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Alfred Kubin, Die andere Seite (1909) - IDF

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G.M. Rösch / Roman im 20. Jahrhundert I – VL 5: <strong>Die</strong> <strong>andere</strong> <strong>Seite</strong> 4<br />

Kaiserreichs und der frühen Weimarer Republik. Frankfurt/M. u.a 1990, bes. 224-<br />

244.<br />

Herkules Bell ist daran interessiert, diese Provinz zu erobern; er verkörpert nicht ausschließlich<br />

Fortschritt und Vernunft an sich, sondern deren kapitalistische Varianten. Beschrieben<br />

wird er als Kraftmensch (vgl. die Beschreibung seiner Physiognomie und seines<br />

muskulösen Körpers, 159 und 175) und Egoist, der amoralische und verbrecherische Züge<br />

hat (er ermordet den Grenzwächter, 242-247, und schießt auf seine Anhänger, 217).<br />

Zugleich steht er in innerer Wesensverwandtschaft zu Claus Patera, weil er in ihm den<br />

ebenbürtigen Gegner erkennt:<br />

Warum muß er dem Meister, den er so haßt, im geheimen doch glühende Bewunderung<br />

zollen? In dieser Frage liegt die ganze Tragik dieses Mannes. (176)<br />

Patera verkörpert Vergangenheit, Resignation, Tod. In der allein aus Absonderlichkeiten<br />

und Antiquitäten errichteten Stadt Perle ist diese Eigenschaft der Figur auf die Topographie<br />

der Stadt übertragen. Wann immer er beschrieben wird, tritt er schlafend, leblos oder<br />

als Toter auf:<br />

Zugleich überfiel mich eine entsetzliche Schwäche. Starr und unverwandt mußte ich<br />

diesen fürchterlichen Blicken folgen. Das waren überhaupt keine Augen, das ähnelte<br />

zwei blanken, hellen Metallscheiben, die glänzten wie kleine Monde. Ausdruckslos<br />

und ohne Leben waren sie auf mich gerichtet. (120)<br />

In ein schleierhaftes, silbergraues Gewand gehüllt, stand Patera aufrecht da – stand<br />

schlafend da. Ein unbezähmbares Grauen empfand ich vor ihm. In den tiefen grünlichen<br />

Schatten seiner Augen lag übermenschliches Leiden, [...]<br />

Da setzte sich der Herr auf sein erhöhtes Ruhebett und warf seinen Mantel ab – nun<br />

saß er aufgerichtet mit entblößtem Oberkörper, die langen Locken fielen ihm auf die<br />

Schultern, ich mußte seine breiten, edlen Formen bewundern. <strong>Die</strong>ser schimmernde,<br />

weiße Leib glich einer Statue – (199).<br />

3. Verbindungen zu den Texten Kafkas<br />

Auf einer thematischen Ebene gehört die absurde Bürokratie in Perle zu den Analogien<br />

zum Roman Das Schloß (1922); beide Protagonisten versuchen vergeblich, eine Audienz<br />

zu erhalten; Schläfrigkeit und groteskes Verhalten zeichnen die Beamten des Schlosses<br />

aus wie auch die Bewohner Perles.<br />

Einen bemerkenswerten Fixpunkt in der Genealogie von Tierdarstellungen (vgl. auch Wilhelm<br />

Hauff, Der Affe als Mensch; Wilhelm Busch, Fipps der Affe) bildet der Affe Giovanni<br />

Battista, an den der Affe Rotpeter aus dem Bericht für eine Akademie stark erinnert.<br />

Eine Schlüsselszene, die auch die Konstitution der Hauptfiguren und die Erzählsituation<br />

erhellt, ist in <strong>Die</strong> <strong>andere</strong> <strong>Seite</strong> der Kampf der beiden Protagonisten, den der Erzähler wie<br />

im Traum beobachtet, um dann in Panik zu fliehen.<br />

Bell und Patera gehören in einer Weseneinheit von Traum und Vernunft, von Vergangenheit<br />

und Zukunft, zusammen; daher bleibt der Ausgang des Kampfes offen (199).

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