<br />

produziert die F<strong>am</strong>ilie hier hochwertige<br />

Piemonteser Weine. Diese spiegeln die Landschaft<br />

und Böden in Reinkultur wider. Der<br />

Barberaist ein ausgezeichnetes Beispielfür das<br />

Schaffen vonFederico Grasso, derheutefür die<br />

Weine verantwortlich ist. Intensiv, rubinrote<br />

Farbe, duftet nach Himbeeren und Erdbeeren.<br />

Sehr schöne Säure und eine gute Struktur. Der<br />

Barbera ist ein kräftiger Wein, jedoch schön<br />

und saftig zutrinken.<br />

Fr. 15.40<br />

rik» verfügt, doch über keinerlei Kenntnisse<br />

der lokalen Verhältnisse.<br />

Die reichlich eingestreuten Tagebuchauszüge<br />

geben die Wut, Verzweiflung<br />

und den Schmerz des Verfassers in einer<br />

nicht selten rüden, von Flüchen durchsetzten<br />

Sprache wider. Spürbar wird die<br />

Schmach des 44-Jährigen Berufsoffiziers,<br />

als er aus Laos abgezogen wird und<br />

für ihn monatelang keine weitere VerwendunginAussichtsteht.<br />

Am 14. Juli 1946 schliesslich wird Imfeld<br />

in Saigon zum Ritter der Ehrenlegion<br />

befördert und danach zum Kommandanten<br />

der K<strong>am</strong>pfgruppe Nordwest in Dien<br />

Pflanzen in derSchweiz<br />

Experiments und dessen politische Instrumentalisierung<br />

recherchiert. Er hat<br />

mit allen relevanten Akteuren gesprochen,<br />

die an dem Versuch beteiligt waren<br />

–vom Chef des zuständigen Bundes<strong>am</strong>ts<br />

(d<strong>am</strong>als Buwal), Philippe Roche, bis zur<br />

Ikone der Gentechgegner,der Basler Biologin<br />

Florianne Koechlin.<br />

Florian Fisch erzählt die Geschichte in<br />

einer packenden Mischung von Hintergrundbericht,<br />

Interviews und rekonstruierten<br />

Reportageelementen. Man ist<br />

dabei, wenn Christoph Sautterbeim Versuchsfeld<br />

in Lindau übernachtet, aus<br />

Angst die Greenpeace-Aktivisten könnten<br />

sein Versuchsfeld vernichten. Unnö-<br />

Bien Phu. Doch der Krieg verlief für<br />

Frankreich desaströs, und Imfeld wurde<br />

in die Heimatzurückbeordert. Einen Tag<br />

vorseiner Abreise nach Frankreich fiel er<br />

dem Attentat eines Vietminh-Agenten<br />

zum Opfer, der ihn mit einem anderen<br />

Offizier verwechselt hatte.<br />

Zwei Jahre später –imApril 1949 –<br />

wurdeHans ImfeldinSarnen beigesetzt.<br />

Das gut geschriebene Buch aus dem Obwaldner<br />

Wallimann Verlag erzählt diese<br />

unbekannte Söldnergeschichte spannend;<br />

nur schade, dass es weder ein Inhaltsverzeichnis<br />

noch ein Personenregisterenthält.<br />

●<br />

Hans Imfeld (Zweiter<br />

vonrechts)ineiner<br />

Opiumhöhle in Saigon,<br />

um 1940.<br />

tig nur, dass sich der Autor Florian Fisch<br />

auf die eine Seite schlägt. «Das Buch ...<br />

nimmt Stellung für eine Partei, die sich<br />

schwertut, ihre Position klar zu vermitteln:<br />

die Wissenschaft», schreibt Fisch.<br />

Dabei hätten die Fakten doch für<br />

sich gesprochen. So gesteht Buwal-Chef<br />

Philippe Roche, der d<strong>am</strong>als neutral hätte<br />

sein sollen, ein, er habe «nicht viel Sympathie<br />

für das Projekt» gehabt. Und dass<br />

der Berner Chefbe<strong>am</strong>te vor der ersten<br />

Ablehnung des Experiments, statt die<br />

Umstände nüchtern abzuwägen, den<br />

Entscheid «in einer Art Meditation» gefällt<br />

hat, schlägt dem Fass noch heute<br />

den Boden aus. ●<br />

Barbera d’Alba Silvio Grasso DOC<br />

Italien<br />

Piemont<br />

Barbera<br />

16–18°C<br />

Pasta, Trockenfleisch,<br />

typisch<br />

italienische Küche<br />

24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 25


Sachbuch<br />

Nationalsozialismus Im Dezember vor50Jahren begann in Frankfurtder Auschwitz-Prozess.Der<br />

jüdischeEmigrant Fritz Bauer dirigierte dieAnklage<br />

«IhrhättetNeinsagenmüssen»<br />

Ronen Steinke: FritzBauer oder Auschwitz<br />

vorGericht. Piper,München 2013.<br />

352 Seiten, Fr.34.90,E-Book 19.–.<br />

Devin O. Pendas: Der Auschwitz-Prozess.<br />

Völkermordvor Gericht. Siedler,<br />

München 2013. 432Seiten, Fr.37.90,<br />

E-Book 24.90.<br />

VonClaudia Kühner<br />

«Wenn ich aus dem Bürokomme, betrete<br />

ich feindliches Ausland», sagte Fritz<br />

Bauer zu Anfang der sechziger Jahre. Er<br />

war jetzt Generalstaatsanwalt in Hessen<br />

und hatte sich viele Gegner gemacht<br />

durch Verfahren, die mit der NS-Zeit zu<br />

tun hatten. Die Justiz war durchsetzt mit<br />

Altnazis –und mitten unterihnen wirkte<br />

der Jude, Emigrant und Sozialdemokrat,<br />

der es sich zur Aufgabe gemacht hatte,<br />

die grosse Öffentlichkeitmit den Mitteln<br />

des Rechts über die Verbrechen des Dritten<br />

Reichs aufzuklären. Anfeindungen<br />

bis hin zu Morddrohungen gehörten zu<br />

seinem Alltag. Man fand ihn <strong>am</strong> 1. Juli<br />

1968 totinder Badewanne. Die Gerichtsmedizin<br />

attestierte einen natürlichen<br />

Tod.<br />

Fürimmer mitBauers N<strong>am</strong>en verbunden<br />

ist der Auschwitz-Prozess, der im<br />

Dezember 1963eröffnet wurde. Ohne ihn<br />

hätte esdieses Verfahren nicht gegeben.<br />

Bauers Haltung war: Jeder, der mitgemacht<br />

hat, ist schuldig, auch wenn er<br />

nicht eigenhändig gemordet hat. D<strong>am</strong>it<br />

stand er unterJuristen ziemlich alleine.<br />

Eineins<strong>am</strong>er Mensch<br />

Zum 50. Jahrestag des Auschwitz-Prozesses<br />

hat der Jurist und Journalist<br />

Ronen Steinkeeine Biografie Bauers vorgelegt.<br />

Kein leichtes Unterfangen, denn<br />

als Mensch war Fritz Bauer extrem verschlossen.<br />

Mutmasslich war er homosexuell.<br />

Jedenfalls blieb er zeitlebens allein,<br />

und auch einige Freundschaften<br />

wie jene zu Thomas Harlan, dem Sohn<br />

des NS-Filmregisseurs, nahmen ihm die<br />

Eins<strong>am</strong>keit nicht. Die flüssig geschriebene<br />

Biografie ist dennoch informativ,<br />

denn im Vordergrund steht Bauers öffentliches<br />

Wirken. Steinke erschliesst<br />

auch neue Quellen über die frühen Jahre.<br />

1903 inStuttgart geboren, Sohn assimilierter<br />

Juden, studierte Fritz Bauer in<br />

Heidelbergund TübingenJura. Er machte<br />

bei einer jüdischen Verbindung mit,<br />

war an jüdischen Themen interessiert.<br />

Sein tiefes Engagementaber galt baldder<br />

Sozialdemokratie. Schon dies machte<br />

den jungen Juristen im württembergischen<br />

Staatsdienst zum Aussenseiter.<br />

Nach einer mehrmonatigen KZ-Haft entk<strong>am</strong><br />

Bauer 1936 nach Dänemark und<br />

1943 nach Schweden. Hier schloss er sich<br />

anderen emigrierten Sozialdemokraten<br />

wie Willy Brandt und Bruno Kreisky an.<br />

Hier arbeitete er an seinen Ideen über<br />

Kriegsverbrechen vorGericht.<br />

Um diese Vorstellungen umzusetzen,<br />

wollte Bauer nach Kriegsende zurück<br />

Am 20.Dezember<br />

1963 begann in<br />

Frankfurt,im<br />

Rathaus Römer,der<br />

Auschwitz-Prozess.<br />

FritzBauer dirigierte<br />

die Anklage,blieb<br />

aber selber im<br />

Hintergrund.<br />

nach Deutschland. 1949 wurde erzum<br />

Generalstaatsanwalt in Braunschweig<br />

berufen. Hier führte er1952 seinen ersten<br />

Prozess mit öffentlicher Wirkung.<br />

Verhandelt wurden der 20. Juli und die<br />

Frage, ob es Verleumdungwar,die Attentäterals<br />

«Verräter» zu bezeichnen.<br />

Für Bauer hatte der Widerstand nicht<br />

nur legitim, sondern auch legal gehandelt,<br />

und den Millionen ehemaliger<br />

Wehrmachtsangehörigen hielt er ein «Ihr<br />

hättet Nein sagen müssen» entgegen.<br />

Jenseits des Strafrechts strebte Bauer<br />

eine Art «Reeducation» an. Zu diesem<br />

Zweck zogerZeithistoriker als Gutachter<br />

heran. Und machte sich d<strong>am</strong>it ringsum<br />

Feinde. Bauer vermied es, seine jüdische<br />

Herkunft zu erwähnen. Nur schon weil<br />

zurückgekehrteJuden, zumal ein Staatsanwalt,<br />

im Nachkriegsdeutschland gern<br />

als «Rächer» verunglimpft wurden.<br />

1956 wurde Bauer zum Generalstaatsanwalt<br />

nach Hessen berufen, und in<br />

Frankfurt erreichten ihn Hinweise aus<br />

Buenos Aires auf Eichmanns Versteck.<br />

Misstrauisch, wieerinzwischen war,gab<br />

er sie nicht andie deutschen Behörden<br />

weiter,sondern an den israelischen Mossad,<br />

der Eichmann 1960 dann entführte.<br />

Bauer wollte verhindern, dass der Organisatordes<br />

Holocaust gewarntwürde.<br />

Nur durch Zufall gerieten auch erste<br />

konkrete schriftliche Hinweise auf Täter<br />

in Auschwitz in die Hände der Justiz,<br />

und Bauer «lotste» das Verfahren nach<br />

Frankfurt. 22 Angeklagte standen<br />

schliesslich in einem fast zweijährigen<br />

Verfahren vor Gericht. Bauer dirigierte<br />

die Anklage, überliess den Gerichtssaal<br />

aber jungen, nicht belasteten Staatsanwälten,<br />

was Steinke als «einzigartigen<br />

Glücksfall» bezeichnet. Bauers grosses<br />

Ziel war es, mit dem Prozess Lehren für<br />

einen demokratischen Rechtsstaat aufzuzeigen.<br />

Für die Richter aber standen<br />

die konkreten Tatumstände im Zentrum.<br />

In früheren Verfahren waren Hitler,<br />

Himmler, Heydrich bereits zu «Haupttätern»<br />

erklärt worden, alle anderen galten<br />

in der deutschen Rechtssprechung von<br />

da an als Mittäter und wurden meist nur<br />

wegen Beihilfe verurteilt. Dies geschah<br />

dann 1965 auch im Auschwitz-Prozess.<br />

Als fehlgeschlagen bezeichnet Steinke<br />

Bauers Absicht, die Deutschen aufzuklären,<br />

obwohl der Prozess medial breit begleitetwurde.<br />

Bauer vereins<strong>am</strong>te immer mehr, arbeitete<br />

bis zum Umfallen, rauchte Kette.<br />

Wenige Monate vor seinem plötzlichen<br />

Tod 1968 gewann die NPD in Baden-<br />

Württemberg, seiner alten Heimat,<br />

9,8 Prozent der Stimmen.<br />

Gescheiterter Prozess<br />

Wer sich vor allem für die rechtlichen,<br />

prozesstaktischen und historiografischen<br />

Imperative des Auschwitz-Prozesses<br />

interessiert, dem bietet der <strong>am</strong>erikanische<br />

Historiker Devon O.Pendas eine<br />

ausgezeichnete und leicht verständliche<br />

Ergänzung.<br />

Pendas untersucht inerster Linie die<br />

Rolle der Richter, Anwälte und Zeugen,<br />

deren erlebte Wahrheit eine andere war<br />

als die rechtlich massgebende. Er legt<br />

dar, wie unmöglich es war, diesem<br />

Menschheitsverbrechen mit dem Deutschen<br />

Strafgesetzbuch von 1871 beizukommen.<br />

Pendas wertet den Prozess als<br />

ein gewissenhaft geführtes Verfahren,<br />

das jedoch unfähig blieb, die historische<br />

Dimension mitzuverhandeln. An Fritz<br />

Bauer aber lag dies nicht. ●<br />

26 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013


10CFWMMQ4CMQwEX-Ro18lezrhE150o0PVuEDX_r1DoKKabmfNMNfy4H4_reCaBIXNIwaTUAsq5qzFmkpSD_cYhkNP3P9_A2Dp6LcdIo4rDRph7jZjFvg61aqB9Xu8vJ3AueoAAAAA=<br />

10CAsNsjY0MDAx1TUyMDW1NAQAfp8LwQ8AAAA=<br />

Frauengeschichte DieBaslerin EmilieLinder (1797–1867)war eine<br />

bedeutendeMäzenin dereuropäischen Kulturgeschichte<br />

SiekaufteKunstund<br />

unterstütztedieArmen<br />

Patrick Braun, Axel Christoph G<strong>am</strong>pp<br />

(Hrsg.): Emilie Linder 1797–1867. Malerin,<br />

Mäzenin, Kunsts<strong>am</strong>mlerin. Merian,<br />

Basel 2013. 303Seiten, Fr.37.90.<br />

VonGeneviève Lüscher<br />

Die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft<br />

SRG, eine von der ganzen<br />

Bevölkerung finanzierte Institution,<br />

strahlte im November eine vierteilige<br />

Serie zur Schweizer Geschichte aus, in<br />

der die Hälfte dieser Bevölkerung keine<br />

Rolle spielte. Als ob Frauen keinen historischen<br />

Beitrag zu heutigen Schweiz geleistet<br />

hätten. Natürlich haben sie das<br />

getan. Emilie Linder zum Beispiel, auch<br />

wenn dieser N<strong>am</strong>e heute den wenigsten<br />

geläufig sein wird. Die Baslerin stand –<br />

wie soviele Frauen –imSchatten ihrer<br />

Zeitgenossen, zum Beispiel demjenigen<br />

von Clemens Brentano, der sie glühend<br />

verehrte.<br />

Aus diesem Schatten haben sie nun<br />

der Historiker Patrick Braun und der<br />

Kunsthistoriker Axel Christoph G<strong>am</strong>pp<br />

herausgeholt. Sie lassen in ihrem S<strong>am</strong>melband<br />

verschiedene Fachleute zu<br />

Wort kommen, die das facettenreiche<br />

Leben dieser Schweizerin beleuchten.<br />

Schon die Kapitelüberschriften lassen<br />

erahnen, dass es keine gewöhnliche<br />

Frauenvita war: Nach Beiträgen zu «Persönlichkeit<br />

und Kontext» folgen Artikel<br />

zu den Themen «Nazarener, Künstlerinnen<br />

der Romantik, die Malerin», während<br />

das letzte Kapitel der «Wohltäterin,<br />

Marienkirche, Kunstökumene» gewidmet<br />

ist.<br />

Emilie Linder wurde 1797 in eine<br />

wohlhabende protestantische Basler F<strong>am</strong>ilie<br />

hineingeboren. Geprägt hat sie ihr<br />

Grossvater, ein bekannter Kunsts<strong>am</strong>mler,<br />

der ihren ausgefallenen Berufswunsch<br />

«Historienmalerin» unterstützte.<br />

Ihr vermachte er auch sein Vermögen<br />

und seine bedeutende Bilders<strong>am</strong>mlung.<br />

Emilie genoss die übliche Erziehung, beschloss<br />

aber schon früh, nicht zuheiraten.<br />

D<strong>am</strong>als eine mutige Entscheidung!<br />

Mit27Jahren gingsie nach München, um<br />

an der Kunstakademie zu studieren, wo<br />

die religiöse Richtung der Nazarener gefördert<br />

wurde. Es folgten Jahre inBasel,<br />

Romund wieder München, in denen Linder<br />

rege <strong>am</strong> gesellschaftlichen Leben<br />

teilnahm.<br />

Das beträchtliche Vermögen ermöglichte<br />

eine unabhängige Lebensweise.<br />

Sie reiste mit anderen Frauen, unter anderem<br />

der Malerkollegin Rosalie Wieland-Rottmann,<br />

die ihre Freundin einfühls<strong>am</strong><br />

porträtierte. Linder malte auch<br />

selber,allerdings war sie der Auffassung,<br />

dass die zentrale Aufgabe der Kunst das<br />

Darstellen und Vermitteln vonGlaubensinhalten<br />

war. Malen war für sie eine religiöse<br />

Handlung, ein spirituelles Gespräch<br />

mitGott.<br />

UndatiertesPorträt<br />

der Baslerin Emilie<br />

Linder,gemalt von<br />

ihrer Freundin Rosalie<br />

Wieland-Rottmann.<br />

In Rom entwickelte sie sich immer<br />

mehr von der Malerin zur Mäzenin und<br />

Kunsts<strong>am</strong>mlerin, wobei sie gezielt Bilder<br />

der Nazarener Richtung kaufte und mit<br />

entsprechenden Künstlern Verträge abschloss.<br />

Mit der Unterstützung dieser<br />

Kunstrichtung betrieb sie indirekt Gesellschaftspolitik,<br />

denn die Nazarener<br />

waren ein Teil der restaurativen Gegenbewegungzur<br />

Aufklärung.<br />

In München, wo sie bis zu ihrem Tod<br />

1867 lebte, gab Linder Gesellschaften,<br />

unterhielt einen Salon, in dem sich die<br />

Grössen ihrer Zeit trafen. Hier bot sich<br />

beiden Geschlechtern zwanglos die Möglichkeit<br />

des intellektuellen Austauschs<br />

und der Pflege von Freundschaften. Clemens<br />

Brentano, der Linder verehrte und<br />

gar heiraten wollte, holte sich allerdings<br />

einen Korb. Die Angebetete bestand auf<br />

einer gleichberechtigten, intellektuellen<br />

Freundschaft und auf Unabhängigkeit.<br />

1843konvertierteLinder,wie viele Romantiker,<br />

zum Katholizismus und zog<br />

sich zurück. Sie half bedürftigen Menschen<br />

und F<strong>am</strong>ilien, unterstützte Kirchen,<br />

Klöster, Schulen und Spitäler. Ihre<br />

zunehmend religiös motivierte Lebensführung<br />

prägte später das Bild der frommen<br />

Wohltäterin, während ihr Kunstsinn<br />

und ihre Intellektualität aus dem Blick<br />

gerieten. Die vorliegende Publikation<br />

rückt diese Aspekte eines für die d<strong>am</strong>alige<br />

Zeit ungewöhnlichen Frauenlebens<br />

wieder ins Licht. ●<br />

KUNSTMUSEUM BASEL<br />

©iStock<br />

DU KANNST SIE<br />

ZUM SCHWEIGEN<br />

BRINGEN –<br />

DOCH<br />

IHRE KNOCHEN<br />

WERDEN<br />

DICH VERRATEN<br />

Ein getötetes Mädchen im Straßengraben,<br />

ein Schmugglerring,<br />

der keine Gnade kennt: der neue<br />

Fall für Tempe Brennan.<br />

Kathy Reichs’ packende Romane<br />

sind Vorlage für die erfolgreiche<br />

Fernsehserie „BONES –die Knochenjägerin“.<br />

448 Seiten ICHF 28,50 (empf. VK-Preis)<br />

E-Book und Hörbuch bei Random House Audio<br />

Lese- und Hörprobe auf blessing-verlag.de<br />

24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 27


Sachbuch<br />

Antike DerrömischeKonsul MarcusTullius Cicero (106–43v.Chr.) erhälteine neue Biografieaus der<br />

Federdes AlthistorikersWolfgang Schuller<br />

InMachtkämpfenzerrieben<br />

Wolfgang Schuller:Cicero. Oder der letzte<br />

K<strong>am</strong>pf um die Republik. C. H. Beck,<br />

München 2013. 256 Seiten, Fr.37.90.<br />

VonJanika Gelinek<br />

Kultkrimi Lieblingsorte desGrauens<br />

DieKrimiserie istKult.Millionen setzensich sonntagabends<br />

vorden Fernseher und schauen das Grauen. Sie<br />

fiebern mit,wenn die populären Ermittlerte<strong>am</strong>s die<br />

«Tatort»-Verbrechen aufklären. Sie freuen sich an den<br />

Running-Gags und Dialogen der Protagonisten, an ihren<br />

Marotten und Schwächen. Die eigentlichen Orte des<br />

Geschehens treten dabei oftinden Hintergrund. Licht<br />

in das Dunkel bringt der S<strong>am</strong>melband «Schauplatz Tatort–Die<br />

Architektur,der Film und der Tod», an dem<br />

einer der Altmeisterdes Fachs, der den Münchner Kommissar<br />

Franz Leitmayr spielende Schauspieler Udo<br />

28 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013<br />

Wachtveitl, mitgewirkthat.Faktenzuallen 36 Kommissaren<br />

der Serie,inklusivedes Luzerner Duos und der<br />

Lieblinge aus Wien, ihre F<strong>am</strong>ilien- und Wohnverhältnisse,die<br />

Vorlieben, die Städteund Gebäude,indenen<br />

sie Verbrecher jagen und die Ermittlungen führen –all<br />

das istindem 200Seiten schweren Band vereint.«Tatort»-Fans<br />

bietet das Buch einen aufschlussreichen Fundus<br />

an Erkenntnissen. David Strohm<br />

UdoWachtveitl u. a.: Schauplatz Tatort.Die Architektur,<br />

der Film und der Tod. Callwey,München 2013.<br />

192Seiten, Fr.56.90.<br />

Inmitten einer politisch höchst turbulenten<br />

Zeit, in der Cäsar soeben Konsul geworden<br />

war und er selbst massiv anEinfluss<br />

eingebüsst hatte, schreibt Marcus<br />

Tullius Cicero59v.Chr.anseinen Freund<br />

Atticus: «Was aber werden wohl über unzähligeJahrhundertehin<br />

die Geschichtswerkerühmend<br />

über mich hervorheben?<br />

Vordiesen empfinde ich in der Tat viel<br />

mehr Scheu als vor dem nichtigen Gerede<br />

unserer Zeitgenossen.»<br />

Er hätte sich keine Sorgen machen<br />

müssen. Bereits in der Antike begann<br />

eine bis heuteandauernde Cicero-Rezeption.<br />

Das liegt zum einen an der ungewöhnlich<br />

umfangreichen Quellenlage –<br />

etwa 50 Reden sind neben Ciceros politischen<br />

und rhetorischen Schriften erhalten,<br />

darüber hinaus fast 1000 Privatbriefe,<br />

die einen faszinierenden Einblick in<br />

sein Denken und in den Alltag der ausgehenden<br />

römischen Republik geben.<br />

Zum anderen bietet Cicero mit seinen<br />

vielfältigen Tätigkeiten als Anwalt und<br />

Politiker, als Schriftsteller, Philosoph<br />

und Rhetoriker bis heute weitreichende<br />

Anschlussmöglichkeiten. Entsprechend<br />

muss sich eine neue Cicero-Biografie,<br />

wiesie der Althistoriker WolfgangSchuller<br />

nun vorgelegt hat, an der Frage messen<br />

lassen, welche Aufschlüsse sie über<br />

diese so satts<strong>am</strong> erforschte Persönlichkeit<br />

neu zu geben vermag.<br />

Schuller wählt dafür überraschenderweise<br />

eine Art moralisch-menschlicher<br />

Verortung: «Er hatte ein Leben voll staunenswerter<br />

Stärken und beklagenswerter<br />

Schwächen geführt, ein gutes, nicht<br />

in allem beispielhaftes, ein menschliches<br />

Leben.» Cicero sei ein «empfänglicher,<br />

emotionaler, generöser, gelegentlich<br />

leichtgläubiger und weicher Mensch» gewesen,<br />

der in den schnell changierenden<br />

Machtkonstellationen der zerfallenden<br />

römischen Republik zum Scheitern verurteilt<br />

war. Dafür versucht Schuller, den<br />

höchst unübersichtlichen Beziehungsgeflechtenzwischen<br />

60 und 43 v. Chr., in<br />

denen Cicero sich – zuerst zwischen<br />

Pompeius und Cäsar,dann zwischen Antonius<br />

und Octavian lavierend –befand,<br />

zu folgen. Dabei differenziert er allerdings<br />

weder hinreichend zwischen politischen<br />

(und vor allem rhetorischen)<br />

Strategien Ciceros und seiner persönlichen<br />

Integrität, noch gelingt es ihm, dem<br />

Leser einen wirklichen Überblick über<br />

die Geschehnisse zu verschaffen. Stattdessen<br />

fragt Schuller, als im Jahr 55<br />

v. Chr. Pompeius und Crassus mit Cäsar<br />

um das Konsulat schachern, reguläre<br />

Wahlen verhindern und schliesslich<br />

unter Tumult gewählt werden: «Wirft es<br />

nichtein gutes Lichtauf Cicero, dass er in<br />

all diese Machenschaften nicht einbezogenwurde?»<br />

Andererseits erscheint esihm als «bedenkliche<br />

Tatsache», wie Cicero inder<br />

Folge inein Abhängigkeitsverhältnis zu<br />

Cäsar gerätund dieses in «bemühtlockerem<br />

Ton» seinem Freund Atticus darzustellen<br />

versucht. Während sich Bautätigkeiten<br />

für Cäsar nach aussen hin vielleicht<br />

noch rechtfertigen liessen, sei die<br />

von Cicero übernommene Verteidigung<br />

Vartinius, der «doch wirklich die übelstenHandlangerdiensteinCäsars<br />

tadelnswertesten<br />

Unternehmungen geleistet»<br />

hatte, «einfach nur demütigend» gewesen.<br />

Ciceros Position als homo novus, der<br />

auch als Emporkömmlingseine Politik in<br />

den Dienst der ideologischen Rechtfertigung<br />

der Nobilitätsherrschaft stellte,<br />

wird kaum beleuchtet, vielmehr wird er<br />

als «Erzzivilist» charakterisiert, der den<br />

Untergang der Republik als «persönliche<br />

Beleidigung» empfunden habe.<br />

Doch ist es tatsächlich relevant, mit<br />

Hilfe moralischer Kriterien 2000 Jahre<br />

alte politische Winkelzüge oder auch<br />

persönliches Versagen zu bewerten? Ist<br />

es aus heutiger Perspektive notwendig,<br />

die Gefühlslage Ciceros nachzuvollziehen<br />

und als «quälend», «gradlinig»,<br />

«überraschend» oder «erfreulich» zu verstehen?<br />

Anstelle einer fundierten These,<br />

die Ciceros politisches Taktieren plausibel<br />

machen würde, nimmt Schuller ihn<br />

auch auf sprachlich häufig umständliche<br />

Weise in Schutz, so als geltees, ihn noch<br />

einmal gegen das historische Diktum<br />

Theodor Mommsens zu verteidigen, der<br />

ihn im 19.Jahrhundert als Wendehals<br />

und Opportunisten beschrieben hatte<br />

und d<strong>am</strong>it das Cicero-Bild auf Jahrzehnte<br />

geprägt hatte.<br />

Doch die umfangreiche Rezeptionsgeschichte<br />

Ciceros spielt bei Wolfgang<br />

Schuller keine Rolle; seine Bibliografie<br />

bleibt auch weitgehend auf den deutschen<br />

Sprachraum begrenzt. So sehr ihm<br />

daran gelegen ist, Cicero der Leserschaft<br />

nahezubringen, gilt <strong>am</strong> Ende das Bonmot<br />

des römischen Historikers Livius,<br />

der in seinem Nekrolog nach Ciceros Tod<br />

bemerkte: «Um ihn recht zuloben, hätte<br />

man einen Cicero als Lobredner gebraucht.»<br />


Gesundheit Jederman kenntSchmerzen, dennochwissenwir erstaunlich wenig über sie<br />

Wo dieSchulmedizin<br />

anihreGrenzenstösst<br />

Sytzevan der Zee: Schmerz. Eine Biografie.<br />

Knaus, München 2013. 377Seiten,<br />

Fr.34.90,E-Book 23.90.<br />

VonSieglinde Geisel<br />

Jeder Mensch, auch jeder gesunde,<br />

macht regelmässig Erfahrungen mit<br />

Schmerz –und doch wissen wir erstaunlich<br />

wenig über diese Empfindung. Für<br />

viele Arten vonSchmerz hatdie Medizin<br />

keine schlüssigeErklärungparat, und die<br />

Frage danach, wie man Schmerzen bekämpfen<br />

kann, ist ebenso komplex wie<br />

diejenige, warum Schmerz unter bestimmten<br />

Umständen Lust erzeugen<br />

kann.<br />

Funktion als Selbstschutz<br />

Derniederländische Journalist Sytzevan<br />

der Zee hat eine «Biografie» des Schmerzes<br />

geschrieben. In 37 kurzen Kapiteln<br />

nähert er sich dem Schmerz aus den verschiedensten<br />

Perspektiven: Patientenberichte<br />

wechseln ab mit recherchierten<br />

Passagen, in denen wiederum Ärzte und<br />

Therapeuten zu Wort kommen. Der Alltag<br />

in einem Schmerzzentrum wird geschildert,<br />

zwischendurch geht es um<br />

Meilensteine in der Geschichte der<br />

Schmerztherapie: die Entwicklung der<br />

Anästhesie etwa, die «TiefeHirnstimulation»<br />

oder die Spiegeltherapie für die Behandlung<br />

von Phantomschmerzen. Und<br />

fast jede Art vonSchmerz kommtvor:die<br />

Migräne-Attacken einer 13-Jährigen<br />

ebenso wie die Leiden eines Patienten<br />

mitSchmetterlingskrankheit, es geht um<br />

Krebskranke, Amputierte mit Phantomschmerzen<br />

und um Menschen, die sich<br />

selbst verletzen.<br />

Montaigne zählte den Schmerz bekanntlich<br />

zu «den grössten Übeln der<br />

Menschheit». Doch gerade weil wir ihn<br />

nicht aushalten, ist der Schmerz der<br />

beste Selbstschutz, das zeigt ein Kapitel<br />

über Menschen, die ohne Schmerzempfinden<br />

geboren werden. DerPreis für ein<br />

Leben, das keinen Schmerz kennt, ist<br />

hoch: Die durchschnittliche Lebenserwartung<br />

beträgt in diesem Fall nur gerade<br />

fünfzehn Jahre. Die Schulmedizin<br />

hadert mit dem Schmerz: Lange Zeit<br />

habe man auf Schmerztherapeuten herabgeschaut,<br />

so van der Zee. Auch in den<br />

Patientenberichtenseines Buchs spiegelt<br />

sich die Nachlässigkeit, ja Kältemancher<br />

Ärzte. «Dann lassen sie’s eben bleiben»,<br />

soll ein Arzt einer Patientin geantwortet<br />

haben, die vor Schmerzen kaum mehr<br />

gehen konnte.<br />

Der zynisch anmutende Terminus<br />

«failed back surgery syndrom» lässt<br />

ahnen, dass die Medizin Schmerzen<br />

nicht nur bekämpfen, sondern auch verursachen<br />

kann. In der Tatverhält sich gerade<br />

die orthopädische Medizin bisweilen<br />

überraschend lebensfern. In den Industriestaaten<br />

leiden, je nach Land,<br />

Viele Menschen<br />

leiden –anKopf,<br />

Rücken und Nerven.<br />

Oft sind Schmerzen<br />

Ausdruck seelischer<br />

Spannungen.<br />

zwölf bis dreissig Prozent der Menschen<br />

an chronischen Schmerzen, wobei Rückenschmerzen<br />

<strong>am</strong> häufigsten genannt<br />

werden. Obwohl man in jeder Gymnastik-oder<br />

Yogastunde <strong>am</strong> eigenen Leib erfahren<br />

kann, in welchem Mass gerade<br />

diese Schmerzen eine Folge unserer Lebensweise<br />

sind, greifen viele Ärzte<br />

schnell zum Skalpell –auch in van der<br />

Zees Buch spielt der Bewegungsmangel<br />

eine überraschend geringe Rolle.<br />

Die legendären Irrtümer der Medizin<br />

in Sachen Schmerzbehandlung dagegen<br />

beschreibt der Autordetailliert: Bis in die<br />

1980er-Jahre wurde bei Operationen an<br />

Säuglingen auf eine Narkose verzichtet,<br />

denn aufgrund der noch nicht ausgebildeten<br />

Myelinschicht ihrer Nervenbahnen<br />

hätten Säuglinge kein Schmerzempfinden,<br />

so die d<strong>am</strong>alige Lehrmeinung.<br />

Dies lässt sich aus heutiger Sicht ebenso<br />

wenig nachvollziehen wie die Tatsache,<br />

dass die Lobotomie, bei der durch eine<br />

krude Operation die Nervenverbindungen<br />

zwischen dem Frontallappen und<br />

dem restlichen Gehirn durchtrennt werden,<br />

im Jahr 1946 mitdem Nobelpreis für<br />

Medizin ausgezeichnet wurde.<br />

Enorme Stofffülle<br />

BeiSchmerzpatientenstösst die Medizin<br />

an ihreGrenzen: Wenn sich keine körperliche<br />

Ursache finden lässt, sind Schmerzen<br />

oft Ausdruck seelischer Spannungen.<br />

Schmerzen seien «auch etwas, hinter<br />

dem man sich verstecken kann und<br />

sich irgendwann für nichts mehr verantwortlich<br />

fühlt», so eine Therapeutin.<br />

«Der Patientmuss mitmachen.» Auch die<br />

Gesellschaft hat einen Einfluss auf die<br />

Schmerzwahrnehmung: Die Leute akzeptierten<br />

heute nicht mehr, «dass<br />

Schmerz zum Leben dazugehört», wird<br />

etwa ein Schmerz-Arzt zitiert.<br />

Angesichts all dieser Befunde ist es<br />

kein Wunder, dass sich viele Patienten<br />

der Alternativmedizin zuwenden. Sytze<br />

van der Zee allerdings bekennt sich zur<br />

Schulmedizin, entsprechend nachlässig<br />

behandelt er das –zugegebenermassen<br />

kaum überschaubare–Feldder alternativenHeilmethoden.<br />

Im Kapitel über Akupunktur erfährt<br />

man etwa, dass die Kommunistische Partei<br />

Chinas die Traditionelle Chinesische<br />

Medizin (TCM) in jüngster Zeit wieder<br />

stärker favorisiere, hingegen bestünden<br />

Zweifel an der Seriosität des WHO-Berichts<br />

von1979,der die Wirks<strong>am</strong>keitvon<br />

Akupunktur für eine Listevon Krankheitenbelegte.<br />

Über manche Heilmethoden<br />

der TCM schüttelten westliche Mediziner<br />

nur den Kopf, vermerkt van der Zee<br />

–nur um wenigeSeitenspätereinen Arzt<br />

mitder Überzeugungzuzitieren, dass es<br />

für Akupunktur eine biologische Erklärung<br />

geben müsse und dass man vor<br />

allem bei chronischem Schmerz viel<br />

d<strong>am</strong>iterreichen könne.<br />

Hier sprichtkein Experte, sondern ein<br />

unermüdlich recherchierender Publizist.<br />

Sytzevan der Zee ist durch einen Magendurchbruch<br />

auf das Thema Schmerz gestossen<br />

–dabei war es gerade die auffallend<br />

geringe Schmerzempfindlichkeit,<br />

die sein Interesse weckte. Seinem vielstimmigen<br />

Buch mangelt es bisweilen<br />

etwas an Stringenz, oft muss man sich als<br />

Leser selbst ein Urteil bilden. Doch die<br />

enorme Stofffülle bietet viele Anregungen<br />

in alle Richtungen der Schmerzerforschung.<br />

●<br />

GETTYIMAGES<br />

24.November 2013 ❘ NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 29


Sachbuch<br />

Verhalten DerUS-PsychologeAd<strong>am</strong> Grantplädiertfür eine altruistischeLebensführung<br />

MitHilfsbereitschaftzumErfolg<br />

Ad<strong>am</strong> Grant:Geben und Nehmen.<br />

Erfolgreich sein zum Vorteil aller.<br />

Droemer,München 2013. 448Seiten,<br />

Fr.29.90,E-Book 22.–.<br />

VonMichaelHolmes<br />

Viele glauben es, wenige sagen es laut:<br />

Wahre Hilfsbereitschaft zeigen wir gegenüber<br />

Verwandten, Freunden und<br />

Notleidenden. Aber im Geschäftsleben,<br />

wo der K<strong>am</strong>pf aller gegen alle tobt, ist<br />

Mitgefühl eine Schwäche und Rücksichtslosigkeitein<br />

Gewinn.<br />

In seinem US-Bestseller «Geben und<br />

Nehmen» widerlegt der <strong>am</strong>erikanische<br />

Psychologieprofessor Ad<strong>am</strong> Grantdieses<br />

traurige Menschenbild. Er unterscheidet<br />

drei Persönlichkeitstypen: Nehmer wollen<br />

möglichst viel für sich selbst herausholen.<br />

Geber möchten ihren Mitmenschen<br />

behilflich sein. Die meisten Menschen<br />

bewegen sich als Tauscher im Mittelfelddes<br />

Verhaltensspektrums. Fürgewöhnlich<br />

handeln sie gemäss der Devise:<br />

«Wie du mir, soich dir». Studien zufolge<br />

besitzen wir feine Antennen für diese<br />

Verhaltensmuster.<br />

Ad<strong>am</strong> Grant belegt, dass die Geber in<br />

vielen Berufen sowohl die untersten als<br />

auch die obersten Stufen der Erfolgsleiter<br />

dominieren. Sie sind überdurchschnittlich<br />

häufig Fussabtreter, aber<br />

auch Überflieger.<br />

Für diesen bemerkenswerten Forschungsbefund<br />

bietet er mehrere Erklärungen,<br />

die er mit zahlreichen Studien<br />

untermauert. Geber gehen unter, wenn<br />

sie eigene Bedürfnisse leugnen und sich<br />

alles gefallen lassen. Sie haben die Nase<br />

vorn, wenn sie viele Herzen für altruistische<br />

Ziele gewinnen und Kraft aus der<br />

Gemeinschaft ziehen. «Gebt, so wird<br />

euch gegeben» –Grants Analysen bestätigendiese<br />

biblische Weisheit.<br />

Er illustriert seine Thesen mit vergnüglichen<br />

Geschichten von Alltagshelden,<br />

die wie imMärchen zu Ruhm und<br />

Reichtum kommen, obwohl sie nur<br />

Gutes im Schilde führen. Ein Software-<br />

Unternehmer steigt mit Wohltaten zum<br />

besten Netzwerker der USA auf. Ein erfolgreicher<br />

Risikoanleger lädt Rivalen zu<br />

Konferenzen ein. Eine Lehrerin findet<br />

nach einem Burnout neuen Sinn in der<br />

harten Arbeitmit Unterschichtskindern.<br />

Untersuchungen legen nahe, dass<br />

jeder Mensch die Kunst des Gebens erlernen<br />

kann. Wer allerdings nur aus taktischem<br />

Kalkül gibt, wird den Zauber wahrer<br />

Nächstenliebe nicht erleben. Manchmal<br />

besteht die beste Erfolgsstrategie<br />

darin, keine zu haben. Dieses faktenreiche<br />

Buch ist ein Meilenstein auf dem<br />

Wegzueiner Wissenschaft vomGuten. ●<br />

Das<strong>am</strong>erikanische Buch Streit um die Zukunftder Schule<br />

Lassen die öffentlichen Schulen Amerikas<br />

Jugend im Stich?Sind standardisierteLeistungstests<br />

die besteMesslatte<br />

für die Beurteilungdes Bildungswesens?Und<br />

wersoll das Sagenhaben in<br />

den Klassenzimmern –Behörden und<br />

Lehrergewerkschaften, oder Privatschulen<br />

unterKontrolle vonStiftungen<br />

und Hedge-Funds?Diese Debatterührt<br />

an die Grundfesten der <strong>am</strong>erikanischen<br />

Gesellschaft und hatnun die Bestseller-Listen<br />

erreicht. Wurzel des Konflikts<br />

ist die Erziehungsreform von<br />

George W. Bush, die Tests vorgeschrieben<br />

hat, ohne Bildungshaushalteaufzustocken.<br />

Daran knüpft auch Barack<br />

Ob<strong>am</strong>a an, der die Privatisierungvon<br />

Schulen unterstützt und nationale Bildungsziele<br />

eingeführt hat. Diese sind<br />

ebenfalls an Tests gekoppelt und haben<br />

wegenmangelhafter Ergebnisse bereits<br />

zu der SchliessungHunderter Lehranstalten<br />

geführt.<br />

In Zeitenknapper Budgets und wachsender<br />

Einkommens-Unterschiede hat<br />

der Streitumdie Zukunft der Schulen<br />

Amerikas eine Hitzeerreicht, die sich<br />

eindrücklich an Reign of Error.The<br />

Hoaxofthe Privatization Movement<br />

and the Danger to America´s Public<br />

Schools (Knopf,396 Seiten) ablesen<br />

lässt, dem neuen Bestseller von Diane<br />

Ravitch. Die an der New York University<br />

lehrende Erziehungswissenschaftlerin<br />

gilt als führende Expertin ihres<br />

Fachs, so die «New York Review of<br />

Books» in einer positivenBesprechung.<br />

«Reign of Error» («Herrschaft des Irrtums»)<br />

ist eine K<strong>am</strong>pfschrift gegendie<br />

Privatisierungs-Bewegung. Dabei tritt<br />

Ravitchden Behauptungender «Schul-<br />

Reformer» miteiner Flut vonStatistikenund<br />

wissenschaftlichen Studien<br />

entgegen. Sie benutzt dabei einen hitzigen<br />

Ton, der den Leser zu ermüden<br />

Schulen in den USA:<br />

Privatisierung oder<br />

Reform?Autorin<br />

Diane Ravitch (unten).<br />

droht. Aber Ravitchkann belegen, dass<br />

Amerikas öffentliche Schulen den Leistungsstand<br />

ihrer Zöglinge seitJahrzehntenstetig<br />

erhöhthaben. Dennoch sieht<br />

sie dringenden Handlungsbedarf: Die<br />

Vorbereitungauf Pflichttests nehme<br />

Lehrern Zeitvon ihren eigentlichen Aufgaben<br />

weg, nämlich die Heranbildung<br />

vonUrteilsvermögen und Bürgersinn<br />

bei ihren Schülern. Zudem schlagedie<br />

Armut in den vonSchwarzen und Latinos<br />

bewohntenBezirken direkt auf die<br />

Qualitätder vonlokalen Steuern finanzierten<br />

Schulen durch. Dort bleiben die<br />

Zöglinge weiterhin und deutlich hinter<br />

GETTYIMAGES<br />

den Leistungeninwohlhabenden, vorwiegend<br />

vonWeissen bewohntenBezirken<br />

zurück.<br />

Um hier gegenzusteuern, plädiert<br />

Ravitchfür staatliche Hilfen und die<br />

Reduktion der Leistungstests. Und sie<br />

attackiert die seitder Bush-Ära gegründeten<br />

«Charter Schools», die nichtlokalen<br />

Schulbehörden unterstehen, aber<br />

dennoch aus Steuergeldern mitfinanziert<br />

werden. Dieser Aspekt lockt Investoren<br />

an, die Privatschulen als neue<br />

Profitzentren und Lehrergewerkschaftenals<br />

Störenfriede betrachten.<br />

Ravitchführt den Nachweis, dass derartigeAnstalten<br />

bei staatlichen Tests<br />

deshalb besser abschneiden, weil sie<br />

behinderteund schwererziehbareKinder<br />

abweisen und zusätzlich vonStiftungenund<br />

vermögenden Eltern unterstützt<br />

werden.<br />

Besonders scharf geht Ravitchindes<br />

mit MicheleRhee ins Gericht, die 2007<br />

bis 2010 die Schulen der <strong>am</strong>erikanischen<br />

Hauptstadt verwaltet hatund<br />

seither die Entstaatlichungdes Erziehungswesens<br />

im ganzen Land propagiert.<br />

Rhee will die Lehrergewerkschaftenentmachten,<br />

die etwa die Entlassungselbst<br />

nachweislich unfähiger<br />

Pädagogen zu blockieren pflegen.<br />

Dafür hatsie nun mit Radical. Fighting<br />

to Put Students First (Harper,286 Seiten)<br />

ebenfalls eine K<strong>am</strong>pfschrift publiziert.<br />

Diese dientüber viele Seiten auch<br />

der Darstellungihrer eigenen Leistungen.<br />

Ravitchweist dagegen nach, dass<br />

überraschend guteTestergebnisse in<br />

Washington unterRhee zumindest teilweise<br />

auf Fälschungenberuhten. Dass<br />

Ravitchdie vonvielen Eltern beklagten<br />

Probleme mitden Lehrergewerkschaftenweitgehend<br />

ignoriert, stärkt dagegendie<br />

Argumente Rhees.<br />

VonAndreas Mink ●<br />

30 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 24.November 2013


Agenda<br />

Fülscher Standardwerk derSchweizer Küche<br />

Agenda Dezember13<br />

Die Speisen wurden auf Platten angerichtet d<strong>am</strong>als, und<br />

die Platten waren voll, randvoll, genauso wie die Farbtafeln<br />

im Fülscher,die auch immer randvoll sind, denn<br />

Farbbilder waren teuer,und so musste jedes vonihnen<br />

ein ganzes Arrangement vonGerichten zeigen. Wieein<br />

Proustsches Madeleine verströmt die Neuauflage des<br />

Kochbuchs vonElisabeth Fülscher –sie istein Faksimile<br />

der 8. Auflage von1966–den Duft einer Kindheit in den<br />

5oer Jahren. Über 1700 Rezepte hatElisabeth Fülscher<br />

(1895–1970)vers<strong>am</strong>melt,jedes mit einer Nummer,dazu<br />

Bildtafeln vonHans Finsler (schwarz-weiss) und Hans<br />

Moosbrugger (Farbe). Aufunserem Bild sehen wir das<br />

RizColonial Nr.739 mit CurrysauceNr. 568. DasGanze<br />

ergänztmit genauen Anweisungen zumfachgerechten<br />

Blanchieren, Tranchieren, Dressieren, Fl<strong>am</strong>bieren und<br />

Verzieren. Werden wir es wieder brauchen?Für Auberginen<br />

mit Mayonnaise-Füllung, Spaghetti-Salat–oder<br />

vielleicht Madeleines? Kathrin Meier-Rust<br />

Elisabeth Fülscher:Kochbuch. Kommentierte Neuauflage.Herausgegeben<br />

vonSusanne Vögeli und Max<br />

Rigendinger.Hier +Jetzt, Baden 2013. 823 Seiten,<br />

50 Abbildungen, Fr.68.–.<br />

Basel<br />

Dienstag, 3.Dezember,19Uhr<br />

Monika Maron: Zwischenspiel.<br />

Lesung, Fr.17.–.<br />

Literaturhaus, Barfüssergasse<br />

3, Tel. 061 261 29 50.<br />

Donnerstag, 5. Dezember,19Uhr<br />

VeranstaltungFriedrich Glauser zum<br />

75. Todestag. Collageaus Texten und<br />

Briefen, mitBernhardEchte und Manfred<br />

Papst, Fr.17.–. Literaturhaus (s.oben).<br />

Dienstag, 10.Dezember,19Uhr<br />

FriederikeMayröcker:Vom Umhalsen<br />

der Sperlingswand. Lesungmit Musik<br />

vonPetra Ronner und PeterSchweiger,<br />

Fr.17.–. Literaturhaus (s.oben).<br />

Bern<br />

Mittwoch, 4. Dezember,20.30 Uhr<br />

Bern ist überall: Ir Chuchi. Hörbuchtaufe<br />

mitPerformance, Fr.20.–. Stauffacher<br />

Buchhandlungen, <strong>Neue</strong>ngasse 25/37,<br />

Reservation: Tel. 031313 63 63.<br />

Freitag, 13.Dezember,17Uhr<br />

Paul Niederhauser (Text) und Werner<br />

Aeschbacher (Musik): Bärndütschi Wienachtsgschichte,Fr.<br />

22.–. Ab 12 Jahren.<br />

Berner Puppentheater, Gerechtigkeitsgasse<br />

31. Reservation: Tel. 031311 95 85.<br />

Freitag, 13.Dezember,12.30 Uhr<br />

Roswitha Menke: Advent,Advent, ein<br />

jeder rennt! Adventsgeschichtenund<br />

heisse Suppe. BuchhandlungHaupt,<br />

Falkenplatz 14. Res.: Tel. 031309 09 09.<br />

Bestseller November 2013<br />

Belletristik<br />

1<br />

2<br />

Jussi<br />

3<br />

Cecelia<br />

4<br />

Joël<br />

5<br />

Jonas<br />

6<br />

Henning<br />

7<br />

Jens<br />

8<br />

Gillian<br />

9<br />

AlexCapus:<br />

10<br />

Khaled Hosseini: Traums<strong>am</strong>mler.<br />

S. Fischer. 448Seiten, Fr.31.90.<br />

Adler-Olsen: Erwartung.<br />

dtv. 576Seiten, Fr.27.90.<br />

Ahern: Die Liebe deines Lebens.<br />

FischerKrüger. 400Seiten, Fr.25.90.<br />

Dicker:Die Wahrheit über den Fall Harry<br />

Quebert.Piper. 736Seiten, Fr.36.90.<br />

Jonasson: Der Hundertjährige.<br />

Carl’sBooks. 412Seiten, Fr.21.90.<br />

Mankell: Mord im Herbst.<br />

Zsolnay. 144 Seiten,Fr. 24.90.<br />

Steiner:Car<strong>am</strong>bole.<br />

Dörlemann.224 Seiten,Fr. 27.–.<br />

Flynn: Gone Girl –Das perfekteOpfer.<br />

FischerScherz. 576Seiten, Fr.25.90.<br />

Der Fälscher,die Spionin und der<br />

Bombenbauer. Hanser. 281 Seiten,Fr. 23.90.<br />

Franz Hohler:Gleis 4.<br />

Luchterhand.224 Seiten,Fr. 23.90.<br />

Sachbuch<br />

ErhebungMedia Control im Auftrag des SBVV;12.11.2013. Preise laut Angaben vonwww.buch.ch.<br />

1<br />

2<br />

Verena<br />

3<br />

Malala<br />

4<br />

GuinnessWorld<br />

5<br />

Alain<br />

6<br />

MaryC.<br />

7<br />

Bronnie<br />

8<br />

Hans<br />

9<br />

Ruth<br />

10<br />

Christiane V. Felscherinow: Christiane F. –Mein<br />

zweites Leben. Levante, 336 Seiten,Fr. 22.90.<br />

Wermuth: Wiedersehen mit Scheich<br />

Khalid. Weltbild.175 Seiten,Fr. 28.90.<br />

Yousafzai, Christina L<strong>am</strong>b:Ich bin Malala.<br />

Droemer/Knaur.400 Seiten,Fr. 32.90.<br />

Records 2014.<br />

BibliographischesInstitut. 272S., Fr.28.90.<br />

Sutter:Stressfrei glücklich sein.<br />

Giger.200 Seiten,Fr. 37.90.<br />

Neal: Einmal Himmel und zurück.<br />

Allegria.208 Seiten,Fr. 27.90.<br />

Ware: 5Dinge,die Sterbende <strong>am</strong><br />

meistenbereuen. Arkana.351 Seiten,Fr. 29.90.<br />

Küng: Erlebte Menschlichkeit.<br />

Piper. 752Seiten, Fr.39.90.<br />

Maria Kubitschek: Anmutig älter werden.<br />

Nymphenburger. 156 Seiten,Fr. 29.90.<br />

Pascal Voggenhuber:Kinder in der geistigen<br />

Welt. Giger.200 Seiten,Fr. 35.90.<br />

Zürich<br />

Montag, 2. Dezember,20Uhr<br />

Regula Stämpfli und Bascha Mika: Schön<br />

ungeschminkt. Live-Literaturclub,<br />

Fr.25.–. Kaufleuten, Festsaal, Pelikanplatz<br />

1, Tel. 044 225 33 77.<br />

Montag, 9. Dezember,20Uhr<br />

Hans Magnus Enzensbergerliest aus seinen<br />

Werken. Fr.25.–. Kaufleuten (s.oben).<br />

Donnerstag, 12.Dezember,19Uhr<br />

ReaBrändle: Wildfremd, hautnah.<br />

Zürcher Völkerschauen. Lesungund Gespräch,<br />

Apéro. Völkerkundemuseum Uni<br />

Zürich, Pelikanstr.40. Tel. 044 6349011.<br />

Donnerstag, 12.Dezember,19Uhr<br />

Matthias Senn: Leseabend voller schräger<br />

WeihnachtsgeschichtenimSchweizerischen<br />

Landesmuseum.<br />

Reservation: Tel. 044 218 65 11.<br />

Donnerstag, 12. Dezember,<br />

20 Uhr<br />

René Lüchinger: Elisabeth<br />

Kopp.Buchvernissage<br />

mitElisabeth Kopp,Fr. 25.–.<br />

Kaufleuten (s.oben).<br />

Bücher<strong>am</strong><strong>Sonntag</strong>Nr.1<br />

erscheint<strong>am</strong>26.1.2014<br />

WeitereExemplareder Literaturbeilage «Bücher <strong>am</strong><br />

<strong>Sonntag</strong>» können bestellt werden per Fax044 258 13 60<br />

oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind<br />

–solange Vorrat –beim Kundendienstder NZZ,<br />

Falkenstrasse 11,8001Zürich, erhältlich.<br />

24.November 2013 ❘NZZ <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 31


10CFWMqw6AMBRDv2hLex9sY5LgCILgZwia_1eMOUSTpuek21Y9YmRZ93M9KgHzICDp1YtHSVPNIhGWOmTuSGcqiaImPz-AZVJo-5xABOZGjoKWXMSsD_q9tPGA-Fz3C7U2VL2EAAAA<br />

10CAsNsjY0MDAx1TUyMDQ0NAUA5O7Uhg8AAAA=<br />

D<strong>am</strong>it Ihre Neugierde gestillt<br />

wird: Wir unterstützen<br />

gute Literatur.<br />

Mehr unter www.zkb.ch/sponsoring<br />

Mit einer Karte der Zürcher Kantonalbank<br />

erhalten Sie eine Reduktion von 6.– CHF<br />

für alle «Literaturhaus»-Veranstaltungen.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!