Anna Seghers, Transit (1944; dt. 1948) - IDF
Anna Seghers, Transit (1944; dt. 1948) - IDF
Anna Seghers, Transit (1944; dt. 1948) - IDF
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G.M. Rösch / Roman im 20. Jahrhundert I - VL 13: <strong>Transit</strong> 1<br />
TRANSIT (<strong>1944</strong>)<br />
In knappen Umrissen ist das der politische und soziale Hintergrund,<br />
vor dem der Roman ‚<strong>Transit</strong>‘ zu sehen ist. Eine<br />
solche Darstellung mag die Interpretation im einzelnen erleichtern.<br />
Ersetzen kann sie sie selbstverständlich nicht. ‚Bei<br />
einem Schriftsteller ist die sogenannte Widerspiegelung der<br />
Wirklichkeit nie ein braves Spiegelbild‘: diesen Satz, den<br />
<strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong> im Hinblick auf ‚<strong>Transit</strong>‘ geschrieben hat, gilt<br />
es auch hier besonders zu bedenken.<br />
Hans Albert Walter,<br />
Flucht aus Frankreich, hier 140.<br />
<strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong> (d.i. Netty Reiling), <strong>Transit</strong>. Roman. Mit einem Nachwort von Sonja Hilzinger.<br />
Berlin 1993.<br />
1. Erzählperspektive und Zeitgerüst<br />
1. 1. Fokussierte Perspektive / Ich-Erzähler<br />
Die Erzählsituation ist als Dialog mit einem fiktiven Zuhörer entworfen. Der namenlose Ich-<br />
Erzähler ist als Handelnder Teil der Geschichte; durch diese eingeschränkte Perspektive<br />
bleiben dem Leser weite Teile der Vorgeschichte verborgen oder werden bewußt als<br />
Leerstelle markiert:<br />
Das Ganze war eine ziemlich vertrackte Geschichte mit ziemlich vertrackten Menschen.<br />
Ich fand auch, daß einer darunter mir selbst glich. Es ging in dieser Geschichte<br />
darum – ach nein, ich werde Sie lieber nicht langweilen. Sie haben ja in Ihrem<br />
Leben Geschichten genug gelesen. (26)<br />
Er nennt seinen Namen nicht und inszeniert eine Situation doppelter Ambiguität, indem er<br />
den Koffer und die Papiere des deutschen Schriftstellers Seidler an sich nimmt, der den<br />
Autorennamen Weidel führte (57f.).<br />
Er wird zudem für den „Kuli“-Adlatus von Weidel gehalten (73f., 160), den seine Freunde<br />
wie seine Frau noch am Leben glauben (267f).<br />
Die biographisch-authentischen Anteile dieser Figur Seidler-Weidel beziehen sich auf den<br />
Exilautor Ernst Weiss. Er wurde am 28. August 1882 in Brünn geboren und studierte Medizin<br />
in Berlin; als Regimentsarzt wurde er eingezogen, hielt während des Ersten Weltkriegs<br />
nahen, freundschaftlichen Kontakt zu Franz Kafka. Als Jude bedroht, floh er 1934<br />
nach Paris, wo er vereinsamt und arm lebte, und tötete sich am 15. Juni 1940 selbst, in<br />
panischer Angst vor den deutschen Truppen.<br />
Zwischen 1934 und 1939 schrieb er vier Romane, darunter Der Augenzeuge (1938 entstanden,<br />
aber erst 1963 erschienen). Darin erzählt er die Geschichte eines Artzes, der<br />
den psychisch gestörten Adolf Hitler behandelt und sich die Frage stellen muß, wie weit er<br />
zu dessen Aufstieg beigetragen hat.
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1. 2. Zeitstruktur<br />
Anders als bei Klaus Mann tritt die Chronologie der Ereignisse sehr in den Hintergrund.<br />
Historische Daten werden nur soweit erwähnt, als sie Auswirkungen auf die Existenz der<br />
Figuren haben (komische Szene S. 10). Die Besetzung von Frankreich im Herbst 1940<br />
bedrohte die dort lebenden Flüchtlinge, weil § 19 des Waffenstillstandsvertrages verlangte,<br />
daß die Regierung Ausländer auf Verlangen auszuliefern habe.<br />
Der Erzähler rollt die Ereignisse anti-chronologisch auf, denn er berichtet zu Beginn den<br />
Untergang des Schiffes, auf dem Marie abgefahren ist.<br />
2. Mythos als unterliegendes Konzept<br />
2. 1. Symbolik der Orte<br />
Die Orte (die authentisch sind, etwa die Straßenzüge in Marseille) werden stark kontrastiert.<br />
Schon zu Beginn weist der Erzähler auf zwei gegensätzliche Ausblicke hin (Feuer<br />
und Pizzaofen versus Hafen und Fort Saint-Nicolas). Die Hotelzimmer, Cafés sowie die<br />
Warteräume der jeweiligen Institutionen werden gezeichnet als Orte der Hierarchie, der<br />
Vereinzelung und der Kälte (Symbol dafür sind Wind und Kälte).<br />
Auf dem Heimweg über den Cours Belsunce rief jemand aus der Glasveranda des<br />
Cafés Rotonde meinen alten Namen. (155)<br />
So früh ich kam, schon standen Frauen genug vor dem verschlossenen Laden, in<br />
Tücher und Kapuzen vermummt, denn es war windig und kalt. [...]<br />
Die Frauen waren zu müde und steif, um zu schimpfen. Sie dachten an nichts als an<br />
den Erwerb der Sardinenbüchsen. [...]<br />
Auf einmal kam auf der anderen Seite der Gasse, vom Boulevard d’Athènes her,<br />
Marie in ihrer spitzen, grauen Kapuze, blaß vor Kälte. (162)<br />
Die Lebensräume der Familien Binnet hingegen bieten Kommunikation, Wärme und Nahrung<br />
(gemeinsames Essen 60, Pfirsichfarm279), vor allem aber Hilfe und Solidarität.<br />
Sprechend dafür ist die Szene, in der ein deutscher Arzt dem Jungen hilft.<br />
2. 2. Mythische Figuren<br />
Von Anfang an werden den Wartenden wie den Beamten, die mit der Ausstellung der Visa<br />
zu tun haben, Züge des Toten und Gespenstischen bzw. Mythischen zugewiesen<br />
Eine Figur, der Kapellmeister, wird eingeführt als der Gott des Totenreiches: ‚Er trug bei<br />
Tag eine dunkle Sonnenbrille, die seine Totenkopf-Augenhöhlen bodenlos machte. [...] Ich<br />
würde schon fertig werden, ich, mit diesen Dämonen, den Konsuln.‘ (70; ebenso 113, sein<br />
absurder Tod 135).<br />
Auch der Ort Marseille erhält eine mythische Dimension: ‚Es war uraltes Hafengeschwätz,<br />
so alt wie der Alte Hafen selbst und noch älter.‘ (89)
G.M. Rösch / Roman im 20. Jahrhundert I - VL 13: <strong>Transit</strong> 3<br />
3. Bewertung des Exils<br />
Diese Ambiguität der Erzählperspektive und Wissenshorizonte der Figuren korrespondieren<br />
mit dem grundlegenden Thema des Buches, der Ungewißheit um den Status und die<br />
weiteren Lebensperspektiven als Exilanten und Flüchtlinge.<br />
Die abfahrenden Schiffe tragen ironische Namen (Republica, Esperanca, Passionara, 32),<br />
wenn man das Ende und den Erzählerkommentar dagegen hält:<br />
Da kam mir die Nachricht zu Ohren, die ‚Montreal‘ sei untergegangen. Mir kam es<br />
vor, das Schiff sei in uralten Zeiten abgefahren, ein Sagenschiff, ewig unterwegs,<br />
dem Fahrt und Untergang zeitlos anhaften. [...] Marie konnte ja wieder auftauchen,<br />
wie Schiffbrüchige unversehens durch eine wunderbare Rettung an einer Küste erscheinen,<br />
oder wie der Schatten eines Toten mit Opfer und inbrünstigem Gebet der<br />
Unterwelt entrissen wird. (280)<br />
Das historisch erfahrene und politisch zu begründende Exil wird als Einzelfall, als Beispiel<br />
einer grundlegenden existenziellen Disposition beschrieben: Ortlosigkeit, Flucht, Tod.<br />
Wenden oder ändern kann diese Disposition nur der einzelne durch einen Willensakt und<br />
Entschluß. Der Erzähler gibt sein Ticket zurück und überlebt; er schließt sich der Solidarität<br />
der Binnets an, mit dem Wunsch, Widerstandskämpfer zu werden:<br />
Ich will jetzt Gutes und Böses hier mit meinen Leuten teilen, Zuflucht und Verfolgung.<br />
Ich werde, sobald es zum Widerstand kommt, mit Marcel ein Knarre nehmen. (279)<br />
Literatur<br />
Barkhoff, Jürgen: Erzählung als Erfahrungsrettung. Zur Ich-Perspektive in <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong> Exilroman<br />
‚<strong>Transit</strong>’. In: Exilforschung 9 (1991), 218-235.<br />
Böhle, Ingo: Studie zur Märchenebene in <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong>' Roman '<strong>Transit</strong>'. In: Exil 15 (1995), Heft1,<br />
75-89.<br />
Böhmel Fichera, Ulrike: Realismus "heute" oder Realismus "überhaupt" : Über die Möglichkeiten<br />
realistischen Schreibens im Exil. <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong>s Exilromane 'Das siebte Kreuz' und '<strong>Transit</strong>'.<br />
In: Istituto Universitario Orientale : <strong>Anna</strong>li / Sezione Germanica. N.S. - Napoli<br />
27(1984) 199-221.<br />
Budde, Bernhard: Geschichtlicher Moment und Permanenz des irdischen Zustands. Überlegungen<br />
zu <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong>’ Roman ‚<strong>Transit</strong>’. In: Argonautenschiff 9 (2000), 147-163.<br />
Engel, Peter (Hrsg.): Ernst Weiß. Frankfurt 1982 (suhrkamp taschenbuch materialien 2020).<br />
Evelein, Johannes F.: Männergedanken? <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong>' <strong>Transit</strong> and the Portrayal of Gender.<br />
In:Selecta:-Journal-of-the-Pacific-Northwest-Council-on-Foreign-Languages 19, 1998; 12-23<br />
Gnad, Markus: Absurdität, Identität, Solidarität : Existentialistische Motive in <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong>' Exilromanen<br />
'Das siebte Kreuz' und '<strong>Transit</strong>'. Regensburg 1998.<br />
Hilzinger, Sonja: Gedächtnis der Verluste. Spuren von Exilierung und Emigration im Werk von<br />
<strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong>. In: Juni (2000), Heft 32, 61-72<br />
Lee, Kyung-Boon: Zur Handlungskonstruktion und Motivik von <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong>' Exilroman ‚<strong>Transit</strong>’.<br />
In: Argonautenschiff 1 (1992), Berlin u.a., 129-140.<br />
Lyons, Mary: „Ein Urwald von Dossiers“. Kafkaesque imagery in '<strong>Transit</strong>'. In: Wallace, Ian (Hg.):<br />
<strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong> in perspective. Amsterdam u.a. 1998, 101-115.<br />
Matt, Peter von: Ein Zeichen aus der Tiefe : Über <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong>, '<strong>Transit</strong>' (<strong>1944</strong>). In: Romane von<br />
gestern - heute gelesen. 1990. Bd 3, 322-328.<br />
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Müller-Salget, Klaus: Totenreich und Lebendiges Leben. Zur Darstellung des Exils in <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong>'<br />
Roman ‚<strong>Transit</strong>’. In: Koepke, Wulf; Winkler, Michael (Hg.): Exilliteratur 1933-1945.<br />
Darmsta<strong>dt</strong> 1989, 333-354.
G.M. Rösch / Roman im 20. Jahrhundert I - VL 13: <strong>Transit</strong> 4<br />
Neuhaus-Koch, Ariane: Krisen des Exils. <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong>' Exilroman ‚<strong>Transit</strong>’. In: Rupp, Gerhard<br />
(Hg.): Klassiker der deutschen Literatur. Epochen-Signaturen von der Aufklärung bis zur<br />
Gegenwart. Würzburg 1999, 232-250.<br />
Olschner, Leonard: Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen : lyrische Tendenzen zwischen ‚Ewiger<br />
Vorrat deutscher Poesie’(1926) und '<strong>Transit</strong>' (1956). In: Saul, Nicholas (Hg.): Schwellen.<br />
Germanistische Erkundungen einer Metapher. Würzburg 1999, 185-195.<br />
Spies, Bernhard: Wo kommen die Geschichten her? Wirklichkeitserfahrung, gesellschaftliche Zielvorstellungen<br />
und die Ästhetik des Erzählens bei <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong>. In: Argonautenschiff 10<br />
(2001), Berlin u.a., 129-143.<br />
Thielking, Sigrid: Warten - erzählen - überleben : vom Exil aller Zeiten in <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong>' Roman<br />
'<strong>Transit</strong>'. In: Argonautenschiff - Berlin u.a. 4(1995) 127-138.<br />
Thomaneck, Jürgen K.A.: Tenochtitlán, time, '<strong>Transit</strong>' : <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong>'s novel of exile. In: German<br />
life and letters - Oxford u.a. 45 (1992) N.3, 261-267.<br />
Trapp, Frithjof: Zeitgeschichte und fiktionale Wirklichkeit : '<strong>Transit</strong>'. In: Exil - Frankfurt am Main<br />
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Walter, Hans-Albert: Flucht aus Frankreich. In: Batt, Kurt (Hrsg.): Über <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong>. Ein Almanach<br />
zum 75. Geburtstag. Mit einer Bibliographie. Berlin, Weimar 1975, 98-140.<br />
Walter, Hans-Albert: <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong> Metamorphosen : '<strong>Transit</strong>'. Erkundungsversuche in einem<br />
Labyrinth. Frankfurt a.M. u.a., 1984.<br />
Walter, Hans-Albert: Zeitgeschichte, Psychologie des Exils und Mythos in <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong>‘ Roman<br />
'<strong>Transit</strong>' : Anmerkungen zu Interpretationsproblemen bei der deutschen Exilliteratur. 1986.<br />
11/56. In: Deutschsprachiges Exil in Dänemark nach 1933.<br />
Wolf, Christa: Im Widerspruch. Zum 100. Geburtstag von <strong>Anna</strong> <strong>Seghers</strong>. In: Sinn und Form. Beiträge<br />
zur Literatur 53 (2001), Heft 1, 18-30.