Martin Walser, Tod eines Kritikers (2002) - IDF
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G.M. Rösch / Roman im 20. Jahrhundert II – VL 13: <strong>Tod</strong> <strong>eines</strong> <strong>Kritikers</strong> 1<br />
TOD EINES KRITIKERS (<strong>2002</strong>)<br />
Der Roman entsteht unwillkürlich. Er kündigt sich an als eine<br />
zunehmende Notwendigkeit, auf eine Erfahrung zu antworten.<br />
Auf eine leidvolle Erfahrung meistens. Auf einen Mangel<br />
eben. [...]<br />
Gesellschaftlich sinnvoll wird der Roman erst durch den Leser.<br />
An den man beim Schreiben nicht denken muss. Nicht<br />
denken kann. Man hat mit der Sprache zu tun. Die ist unser<br />
mögliches Gemeinsames. Der Leser kann mit einem Buch<br />
nur etwas anfangen, wenn er Erfahrungen gemacht hat, die<br />
der Autor auch gemacht und mit dem Buch beantwortet hat.<br />
So kann Bewusstsein entstehen. Vielleicht sogar Sinn. Nur<br />
eben, dieser Sinn ist nicht absichtsvoll produzierbar, er kann<br />
sich nur von selbst ergeben: im Leser, durch den Leser. Er<br />
ist vielleicht mehr Produkt des Lesers als des Autors.<br />
<strong>Martin</strong> <strong>Walser</strong>, Über das Selbstgespräch. Ein flagranter Versuch.<br />
In: DIE ZEIT, 13.1.2000, S. 42-43.<br />
<strong>Walser</strong>, <strong>Martin</strong>: <strong>Tod</strong> <strong>eines</strong> <strong>Kritikers</strong>. Roman. Frankfurt <strong>2002</strong>.<br />
1. Handlungs– und Figurenkonstellation des Romans<br />
André Ehrl-König: Diese Figur des angeblich ermordeten <strong>Kritikers</strong>, der jedoch am Samstag<br />
vor Fasching wieder lebend auftaucht (178), ist durchzogen von nachvollziehbaren<br />
und belegbaren Analogien zur historischen Person des Literaturkritikers Marcel Reich-<br />
Ranicki.<br />
Ludwig Pilgrim: Siegfried Unseld, der Leiter des Suhrkamp Verlages. <strong>Walser</strong> brachte 1955<br />
dort das erste Buch heraus und hielt eine über 30 Jahre enge Freundschaft mit ihm.<br />
Julia Pelz: Ulla Berkéwicz, Schauspielerin, dann die Frau von Unseld und seit seinem <strong>Tod</strong><br />
Leiterin des Suhrkamp Verlags. Dort veröffentlichte sie ihren Roman ‚Engel sind schwarz<br />
und weiß‘ 156. Sie war er schreibt der Figur gespielte Liebe zu 157.<br />
Wesendonck: Jürgen Habermas, international renommierter Autor im Suhrkamp-Verlag.<br />
Professor Silberfuchs (genannt Silbenfuchs): Joachim Kaiser, liefert die Hintergrundinformationen,<br />
ist daher eine strategische Figur im Erzählen.<br />
DAS-Magazin: FAZ.<br />
Neben den verschlüsselten Figuren stehen die erfundenen Gestalten und die authentischen<br />
Personen, diese Mischung provoziert den Leser zum weitergehenden Erkennen<br />
und zu Rückschlüssen auf die Realität.<br />
2. Erzählperspektive / Narrative Mittel<br />
2. 1. Die Techniken des Schlüsselromans
G.M. Rösch / Roman im 20. Jahrhundert II – VL 13: <strong>Tod</strong> <strong>eines</strong> <strong>Kritikers</strong> 2<br />
Bezüge zur authentischen Wirklichkeit liegen ganz offensichtlich im ganzen Roman vor; in<br />
einem solchen Fall spricht man von ‚Schlüsselroman‘. Allerdings ist darunter nicht die direkte<br />
Wiedergabe authentischer Ereignisse und Personen zu verstehen, sondern ihre<br />
Einfügung in einen fiktionalen Zusammenhang. Dabei kommt es wesentlich auf die Differenz<br />
von Faktizität und Fiktionalität an.<br />
Hinweise auf Fiktionalität liegen in den zahlreichen Anspielungen auf literarische Figuren<br />
und in den intertextuellen Verweisen, z.B.: Der Arzt von Mani Mani heißt Swoboda (wie<br />
eine Figur in ‚Meine Name sei Gantenbein’); der Kommissar heißt Wedekind;<br />
2. 2. Die Relativierungen durch die Erzählerfigur<br />
Die Erzählerfigur ist in drei Figuren aufgesplittert:<br />
Michael Landolf: Ist melancholisch, arbeitet am Thema der authentischen Sprache: ‚Von<br />
Seuse zu Nietzsche’ (190). Interessiert sich wie Julia Pelz für Mystik und Kabbala (13).<br />
Hans Lach: Steht unter Mordverdacht und wird daher verhaftet; Landolf übernimmt<br />
‚Übermittlungen’, indem er Personen aufsucht und befragt.<br />
Die Identität zwischen beiden wird schon früh angelegt:<br />
Sind Hans Lach und ich wirklich befreundet? Der bekannte, fast populär bekannte<br />
Hans Lach und der im Fachkreis herumgeisternde Michael Landolf? Vielleicht sind<br />
wir nur befreundet, weil wir keine fünf Minuten (zu Fuß) von einander entfernt wohnen.<br />
(11)<br />
Die Versuchung, unter dem Namen Michael Landolf weiterzuschreiben, war groß.<br />
[...] Durch das, was mir passiert war oder was ich mir geleistet hatte, war in mir ein<br />
Bedürfnis gewachsen, aus meinem Namen auszuwandern wie aus einer verwüsteten<br />
Stadt. (187).<br />
Mani Mani: Er erscheint schon in ‚Finks Krieg‘ (1996) als eine konstruierte Spiegelfigur;<br />
der Name deutet auf die psychische Störung der Manie, Triebsteigerung und Enthemmung.<br />
Im dritten Teil bringt er sich um und richtet einen Abschiedsbrief an Landolf-Lach<br />
(194-197).<br />
3. Diskursgeschichtlicher Kontext<br />
3. 1. Medienkritik<br />
Der Roman zeigt anschaulich die Macht der Kunstrichter im Medienverbund am Beispiel<br />
von Marcel Reich-Ranicki gezeigt; auch der Konflikt zwischen der vieldeutig argumentierenden<br />
Erzählsprache und dem pointierten Wortgebrauch der Medien (z.B. wiederkehrende<br />
Formeln, Schlagwörter) wird im Roman thematisiert,<br />
Daher kann man die Abrechnung mit der Person <strong>eines</strong> einzelnen <strong>Kritikers</strong> auch durchaus<br />
als allgemeine Kultur- und Medienkritik des Autors <strong>Walser</strong> verstehen, der hier seine jahrzehntelangen<br />
Erfahrungen mit dem Literaturbetrieb auf den Punkt bringt. Aus der Perspektive<br />
von Silberfuchs wird diese Meinung in den Text eingefiltert:<br />
Ehrl-König hat Lach sicher nicht mehr niedergemacht, als er Böllfrischgrasshandke<br />
niedergemacht hat. Böll und Frisch haben ihn, jeder für sich und ohne vom anderen<br />
zu wissen, Scheißkerl genannt. Ehrl-König rühmt sich dessen laut und gern. Böll ha-
G.M. Rösch / Roman im 20. Jahrhundert II – VL 13: <strong>Tod</strong> <strong>eines</strong> <strong>Kritikers</strong> 3<br />
be ihm nach der Scheißkerl-Taufe herzlichst die Hand gedrückt. Frisch sei sicher zurückhaltender<br />
geblieben. Grass hat ihm Zeichnungen geschenkt. [...] Schließlich war<br />
er der Mächtigste, der je in der Literaturszene Blitze schleuderte. Im DAS-Magazin<br />
einer seiner Chorknaben: Ehrl-König, der einflussreichste Kritiker in der Geschichte<br />
der deutschen Literatur. So etwas spricht sich herum. Jeder tönt da gern noch mit.<br />
Dass er sich mit Lessing verwechselte, darf man ihm nicht übel nehmen. Er war von<br />
seinen eigenen Blitzen geblendet. (52).<br />
Die Kritikerrunde von Ehrl-König mit dem Namen ‚Sprechstunde‘ spiegelt dessen Magazin<br />
‚Das literarische Quartett‘, jedoch sehr sexualisiert in den Namen und Vorgängen:<br />
Ich habe das Auftrittszeremoniell studiert. [...] Beatrice wartet, bis er über zwei weitere<br />
Stufen zu seinem Sessel steigt. [...] Sobald er sitzt, geht Beatrice zu einem Tisch,<br />
holt von dort ein Buch und reicht es ihm. [...] Beatrice selber setzt sich hinten an die<br />
Seite, verfolgt alles aufmerksam und scheint jederzeit bereit zu weiteren Diensten.<br />
(34)<br />
Im Roman kommt eine Phantasie Lachs vor, die an Orwell angelehnt ist:<br />
Aber die Großen Vier, die die ‚Gläserne Manege’ erfunden hatten, waren die Größten.<br />
[...] (202-207)<br />
3. 2. Literarischer Antisemitismus<br />
Literarischer Antisemitismus ist ein Stück schwerer dingfest zu machen als Antisemitismus<br />
in der alltäglichen Kommunikation. Merkmale lassen sich nur im Kontext <strong>eines</strong> konkreten<br />
Textes und mit Rücksicht auf seine Gesamtwirkung verlässlich analysieren.<br />
Kennzeichen:<br />
(1) Figuren mit Klischees aus der antisemitischen Tradition mit herabsetzenden Eigenschaften<br />
ausgestattet, ohne dass auf der Ebene der Figuren- bzw. Erzähleraussage diese<br />
Klischees distanzierend betrachtet werden. Physiognomie, Namen und Sprache bei jüdischen<br />
Figuren können sich zeitabhängig wandeln. Figuren der Judenfeindschaft sind u.a.<br />
die schöne Jüdin, die lächerlichen und verschlagenen Juden.<br />
(2) Konnotationen, Appelle, Metaphern und Vergleiche, die Juden diffamieren, Hyperbeln<br />
und Antonyme mit der Zusammensetzung ‚Juden‘ (Viehjuden, Judenarzt), stereotype<br />
Epitheta ornantia und Synekdochen (der Jude!), mit denen jüdische Figuren stereotypisiert<br />
werden können.<br />
(3) Namen und die linguistische Herabsetzung durch Jüdisch, wobei es nicht darauf ankommt,<br />
wie genau es beobachtet sein kann, sondern wie es für die jeweilige Figur eingesetzt<br />
ist (z.B. zur Verspottung, als Zeichen von Unbildung).<br />
3. 3. Grundsätzliche Problematik: Grenzen <strong>eines</strong> Tabus<br />
Schon in ‚Ohne einander‘ (1993) erschien eine Figur Willi André König, von den Kollegen<br />
‚Erlkönig‘ genannt. Hier entsteht eine intertextuelle Spur, der Bezug zur realen Person ist<br />
ähnlich.<br />
‚Die Verteidigung der Kindheit’ (1991) bezieht sich auf den Brand Dresdens am 13./14.
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Februar 1945; das Ereignis ist erzählt mit Hinweisen auf Brandopfer, verkohlte Leichen,<br />
deren Verladung, damit auf das Szenario der Vernichtungslager. Deutsche und jüdische<br />
Opfer des Krieges werden auf eine gleiche Ebene gestellt.<br />
‚Ein springender Brunnen’ (1998) führt detailliert vor, wie die persönliche Erinnerung mit<br />
der retrospektiven Geschichtsschreibung unvereinbar ist. In ‚Über Deutschland reden’<br />
(1988) war das Thema schon angesprochen, im Roman stehen zu Beginn theoretische<br />
Reflexionen über die Möglichkeit der authentischen Erinnerung.<br />
<strong>Walser</strong> beharrt auf „einer individualistischen Auffassung von Schuld, Auseinandersetzung,<br />
Erinnerung“ (Lorenz 379) und macht den Unterschied von kollektiver und individueller Erinnerung<br />
deutlich.<br />
4. Der exemplarische Fall<br />
4. 1. Der ‚Fall <strong>Walser</strong>‘: Ein Kalendarium<br />
29. Mai <strong>2002</strong><br />
Frank Schirrmacher, einer der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, begründete in einem offenen<br />
Brief, warum die Redaktion den Text nicht bringen werde:<br />
Ich aber halte Ihr Buch für ein Dokument des Hasses. Und ich weiß nicht, was ich befremdlicher finden soll:<br />
die Zwanghaftigkeit, mit der Sie Ihr Thema durchführen oder den Versuch, den so genannten Tabubruch als<br />
Travestie und Komödie zu tarnen. Nicht wahr, Sie haben das "Schlagt ihn tot, den Hund, er ist ein Rezensent"<br />
nur wörtlich genommen? (...)<br />
Ihr Buch ist nichts anderes als eine Mordphantasie. (...) Sie haben sich eine Art mechanisches Theater aufgebaut,<br />
in dem es möglich ist, den Mord auszukosten, ohne ihn zu begehen. Doch es geht hier nicht um die<br />
Ermordung des <strong>Kritikers</strong> als Kritiker, wie es etwa bei Tom Stoppard geschieht. Es geht um den Mord an einem<br />
Juden. Die Signale sind unübersehbar, und sie sind unheimlich. (...)<br />
Aber das alles ist nichts gegen den Clou dieses Buches. Mord, Mordkommission, das alles spielt hier immer<br />
mit der Erinnerung an den Massenmord der Nazis. Doch der Kritiker ist nicht tot. Seine Frau, die kettenrauchend,<br />
kaum deutsch, sondern Französisch sprechend, unter ihm leidet, weiß es die ganze Zeit. Warum? Sie<br />
sagt es, ein Champagnerglas in der Hand: "Umgebracht zu werden passt doch nicht zu André Ehrl-König."<br />
Es ist dieser Satz, der mich vollends sprachlos macht. Er ist Ihnen so wichtig, dass er zwei Mal in dem Roman<br />
vorkommt. Auf dem Hintergrund der Tatsache, dass Marcel Reich-Ranicki der einzige Überlebende<br />
seiner Familie ist, halte ich den Satz, der das Getötetwerden oder Überleben zu einer Charaktereigenschaft<br />
macht, für ungeheuerlich. (...)<br />
Verstehen Sie, dass wir keinen Roman drucken werden, der damit spielt, dass dieser Mord fiktiv nachgeholt<br />
wird? Verstehen Sie, dass wir der hier verbrämt wiederkehrenden These, der ewige Jude sei unverletzlich,<br />
kein Forum bieten werden?<br />
29. Mai <strong>2002</strong><br />
<strong>Walser</strong> erklärt in einem Interview im Deutschlandradio:<br />
„Das ist natürlich ein unmöglicher Vorgang, über ein Buch zu schreiben, das noch gar nicht da ist. Das ist<br />
vollkommen skandalös.“<br />
Vgl. http://www.dradio.de/cgi-bin/es/neu-fazit/396.html<br />
In der Neuen Zürcher Zeitung bewertete er den neuen Roman von <strong>Martin</strong> <strong>Walser</strong> als "miserable Literatur".<br />
Dem Blatt zufolge erhielt Reich-Ranicki das Manuskript am Dienstagabend, seine erste Lektüre kommentierte<br />
er mit den Worten: "Es ist wirklich ungeheuerlich." Er verdamme den "antisemitischen Ausbruch", der<br />
offenkundig sei.<br />
13. Juni <strong>2002</strong><br />
Der umstrittene Roman kursierte bereits vor der Veröffentlichung komplett im Internet. Das Manuskript sei<br />
als 400 Kilobyte große Datei auf dem Server einer US-Internetfirma hinterlegt. Der Suhrkamp-Verlag hatte<br />
dies nicht genehmigt; er hatte nach dem Aufkommen der Debatte um <strong>Walser</strong>s Buch lediglich das Manuskript<br />
an zahlreiche Journalisten per E-Mail verschickt.
G.M. Rösch / Roman im 20. Jahrhundert II – VL 13: <strong>Tod</strong> <strong>eines</strong> <strong>Kritikers</strong> 5<br />
26. Juni<br />
Der Roman erscheint, früher als geplant, im Suhrkamp Verlag. Startauflage: 50.000 Exemplare. Inzwischen<br />
wurden 160.000 Exemplare ausgeliefert.<br />
Ruth Klüger<br />
Klüger, die seit Jahrzehnten mit <strong>Walser</strong> befreundet ist und in Kanada lebt, wirft ihm in der "Frankfurter Rundschau"<br />
vor: "Ein Deutschlandbild mit bösartigen Juden - oder meinetwegen dem bösen Juden -, aber ohne<br />
Judenfeindlichkeit, ist, schlicht ausgedrückt, verlogen." Als Jüdin, die sich beruflich mit deutscher Literatur<br />
befasse, fühle sie sich auch persönlich betroffen.<br />
Jan Philipp Reemtsma bezeichnete den Roman als "literarische Barbarei". In der "Frankfurter Allgemeinen<br />
Zeitung" wertet er das Buch als "antisemitisch".<br />
11. Juli<br />
Bei seiner Ernennung zum Ehrendoktor der Münchner Maximilians-Universität nutzte Reich-Ranicki seine<br />
Dankesrede zu einer neuen heftigen Attacke: "Das ist ein Buch, das gegen die Juden hetzt", sagte der 82-<br />
Jährige Literaturkritiker. Es folge teilweise dem Vorbild des Nazi-Kampfblatts "Der Stürmer". Er sei "erfüllt von<br />
Trauer und Angst um dieses Land, dessen Bürger ich bin". Der Suhrkamp-Verlag, der den Roman herausbrachte<br />
sei nun "besudelt".<br />
Zusammenfassungen der Debatte finden sich u.a. unter:<br />
http://www.mdr.de/kultur/literatur/164170.html<br />
http://www.wdr.de/tv/kulturweltspiegel/<strong>2002</strong>0609/4.html<br />
4. 2. Konklusionen<br />
(1) Der prekäre Status des Textes<br />
29. Mai <strong>2002</strong><br />
<strong>Walser</strong> erklärt in einem Interview im Deutschlandradio:<br />
„Das ist natürlich ein unmöglicher Vorgang, über ein Buch zu schreiben, das noch gar nicht da ist. Das ist<br />
vollkommen skandalös.“<br />
Vgl. http://www.dradio.de/cgi-bin/es/neu-fazit/396.html<br />
(2) Gesellschaftliche Verständigungshandlung als Hauptzweck<br />
Diesen Wirkungszusammenhang, wie es dazu kommt, daß die öffentliche Debatte über<br />
einen Text den Text geradezu zum Verschwinden bringt, läßt sich im Rückgriff auf die<br />
Theorie literarischen Handelns erklären, vor allem durch den Zusammenhang von literarischer<br />
Kommunikation und gesellschaftlichen Verständigungshandlungen. Wenn es der<br />
Inhalt <strong>eines</strong> Textes (und sei es auch nur partiell) gestattet, Anschluß an das politische<br />
oder wirtschaftliche System zu finden, so geschieht das durch die Institutionen des Literaturbetriebs.<br />
Er vermittelt das Zusammenspiel der literarischen mit den politischen und<br />
wirtschaftlichen Interessen.<br />
(3) Der Autor als öffentliche Person<br />
1927 wird <strong>Walser</strong> als Sohn <strong>eines</strong> Gastwirts in Wasserburg am Bodensee geboren. 1943-<br />
45 nimmt er, erst als Flakhelfer, dann als Soldat am Zweiten Weltkrieg teil. Nach dem Abitur<br />
1946 studiert er Literatur, Geschichte und Philosophie. Er promoviert über Franz Kafka<br />
und arbeitet bis 1957 beim Süddeutschen Rundfunk als Reporter, Regisseur und Hörspielautor.<br />
1953 wird <strong>Walser</strong> Mitglied der "Gruppe 47", die bis in die 60er Jahre die westdeutsche<br />
Literatur wesentlich prägt. 1955 erscheint ein erster Band mit Erzählungen. Seit 1957 lebt<br />
und arbeitet er als freier Autor am Bodensee. Für seinen ersten Roman Ehen in Philippsburg<br />
erhält er den Hermann-Hesse-Preis. 1958 lebt er drei Monate in den USA und nimmt<br />
an einem Harvard-Seminar teil. Später ist <strong>Walser</strong> Gastdozent an verschiedenen amerika-
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nischen, englischen und deutschen Universitäten. 1981 erhält er den Georg-Büchner-<br />
Preis, der als höchste (west-)deutsche literarische Auszeichnung gilt, 1987 wird er mit<br />
dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.<br />
Die Stationen der Debatte – die Thematisierung des Antisemitischen und die Erinnerung<br />
an den Holocaust – beginnen mit dem Historikerstreit und setzen sich fort in der Diskussion<br />
über das Holocaust-Denkmal in Berlin. 1998 verdichtet sie sich in dem Konflikt um<br />
<strong>Martin</strong> <strong>Walser</strong>, der in seiner Rede am 11. Oktober bei der Entgegennahme des Friedenspreises<br />
in der Paulskirche die mediale Routiniertheit des Erinnerns angesprochen hatte.<br />
Ihm entgegnete Ignaz Bubis am 9. November, diese Abwehr der Instrumentalisierung von<br />
Auschwitz bedeute schon eine Rechtfertigung des Vergessenwollens.<br />
In dem autobiografischen Roman Ein springender Brunnen (1998) beschreibt <strong>Walser</strong><br />
1998 seine Jugend während der Nazi-Zeit. Im selben Jahr erhält er dafür den Friedenspreis<br />
des Deutschen Buchhandels. Die Laudatio hält Frank Schirrmacher, Feuilletonchef<br />
und Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. In der Dankesrede kritisiert der<br />
Autor die Instrumentalisierung von Auschwitz. Seine Formulierung von der "Moralkeule"<br />
Auschwitz trägt ihm den Vorwurf des latenten Antisemitismus ein. Daraus entwickelt sich<br />
eine öffentliche Kontroverse mit Ignatz Bubis, dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrates<br />
der Juden in Deutschland, der <strong>Walser</strong> "geistige Brandstiftung" vorwirft. Mit Bubis<br />
einigt er sich später, dass die angemessene Sprache für den Umgang mit der deutschen<br />
Vergangenheit noch nicht gefunden sei.<br />
Literatur<br />
Borchmeyer, Dieter/ Kiesel, Helmut (Hgg.): Der Ernstfall. <strong>Martin</strong> <strong>Walser</strong>s ‚<strong>Tod</strong> <strong>eines</strong> <strong>Kritikers</strong>‘.<br />
Hamburg 2003.<br />
Borchmeyer, Dieter: <strong>Martin</strong> <strong>Walser</strong> und die Öffentlichkeit. Von einem neuerdings erhobenen<br />
unvornehmen Ton im Umgang mit einem Schriftsteller. Frankfurt 2001.<br />
Gubser, <strong>Martin</strong>: Literarischer Antisemitismus. Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen<br />
bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts. Göttingen 1998.<br />
Hortzitz, Nicoline: Früh-Antisemitismus in Deutschland (1789-1871/72). Strukturelle Untersuchungen<br />
zu Wortschatz, Text und Argumentation. Tübingen 1988.<br />
Lorenz, Matthias N.: ‚Auschwitz drängt uns auf einen Fleck‘. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs<br />
bei <strong>Martin</strong> <strong>Walser</strong>. Mit einem Vorwort von <strong>Martin</strong> Benz. Stuttgart,<br />
Weimar 2005 (dort weitere ausführliche Bibliographie zu <strong>Walser</strong>s Werken).<br />
Schirrmacher, Frank: Die <strong>Walser</strong>-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation. Frankfurt 1999.<br />
Schöps, Julius H./Schlör, Joachim (Hgg.): Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. München,<br />
Zürich 1995.