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LEONCE UND LENA (1836) Georg Büchner, Dichtungen. Hrsg ... - IDF

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Rösch©: Die Komödie vom 18.–20. Jh. Theorie und Geschichte – VL 8: Leonce und Lena 1<br />

Man klagt mit Recht, daß die reine Komödie, das lustige<br />

Lustspiel, bei uns Deutschen durch das sentimentalische zu<br />

sehr verdrängt worden, und es ist allerdings ein herrschender<br />

Fehler auf unserer komischen Bühne, daß das Interesse<br />

noch viel zu sehr aus der Empfindung und aus sittlichen<br />

Rührungen geschöpft wird. Das Sittliche aber sowie das Pathetische<br />

macht immer ernsthaft und jene geistreiche Heiterkeit<br />

und Freiheit des Gemüts, welche in uns hervorzubringen<br />

das schöne Ziel der Komödie ist, läßt sich nur durch eine<br />

absolute moralische Gleichgültigkeit erreichen; es sei nun,<br />

daß der Gegenstand selbst schon diese Eigenschaft habe,<br />

oder daß der Dichter die Kunst besitze, die moralische Tendenz<br />

seines Stoffs durch die Behandlung zu überwinden.<br />

Johann Wolfgang Goethe<br />

Dramatische Preisaufgabe (Propyläen, 1800)<br />

<strong>LEONCE</strong> <strong>UND</strong> <strong>LENA</strong> (<strong>1836</strong>)<br />

<strong>Georg</strong> Büchner, <strong>Dichtungen</strong>. <strong>Hrsg</strong>.v. Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie<br />

Poschmann. Frankfurt 1992 (Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente 1).<br />

I. Märchen versus realhistorische Anknüpfungen<br />

Der märchenhafte Charakter der Handlung wie der Figuren beruht z.T. auf den an Kindersprache<br />

erinnernden Namen der Königreiche (Popo, Pipi) und ihrem duodezhaften Zuschnitt<br />

(bes. II, 1).<br />

Die Anknüpfungen an die Realität der Entstehungszeit weisen in zwei Richtungen.<br />

(a) Autobiographie<br />

Im Dezember 1835 lebte Büchner als Emigrant in Straßburg und mußte sich, ärmlich ausgestattet,<br />

auf eine ungewissen Zukunft als Privatdozent vorbereiten. Er hatte, darin Leonce<br />

ähnlich, die sichere Mediziner-Zukunft unter der Ägide des Vaters ausgeschlagen, wie<br />

der Prinz die vorbestimmte Heirat vermeiden will. Auch Büchner schreckte vor dem Heiraten<br />

zurück, wie ein Brief an seine Verlobte Wilhelmine Jaeglé erkennen läßt.<br />

(b) Politische Zustände als zeitgenössischer Erfahrungshintergrund<br />

Vor allem tragen der vertrottelte König Peter und der Bohème-Prinz Leonce Züge des<br />

hessischen Großherzogs Ludewig I. von Hessen-Darmstadt und seines Sohnes; der zweite<br />

wollte bei seinem Regierungsantritt 1830 seine Privatschulden in Millionenhöhe der<br />

Staatskasse aufladen.<br />

Ludewig I. (1753-1830) litt an einer starken Rückgratverkrümmung und versuchte, diesen<br />

Makel in der Öffentlichkeit durch hohe Krägen und stützende Haltung zu überspielen.<br />

Die Ankleideszene ist zur Bloßstellung geeignet, weil sie die Tölpelhaftigkeit des Herrschers<br />

erkennen läßt (I, 2).<br />

Als Anfang Januar 1834 der Erbprinz Ludwig und die ihm am 26. Dezember 1833 in München<br />

angetraute bayerische Prinzessin Mathilde im Triumphzug von der Landesgrenze<br />

nach Darmstadt zogen, wo sie am 10. Januar 1834 ankamen, wurde dieser Zug von festlichen<br />

Begrüßungen und Ehrungen durch die Bewohner interpunktiert, wie sie ähnlich im


Rösch©: Die Komödie vom 18.–20. Jh. Theorie und Geschichte – VL 8: Leonce und Lena 2<br />

Drama in Szene III, 2 vorkommen, in der die „Bauern im Sonntagsputz, Tannenzweige<br />

haltend“ instruiert werden:<br />

II.<br />

Zitierte Empfindungen<br />

(1) Romantische Versatzstücke<br />

In seiner Schwärmerei vor der Flucht wiederholt Leonce die romantische Sehnsucht nach<br />

Italien, die mit dem Lied der Mignon aus Wilhelm Meisters Lehrjahre begann.<br />

Auch die romantische Mondnacht in II, 4 ist aus literarischen Zitaten gebaut, u.a. Tiecks<br />

Gedicht Mondbeglänzte Zaubernacht, ebenso die Gartenszene aus Romeo und Julia (II,<br />

2). In den romantischen Gedichten stellt die Mondnacht den paradiesischen Moment, die<br />

Nähe zum Paradies, den Augenblick der Harmonie und des Wunders dar, allerdings kann<br />

sie auch zum Gefährlich-Sündhaften kippen.<br />

Wie Ponce in der Duell-Szene (V,16) steigert sich Leonce in Todesbegeisterung hinein (II,<br />

4), mit Worten aus den Leiden des jungen Werthers. Hart kontrastiert damit Valerios Rettung,<br />

die er mit einem zweideutigen Wort über „Wasser lassen“ begleitet.<br />

(2) Leonce als Melancholiker<br />

Das Urbild des melancholischen Helden ist Werther, auf den sich Valerio und Leonce<br />

mehrmals beziehen, so in der Begegnung mit Lena, deren weißes Kleid ihn an Lotte erinnert<br />

(II; 4). Als Leonce sich in den Fluß stürzen will, erscheint „der Kerl mit seiner gelben<br />

Weste und seinen himmelblauen Hosen“, d.h. in den Werther-Farben. Dies spiegelt das<br />

seelische Drama von Leonce und stellt es als Spiel dar, in dem Leonce einem abgelebten<br />

literarischen Idol nachstrebt.<br />

Auch Ponce gehört zu den Vorläufern, denn ihm hält Sarmiento ebenfalls Melancholie vor.<br />

Ebenso beruft sich Ponce auf sein Nichtstun, mit dem er alle Hände voll zu tun habe; ähnlich<br />

redet Leonce mit dem Hofmeister (I, 1). Gegenüber Rosetta erweist sich Leonce als<br />

kaltherzig (I, 3: er läßt künstlich eine Nacht herstellen), wie Ponce gegenüber Valeria.<br />

(3) Maske und Identität<br />

Leonce sieht das Innere seines Kopfes als Tanzsaal; ebenso imaginiert der Held Godwi im<br />

Roman Godwi, oder das steinerne Bild der Mutter sein Inneres in Räumen. Dem allein auf<br />

sich verwiesenen Subjekt drohen die Identität und die Realität verloren zu gehen.<br />

III.<br />

Desillusionierung durch Valerios Sprachwitz<br />

Literatur<br />

Fues, Wolfram-Malte: Die Entdeckung der Langeweile. <strong>Georg</strong> Büchners Komödie ‚Leonce<br />

und Lena‘. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte<br />

66, 1992, 687-696.<br />

Greiner, Bernhard: Die Komödie. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretationen.<br />

Tübingen 1992, bes. 279-296 (Leonce und Lena) (UTB 1665).<br />

Mayer, Thomas Michael: <strong>Georg</strong> Büchner. Leben, Zeit, Werk. Katalog. 2., wesentlich vermehrte<br />

und verbesserte Aufl. Marburg 1986.

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