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Hausmitteilung<br />

12. August 2013 Betr.: Titel, Nanny-Staat, Billigmedizin, Serie<br />

Für ihre Kinder wollen Eltern nur das Beste. Aber wie viel<br />

vom Besten ist gut für das Kind? Für den SPIEGEL-Titel<br />

sprach Redakt<strong>eu</strong>rin Kerstin Kullmann, selbst Mutter zweier Söhne,<br />

mit Josef Kraus, Präsident des D<strong>eu</strong>tschen Lehrerverbands,<br />

der schilderte, wie sich Eltern zu den Bodyguards ihres Nachwuchses<br />

entwickeln und sich in jeden kleinen Streit unter Schülern<br />

einmischen. „Sie verhindern damit das eigenverantwortliche<br />

Handeln ihrer Kinder. Sie ziehen eine unmündige Generation<br />

heran“, sagt Kraus. Froh war Kullmann über einen einfachen<br />

Rat des Päd agogen: „Gute Erziehung bed<strong>eu</strong>tet: leichte Hilfestellung<br />

bei größtmöglicher Zurückhaltung“ (Seite 118).<br />

Kullmann<br />

Normalerweise hält sich SPIEGEL-Redakt<strong>eu</strong>r Alexander N<strong>eu</strong>bacher an die Gesetze<br />

– doch was tun, wenn keine Regeln existieren? Auf der Hauptstraße im<br />

niedersächsischen Bohmte gibt es weder Ampeln noch Schilder. Auch Bürgersteige<br />

und Zebrastreifen sind abgeschafft. Die Bewohner glauben, dass sich die Autofahrer<br />

dann rücksichtsvoller verhalten. Bohmtes Vizebürgermeisterin empfahl N<strong>eu</strong>bacher<br />

sogar, mit geschlossenen Augen im dichten Verkehr über die Straße zu gehen, ihm<br />

werde nichts passieren. Das Experiment gelang; N<strong>eu</strong>bachers Recherchen über den<br />

„Nanny-Staat“, über das Für und Wider von Verboten in einer Gesellschaft, die<br />

sich mit immer n<strong>eu</strong>en Regeln das Leben schwermacht, blieben unfallfrei (Seite 20).<br />

Das Erste, was SPIEGEL-Reporter<br />

Guido Mingels auf dem Gelände<br />

der indischen Herzklinik Narayana in<br />

Bangalore begegnete, war eine schmutzige<br />

Kuh. Das Tier war offensichtlich<br />

darum bemüht, indische Klischees zu<br />

erfüllen. Im Krankenhaus selbst allerdings<br />

herrschten makellose hygienische<br />

Verhältnisse. Der Chirurg Devi Shetty,<br />

Gründer der Klinik und oft als „Henry<br />

Ford der Herzchirurgie“ bezeichnet,<br />

wendet die Prinzipien der Massenproduktion<br />

im Gesundheitswesen an und<br />

Mingels in der Herzklinik Narayana<br />

verschafft so Zehntausenden armen Indern Zugang zu Spitzenmedizin. Während<br />

Mingels Shetty im Operationssaal bei einem Eingriff am offenen Herzen beobachtete,<br />

ging ihm eine Frage durch den Kopf: „Würde ich mich hier operieren lassen?“<br />

Seine Antwort nach einer Woche in Bangalore: „Unbedingt“ (Seite 54).<br />

Was ist h<strong>eu</strong>te sozialdemokratisch? Als Redakt<strong>eu</strong>r Stefan Willeke für die SPIE-<br />

GEL-Wahlserie im Ruhrgebiet nach Antworten auf diese Frage suchte, war<br />

es auch eine Reise in seine Kindheit. Er wuchs in Bochum auf, einer traditionell<br />

roten Stadt. Im Rathaus regierten Sozialdemokraten, so war es bei Willekes Geburt<br />

im Jahr 1964, so war es, als er 1984 Abitur machte. Die Partei des damaligen Ministerpräsidenten<br />

Johannes Rau empfand er als Heilsbringerin und verfilzte Clique<br />

zugleich. In zuvor ungekanntem Maße bot die Partei Arbeiterkindern Chancen zu<br />

sozialem Aufstieg, benahm sich aber gleichzeitig wie eine herrschende Klasse, die<br />

ihre Genossen überall mit lukrativen Posten versorgte. Für Willeke war das ein<br />

prägendes Erlebnis. „Bis h<strong>eu</strong>te“, sagt er, „beobachte ich die SPD mit großem Inter -<br />

esse, habe sie aber noch nie gewählt“ (Seite 60).<br />

FRIEDEL AMMANN / DER SPIEGEL<br />

NAMAS BHOJANI / DER SPIEGEL<br />

Im Internet: www.spiegel.de<br />

DER SPIEGEL 33/2013 5


In diesem Heft<br />

Titel<br />

Verbissen kämpfen ehrgeizige Eltern<br />

für den Erfolg ihrer Kinder ........................... 118<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong><br />

Panorama: Bundesbank rechnet mit n<strong>eu</strong>em<br />

Rettungsprogramm für Griechenland /<br />

Altersschwache Stellwerke sorgen für Ausfälle<br />

bei der Bahn / Saudi-Arabien darf<br />

bei Rüstungsprojekt der Nato mitreden .......... 15<br />

Geheimdienste: Im Bundestagswahlkampf<br />

wird die NSA-Affäre instrumentalisiert ......... 20<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> als Aufklärungsziel der USA ..... 23<br />

Sozialdemokraten: Parteichef Gabriel<br />

will die Basis über den Kurs nach der Wahl<br />

entscheiden lassen .......................................... 26<br />

Regulierung: Wie der Staat die Bürger mit<br />

absurden Vorschriften drangsaliert ................. 28<br />

Grünen-Politiker Boris Palmer lehnt einen<br />

staatlich verordneten Veggie-Day ab .............. 33<br />

Karrieren: Machtkampf um die<br />

Seehofer-Nachfolge ......................................... 34<br />

FDP: Parteichef Philipp Rösler besteht auf<br />

der Abschaffung des Soli ............................... 36<br />

Parteienfinanzierung: Die FDP-Fraktion<br />

macht Wahlkampf für die Partei .................... 38<br />

Justiz: Was Gustl Mollaths Ex-Ehefrau<br />

zu dessen Freilassung sagt .............................. 42<br />

Affären: Wie Olaf Glaeseker, ehemaliger<br />

Sprecher von Christian Wulff,<br />

seine kostenlosen Urlaube erklärt .................. 46<br />

Verbrechen: Der Gladbecker Geiselgangster<br />

Dieter Degowski hofft auf ein Leben<br />

in Freiheit ....................................................... 47<br />

Naturkatastrophen: Viele Anwohner fürchten<br />

die nächste Elbeflut und wollen umziehen ..... 48<br />

Zeitgeschichte: Ein ehemaliger US-Soldat<br />

berichtet über seine Spitzeleien für die Stasi ... 50<br />

Gesellschaft<br />

Szene: Fallschirmspringen mit Hund /<br />

Was macht eine Scheidungsfotografin? .......... 52<br />

Eine Meldung und ihre Geschichte –<br />

zwei Weißrussen gingen Scheinehen mit<br />

D<strong>eu</strong>tschen ein ................................................ 53<br />

Lebensretter: Der Herzchirurg Devi Shetty<br />

betreibt in Indien Krankenhäuser nach dem Aldi-<br />

Prinzip – preiswert, schmucklos, zuverlässig .... 54<br />

Homestory: Warum Fr<strong>eu</strong>ndschaften durch<br />

Facebook beschädigt werden ......................... 59<br />

Serie<br />

Wahl-Spezial: Die Gerechtigkeitsversprechen<br />

der Parteien ................................................... 60<br />

Kümmerer und Traditionspartei – das<br />

Selbstverständnis der Sozialdemokraten in<br />

ihrem Herzland Nordrhein-Westfalen ............ 64<br />

Wirtschaft<br />

Trends: Der Subventionsabbau stockt /<br />

Cromme will Chefaufseher bei Siemens bleiben /<br />

Poker um BayernLB-Prozess .......................... 70<br />

Internet: Die Unternehmer des Silicon Valley<br />

wollen politisch Einfluss nehmen ................... 72<br />

Vermögen: Die Journalistin Chrystia<br />

Freeland gibt Einblicke in die abgeschottete<br />

Welt der Superreichen ................................... 75<br />

Geldanlage: Unternehmensanleihen sind trotz<br />

hoher Risiken bei Privatanlegern beliebt ....... 76<br />

St<strong>eu</strong>ern: In den Euro-Ländern greift der Staat<br />

höchst unterschiedlich zu ............................... 78<br />

Hauptstadt: Der Machtkampf<br />

zwischen Flughafenchef Hartmut Mehdorn<br />

und seinem Bau-Geschäftsführer ................... 79<br />

Tourismus: Die kurzzeitige Vermietung privater<br />

Unterkünfte soll erschwert werden ................ 80<br />

6<br />

PDH<br />

DPA<br />

Anti-NSA-Demonstrant bei Darmstadt<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> im Visier der NSA Seiten 20, 23<br />

Dokumente aus dem Snowden-Archiv zeigen, was US-Geheimdienste wie etwa<br />

die NSA in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> ausspionieren: Gefragt sind vor allem Informationen<br />

über die Außenpolitik, den Finanzsektor und über Waffenexporte.<br />

WAHL<br />

2013<br />

Rückfall in den Ständestaat Seiten 60, 64<br />

In <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> bestimmt die Herkunft den beruflichen Erfolg. Wer<br />

unten ist, hat kaum Aussicht auf Aufstieg. Wer soziale Gerechtigkeit<br />

will, muss für eine gerechte Verteilung der Chancen sorgen.<br />

Internetelite mit politischen Ambitionen Seite 72<br />

Der Kauf der „Washington Post“ durch Amazon-Gründer Jeff Bezos ist keine<br />

Heldentat zur Rettung des Journalismus. Die Internetelite nutzt vielmehr die<br />

Medien, um sich in die politische Debatte einzumischen.<br />

Degowski mit Geisel Silke Bischoff 1988<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

Freiheit<br />

in Sicht Seite 47<br />

Seit 1988 sitzen die Geiselgangster<br />

von Gladbeck im<br />

Gefängnis. Dieter Degowski<br />

und Hans-Jürgen Rösner<br />

sind für den Tod zweier<br />

Menschen verantwortlich.<br />

Nun soll Degowski auf eine<br />

Entlassung in drei Jahren<br />

vorbereitet werden. Das<br />

empfiehlt zumindest der<br />

Essener Psychologe Norbert<br />

Leygraf, der den Häftling<br />

begutachtet hat.


Verurteilt aus Mangel an Beweisen Seite 94<br />

Der Ergenekon-Prozess ist zu einer Abrechnung mit der türkischen Opposition<br />

geworden. Der Journalist Adnan Türkkan soll für mehr als zehn Jahre in<br />

Haft, die Begründung ist fadenscheinig. Er sucht nun Schutz in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong>.<br />

Unerwünschte Dopingstudie Seiten 138, 140<br />

Nach Veröffentlichung einer brisanten Studie zur Dopingforschung in Westd<strong>eu</strong>tschland<br />

beschönigen Politiker und Sportfunktionäre die Lage. Einer der<br />

Autoren klagt nun, das Projekt sei von den Funktionären „blockiert“ worden.<br />

„F<strong>eu</strong>chtgebiete“<br />

im Kino Seite 100<br />

Als das Buch 2008 auf den<br />

Markt kam, war es so umstritten<br />

wie erfolgreich. Charlotte<br />

Roche schrieb in „F<strong>eu</strong>chtgebiete“<br />

über Sex, Analfissuren<br />

und Körperbehaarung. Viele<br />

fanden das eklig, andere<br />

hielten es für eine n<strong>eu</strong>e Stufe<br />

des Feminismus. Nun hat<br />

der Regiss<strong>eu</strong>r David Wnendt<br />

den Roman mit der brillanten<br />

Carla Juri in der Hauptrolle<br />

verfilmt.<br />

Unterstützer der islamistischen Regierung in Tunis<br />

Tunesien: Das ägyptische Virus Seite 84<br />

Zwei Jahre nach der ersten freien Wahl bekämpfen sich die regierenden<br />

Islamisten und ihre Kritiker. Politische Morde, zunehmender Extremismus und<br />

eine desolate Wirtschaft lassen viele Tunesier an der Demokratie zweifeln.<br />

Darstellerin Juri (r.)<br />

MAJESTIC FILM<br />

MOHAMED MESSARA / DPA<br />

Ausland<br />

Panorama: Sonderwirtschaftszone Kaesong in<br />

Nordkorea könnte wieder öffnen / Gefährliches<br />

Krisenmanagement in Fukushima .................. 82<br />

Tunesien: Droht ein ägyptisches Szenario im<br />

Geburtsland des Arabischen Frühlings? ......... 84<br />

Al-Qaida: Die n<strong>eu</strong>en Filialen der<br />

Terrorgruppe .................................................. 88<br />

Gregory D. Johnsen über den Drohnenkrieg<br />

der USA im Jemen ......................................... 89<br />

Italien: Das Berlusconi-Urteil und die<br />

Folgen für die Regierung in Rom ................... 90<br />

Griechenland: Die Krise hat auch gute Seiten –<br />

die Bürger entdecken ihren Gemeinsinn ........ 92<br />

Türkei: Im Ergenekon-Prozess wurden auch<br />

Journalisten als Terroristen verurteilt ............ 94<br />

Global Village: Wie ein Wissenschaftler in<br />

New York aussterbende Sprachen rettet ........ 96<br />

Kultur<br />

Szene: „Bußestunde“, ein bizarrer<br />

Krimi von Arne Dahl / Eine CD-Box feiert<br />

die Beach Boys ............................................... 98<br />

Kino: Die sehenswerte Verfilmung von<br />

Charlotte Roches Roman „F<strong>eu</strong>chtgebiete“ ... 100<br />

Suhrkamp: Insolvenzplan macht<br />

den Anteilseigner Barlach zum Statisten ...... 103<br />

Autoren: Uwe Timm erzählt in<br />

„Vogelweide“ von einem Mann, der<br />

alles verliert .................................................. 104<br />

Kapital: Ein Oligarch aus Kiew will seine<br />

Frau zur n<strong>eu</strong>en Lady Gaga aufbauen ........... 106<br />

Sachbücher: Die US-Journalistin<br />

Susannah Cahalan beschreibt ihre Reise<br />

in den Wahn ................................................. 112<br />

Bestseller ..................................................... 113<br />

Filmkritik: Im Blockbuster „Elysium“<br />

ist die Erde im Jahr 2154 ein Schreckensort ... 114<br />

Wissenschaft · Technik<br />

Prisma: Impfung gegen Malaria /<br />

Anfällige Bienen / Koffein-Test spürt<br />

Dreckwasser auf ............................................ 116<br />

Umwelt: Moderne Biotechnik soll<br />

in den USA die beinahe ausgerottete<br />

Kastanie retten ............................................. 126<br />

Verkehr: Flüssiggas statt Schweröl – gesucht<br />

wird der Schiffstreibstoff der Zukunft .......... 128<br />

Erfinder: Elektronikbastler feiern<br />

ihre verrückten Kreationen auf der<br />

„Maker Faire“ .............................................. 130<br />

Krankenhäuser: Der tödliche Fehler<br />

eines Medizinstudenten ................................ 132<br />

Medien<br />

Trends: Foodwatch will Kanzler-Talk<br />

stoppen / Bundestag sendet schwarz ............ 133<br />

TV-Kanäle: Mit dem Auslandssender Russia<br />

Today hat Putin ein Anti-CNN geschaffen ... 134<br />

Sport<br />

Szene: Ein d<strong>eu</strong>tscher Profisurfer überrascht<br />

die Weltelite / Warum sich Radrennfahrer<br />

die Beine rasieren ......................................... 137<br />

Sportpolitik: Die verspätete Debatte über<br />

Doping in Westd<strong>eu</strong>tschland .......................... 138<br />

Der Historiker Erik Eggers klagt über die<br />

Vertuschung des Betrugssystems ................... 140<br />

Briefe .............................................................. 10<br />

Impressum, Leserservice .............................. 142<br />

Register ........................................................ 143<br />

Personalien ................................................... 144<br />

Hohlspiegel / Rückspiegel ............................. 146<br />

Titelbild: Foto Gerd George für den SPIEGEL<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

7


SPIEGEL-Titel 32/2013<br />

Briefe<br />

„Ich habe mehrere Bücher über<br />

Napoleon gelesen, aber ich kann<br />

mich nicht erinnern, einen so<br />

brillanten und knappen Aufsatz<br />

über ihn gesehen zu haben.“<br />

PROF. MARKO ZLOKARNIK, GRAZ<br />

Sie versuchen sich am Tiefloten einer<br />

Epoche, bleiben aber mit dem Senkblei<br />

bereits am Schiffsdeck hängen. So wahr<br />

es auch ist, dass Napoleon Volkes Meinung<br />

mittels Zeitungsmedien manipulierte,<br />

mutet Ihre Einlassung über „richtige<br />

Techniken von Politikern und das Geheimnis<br />

der Demokratie“ als an den Haaren<br />

herbeigezogen an. Ohne seine überragende<br />

Intelligenz, Energie, Entschlossenheit,<br />

ja auch sein Charisma hätte<br />

Bonaparte keinen Hund zwischen Paris<br />

und Moskau hinterm Ofen vorlocken<br />

oder gar beeinflussen können.<br />

HENDRIK SCHLEGEL, ERFURT<br />

Nr. 32/2013, Der Fall Napoleon –<br />

die Geburt der modernen Diktatur<br />

Weltseele zu Pferde<br />

Ich glaube nicht, dass sich die <strong>eu</strong>ropäischen<br />

Völker mit der – fast reflexhaften –<br />

Bekämpfung Napoleons einen Gefallen<br />

getan haben. Übersehen wird oft, dass es<br />

in den „Napoleonischen Kriegen“ auch<br />

um den (frühen) Versuch einer Einigung<br />

Europas ging. Zwar unter französischen<br />

Vorzeichen, aber wäre das wirklich so<br />

schlecht gewesen? Besonders angesichts<br />

dessen, was im folgenden Jahrhundert<br />

dann an wirklich Diktatorischem über<br />

Europa hereinbrechen sollte, hauptsächlich<br />

in d<strong>eu</strong>tschem und (russisch-)so -<br />

wjetischem Namen? Goethe jedenfalls<br />

hat der „Weltseele zu Pferde“ (Hegel über<br />

Napoleon) durchaus Glück gewünscht!<br />

MICHAEL JARRATH, BRECKERFELD (NRW)<br />

Mein Geschichtslehrer antwortete errötend<br />

auf die Frage, warum diese Militärs<br />

wie Caesar, Alexander der Große, Friedrich<br />

der Große, Napoleon et cetera, die<br />

Millionen Menschen auf dem Gewissen<br />

haben, von den Historikern häufig so<br />

positiv b<strong>eu</strong>rteilt werden: „Die haben<br />

doch auch so viel Gutes getan.“<br />

JÜRGEN NEUNABER, OLDENBURG<br />

Sie hätten das Foto von dem Invalidendom-Besucher<br />

Hitler noch näher kommentieren<br />

sollen. Da blickt der größte<br />

Verbrecher des 20. Jahrhunderts auf den<br />

Sarkophag des größten Verbrechers des<br />

19. Jahrhunderts. Es gibt so viele Parallelen,<br />

nicht nur die Lügen, Vertragsbrüche,<br />

den unkontrollierten Größenwahn, die<br />

Plünderungen, Brandschatzungen, Vertreibungen,<br />

die systematische Massenvernichtung,<br />

die Millionen Toten, Verstümmelten,<br />

Hungernden und Verzweifelten.<br />

Die Moderne beginnt in Europa politisch<br />

betrachtet mit der Französischen Revolution,<br />

nicht mit den Napoleonischen Kriegen.<br />

Militärische Erfolgsberichte als versuchte<br />

Rechtfertigung von unbe schreib -<br />

lichen Tragödien gibt es schon zu viele.<br />

WOLFGANG LEDERER, SCHWAZ (ÖSTERREICH)<br />

10<br />

Im Juni 1813 drängte Fürst von Metternich,<br />

der österreichische Außenminister,<br />

Napoleon zu einem Verhandlungsfrieden,<br />

um weiteres, unnötiges Blutvergießen zu<br />

verhindern. Doch Napoleon war zu keinem<br />

Zugeständnis bereit. Der Franzosenkaiser<br />

lehnte die Friedensinitiative Metternichs<br />

mit den Worten: „Ein Mann wie<br />

Völkerschlachtdenkmal in Leipzig<br />

ich scheißt auf das Leben einer Million<br />

Menschen“, schroff ab. Übrigens, das<br />

Zeitalter der modernen Politik und<br />

Kriegsführung hat nicht in Paris, sondern<br />

schon in Sanssouci begonnen. Europa<br />

hat es zu spüren bekommen, und wir<br />

spüren es h<strong>eu</strong>te noch. Deshalb kein Nachruhm<br />

und keine Verherrlichung dieser<br />

sogenannten großen Feldherren, gleichgültig<br />

ob sie Napoleon Bonaparte,<br />

Fritz, Wilhelm et cetera geheißen haben,<br />

auch wenn sie uns den Code Civil hinterlassen,<br />

komponiert und Querflöte<br />

gespielt haben.<br />

WALTER BERCHTHOLD, FÜRSTENZELL (BAYERN)<br />

Nicht nur die Sprachästhetik, die Stendhal<br />

lobt, sondern vor allem der Inhalt<br />

des Code Civil waren wegweisend. Die<br />

im Code proklamierte Rechtsgleichheit<br />

und Freiheit der Person sowie der Abschied<br />

von allen f<strong>eu</strong>dalen Reminiszenzen<br />

hat Napoleon über die französischen Landesgrenzen<br />

hinaus Akzeptanz eingebracht.<br />

Der Code Civil ist ein wirkliches<br />

Geschöpf der Aufklärung.<br />

DR. HELMUT ESCHWEILER, BERLIN<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

WALTRAUD GRUBITZSCH / PICTURE ALLIANCE / DPA<br />

Nr. 31/2013, SPIEGEL-Gespräch mit<br />

Otto Schily<br />

Als Schily noch Schily war<br />

Jeden Satz von Schily kann man dick unterstreichen.<br />

Betroffen dreinschauende<br />

Politiker, Intellektuelle und nicht wenige<br />

Journalisten sch<strong>eu</strong>en das Wort „Terrorismusbekämpfung“<br />

mit Blick auf die NSA<br />

wie der T<strong>eu</strong>fel das Weihwasser. Eine Verhöhnung<br />

der Terroropfer von 2001.<br />

WERNER SCHNEPP, WERDOHL (NRW)<br />

Wer ist hier eigentlich paranoid? Es ist ein<br />

politischer Fehler zu versuchen, den Terrorismus<br />

allein mit polizeilichen, militärischen,<br />

kriegsähnlichen Methoden zu bekämpfen.<br />

Dauerhaften Erfolg werden wir<br />

nur haben, wenn wir uns unsere Art zu leben<br />

erhalten, aber auch wenigstens versuchen,<br />

uns um die Ursachen des Terrorismus<br />

zu kümmern. Und selbst wenn Herr Schily<br />

damit einverstanden ist, möchte ich nicht,<br />

dass die USA in unserer Verfassung her -<br />

umholzen wie eine Besatzungsmacht.<br />

„Man bekämpft“, hieß es 1978 in einem<br />

Aufruf der Humanistischen Union, „die<br />

Feinde des Rechtsstaats nicht mit dessen<br />

Abbau, und man verteidigt die Freiheit<br />

nicht mit deren Einschränkung.“ Erstunterzeichner<br />

war Otto Schily, als er noch<br />

Otto Schily war. Richtig ist es h<strong>eu</strong>te noch.<br />

DR. DR. BURKHARD HIRSCH, DÜSSELDORF<br />

BUNDESTAGSVIZEPRÄSIDENT A. D.<br />

Wie kann ein so erfahrener Mann so blauäugig<br />

sein? Die USA stellen ihre Interessen<br />

im Zweifelsfall doch über die Menschenrechte<br />

und das Recht anderer Staaten.<br />

HEINER SCHÜRMANN, SCHÖNEBECK<br />

Wenn Otto Schily den Schutz der Würde<br />

des Menschen gleichsetzt mit der Gewährleistung<br />

der Sicherheit des Menschen,<br />

dann ist das schon eine abent<strong>eu</strong>erliche<br />

verfassungsrechtliche Entgleisung.<br />

MANFRED STEINBACH, BAD KARLSHAFEN<br />

Wieso sollte ein Bürger einem Staat vertrauen,<br />

wenn der ihm nicht vertraut?<br />

DR. STEFAN GORSOLKE, BERLIN


Nr. 31/2013, Wie Car-Sharing das Leben<br />

in der Großstadt verändert<br />

Haha<br />

Car-Sharing an sich ist keine schlechte<br />

Idee, doch von Teilen und Gemeinschaftssinn<br />

kann keine Rede sein. Entfremdete<br />

Menschen, die wie besessen auf ihr Handy<br />

Car-Sharing-Kundin<br />

starren, sich virtuell organisieren und sich<br />

einbilden, mitten im Geschehen zu sein –<br />

da sehe ich keine positive Entwicklung.<br />

FRANCESCA GOLL, BERLIN<br />

So, so, die Jugend wendet sich also vom<br />

Auto ab, weil sie lieber teilen möchte, Statussymbole<br />

sind ihr nicht mehr wichtig,<br />

die Welt wird endlich besser. Haha. Diese<br />

Sharing-Modelle funktionieren wie Leasing.<br />

Genieße h<strong>eu</strong>te den Luxus, den du<br />

dir eigentlich gar nicht leisten kannst.<br />

Gleichzeitig geben sie dir das Gefühl, hip<br />

zu sein. Die Jüngeren stehen h<strong>eu</strong>te doch<br />

unter einem noch viel größeren Druck,<br />

sich mit Markenprodukten zu zeigen als<br />

wir vor 30 Jahren. Statt des alten Klein -<br />

wagens wählen sie lieber das n<strong>eu</strong>este<br />

Smartphone, in dem sie dann zyklopenäugig<br />

versinken, um sich per App eine<br />

Bohrmaschine in 4,3 Kilometer Entfernung<br />

zu leihen, statt wie wir beim Nachbarn zu<br />

fragen. Geben sie die defekt zurück, dann<br />

hat sich’s bald wieder mit Sharing.<br />

ANDREAS KURZ, GRÄFELFING (BAYERN)<br />

Car-Sharing ist Business. Punkt. Gepaart<br />

mit einer guten Portion Pragmatismus,<br />

denn man spart ein eigenes Auto mit allen<br />

Problemen und Kosten. Der Kerngedanke<br />

des Konsumverzichts lebt zwar noch weiter,<br />

steht aber nicht im Vordergrund.<br />

RAINER KUHN, BERLIN<br />

Nr. 31/2013, Botho Strauß’ Anmerkungen<br />

zum Außenseiter<br />

Fremdwörtelei<br />

Boah, war das schwierig zu lesen!! Ich<br />

bin drauf und dran, mir das Buch zu kaufen,<br />

sobald es erscheint. Um mir daran<br />

die Zähne auszubeißen. Möglicherweise<br />

aus Sportsgeist. Wenn ich Botho Strauß<br />

12<br />

MAURICE WEISS / DER SPIEGEL<br />

Briefe<br />

recht verstehe, will er den Pöbel von seinen<br />

feingeistigen Überlegungen fernhalten<br />

– dann kann ihm das gar nicht so lieb<br />

sein: Verkauf an jeden Dahergelaufenen.<br />

Was lässt sich da tun?<br />

BERND HEYDECKE, NEUKALEN (MECKL.-VORP.)<br />

Wie schön, dass der SPIEGEL in einem<br />

Vorspann zu erläutern versucht, was in<br />

dem sogenannten Essay eigentlich drinstehen<br />

soll. Denn der Strauß-Text enthält keinen<br />

einzigen verständlichen oder gar vernünftigen<br />

Gedanken. Zur Beruhigung mag<br />

die Erwartung beitragen, dass wir jetzt die<br />

nächsten 20 Jahre von einem ern<strong>eu</strong>ten Geschwurbel<br />

dieses blasierten Ps<strong>eu</strong>doliteraten<br />

verschont bleiben werden.<br />

PROF. GEORG KÜPPER, BERLIN<br />

Wenn Strauß seine scharfen Beobachtungen<br />

etwas allgemeinverständlicher dar -<br />

legen würde, könnten es auch die Außenseiter<br />

verstehen, die nicht zu den Intellektuellen<br />

gehören, und die sind sicher in<br />

der Mehrheit. Und er könnte dort etwas<br />

entfachen, wo noch ein Funke glimmt.<br />

RALF GROSSER, DÖBELN (SACHSEN)<br />

Eine Bestandsaufnahme des Status quo<br />

der geistigen Verwahrlosung und sprachlichen<br />

Umdefinierung simpelster Begriffe<br />

durch einen Vertreter der intellektuellen<br />

Elite unseres Landes war überfällig. Während<br />

Strauß riskiert, sich wieder einmal<br />

unbeliebt zu machen, herrscht nämlich<br />

Schweigen im Walde. Es ist nur konsequent,<br />

wenn allein der Duktus von<br />

Strauß’ Essay das „Breite“ ausschließt<br />

und sich an seinesgleichen wendet. Die<br />

„große Schar“ kann und muss ihn auch<br />

gar nicht verstehen.<br />

GERALD DRUMINSKI, LEIPZIG<br />

Wohl die beste Zeitdiagnose seit Jahren!<br />

Botho Strauß erlaubt sich den Luxus, sich<br />

aus dem allgemeinen Irrsinn, jede Mode<br />

mitzumachen, und sei sie noch so hohl,<br />

herauszunehmen.<br />

MATTHIAS PIERRE LUBINSKI, BERLIN<br />

Endlich ist eine Stimme zu vernehmen,<br />

mit deren Hilfe ein Entfliehen aus Verramschung<br />

und Verbreitung möglicher<br />

wird. Übersättigungsverstopfung heißt<br />

die Kurzdiagnose.<br />

BERND KREBS, ASCHAFFENBURG<br />

Botho-Strauß-Illustration<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

RICCARDO VECCHIO / DER SPIEGEL<br />

Nr. 31/2013, Wie die indische Spiritualität<br />

einst im Westen erfunden wurde<br />

Selbst erlöst Selbst<br />

Trivialerweise ist richtig, dass die h<strong>eu</strong>tige<br />

Form indisch geprägter Spiritualität im<br />

Westen ein Produkt der verfügbaren Informationen<br />

und der westlichen Bedürfnisse<br />

ist. Richtig ist auch, dass in Indien<br />

eine ritualisierte Form der Religiosität ohne<br />

tieferes Verständnis verbreitet ist. Gänzlich<br />

unlogisch ist aber, dass damit die „wahren<br />

Ursprünge asiatischer Geisteslehren“ enthüllt<br />

würden oder gar, dass Spiritualität<br />

eine Erfindung westlicher Esoteriker wäre.<br />

DR. RUDOLF WINKEL, BINGEN<br />

Der Hinduismus hat Texte von ähnlicher<br />

Qualität und Wirkung aufzuweisen wie die<br />

Einleitung des Johannesevangeliums und<br />

den Sonnengesang des Franziskus.<br />

ROLF MONNERJAHN, EMMELSHAUSEN (RHLD.-PF.)<br />

Massen-Yoga in New York<br />

Die indische Spiritualität wurde von Vivekananda<br />

nicht erfunden, sondern wiederbelebt.<br />

Es gab sie schon immer, die<br />

ungemein reiche, alte Sanskrit-Literatur<br />

mit mehr spirituellen Texten, als sie jede<br />

andere Literatur der Welt aufweist. Vivekananda<br />

hat in seinen Vorträgen im Westen<br />

alle Aspekte des Yoga tiefgründig dargelegt,<br />

sich aber nicht für Hatha-Yoga eingesetzt,<br />

das zwar bei uns häufig mit Yoga<br />

gleichgesetzt wird, aber tatsächlich nur<br />

eine von vielen Praktiken darstellt.<br />

WILFRIED HUCHZERMEYER, KARLSRUHE<br />

Wenn Sie Vivekananda gründlicher studiert<br />

hätten, wäre Ihnen sein Satz „Das<br />

Selbst ist der Erlöser des Selbst, und nichts<br />

sonst“ aufgefallen. Ramakrishna, der Lehrer<br />

Vivekanandas, erläuterte das 1885 so:<br />

Vernunft und Bewusstsein sind rein, sobald<br />

sie sich von den irdischen Dingen<br />

völlig losgelöst haben. Die alten Seher erlebten<br />

das göttliche Bewusstsein mittels<br />

ihres inneren Bewusstseins. In diesem Sinne<br />

ist Ihre Überschrift „Erlösung ohne Erlöser“<br />

zu kurz gedacht: Sie übersehen das<br />

Subtile beziehungsweise das Subtilste.<br />

WILFRIED MARQUARDT, DÜSSELDORF<br />

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit<br />

Anschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elektronisch<br />

zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet:<br />

leserbriefe@spiegel.de<br />

EMMANUEL DUNAND / AFP


Panorama<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong><br />

Zentralbank in Athen<br />

YORGOS KARAHALIS / REUTERS<br />

BUNDESBANK<br />

Nach der Wahl mehr Geld für Griechenland<br />

Die Bundesbank rechnet damit, dass es bereits kurz nach<br />

der Bundestagswahl ein n<strong>eu</strong>es Rettungsprogramm für Griechenland<br />

geben wird. In einem internen Dokument der Zentralbank<br />

heißt es, die Europäer müssten spätestens Anfang<br />

2014 „wohl in jedem Fall ein n<strong>eu</strong>es Kreditprogramm mit<br />

Griechenland beschließen“. In der Stellungnahme für das<br />

Berliner Finanzministerium und den Internationalen Währungsfonds<br />

(IWF) kritisieren die Frankfurter Experten die<br />

jüngste Kredittranche und die dafür erfolgte Überprüfung<br />

durch die Troika. Sie dürfte „politischen Zwängen geschuldet<br />

sein“. Zwar bestreitet die Bundesbank, es handle sich dabei<br />

um eine Anspielung auf die Bundesregierung, die vor der<br />

Wahl eine Diskussion über einen Schuldenschnitt verhindern<br />

will – und deshalb die Fortschritte in Griechenland betont.<br />

Doch die Bundesbank kommentiert diesen Optimismus in ihrem<br />

Dossier äußerst unterkühlt: „Wir nehmen die zustimmende<br />

Haltung zur Kenntnis.“ Das hat auch damit zu tun,<br />

dass laut Bundesbank die Risiken des Rettungsprogramms<br />

„außergewöhnlich hoch“ bleiben. Auch die Performance der<br />

Athener Regierung sei „kaum zufriedenstellend“, es bestünden<br />

„erhebliche Zweifel“ an der Fähigkeit, unabdingbare Reformen<br />

umzusetzen. Im Juli hatten Euro-Rettungsfonds und<br />

IWF 5,7 Milliarden Euro an Griechenland überwiesen. Insgesamt<br />

flossen bislang Hilfen von über 200 Milliarden Euro.<br />

RÜSTUNG<br />

Saudi-Arabien erstmals<br />

in Nato-Agentur<br />

Saudi-Arabien mischt künftig bei einem<br />

wichtigen Rüstungsprojekt der<br />

Nato mit. Das geht aus einer Firmenpublikation<br />

über den „Eurofighter“<br />

hervor. Danach ist Riad im vergangenen<br />

Jahr der NETMA beigetreten, der<br />

Nato-Agentur für das Management<br />

des „Eurofighter“. Damit kann Saudi-<br />

Arabien Einfluss auf die weitere Entwicklung<br />

der Modelle<br />

nehmen. Die Mitgliedschaft<br />

eines<br />

Nicht-Nato-Landes in<br />

einer Nato-Agentur<br />

ist höchst ungewöhnlich.<br />

Saudi-Arabien<br />

ist allerdings für die<br />

<strong>eu</strong>ropäischen Partner ein wichtiger<br />

Kunde. 28 „Eurofighter“ hat das Land<br />

bereits, weitere 44 folgen. Wegen Menschenrechtsverletzungen<br />

sind Rüstungsexporte<br />

in das<br />

„Eurofighter“<br />

MARKO DJURICA / REUTERS<br />

Land umstritten. Zuletzt<br />

sorgte ein möglicher<br />

Verkauf von<br />

„Leopard 2“-Panzern<br />

für Debatten über<br />

die Lieferung von<br />

Kriegsmaterial.<br />

15


Panorama<br />

PARTEI EN<br />

Unsaubere Methoden<br />

Der CDU-Rebell Siegfried Kauder<br />

wird im Internet mit unsauberen Methoden<br />

bekämpft. Am 12. Juli hatte<br />

der Bundestagsabgeordnete aus dem<br />

Schwarzwald bestätigt, dass er bei der<br />

Wahl im September als unabhängiger<br />

Kandidat gegen die eigene Partei antreten<br />

wolle. Noch am selben Tag manipulierte<br />

ein unbekannter Nutzer den<br />

Eintrag des Politikers im Online-Lexikon<br />

Wikipedia. Pikantes Detail: Die<br />

IP-Adresse des Users gehört zum Computernetzwerk<br />

des Bundestags. Ob es<br />

sich um einen Abgeordneten, einen<br />

Fraktions- oder einen Verwaltungsmitarbeiter<br />

handelt, ist unklar. Der Unbekannte<br />

löschte den schmeichelhaftesten<br />

Part im Artikel zu Kauder, den Absatz<br />

über das gesellschaftliche Engagement<br />

des Politikers. Dieser amtiert als<br />

Präsident des FC 08 Villingen sowie<br />

der Bundesvereinigung D<strong>eu</strong>tscher<br />

Musikverbände, außerdem engagiert<br />

er sich im Weißen Ring. Die Änderung<br />

hatte allerdings nur<br />

wenige Minuten<br />

Bestand. Dann setzte<br />

ein selbsternannter<br />

Vandalismusbekämpfer<br />

der Wikipedia<br />

den Artikel<br />

zurück auf die vorherige<br />

Kauder<br />

Version.<br />

PATRICK SEEGER / DPA<br />

TIM SCHULZ / DDP IMAGES<br />

DEUTSCHE BAHN<br />

Betagte Technik<br />

Stellwerk in Oberhausen<br />

Personalausfälle in Stellwerken, die seit der vorigen Woche den Zugverkehr im<br />

Mainzer Hauptbahnhof weitgehend lahmlegen, könnten auch andernorts zu<br />

empfindlichen Störungen des Schienenverkehrs führen: Wie in der rheinlandpfälzischen<br />

Landeshauptstadt ist in den meisten Bahnhofsstellwerken die Technik<br />

veraltet und personalintensiv. Knapp 3000 Weichen-Schaltzentralen der D<strong>eu</strong>tschen<br />

Bahn werden immer noch weitgehend mechanisch betrieben. Die Anlagen,<br />

meist mehrere pro Bahnhof, sind oft 40 Jahre und älter. An wenig befahrenen<br />

Strecken stammen sie mitunter sogar noch aus der Kaiserzeit. Lediglich 415<br />

Stellwerke, die ein Drittel des Schienenverkehrs in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> regeln, werden<br />

computergest<strong>eu</strong>ert. Die betagte Technik ist zwar zuverlässig, benötigt aber mehr<br />

Personal als die elektronischen Stellwerke. Nach Angaben der Eisenbahn-Gewerkschaft<br />

EVG fehlen derzeit 1000 Stellen. Außerdem schieben die 12000 Fahrdienstleiter<br />

der Bahn rund eine Million Überstunden vor sich her. Die Personaldecke<br />

sei extrem dünn, sagt ein EVG-Sprecher. Da müssten nur wie in Mainz<br />

Fahrdienstleiter wegen Krankheit und Urlaub ausfallen, „dann bricht das Kartenhaus<br />

zusammen“. Ein Bahn-Sprecher wies die Vorwürfe zurück.<br />

FINANZAUSGLEICH<br />

Seehofer stellt<br />

Bedingung für Koalition<br />

Die CSU verschärft ihre Forderung<br />

nach einer Reform des Länderfinanzausgleichs.<br />

„Wir erwägen, es zur Bedingung<br />

für einen künftigen Koali -<br />

tionsvertrag zu machen, dass die Bundesregierung<br />

bei unserer Klage gegen<br />

den Länderfinanzausgleich mitwirkt“,<br />

sagte Bayerns Ministerpräsident Horst<br />

Seehofer am vergangenen Dienstag<br />

bei einer CSU-Veranstaltung im oberpfälzischen<br />

Amberg. Die Reform des<br />

Länderfinanzausgleichs, mit dessen<br />

Hilfe Geld zwischen zahlungskräftigen<br />

und weniger reichen Ländern umverteilt<br />

wird, ist für die CSU ein zentrales<br />

Wahlkampfanliegen. Gemeinsam mit<br />

Hessen hatte Bayern im vergangenen<br />

März Klage beim Bundesverfassungsgericht<br />

eingereicht.<br />

16<br />

FREIZEIT<br />

Boom der Bäder<br />

In den vergangenen Jahren haben<br />

zwar etliche d<strong>eu</strong>tsche Kommunen aus<br />

Kostengründen ihre Schwimmbäder<br />

geschlossen, doch das von Politik und<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

Medien oft unterstellte<br />

Massen -<br />

sterben der Einrichtungen<br />

hat es nicht<br />

gegeben – im Gegenteil.<br />

Nach einer<br />

vom Bundeswirtschaftsministerium<br />

in Auftrag gegebenen<br />

Studie ist die<br />

Zahl der Hallenund<br />

Freibäder zwischen<br />

2000 und 2012<br />

um etwa zehn Prozent<br />

auf 7499 gestiegen.<br />

Das liege unter<br />

anderem daran,<br />

dass besonders im Osten der Republik<br />

etliche n<strong>eu</strong>e Spaßbäder errichtet wurden,<br />

teilt die Beratungsfirma 2hm &<br />

Associates mit, die die Zahlen für das<br />

Ministerium erhob. In den n<strong>eu</strong>en Bundesländern<br />

kommt nun ein Bad auf<br />

15000 Einwohner, im Westen müssen<br />

sich durchschnittlich 11000 Einwohner<br />

eine Anlage teilen.<br />

HEINER MÜLLER-ELSNER / AGENTUR FOCUS


ZENSUS<br />

Wahlbenachrichtigung<br />

für Geisterwähler<br />

In Berlin werden seit voriger Woche<br />

Wahlbenachrichtigungen an mehrere<br />

zehntausend Einwohner verschickt,<br />

die es laut Zensus 2011 nicht gibt. Die<br />

Bundeshauptstadt richtet sich weiterhin<br />

nach ihrem Melderegister, das<br />

knapp 3,5 Millionen Einwohner verzeichnet.<br />

Die Zahl mutmaßlicher Geisterwähler<br />

ist freilich genauso rätselhaft<br />

wie das Gesamtergebnis des Zensus,<br />

demzufolge die Hauptstadtbevölkerung<br />

um 5,2 Prozent oder exakt<br />

179 391 Personen geschrumpft sein<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong><br />

soll. Ob der Bevölkerungsverlust real<br />

oder doch eher ein Rechenfehler ist,<br />

beschäftigt Berliner Politiker auch in<br />

anderen Bereichen: Weil es in<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong>s größter Stadt laut Zählung<br />

angeblich knapp 40 000 Wohnungen<br />

weniger gibt als bislang gedacht,<br />

müsste beispielsweise die F<strong>eu</strong>erwehr<br />

entsprechend verkleinert werden. Dabei<br />

ist die Zahl der F<strong>eu</strong>erwehreinsätze<br />

real gestiegen, weshalb Berlin beim<br />

Brandschutz das Personal ausbaut.<br />

Eine Staatssekretärsrunde unter Leitung<br />

von Björn Böhning, dem Chef<br />

der Senatskanzlei, untersucht nun, ob<br />

und wie die Landespolitik auf die n<strong>eu</strong>en<br />

Zahlen eingestellt werden muss.<br />

Berlin hat wie mehr als 800 weitere<br />

Kommunen Widerspruch gegen das<br />

Zensus-Ergebnis eingelegt.<br />

Der digitale<br />

SPIEGEL<br />

NS-VERGANGENHEIT<br />

Sollte Hitler Ehrenbürger bleiben?<br />

KRANKENKASSEN<br />

Sonderabgabe für<br />

Luxusimmobilie<br />

Hitler in Goslar 1934<br />

SPD-Chef Sigmar Gabriel<br />

hat sich skeptisch<br />

zu den Plänen geäußert,<br />

Adolf Hitler die Ehrenbürgerwürde<br />

seiner Heimatstadt<br />

Goslar abzuerkennen.<br />

„Man versucht<br />

sich da von etwas reinzuwaschen,<br />

von dem man<br />

sich nicht reinwaschen<br />

kann“, sagte Gabriel am<br />

Rande eines Schulbesuchs<br />

im niedersächsischen<br />

Empelde über die<br />

Bemühungen, den ehemaligen<br />

Reichskanzler<br />

aus der Ehrenreihe zu tilgen:<br />

„H<strong>eu</strong>te finde ich es<br />

fast falsch, das zu machen.“<br />

Als Jugendlicher<br />

habe er eine andere Meinung<br />

vertreten, sagte Gabriel:<br />

„Als Mitglied der<br />

Falken habe ich die Ab -<br />

erkennung immer gewollt.“<br />

Der Stadtrat Goslar<br />

soll sich im September<br />

mit einem entsprechenden<br />

Antrag der Partei<br />

Die Linke befassen.<br />

Der Spitzenverband der gesetzlichen<br />

Krankenkassen (GKV) will bei seinen<br />

Mitgliedern eine Sonderabgabe erheben,<br />

um ein Bürogebäude zu kaufen.<br />

Das hat der Verwaltungsrat des Verbandes<br />

auf seiner letzten Sitzung<br />

Ende Juni beschlossen. Den Kaufpreis<br />

für das „Palais am D<strong>eu</strong>tschen Theater“<br />

in Berlin schätzen die Kassen auf<br />

rund 70 Millionen Euro, der Eigentümer<br />

auf 78 Millionen. Rund acht Millionen<br />

Euro will der Verband aus<br />

Rücklagen finanzieren, für den Rest<br />

sollen die Mitgliedskassen aufkommen.<br />

Sie müssen eine einmalige Umlage<br />

zahlen, die in etwa einen Euro pro<br />

Versicherten betragen soll. Klamme<br />

Kassen dürfen die Zahlung aber stunden,<br />

um Zusatzbeiträge zu vermeiden.<br />

Bundesgesundheitsminister Daniel<br />

Bahr, FDP, hat den Kauf bereits genehmigt.<br />

Gegen eine Finanzierung<br />

über Kredite hatte der Bundesrechnungshof<br />

in vertraulichen Vorgesprächen<br />

Vorbehalte angemeldet. Schon<br />

Anfang Juli waren die 375 Mitarbeiter<br />

des Verbandes in die angemietete<br />

15 000-Quadratmeter-Fläche umgezogen,<br />

die der Eigentümer als „Spitzenimmobilie“<br />

bewirbt. Die Kassenlobbyisten<br />

berufen sich jetzt auf eine<br />

Kaufoption, die ihnen der Mietvertrag<br />

einräumt. Der Verband argumentiert,<br />

dass der Erwerb der Immobilie langfristig<br />

günstiger sei.<br />

DER SPIEGEL 33/2013 17<br />

In dieser Ausgabe:<br />

Alt-Hippies oder Manager?<br />

Fünf verschiedene Elterntypen<br />

im Video<br />

Welche Krise?<br />

Video über den Kampf junger Griechen<br />

für ihr Land<br />

Job für die Welt<br />

Video über Billigkrankenhäuser<br />

in Indien<br />

Die n<strong>eu</strong>e Art zu lesen.<br />

Mit zusätzlichen Hintergrundseiten.<br />

Mit exklusiv produzierten Videos.<br />

Mit 360°-Panoramafotos, interaktiven<br />

Grafiken und 3-D-Modellen.<br />

Alles immer schon ab Sonntag 8 Uhr!<br />

DER SPIEGEL<br />

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<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong><br />

BOTSCHAFTEN<br />

„Gefahren für Leib<br />

und Leben“<br />

Das Bundesinnenministerium ist mit<br />

seiner Forderung nach 60 n<strong>eu</strong>en Bundespolizei-Stellen<br />

für den Botschaftsschutz<br />

vorerst gescheitert. Das Ministerium<br />

hatte die Posten, darunter 30<br />

im Personen- und 30 im Objektschutz,<br />

im März für den Bundeshaushalt 2014<br />

angemeldet. Im Haushaltsentwurf, den<br />

das Kabinett im Juni verabschiedet<br />

hat, sind sie allerdings nicht enthalten.<br />

Dabei hat das Innenministerium den<br />

Bedarf sogar noch höher angesetzt,<br />

nämlich auf 240 n<strong>eu</strong>e Stellen bis 2017.<br />

Schließlich habe die Bundespolizei neben<br />

den schon länger von ihr gesicherten<br />

Botschaften in Kabul und Bagdad<br />

inzwischen auch die Standorte in Tripolis<br />

(Libyen), Sanaa (Jemen), Bogotá<br />

(Kolumbien) und Bamako (Mali) übernommen,<br />

außerdem das n<strong>eu</strong>e Generalkonsulat<br />

in Masar-i-Scharif (Afghani -<br />

stan). Nach einer Wiedereröffnung<br />

wäre sie zudem für die Vertretung im<br />

syrischen Damaskus zuständig. Welche<br />

Folgen es hätte, wenn ihr Wunsch<br />

D<strong>eu</strong>tsche Botschaft im Jemen nach Anschlag am 14. September 2012<br />

nach mehr Stellen abgelehnt würde,<br />

hatten die Innenministerialen vorsichtshalber<br />

schon in ihrem Antrag beschrieben:<br />

Dies führe entweder „zu erheblichen<br />

Gefahren für Leib und Leben<br />

der Entsandten des Auswärtigen<br />

Amtes“, oder aber die Bundespolizei<br />

Panorama<br />

werde im Inland geschwächt, wenn die<br />

benötigten Kräfte hier abgezogen und<br />

ins Ausland geschickt werden müssten.<br />

Diese „faktische Reduzierung“ sei mit<br />

„Blick auf die nationale Sicherheitslage<br />

(illegale Migration und Terrorismus)<br />

nicht mehr hinnehmbar“.<br />

MOHAMED NURELDIN ABDALLAH / REUTERS<br />

WAHL<br />

2013<br />

KOLUMNE<br />

Sechs Wochen noch<br />

Zu den Gefahren des Wahlkampfs gehört, dass er<br />

dick macht. Peer Steinbrück informierte darüber<br />

kürzlich die Öffentlichkeit, als er äußerst kritisch<br />

über „Pappbrötchen“ sprach. Diese „Dickmacher“<br />

würden bei nahezu jedem Termin gereicht. Er habe<br />

sich nun sieben pappbrötchenfreie Tage in der Woche<br />

vorgenommen. Damit ist Ernährung das große Thema<br />

des Wahlkampfs 2013. Denn die Grünen überlegen, in Kantinen<br />

einen vegetarischen Tag pro Woche einzuführen, womit<br />

sie eine Debatte über Vorschriften ausgelöst haben. Es ist<br />

also Zeit für eine kleine Kulinarik der Politik,<br />

bei der es selbstverständlich nur um<br />

große Fragen geht: Egalität, Demokratie,<br />

Schuldenstaat, Freiheit, Koalitionen.<br />

Helmut Kohl isst gern Saumagen, Kurt<br />

Beck Schweinerüssel. Von Gerhard<br />

Schröder bleibt in Erinnerung, dass er die geliebten Schnitzel<br />

zeitweise heimlich „in Autobahnraststätten“ essen musste,<br />

weil ihn eine seiner Ex-Frauen gesund ernähren wollte. Angela<br />

Merkel kocht und löffelt gern Kartoffelsuppe, und Norbert<br />

Röttgen hat die Wahl in Nordrhein-Westfalen 2012 auch<br />

verloren, weil er ungekonnt Bratwürste aß. Bratwürste gehören<br />

ebenfalls zu nahezu jeder Wahlveranstaltung.<br />

Auf Pappbrötchen traf Steinbrück in der vergangenen Woche<br />

bei einem Besuch im Landkreis Steinfurt. Die Pappe hatte<br />

die Form von Brot, nicht von Brötchen, aber der Geschmack<br />

Politiker kommen immer zu<br />

spät, der Käse muss warten<br />

und beginnt zu schwitzen.<br />

war gleich. Als Belag diente wie gewohnt Käse, der schwitzt.<br />

Politiker kommen immer zu spät, der Käse muss warten<br />

und beginnt zu schwitzen. Steinbrück widerstand und nahm<br />

lieber ein Stück Str<strong>eu</strong>selkuchen.<br />

Was sagt uns das alles? Aussage eins: Politiker denken egalitär<br />

und essen das, was der normale Bürger auch isst, ob<br />

nun Schweinerüssel oder Schnitzel. Aussage zwei: Der Einsatz<br />

für die Demokratie ist ein Knochenjob, weshalb auf<br />

dem Speisezettel der Politiker das steht, was auch den Kalorienbedarf<br />

von Pflasterern und Möbelpackern deckt. Aussage<br />

drei: Politiker leben bescheiden, können also kaum verantwortlich<br />

sein für den Schuldenstaat.<br />

Nun zu den Getränken: Als Steinbrück in der vorletzten<br />

Woche in Bayern den Lusen bestiegen hatte, kippte er am<br />

Gipfelkr<strong>eu</strong>z einen Schnaps. Dann ging er zu Weißbier über.<br />

Am Mittwoch der letzten Woche diskutierte<br />

er mit Bürgern auf Norderney und<br />

bestellte überraschend ein Wasser. „Ich<br />

habe meiner Frau zugesagt, dass ich<br />

während des Wahlkampfs keinen Alkohol<br />

mehr trinke“, sagte er.<br />

Halten wir fest: Schröder durfte zu Hause kein Schnitzel essen,<br />

Steinbrück darf im Wahlkampf keinen Alkohol trinken.<br />

Von Merkel ist hingegen nicht bekannt, dass ihr Mann Joachim<br />

Sauer jemals zu ihr gesagt hat: Angela, muss ein zweiter<br />

Teller Kartoffelsuppe wirklich sein? Das führt zu Aussage<br />

vier: Politikerinnen sind freier als Politiker.<br />

So wird eine Prognose zur nächsten Regierung möglich. Sozialdemokraten<br />

sind es gewöhnt, sich bei der Nahrungsaufnahme<br />

Vorschriften machen zu lassen. Rot-Grün liegt näher<br />

als Schwarz-Grün.<br />

Dirk Kurbjuweit<br />

18<br />

DER SPIEGEL 33/2013


SPD-Fraktionschef Steinmeier bei der Vogelbeobachtung in einem Brandenburger Naturpark<br />

THOMAS KOEHLER / PHOTOTHEK VIA GETTY IMAGES<br />

GEHEIMDIENSTE<br />

Attacke im Nebel<br />

In der NSA-Affäre versucht die Regierung, die SPD zum Mitschuldigen zu machen.<br />

Es ist eine riskante Strategie, denn schon kommen n<strong>eu</strong>e Vorwürfe:<br />

Half der BND den Amerikanern bei der Drohnen-Zielerfassung in Afghanistan?<br />

Es gibt einen Schlüsselbegriff, auf<br />

den erfahrene Krisenmanager in<br />

ihren Erzählungen immer wieder<br />

zurückkommen. Kontrollfähigkeit. Darum<br />

geht es, wenn eine Regierung plötzlich<br />

mit einer unangenehmen Entwicklung<br />

konfrontiert wird. Sie muss den Prozess<br />

irgendwie unter Kontrolle behalten.<br />

Die Regierung verfügt dabei über einen<br />

entscheidenden Vorteil: Sie weiß mehr<br />

als alle anderen. Sie kennt die Vorgänge<br />

vollständig. Sie kann abgleichen, was davon<br />

öffentlich geworden ist. Sie kann das<br />

Risiko einschätzen, wie viel noch bekannt<br />

20<br />

werden könnte und durch gezielte Veröffentlichungen<br />

vorb<strong>eu</strong>gen. Mit etwas Geschick<br />

wird es ihr gelingen, die wirklich<br />

wichtigen Dinge am Ende unter der Decke<br />

zu halten.<br />

Die NSA-Affäre passt nicht in dieses<br />

Schema. Seit der geflohene amerikanische<br />

Geheimdienstmann Edward Snow -<br />

den vor n<strong>eu</strong>n Wochen die ersten Einzelheiten<br />

über Washingtons beispiellose Datensammelwut<br />

in die Öffentlichkeit brachte,<br />

fehlt Angela Merkels Regierung das<br />

wichtigste Instrument in einer Krise: die<br />

Kontrollfähigkeit.<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

Das Kanzleramt weiß nicht, was die<br />

Amerikaner wissen. Es weiß nicht, was<br />

Snowden weiß, es kann nicht einschätzen,<br />

was noch kommen wird. Es weiß nicht<br />

genau, was die eigenen L<strong>eu</strong>te wissen und<br />

ob sie das Gleiche wissen wie die Amerikaner.<br />

Der Unterschied zwischen Wissen<br />

und Nichtwissen hat sich für die Regierung<br />

gefährlich verschoben. Wer will sich<br />

öffentlich festlegen, wenn man selbst so<br />

wenig Durchblick hat?<br />

Sieben Wochen lang sind Merkel und<br />

ihre Getr<strong>eu</strong>en deshalb halbblind durch<br />

die NSA-Affäre gestolpert, doch seit Frei-


<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong><br />

tag vorvoriger Woche erwecken sie den<br />

Eindruck, als hätten sie plötzlich einen<br />

Pfad im Nebel gefunden. Da antwortete<br />

der Bundesnachrichtendienst (BND) auf<br />

entsprechende Fragen des SPIEGEL, womöglich<br />

stehe er selbst hinter einem großen<br />

Teil der NSA-Daten aus <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong>.<br />

Und die kämen zudem vor allem aus Afghanistan.<br />

Ein paar Tage später dann ging die Regierung<br />

zur Attacke über. Der damalige<br />

Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier<br />

(SPD) sei es gewesen, der den Amerikanern<br />

im April 2002 in einem bislang unbekannten<br />

Abkommen den Zugang zu den<br />

d<strong>eu</strong>tschen Daten verschafft habe, verkündete<br />

Regierungssprecher Georg Streiter.<br />

Ist Steinmeier also schuld? Und der<br />

Merkel-Herausforderer Peer Steinbrück<br />

ein scheinheiliger H<strong>eu</strong>chler, weil er der<br />

Kanzlerin vorgeworfen hatte, sie habe ihren<br />

Amtseid verletzt? „Jämmerlich“ sei<br />

es, wie die Bundesregierung versuche,<br />

sich aus der Verantwortung zu stehlen,<br />

konterte Steinmeier. Damals, nach 9/11,<br />

sei es um die Aufklärung „eines grauenhaften<br />

Verbrechens“ gegangen, h<strong>eu</strong>te dagegen<br />

um die „lückenlose und flächendeckende<br />

Abschöpfung von Daten unserer<br />

Bürgerinnen und Bürger“.<br />

Merkels Helfer waren dennoch happy.<br />

Endlich Angriff. „Pure H<strong>eu</strong>chelei“ sei das<br />

Verhalten Steinmeiers gewesen, donnerte<br />

CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe.<br />

An diesem Montag will Kanzleramtschef<br />

* Mit Geheimdienstkoordinator Günter Heiß am 25. Juli<br />

in Berlin.<br />

Ronald Pofalla das Abkommen vom 28.<br />

April 2002, das Grundlage für die Geheimdienstzusammenarbeit<br />

mit den USA ist, im<br />

geheim tagenden Parlamentarischen Kontrollgremium<br />

im Wortlaut präsentieren.<br />

Zudem erwägt die CDU, ihre Attacken<br />

auszubauen. Die SPD soll in ihrer Rolle<br />

als sauberer Ankläger demaskiert werden.<br />

Die Regierung des Sozialdemokraten Gerhard<br />

Schröder habe ihr Nein zum Irak-<br />

Krieg mit einer hohen Willfährigkeit bei<br />

der Kooperation der Geheimdienste kompensiert.<br />

„Die Aussage der bedingungslosen<br />

Solidarität könnte eine ganz n<strong>eu</strong>e<br />

Bed<strong>eu</strong>tung bekommen“, sagt Fraktionschef<br />

Volker Kauder.<br />

Doch der Verlauf der NSA-Affäre hat<br />

gezeigt, dass sich die Fronten gefährlich<br />

schnell verschieben können. Seit der SPIE-<br />

GEL in der vergangenen Woche berichtet<br />

hat, dass der massenhafte Transfer von<br />

Verbindungsdaten an die NSA wohl über<br />

den BND-Horchposten im bayerischen<br />

Bad Aibling und einen Stützpunkt in Afghanistan<br />

laufe, wähnt sich die Bundesregierung<br />

auf der sicheren Seite. Der BND<br />

selbst liefere die Daten, d<strong>eu</strong>tsche Staatsbürger<br />

seien nicht betroffen, alles entspreche<br />

Recht und Gesetz, so die offizielle<br />

Lesart. Tatsächlich aber wäre auch diese<br />

n<strong>eu</strong>e Erklärung nicht unproblematisch.<br />

Ein beträchtlicher Teil der millionenfach<br />

übertragenen Metadaten stammen nach<br />

SPIEGEL-Informationen aus der Funkzellenauswertung.<br />

Die Signale entstehen fortlaufend,<br />

wenn sich ein Handy über einen<br />

Sendemast in eine Funkzelle einloggt.<br />

Die blinde Weitergabe dieser Funkzellendaten<br />

an amerikanische Taliban-Jäger<br />

dürfte die politische Auseinandersetzung<br />

noch verschärfen. Blind deshalb, weil der<br />

BND gar nicht prüft, welche Signale er<br />

den Amerikanern im Einzelnen zur Verfügung<br />

stellt. Die in den Snowden-Unterlagen<br />

genannte gigantische Summe von<br />

500 Millionen d<strong>eu</strong>tschen Daten aus dem<br />

vergangenen Dezember („Germany –<br />

Last 30 Days“) hält der BND aber für<br />

„plausibel“.<br />

Der BND erfasst monatlich im Schnitt<br />

3,2 Millionen Inhaltsdaten mit XKeyscore.<br />

Sicher ist, dass XKeyscore, das Spähprogramm,<br />

mit dem BND und Amerikaner<br />

arbeiten, sehr weitreichende Möglichkeiten<br />

bietet. Es gehört wohl zu den größten<br />

Kostbarkeiten aus dem Arsenal der<br />

US-Lauscher (siehe SPIEGEL 30/2013).<br />

Im Parlamentarischen Kontrollgremium<br />

erklärte BND-Chef Gerhard Schindler<br />

am Donnerstag vorletzter Woche, sein<br />

Dienst habe 2012 monatlich im Schnitt<br />

3,2 Millionen Inhaltsdaten mittels XKey -<br />

score aus der Satellitenüberwachung erfasst.<br />

Die Auslandsaufklärer erfuhren<br />

demnach, was in Telefongesprächen besprochen<br />

oder in E-Mails und SMS geschrieben<br />

wurde. Das erklärt aber nur einen<br />

kleinen Teil des Datenstroms, den<br />

Kanzleramtsminister Pofalla*: Umschalten auf Attacke<br />

SOEREN STACHE / DPA<br />

DER SPIEGEL 33/2013 21


<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong><br />

die NSA intern erfasst. Dort ist nämlich<br />

von 182 Millionen XKeyscore-Datensätzen<br />

aus <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> allein im Dezember<br />

die Rede.<br />

Der BND nimmt an, es könnte sich bei<br />

der Differenz um ebenjene Verbindungsdaten<br />

handeln, die in Bad Aibling direkt<br />

an die Amerikaner weitergeleitet werden<br />

und auch Daten aus der Funkzellenauswertung<br />

umfassen. Diese liefern der westlichen<br />

Koalition wertvolle Hinweise für<br />

den Krieg am Hindukusch. Spionageprogramme<br />

wie XKeyscore erstellen daraus<br />

Bewegungsprofile, die mit nur wenigen<br />

Minuten Verzögerung anzeigen, wo sich<br />

die Handynutzer gerade aufhalten – ob<br />

Taliban, Qaida-Kämpfer oder d<strong>eu</strong>tscher<br />

Islamist. Die brisanten Informationen erhöhen<br />

aber auch die Sicherheit der Soldaten.<br />

Nach eigenen Angaben leistete der<br />

BND seit Januar 2011 „maßgebliche Hilfe“,<br />

um vier Anschläge auf d<strong>eu</strong>tsche Soldaten<br />

in Afghanistan zu verhindern. Bei<br />

weiteren 15 verhinderten Anschlägen<br />

habe die Datenüberwachung des Dienstes<br />

„zu diesen Erfolgen beigetragen“.<br />

Im selben Zeitraum, so der BND, habe<br />

er „67 Warnhinweise verfasst, die auf bevorstehende<br />

Anschläge oder auf eine Verschärfung<br />

der Bedrohungslage in Afghanistan<br />

hinwiesen“. Auch die Amerikaner<br />

wissen die Beteiligung des d<strong>eu</strong>tschen Auslandsgeheimdienstes<br />

am Hindukusch zu<br />

schätzen. In geheimen Unterlagen äußerte<br />

sich die NSA mehrfach lobend<br />

über das größere „Risiko“,<br />

das die früher als zu zaghaft<br />

verschrieenen D<strong>eu</strong>tschen<br />

seit geraumer Zeit eingehen.<br />

Für die Regierung könnte<br />

diese Risikobereitschaft jedoch<br />

unangenehme Folgen haben.<br />

Die heikle Frage, die sich nun<br />

aufdrängt, betrifft die Legitimation<br />

dieser engen Kooperation<br />

durch Datentransfer. Darf der<br />

BND Funkzellendaten an die<br />

NSA weiterleiten, wenn sie<br />

womöglich auch eine Rolle bei<br />

tödlichen Operationen der US-<br />

Militärs spielen, wie etwa der<br />

gezielten Tötung von Qaida-<br />

Kämpfern durch amerikanische<br />

Drohnen? Einem Bericht der<br />

„Südd<strong>eu</strong>tschen Zeitung“ zufolge<br />

gibt der Dienst auf ausdrückliche<br />

Anweisung von BND-<br />

Chef Schindler zudem Handy -<br />

nummern an die Partnerdienste<br />

weiter. Liefert er damit den<br />

Hinweis, wonach sie bei der<br />

Funkzellenauswertung suchen<br />

müssen?<br />

Der BND selbst beschwichtigt: Die gelieferten<br />

Daten seien „für eine konkrete<br />

Zielerfassung durch Drohnen zu ungenau“.<br />

Allerdings räumte er auf Anfrage<br />

auch ein: „Die Hilfe bei der Orientierung<br />

für militärische Operationen kann nicht<br />

ausgeschlossen werden.“<br />

Gezielte Tötungen mit unbemannten<br />

Flugz<strong>eu</strong>gen, die martialische Namen wie<br />

„Reaper“ (Sensenmann) und „Predator“<br />

(Raubtier) tragen, stehen weltweit in der<br />

Kritik und sind rechtlich höchst umstritten.<br />

Zwei D<strong>eu</strong>tsche kamen in den vergangenen<br />

Jahren bei solchen Angriffen ums<br />

Leben. Der in Wuppertal aufgewachsene<br />

Bünjamin E. starb am 4. Oktober 2010 in<br />

Softwareprogramme wie XKeyscore erstellen<br />

aus Funkzellendaten Bewegungsprofile.<br />

22<br />

Mir Ali. Im Frühjahr 2012 traf eine Drohne<br />

einen Pick-up, in dem der Aachener<br />

Islamist Samir H. saß. Experten gehen<br />

davon aus, dass Funkzellendaten sehr<br />

wohl zielführende Hinweise für derartige<br />

Angriffe liefern können.<br />

Fraglich ist auch, ob die massenhafte<br />

Datenerhebung und -weitergabe an einen<br />

fremden Geheimdienst ohne weiteres mit<br />

d<strong>eu</strong>tschem Recht vereinbar ist. „Das Gesetz<br />

erlaubt dem BND zwar, von <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong><br />

aus den internationalen E-Mail- und<br />

Telefonverkehr zu überwachen“, sagt der<br />

Jurist Niko Härting, der an der Berliner<br />

Hochschule für Wirtschaft und Recht lehrt,<br />

„die millionenfache Abschöpfung von Verbindungsdaten<br />

sieht es aber nicht vor.“<br />

Der liberale Jurist und Bürgerrechtler<br />

Burkhard Hirsch hält es für sehr pro -<br />

Wahlkämpfer Steinbrück: Ein scheinheiliger H<strong>eu</strong>chler?<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

HANNIBAL HANSCHKE / DPA<br />

blematisch, dass die systematische Zusammenarbeit<br />

d<strong>eu</strong>tscher und amerika -<br />

nischer Dienste offenbar jenseits einer<br />

parlamentarischen Kontrolle stattfindet:<br />

„Wenn der BND in solchem Umfang für<br />

einen anderen Geheimdienst tätig wird,<br />

dann ist das ein politischer Vorgang, der<br />

unter allen Umständen im zuständigen<br />

Bundestagsgremium hätte behandelt<br />

werden müssen.“ Das Parlamentarische<br />

Kontrollgremium jedoch ist in mehreren<br />

Sondersitzungen seit Beginn der NSA-<br />

Affäre nicht über das Ausmaß der Datenweitergabe<br />

durch den BND informiert<br />

worden.<br />

An diesem Montag ergibt sich für das<br />

Kontrollgremium die nächste Gelegenheit,<br />

Licht ins Dunkel zu bringen. Die<br />

wichtigste Frage lautet seit nunmehr zwei<br />

Monaten, wie genau die Tätigkeit von befr<strong>eu</strong>ndeten<br />

ausländischen Diensten in<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> aussieht.<br />

Denn selbst wenn die Einlassungen von<br />

BND und Bundesregierung aus der vergangenen<br />

Woche zutreffen sollten, ist damit<br />

noch immer nicht Edward Snowdens<br />

Hauptvorwurf widerlegt: dass amerikanische<br />

und britische Geheimdienste eigenständig,<br />

systematisch und millionenfach<br />

weltweit Kommunikationsdaten abfischen.<br />

Ein weiteres Indiz für Snowdens Darstellung<br />

liefert eine Stellungnahme der<br />

Bundesregierung aus dem Jahr 2011. Danach<br />

räumte sie von Januar 2005 bis<br />

Februar 2011 exakt 207 ausländischen<br />

Unternehmen Sonderrechte bei „ana-<br />

lytischen Dienstleistungen“ auf d<strong>eu</strong>tschem<br />

Boden ein. Bei deren Tätigkeiten<br />

handelt es sich unter anderem um „Si-<br />

gnals Intelligence“, „Human<br />

Intelligence“ und „Military Intelligence“<br />

– mit anderen Worten:<br />

um menschliche und technische<br />

Spionage.<br />

Ob die Arbeit dieser Unternehmen<br />

die Grundrechte von<br />

Bundesbürgern aushebelt und<br />

was die Bundesregierung im<br />

Einzelnen darüber weiß, ist<br />

ungeklärt. Darüber hinaus zei -<br />

gen n<strong>eu</strong>e Dokumente, die der<br />

SPIEGEL einsehen konnte,<br />

dass US-Geheimdienste ex -<br />

plizit mit etlichen Spionage -<br />

aufgaben in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> betraut<br />

sind (siehe Seite 23).<br />

Die d<strong>eu</strong>tsch-amerikanische<br />

Zusammenarbeit sei auch h<strong>eu</strong>te<br />

noch von großer Bed<strong>eu</strong>tung,<br />

sagt der Altliberale Hirsch. „Es<br />

geht aber nicht, dass die Amerikaner<br />

als Hegemon unserer<br />

Wertegemeinschaft in den<br />

Grundwerten unserer Verfassung<br />

herumholzen wie eine Besatzungsmacht.“<br />

HUBERT GUDE,<br />

KONSTANTIN VON HAMMERSTEIN,<br />

PETER MÜLLER, JÖRG SCHINDLER


Demonstranten am US-Komplex im hessischen Griesheim<br />

PDH<br />

Shrimps aus Griesheim<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> ist für die NSA Partner und Angriffsziel zugleich, wie eine Aufgabenliste der<br />

amerikanischen Aufklärung zeigt. Von Hessen aus operiert der Nachrichtendienst mit<br />

dem Schnüffelwerkz<strong>eu</strong>g XKeyscore – die Ergebnisse werden dem US-Präsidenten vorgetragen.<br />

Das Gelände ist mit einem hohen<br />

Drahtzaun gesichert, darüber haben<br />

die dort ansässigen US-Truppen<br />

teils zusätzlich Nato-Stacheldraht gewickelt.<br />

Die Parkflächen sind riesig, die<br />

Gebäude eher überschaubar, deshalb ahnen<br />

Griesheimer Bürger schon lange, dass<br />

sich der Arbeitsalltag vieler Mitarbeiter<br />

unter der Erde abspielt – und es um ein<br />

geheimes Geschäft geht: Spionage.<br />

Der sogenannte „Dagger-Komplex“ gehört<br />

zu den am besten geschützten Arealen<br />

in Hessen, und was passieren kann,<br />

wenn man sich zu intensiv dafür inter -<br />

essiert, erlebte kürzlich der Griesheimer<br />

Daniel Bangert. Inspiriert durch die Enthüllungen<br />

von Edward Snowden, hatte er<br />

Anfang Juli via Facebook zu einem „Spaziergang“<br />

zum Dagger-Komplex eingeladen,<br />

um „gemeinsam den bedrohten Lebensraum<br />

der NSA-Spione zu erforschen“.<br />

Prompt bekam es Bangert noch vor seiner<br />

Spionage-Safari mit der Polizei zu tun.<br />

Für den Gebäudekomplex im Umland<br />

von Darmstadt interessieren sich derzeit<br />

auch die Parlamentarier des D<strong>eu</strong>tschen<br />

Bundestags. Denn der Campus beherbergt<br />

eine der wichtigsten <strong>eu</strong>ropäischen<br />

Dependancen des amerikanischen Geheimdienstes<br />

National Security Agency<br />

(NSA), der durch die Informationen seines<br />

ehemaligen Mitarbeiters Edward<br />

Snowden weltweit in der Kritik steht.<br />

Laut internen Dokumenten der NSA,<br />

die der SPIEGEL einsehen konnte, residiert<br />

in Griesheim das „Europäische kryptologische<br />

Zentrum“ des Dienstes, kurz<br />

ECC. Aus einem NSA-Bericht von 2011<br />

geht hervor, dass es sich dabei um den<br />

„größten Analyse- und Produktionsstandort<br />

in Europa“ handle: Die Ergebnisse<br />

der Arbeit in der geheimen Einrichtung<br />

im Landkreis Darmstadt-Dieburg fänden<br />

durchschnittlich zweimal pro Woche<br />

Eingang in die Lageberichte an Präsident<br />

Barack Obama, die sogenannten „Presidential<br />

Daily Briefs“.<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> ist für die NSA in vielerlei<br />

Hinsicht ein besonderer Standort. Aus wenigen<br />

anderen Ländern fließen so viele<br />

Daten nach Amerika, erhebliche Teile liefert<br />

der d<strong>eu</strong>tsche Bundesnachrichtendienst<br />

(SPIEGEL 32/2013). Zugleich ist die<br />

Bundesrepublik – allen fr<strong>eu</strong>ndschaftlichen<br />

Bet<strong>eu</strong>erungen zum Trotz – selbst Zielscheibe<br />

der Aufklärung. Laut einer als<br />

„geheim“ eingestuften Übersicht aus dem<br />

Snowden-Archiv, die der SPIEGEL einsehen<br />

konnte, gehört <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> zu jenen<br />

Nationen, die von den Amerikanern nachrichtendienstlich<br />

aufgeklärt werden.<br />

In der Übersicht aus dem April 2013<br />

definiert die NSA ihre „intelligence priorities“,<br />

also die nachrichtendienstlichen<br />

Prioritäten. Die Skala reicht von „1“<br />

(höchstes Interesse) bis „5“ (niedrigstes<br />

Interesse). Zu den Top-Zielen zählen, wenig<br />

überraschend, China, Russland, Iran,<br />

Pakistan und Afghanistan.<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> rangiert in dieser Art<br />

Hausaufgabenliste im Mittelfeld, etwa auf<br />

einer Ebene mit Frankreich und Japan,<br />

aber vor Italien und Spanien. Im Themenraster<br />

des Geheimdienstes befinden sich<br />

laut der Übersicht vor allem die d<strong>eu</strong>tsche<br />

Außenpolitik sowie Fragen der ökonomischen<br />

Stabilität und Gefahren für die Finanzwirtschaft,<br />

beide sind mit einer „3“<br />

markiert. Weitere Aufklärungsaufträge<br />

umfassen Themen wie Waffenexporte,<br />

n<strong>eu</strong>e Technologien, hochentwickelte konventionelle<br />

Waffen und den internationalen<br />

Handel, alle mit der Priorität „4“. Für<br />

weniger bedrohlich halten die US-Lau-<br />

DER SPIEGEL 33/2013 23


Regierungschefs Merkel, Obama*: „Abhören von Fr<strong>eu</strong>nden ist inakzeptabel“<br />

scher offenbar die Gegenspionage aus<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> und die von hier ausgehende<br />

Gefahr für Cyberangriffe auf US-Infrastrukturen<br />

(Priorität „5“). Insgesamt sind<br />

es n<strong>eu</strong>n Themenbereiche, die in Bezug<br />

auf die Bundesrepublik aufgeklärt werden<br />

sollen.<br />

Das Spionage-Tableau bestätigt zudem,<br />

dass die Europäische Union zu den Zielen<br />

gehört, die die Amerikaner attackieren.<br />

Sechs Themenfelder werden demnach ausgeforscht.<br />

Hauptsächlich sind dies die<br />

Bereiche „Außenpolitische Ziele“, „Internationaler<br />

Handel“ und „Wirtschaftliche<br />

Stabilität“, sie sind jeweils mit einer „3“<br />

gelistet. Dazu kommen, mit der geringeren<br />

Priorität „5“, n<strong>eu</strong>e Technologien, Energiesicherheit<br />

sowie Ernährungsfragen.<br />

Staaten wie Kambodscha, Laos oder<br />

Nepal scheinen aus der US-Perspektive<br />

dagegen offenbar geheimdienstlich weitgehend<br />

irrelevant, ebenso die meisten<br />

eruopäischen Länder, etwa Finnland, Dänemark,<br />

Kroatien oder Tschechien.<br />

Die Übersicht drückt das ambivalente<br />

Verhältnis aus, das die USA zu vielen<br />

Ländern unterhalten. Auf der einen Seite<br />

kooperieren die Geheimdienste miteinander<br />

und tauschen Informationen aus. Auf<br />

der anderen Seite werden viele Länder<br />

ausgespäht, zumindest in Teilen. Nur<br />

Großbritannien, Australien, Kanada und<br />

N<strong>eu</strong>seeland – zusammen mit den USA<br />

auch die „fünf Augen“ genannt – gelten<br />

als echte Fr<strong>eu</strong>nde, die weitgehend tabu<br />

* Am 19. Juni in Berlin.<br />

24<br />

sind und mit denen ein offener Austausch<br />

stattfindet.<br />

Etwa 30 andere Staaten werden von<br />

der NSA als „3rd party“ bezeichnet, mit<br />

denen sie unter Vorbehalt zusammen -<br />

arbeitet; dazu zählt <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong>. „Wir<br />

können die Signale der meisten ausländischen<br />

Partner dritter Klasse angreifen –<br />

und tun dies auch“, heißt es in einer geheimen<br />

Selbstdarstellung der NSA.<br />

Die Prioritätenliste, in der <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong><br />

als Angriffsziel aufgeführt ist, ist ein Rückschlag<br />

für die Bemühungen der Amerikaner,<br />

den bisher durch das Bekanntwerden<br />

diverser Spionageprogramme und Überwachungsaktionen<br />

eingetretenen Schaden<br />

einzudämmen; noch vergangene Woche<br />

bet<strong>eu</strong>erte der BND, er habe „keine Anhaltspunkte“,<br />

dass die NSA „personenbezogene<br />

Daten d<strong>eu</strong>tscher Staatsangehöriger<br />

in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> erfasst“.<br />

„Abhören von Fr<strong>eu</strong>nden, das ist inakzeptabel“,<br />

hatte die Kanzlerin ihren Sprecher<br />

Steffen Seibert ausrichten lassen,<br />

nachdem der SPIEGEL beschrieben hatte,<br />

wie die NSA Einrichtungen der Europäischen<br />

Union infiltriert. „Wir sind nicht<br />

mehr im Kalten Krieg.“<br />

Gut sechs Wochen nach Beginn der Affäre<br />

wartet die Bundesregierung noch immer<br />

auf Antworten darauf, was genau die<br />

NSA in und gegen <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> treibt.<br />

Insbesondere fehlt eine vollständige Auskunft,<br />

welche Daten die NSA erhebt oder<br />

erheben lässt, zusätzlich zu jenen Millionen<br />

Metadaten, von denen der BND einräumt,<br />

sie in seinen Abhörstationen, etwa<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

in Bad Aibling, zu sammeln<br />

und weiterzu leiten.<br />

Wie intensiv die Amerikaner<br />

von <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> aus im<br />

internationalen Datenverkehr<br />

stöbern, illustrieren verschiedene<br />

NSA-Unterlagen aus den<br />

vergangenen Jahren, die der<br />

SPIEGEL erstmals einsehen<br />

konnte. Neben der Station in<br />

Bad Aibling spielt darin die<br />

NSA-Dependance in Griesheim<br />

eine große Rolle, sie sei<br />

eine „Erfolgsgeschichte“ im<br />

Bereich der technischen Aufklärung,<br />

loben die NSA-L<strong>eu</strong>te.<br />

Allein von 2007 bis 2011 sei<br />

die Zahl der Aufträge, bestimmte<br />

Ziele auszuforschen,<br />

von 5 auf 26 gestiegen, heißt<br />

es in einem Papier. Demnach<br />

haben die dort tätigen 240<br />

ECC-Mitarbeiter (Stand 2011)<br />

diverse Schwerpunkte, darunter<br />

Afrika, Europa und den<br />

Nahen Osten sowie die Terrorabwehr.<br />

Der Standort in Hessen ist<br />

aber noch aus einem weiteren<br />

Grund interessant: Dort wird<br />

offenbar die umstrittene Software<br />

XKey score eingesetzt.<br />

Das geht aus einem NSA-internen Erfahrungsbericht<br />

von 2012 hervor. Er trägt den<br />

merkwürdigen Titel „Erzählungen aus<br />

dem Land der Gebrüder Grimm“ und beschreibt,<br />

wie erfolgreich die Analysten<br />

das Schnüffelprogramm einsetzen. Er ist<br />

auch deshalb erhellend, weil d<strong>eu</strong>tlich<br />

wird, dass viele NSA-Mitarbeiter selbst<br />

gehörigen Respekt vor XKeyscore haben.<br />

Er habe immer Angst gehabt, mit einem<br />

Bein im Gefängnis zu stehen, wenn er das<br />

Programm benutzt habe, wird ein Analyst<br />

zitiert – seit dem Training gehe er selbstbewusster<br />

damit um.<br />

Früher sei die Arbeit der NSA-Analysten<br />

vergleichbar gewesen mit „Forrest<br />

Gump auf seinem Shrimpkutter vor der<br />

Küste von Alabama“, heißt es in dem Bericht<br />

aus Griesheim. Man habe aus dem<br />

Datenozean hauptsächlich „Klobrillen<br />

und Seetang gefischt und irgendwann …<br />

drei Shrimps!“. Man habe eine Menge<br />

Ressourcen „verbrannt“, um an diese<br />

paar Shrimps zu kommen, also Dokumente<br />

oder Metadaten, die das Wissen über<br />

die Ziele erweitern, „wir haben es mit<br />

Tonnen von Klobrillen, Spam und anderem<br />

Müll zu tun“. Nach der Einführung<br />

von XKeyscore sei die Arbeit wesentlich<br />

effizienter geworden. Die Instrumente<br />

erlaubten präzise Fischzüge – mehr<br />

Shrimps, weniger Beifang.<br />

Seine L<strong>eu</strong>te hätten damit „n<strong>eu</strong>e Datenströme<br />

und n<strong>eu</strong>e Dokumente entdeckt“,<br />

schwärmt ein Bereichsleiter der Afrika-<br />

Abteilung. Darunter sei etwa Material<br />

des tunesischen Innenministeriums gewe-<br />

MARCUS BRANDT / DPA


sen, das in keinem anderen Überwachungssystem<br />

hängengeblieben sei.<br />

Die n<strong>eu</strong>en Möglichkeiten des Systems,<br />

das nach eigenen Angaben auch der BND<br />

in kleinem Maßstab seit 2007 einsetzt,<br />

will die NSA offenbar mit einem internen<br />

Modernisierungsprogramm möglichst<br />

weit verbreiten. Sie setzt dabei auf eine<br />

Schulung, die sich der britische Geheimdienst<br />

GCHQ ausgedacht hat, eine Art<br />

Zirkeltraining für verschiedene Stationen.<br />

Im März 2012 fand demnach in Griesheim<br />

ein solches Training für 68 Teilnehmer<br />

statt – die jeweils 20 Minuten an den verschiedenen<br />

Stationen seien wie „Speed<br />

Dating“ gewesen.<br />

Um zusätzliche Motivation zu schaffen,<br />

bedient sich die NSA im Umgang mit<br />

dem Programm verschiedener Anleihen<br />

aus dem Computerspielebereich: So sollen<br />

die Analysten durch besonders erfolgreiche<br />

XKeyscore-Ausspähungen „Skilz“-<br />

Punkte erwerben und verschiedene „Level“<br />

erreichen. Die Trainingseinheiten in<br />

Hessen zeigen offenbar Erfolg: ECC-Analysten<br />

hätten die „höchsten durchschnittlichen<br />

Skilz-Punkte“, verglichen mit allen<br />

anderen entsprechenden NSA-Abteilungen,<br />

heißt es.<br />

Was genau die Truppe in Griesheim<br />

treibt und ob sie von dort aus möglicherweise<br />

auch Ziele in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> überwacht,<br />

werden die Amerikaner der Bundesregierung<br />

wohl kaum eingestehen.<br />

Schon jetzt, klagt der Ex-NSA-Chef Michael<br />

Hayden gegenüber dem SPIEGEL,<br />

sei durch die Enthüllungen „schwerer<br />

Schaden für das d<strong>eu</strong>tsch-amerikanische<br />

Verhältnis entstanden“. Nach dem 11.<br />

September 2001 habe er sich intensiv um<br />

ein gutes Verhältnis zum BND bemüht.<br />

„Ich wollte nicht wie ein Besatzer auftreten,<br />

sondern die Zusammenarbeit ausbauen.“<br />

Dieser Erfolg sei nun gefährdet.<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong><br />

Der mittlerweile pensionierte Vier-Sterne-General<br />

streitet allerdings nicht ab,<br />

dass die NSA spioniere: „Wir sind die<br />

Nummer eins darin, Informationen zu<br />

klauen.“ Hayden ist stolz darauf, dies sei<br />

keine böse Spionage, sondern eine, die<br />

noblen Zwecken diene: „Wir stehlen<br />

nicht, um die Menschen reicher zu machen,<br />

sondern um ihnen mehr Sicherheit<br />

zu geben.“<br />

Der 11. September 2001, sagt auch der<br />

ehemalige NSA-Mitarbeiter Thomas<br />

Drake, habe für das amerikanische Verhältnis<br />

zu <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> eine zentrale Rolle<br />

eingenommen. Drake flog jahrelang in Aufklärungsflugz<strong>eu</strong>gen<br />

über d<strong>eu</strong>tschem Boden,<br />

er horchte den Ostblock aus und<br />

spricht die d<strong>eu</strong>tsche Sprache. Er hat den<br />

Dienst 2008 verlassen und ist wie Snowden<br />

zum Whistleblower geworden. „Die Anschläge<br />

vom 11. September waren ein<br />

Schlüsselerlebnis“, sagt Drake. „Danach<br />

wurde <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> von der NSA zu einem<br />

wichtigen Operationsgebiet und Zielland<br />

erklärt.“ Die Amerikaner hätten selbst aufklären<br />

wollen, wer in der Bundesrepublik<br />

etwa mit Islamisten sympathisiere.<br />

Drakes Behauptung wird durch eine<br />

Präsentation des Griesheimer NSA-Zentrums<br />

gestützt. Darin werden „Analyseansätze<br />

für Ziele in Europa“ beschrieben.<br />

Anlass für die Überwachung: „Die meisten<br />

Terroristen reisen durch Europa.“<br />

Einen weiteren Ansatzpunkt, für wen<br />

sich die Amerikaner interessieren, liefert<br />

die NSA in einem anderen Dokument.<br />

Es gebe aktive Gruppen der Anonymous-<br />

Bewegung in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong>, die für die<br />

NSA ein legitimes Ziel seien – solange es<br />

sich bei ihnen nicht um US-Bürger handle.<br />

Außerdem durchforsten die Ameri -<br />

kaner Daten aus <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> nach möglichen<br />

Rüstungsgeschäften.<br />

XKeyscore ist dafür ein hervorragendes<br />

Instrument, weil es unspezifische Suchvorgänge<br />

erlaubt: Ein Analyst kann mit Hilfe<br />

der Software auf bislang völlig unbekannte<br />

Internetnutzer aufmerksam gemacht werden,<br />

weil die sich plötzlich für bestimmte<br />

Themen interessieren oder ein bestimmtes<br />

Verhalten an den Tag legen.<br />

Interessant wird nun sein, ob die amerikanische<br />

Regierung das Glasnost-Versprechen<br />

wahrmacht, das Obama am Freitag<br />

aufgrund des gestiegenen öffentlichen<br />

„Wir sind die Nummer eins darin,<br />

Informationen zu klauen.“<br />

NSA-Aussteiger Drake: „Nach dem 11. September 2001 wurde <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> zum Ziel“<br />

DAN CHUNG<br />

Drucks abgab. „Wir können und müssen<br />

transparenter sein“, so der Präsident. Er<br />

habe die Geheimdienste angewiesen, wesentlich<br />

mehr Informationen über die kritisierten<br />

Überwachungsprogramme zu<br />

veröffentlichen.<br />

Ob dazu allerdings die Arbeit der NSA<br />

in Griesheim zählt, ist ebenso fraglich wie<br />

eine Erklärung zu der Prioritätenliste für<br />

Spionageziele. Wie immer in diesen Fällen<br />

kommt es aufs Kleingedruckte an.<br />

Manche Vorwürfe, das Verwanzen von<br />

EU-Botschaften etwa, ließen sich nicht<br />

ohne Gesichtsverlust erklären – zumal<br />

Obama nach seinem Besuch in Berlin versichert<br />

hatte, wenn er wissen wolle, wie<br />

Merkel denke, dann rufe er sie an, dafür<br />

brauche er nicht die NSA.<br />

Bundesinnenminister Hans-Peter Fried -<br />

rich (CSU) und Kanzleramtschef Ronald<br />

Pofalla (CDU) werden vor allem einen<br />

Satz des amerikanischen Präsidenten mit<br />

Genugtuung zur Kenntnis genommen haben:<br />

Amerika spioniere nicht die Bevölkerungen<br />

anderer Länder aus. Wochenlang<br />

hatte die Bundesregierung auf ein<br />

solches Statement in Washington gedrängt.<br />

Dass die Bundesrepublik und die<br />

EU als Spionageziele der NSA geführt<br />

werden, trübt die Fr<strong>eu</strong>de freilich.<br />

Die d<strong>eu</strong>tschen Geheimdienste hoffen<br />

ohnehin auf ein baldiges Ende der Enthüllungen,<br />

sie wollen zum Alltag zurückkehren,<br />

der eine enge Kooperation mit<br />

den Amerikanern vorsieht. Das eint sie<br />

mit den meisten NSA-Mitarbeitern, denen<br />

Snowden ein Gräuel ist, weil sie die<br />

Macht von Instrumenten wie XKeyscore<br />

genießen. Jeder möge doch „ein n<strong>eu</strong>es<br />

Spielz<strong>eu</strong>g“, schwärmt ein NSA-Mann in<br />

einem der Berichte. XKeyscore sei vielleicht<br />

„wie ein siebenköpfiger Drache“:<br />

„Groß und angsteinflößend? Sicher. Stark<br />

und mächtig? Oh ja!“<br />

Es liege an den NSA-Mitarbeitern, ihn<br />

zu zähmen, um dann „damit zu tun, was<br />

immer wir wollen“. LAURA POITRAS,<br />

MARCEL ROSENBACH, HOLGER STARK<br />

DER SPIEGEL 33/2013 25


SOZIALDEMOKRATEN<br />

Pakt mit<br />

der Basis<br />

Nach der Wahl will Sigmar<br />

Gabriel einen Konvent einberufen<br />

und damit seine Macht sichern:<br />

Fraktionschef Steinmeier muss das<br />

als Kampfansage betrachten.<br />

Die Vorlage für den Parteichef<br />

kommt aus Nordrhein-Westfalen.<br />

Es ist Montagvormittag,<br />

die SPD-Vorstandssitzung in<br />

WAHL<br />

Berlin plätschert vor sich hin.<br />

2013 Michael Groschek, General -<br />

sekretär der nordrhein-westfälischen SPD,<br />

hat jetzt genug gehört von den Phrasen<br />

über den Haustürwahlkampf, genug von<br />

den seichten Erlebnisberichten seiner Vorstandskollegen.<br />

Er will endlich über den<br />

Tag danach reden, den Tag nach der drohenden<br />

Pleite am 22. September.<br />

„Wie sollen eigentlich die Entscheidungen<br />

nach der Bundestagswahl laufen?“,<br />

fragt er, „werden die wichtigen Beschlüsse<br />

wieder im engsten Kreis gefasst?“ Die<br />

Parteilinke Hilde Mattheis springt ihm<br />

bei: „Ich bin dafür, die Mitglieder so weit<br />

es geht einzubinden“, fordert sie.<br />

Sigmar Gabriel nutzt die Gelegenheit<br />

und greift das Thema auf. Eigentlich hatte<br />

er den Punkt unter „Verschiedenes“ am<br />

Ende der Sitzung abhandeln wollen. Doch<br />

jetzt muss er sich dem Begehren stellen.<br />

„Wir werden direkt nach der Wahl einen<br />

Parteikonvent einberufen“, kündigt der<br />

Parteichef an. Die Vorstandskollegen sind<br />

baff. Kurz darauf steht auch der Termin<br />

fest: am Dienstag, 24. September, 16 Uhr,<br />

26<br />

Parteichef Gabriel<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

KAY NIETFELD / PICTURE ALLIANCE / DPA<br />

in Berlin. Nicht einmal 48 Stunden nach<br />

Schließung der Wahllokale – und einen<br />

Tag bevor die Fraktion über die eigene<br />

Führung entscheiden kann.<br />

Gabriels Kollegen in der SPD-Spitze<br />

sind vor den Kopf gestoßen. Unmittelbar<br />

nach Ende der Sitzung greifen zahlreiche<br />

Genossen zu ihrem Handy, für viele hat<br />

der Parteichef mal wieder einen Alleingang<br />

hingelegt, ohne Rücksprache in den<br />

engeren Führungszirkeln, ohne Diskus -<br />

sion im Parteivorstand. Aber niemand<br />

hatte den Mut, ihn offen zu kritisieren:<br />

Der Konvent wird ohne Gegenstimme beschlossen.<br />

In der Regel trifft nach einer Bundestagswahl<br />

die Fraktion die erste Entscheidung<br />

– am Dienstag mit der Wahl ihres<br />

Vorsitzenden. Die Partei muss warten. So<br />

hat es Tradition, und so sicherten sich Angela<br />

Merkel 2005 in der Union und Frank-<br />

Walter Steinmeier 2009 in der SPD nach<br />

desolaten Wahlergebnissen die Macht.<br />

Doch genau das will Gabriel dieses Mal<br />

verhindern. Die Stunden und Tage nach<br />

der Wahl könnten auch über sein politisches<br />

Schicksal entscheiden. Sollte das<br />

Ergebnis für die Sozialdemokraten dramatisch<br />

schlecht ausfallen, muss Gabriel<br />

um den Parteivorsitz fürchten. Kein Szenario<br />

wäre dann gefährlicher als dieses:<br />

Ein Kanzlerkandidat, der sich aus dem<br />

Staub macht, ein Fraktionschef, der sich<br />

rasch im Amt bestätigen lässt, und ein<br />

Parteivorsitzender, auf den allein sich der<br />

Frust über eine ern<strong>eu</strong>te Niederlage konzentriert.<br />

Mit dem kleinen Parteitag verbündet<br />

sich Gabriel mit dem Mittelbau der Partei.<br />

Im Konvent kann er auf Unterstützung<br />

hoffen, selbst bei einem schlechten Wahlergebnis.<br />

So ist der Vorstoß auch eine<br />

Kampfansage, nicht zuletzt an Frank-<br />

Walter Steinmeier. Der hatte sich vor vier<br />

Jahren noch am Abend der Niederlage<br />

im Schulterschluss mit Franz Müntefering<br />

zum Fraktionschef ausgerufen – obwohl<br />

er das schlechteste Ergebnis seit 1949 geholt<br />

hatte. Ein zweites Mal soll ihm das<br />

nicht gelingen.<br />

Bisher hatte Steinmeier gehofft, mit<br />

den Abgeordneten im Rücken von den<br />

Folgen einer möglichen Wahlpleite verschont<br />

zu bleiben. Doch dieser Plan ist<br />

perdu. Bevor der Fraktionschef sich wiederwählen<br />

lassen könnte, muss er sich<br />

nun den Funktionären stellen – mit ungewissem<br />

Ausgang. Ein Konvent von<br />

rund 200 Delegierten ist unkalkulierbar.<br />

Die Abrechnung wird dieses Mal nicht in<br />

den Hinterzimmern, sondern auf offener<br />

Parteibühne stattfinden.<br />

Mit dem Konvent hofft Gabriel den<br />

Parteivorsitz für sich zu retten. Dafür hat<br />

er in letzter Zeit Verbündete gewonnen:<br />

Die Parteilinke hat ihre Zuneigung zum<br />

Vorsitzenden entdeckt. Mit ihm als starkem<br />

Mann, so das Kalkül, ließe sich nach<br />

der Bundestagswahl ein echter Linkskurs<br />

umsetzen.<br />

Und auch Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin<br />

Hannelore Kraft, sonst<br />

gern anderer Meinung als Gabriel, ist unverhofft<br />

zur Verbündeten geworden. Sie<br />

hat kein Interesse an einem Sturz Gabriels,<br />

weil sie dann, so ihre Sorge, möglicherweise<br />

selbst SPD-Chefin werden<br />

müsste. Kraft hat Respekt vor Berlin. Sie<br />

fürchtet, dasselbe Schicksal zu erleiden<br />

wie Kurt Beck oder Matthias Platzeck,<br />

die als Parteichefs in der Hauptstadt nie<br />

wirklich ankamen.<br />

Geht es nach Gabriel, ist der Konvent<br />

erst der Anfang. Sollten es die Mehrheiten<br />

bei der Wahl ergeben, will er die Partei<br />

in einem Mitgliederentscheid über die<br />

ungeliebte Große Koalition entscheiden<br />

lassen. Dass der Ausgang einer solchen<br />

Abstimmung offen wäre, stört ihn dabei<br />

keineswegs. So oder so könnte er sich an<br />

die Spitze der Bewegung setzen.<br />

Als der Vorstand am Montag den Konvent<br />

beschloss, fehlte in der Sitzung nicht<br />

nur Steinmeier, auch Spitzenkandidat<br />

Peer Steinbrück war gerade nicht im<br />

Raum. Für ihn kommt die Debatte zur<br />

Unzeit: Schon wieder befasst sich die<br />

SPD mit einer möglichen Niederlage.<br />

HORAND KNAUP, GORDON REPINSKI


MANFRED VOLLMER / IMAGETRUST<br />

REGULIERUNG<br />

Der Nanny-Staat<br />

Politiker aller Parteien versuchen, die Bürger mit strengen Vorschriften oder sanftem<br />

Druck zu richtigem Verhalten anzuleiten. In vielen Fällen helfen die Regeln<br />

aber nicht, sondern bedrohen die Freiheit des Einzelnen. Von Alexander N<strong>eu</strong>bacher<br />

Für Fußgänger, die in Düsseldorf eine<br />

Straße überqueren wollen, hat der<br />

Oberbürgermeister einen Leitfaden<br />

herausgegeben. Thema: So gehen Sie<br />

richtig über die Ampel. In Düsseldorf hält<br />

man das für eine erklärungsbedürftige<br />

Sache. Einige Fußgängerampeln verfügen<br />

nämlich nicht nur über eine Rot- und eine<br />

Grün-, sondern auch über eine Gelb -<br />

phase. Das gibt es in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> selten,<br />

weshalb die Verwaltung auf acht Seiten<br />

und einigen Schautafeln alle wichtigen<br />

Regeln zusammengefasst hat. „Die Ampel<br />

springt auf Grün“, heißt es dort: „Der<br />

ideale Zeitpunkt für alle Fußgänger, jetzt<br />

loszugehen.“ Oder: „Die Ampel springt<br />

auf Gelb. Jetzt gilt für alle: Auf dem<br />

Überweg weitergehen – vor dem Überweg<br />

anhalten!“<br />

Man könnte die Ampelbroschüre als<br />

Posse um eine überfürsorgliche Verkehrsbehörde<br />

abtun. Schließlich gibt es die<br />

Gelbphase für Fußgänger in Düsseldorf<br />

seit fast 50 Jahren. Doch das Regelwerk<br />

steht für ein Phänomen, das weit über die<br />

28<br />

Landeshauptstadt hinausreicht:<br />

Es geht um einen Staat, der<br />

zunehmend glaubt, er müsse<br />

den Bürger vor sich<br />

selbst beschützen.<br />

Bundesverkehrsminister<br />

Peter Ramsauer droht mit<br />

einer Helmpflicht für Fahrradfahrer<br />

und warnt Fußgänger<br />

vor dem Tragen von Kopfhörern.<br />

Der von der Bundesregierung<br />

eingesetzte Sachverständigenrat<br />

für Umweltfragen<br />

schlägt vor, eine St<strong>eu</strong>er<br />

auf gesättigte Fettsäuren zu<br />

erheben, damit die Bürger weniger<br />

Fleisch, Wurst und Butter essen. Auf dem<br />

Jahn-Sportplatz im Berliner Stadtteil<br />

Prenzlauer Berg dürfen Mütter und Väter<br />

jetzt nicht mehr hinter einem Kinderwagen<br />

herjoggen: Berlins Innensenator hat<br />

ein Buggy-Verbot für öffentliche Sportanlagen<br />

ausgesprochen.<br />

In Nordrhein-Westfalen trat kürzlich<br />

ein nochmals verschärftes Anti-Raucher-<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

Joggen mit Kinderwagen<br />

untersagt<br />

Gesetz in Kraft. Es trifft auch<br />

Elektrozigaretten, aus denen<br />

überhaupt kein Rauch<br />

herauskommt. An Deck<br />

bayerischer Ausflugsdampfer<br />

ist das Rauchen<br />

sogar unter freiem Himmel<br />

verboten und demnächst<br />

womöglich sogar in<br />

Biergärten.<br />

Als die grünen Wahlkämpfer<br />

in der vergangenen Woche<br />

ihre Forderung nach<br />

einem wöchentlichen Vegetariertag<br />

in Kantinen ern<strong>eu</strong>erten,<br />

muckten selbst jene Bürger auf, die<br />

sonst durchaus bereit wären, sich über<br />

den Zusammenhang zwischen Fleischkonsum,<br />

Massentierhaltung und Weltklima<br />

Gedanken zu machen. Auf Twitter<br />

und Facebook erregten sich Tausende<br />

über die grünen Tischsittenwächter. Unter<br />

dem Slogan „Burger-Rechte für alle“ nutzen<br />

Jugendvertreter von Union und FDP<br />

die Wahlkampfvorlage, um mit Grillwürs-


ten und Buletten vor der Grünen-Parteizentrale<br />

zu protestieren. SPD-Kanzlerkandidat<br />

Peer Steinbrück („Es geht um<br />

die Wurst“) distanzierte sich vom potentiellen<br />

Koalitionspartner.<br />

Die Wähler beschleicht der Verdacht,<br />

zum Opfer politischer Ablenkungsmanöver<br />

zu werden. Sie sind nicht gegen Regulierung,<br />

im Gegenteil. Die Bankenund<br />

die Finanzkrise oder die<br />

Energie- und Klimaschutz -<br />

politik sind Bereiche, in denen<br />

die ordnende Hand<br />

des Staates dringend gebraucht<br />

wird. Es wäre ein<br />

Segen gewesen, hätte die<br />

Politik die Regulierung des<br />

Bankgewerbes mit derselben<br />

Konsequenz und Härte<br />

verfolgt wie das Verbot der<br />

Glühbirne. Und auch um die<br />

Verletzungsgefahr:<br />

Sitzbälle verboten<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong><br />

Privatsphäre der Bürger zu<br />

wahren, brauchte es nach<br />

Ansicht vieler Wähler den<br />

Schutz eines starken Staates,<br />

wie die jüngsten Erkenntnisse über Internetausspähungen<br />

und Abhörmethoden<br />

zeigen.<br />

Doch womöglich wollen einige Politiker<br />

durch Lifestyle-Regulierung ihre<br />

Handlungsfähigkeit beweisen, gerade<br />

weil sie bei den wichtigen Themen nicht<br />

vorankommen. Es ist eben leichter, den<br />

Gebrauch von Heizpilzen zu untersagen,<br />

als den <strong>eu</strong>ropäischen Emissionszertifikatehandel<br />

auf eine funktionierende Grundlage<br />

zu stellen.<br />

Vater Staat umsorgt und behütet, lenkt<br />

und motiviert. Er neigt zum Moralisieren<br />

und mischt sich gern in Wertefragen ein.<br />

Er greift tief in den Alltag der Menschen<br />

ein.<br />

Bundesarbeitsministerin Ursula von<br />

der Leyen möchte per Gesetz erzwingen,<br />

dass Arbeitgeber öfter Frauen befördern<br />

und Arbeitnehmer seltener Überstunden<br />

machen. Bundesumweltminister Peter<br />

Altmaier will die Kennzeichnungspflicht<br />

für Ein- und Mehrwegflaschen verschärfen;<br />

er behauptet, die Verbraucher bemerkten<br />

sonst den Unterschied nicht.<br />

Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr<br />

möchte den Versandhandel mit Arzneimitteln<br />

teilweise wieder einschränken;<br />

die „Patientensicherheit“ sei gefährdet.<br />

Hinter der Verbotswelle steckt ein pessimistisches<br />

Menschenbild. Das Individuum<br />

ist in Verruf geraten. Der Staat traut<br />

dem Einzelnen nicht mehr viel zu, jedenfalls<br />

nichts Gutes. An die Stelle des<br />

Homo sapiens tritt der Homo demenz,<br />

der betr<strong>eu</strong>ungsbedürftige Trottelbürger.<br />

Über 200 Jahre nachdem Immanuel Kant<br />

den Aufbruch des Menschen aus dessen<br />

selbstverschuldeter Unmündigkeit verkündete,<br />

schlägt das Pendel jetzt in die<br />

Gegenrichtung.<br />

Der angebliche Trottelbürger neigt zu<br />

Verantwortungslosigkeit und selbstschädigendem<br />

Verhalten; er weiß nicht, was<br />

gut für ihn ist. Im Straßenverkehr ist er<br />

je nach Untersatz als Autoraser oder<br />

Kampfradler unterwegs. Er ernährt sich<br />

ungesund, trinkt Alkohol und arbeitet bis<br />

zum Burnout. Er nimmt für bare Münze,<br />

was ihm in der Fernsehreklame erzählt<br />

wird. Ihm fehlt die Einsicht in höhere<br />

Wirkzusammenhänge wie den glo -<br />

balen Klimawandel. Womöglich<br />

raucht er.<br />

Der Nanny-Staat hält es<br />

für seine Pflicht, dem Bürger<br />

zu sagen, was falsch<br />

und was richtig ist. Die Paternalisten<br />

und Gouvernanten<br />

sitzen in allen Parteien.<br />

Der CDU-Gesundheitspolitiker<br />

Jens Spahn<br />

regt sich darüber auf, dass bei<br />

Fernsehübertragungen von<br />

Fußgängerampel mit Gelbphase in Düsseldorf<br />

Eine Million Vorschriften<br />

OLIVER TJADEN / LAIF / DER SPIEGEL<br />

Fußballspielen für Bier geworben<br />

wird, ein ungesundes Produkt,<br />

das nicht zu einer Sportveranstaltung<br />

passe. Lothar<br />

Binding (SPD) möchte sämtliche Zigarettenautomaten<br />

verbieten. Und ginge es<br />

nach der Grünen-Spitzenkandidatin Katrin<br />

Göring-Eckardt, kämen demnächst<br />

auch Kaffeesahnedöschen auf den Index.<br />

„Ist das kleine Plastikmilchbehältnis nicht<br />

auch ein Symbol dafür, wie unbedarft wir<br />

oftmals mit Rohstoffen umgehen?“,<br />

schrieb sie in einem Positionspapier.<br />

„Muss das wirklich sein?“<br />

Der dressierte Bürger zahlt einen hohen<br />

Preis. Mit jeder n<strong>eu</strong>en Vorschrift verliert<br />

er einen Teil seiner Freiheit. Kann<br />

es sein, dass der paternalistische Staat<br />

jene Unmündigkeit, die er seinen Schutzbefohlenen<br />

unterstellt, in Wahrheit erst<br />

erz<strong>eu</strong>gt?<br />

Was, wenn die Annahmen, auf denen<br />

staatliche Regulierung basiert, falsch<br />

sind? Sind Politiker und Bürokraten wirklich<br />

klüger als die Bürger? Vertreter der<br />

älteren Generation können sich noch gut<br />

an Zeiten erinnern, als Butter, Fleisch und<br />

eine sonnengebräunte Haut aus Gesundheitsgründen<br />

ausdrücklich empfohlen<br />

wurden.<br />

Gehört es nicht auch zur Freiheit des<br />

Einzelnen, sich unvernünftig, egoistisch<br />

und lasterhaft zu verhalten? Ist der Bürger<br />

verpflichtet, sich in den Dienst des<br />

Kollektivs zu stellen, allzeit bereit, durch<br />

Tabakverzicht und salzarme Kost Schaden<br />

von der gesetzlichen Krankenversicherung<br />

abzuwenden?<br />

Und schließlich: Wo bleibt in einer tempogemäßigten,<br />

zuckerreduzierten und<br />

naturtrüben Tugendgesellschaft eigentlich<br />

der Spaß?<br />

Die schwarze Pädagogik<br />

des Staates<br />

Die Freiheit der Wölfe ist der Tod der<br />

Lämmer. Es braucht also Regeln für ein<br />

gedeihliches Miteinander. Die Frage ist,<br />

ob es so viele sein müssen.<br />

Schätzungen gehen von mehr als einer<br />

Million Vorschriften aus. Sie reichen von<br />

den Gebührensatzungen für Kindergärten<br />

bis zu den Friedhofsordnungen. Die<br />

Frage, wie viel Wasser eine öffentliche<br />

Toilette maximal verbrauchen darf, ist<br />

ebenso geregelt wie das Design von Sonnenschirmen<br />

in der Außengastronomie.<br />

Allein in dieser Legislaturperiode traten<br />

bislang 485 n<strong>eu</strong>e Bundesgesetze in<br />

Kraft. Wer sich in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> nicht an<br />

die vorgeschriebene Farbe von Parkscheiben<br />

hält oder die Verfallsangaben auf<br />

dem Erste-Hilfe-Kasten missachtet, wird<br />

seit diesem Jahr noch strenger bestraft.<br />

Für Fahrradfahren in einer Fußgänger -<br />

zone sind jetzt 15 statt 10 Euro Bußgeld<br />

fällig, für „nicht platzsparendes Parken“<br />

weiter 10 Euro und für „unnützes Hinund<br />

Herfahren innerhalb geschlossener<br />

Ortschaften“ 20 Euro. Details stehen im<br />

n<strong>eu</strong>en bundeseinheitlichen Bußgeld-Katalog,<br />

der am 1. April in Kraft trat.<br />

Die Straßenverkehrsordnung enthält<br />

rund 640 amtliche Hinweiszeichen, laut<br />

Verkehrsclub ADAC mehr als in jedem<br />

anderen Land der Welt. In diesem Frühjahr<br />

kamen die Zeichen „Parkraumbewirtschaftung“,<br />

„Ende Streckenempfehlung“<br />

und „Inline-Skater zugelassen“ n<strong>eu</strong><br />

hinzu. Und wenn demnächst im Straßenbild<br />

ein Piktogramm auftaucht, das so<br />

aussieht, als würden ein Fußgänger und<br />

ein Fahrrad auf einem rot-weißen Hämmerchen<br />

balancieren, bitte nicht wun-<br />

DER SPIEGEL 33/2013 29


dern: Es handelt sich um das n<strong>eu</strong>e amtliche<br />

Zeichen für eine „Durchlässige Sackgasse“.<br />

Betr<strong>eu</strong>tes Leben<br />

Im bayerischen Penzberg fiel dieses Jahr<br />

zum ersten Mal seit Jahrzehnten der<br />

Faschingsumzug aus – angeblich zu gefährlich.<br />

Zunächst hatte das zuständige<br />

Landratsamt das Mitlaufen von Pferden<br />

verboten. Dann untersagte es den Gebrauch<br />

einer Kanone, mit der in Penz -<br />

berg traditionell Sägemehl in die Luft<br />

gef<strong>eu</strong>ert wurde. Und schließlich sollten<br />

auch keine Bonbons und Blumen mehr<br />

geworfen werden; es bestehe Verletzungsgefahr.<br />

Das war zu viel. Die Penzberger entschieden,<br />

den Umzug abzusagen. „Die<br />

Sicherheitsauflagen waren nicht zu erfüllen“,<br />

sagt Sprecher Holger Fey, Vorsitzender<br />

des Organisationskomitees. Schon der<br />

Papierkram sei für juristische Laien<br />

nicht zu bewältigen.<br />

Einige Fälle staatlicher Fürsorglichkeit<br />

sind so skurril,<br />

dass sie es in die Zeitung<br />

schaffen. Einem beliebten<br />

Hamburger Fischhändler<br />

wurde nach einem Schadensersatzprozess<br />

auferlegt,<br />

ein Hinweisschild an<br />

der Verkaufstheke anzubringen<br />

mit der Warnung, dass<br />

Fische Fischgräten enthalten<br />

können. Ende vergangenen<br />

Jahres sorgte das Bundesinnenministerium<br />

für Aufsehen<br />

mit einer n<strong>eu</strong>en Schützenfest-<br />

Richtlinie. Aus Sicherheitsgründen dürfe<br />

künftig nur noch auf Holzvögel aus dünnem<br />

Weichholz geschossen werden. Die<br />

betroffenen Ver eine kritisierten, eine<br />

jahrhundertealte Tradition stehe auf dem<br />

Spiel; die Bundesregierung kündigte eine<br />

wissenschaftliche Evaluierung an. Zuletzt<br />

wollte die EU-Kommission nachfüllbare<br />

Olivenölkännchen in Restaurants verbieten,<br />

weil ihr Inhalt möglicherweise ranzig<br />

sein könnte.<br />

Zu überregionaler Berühmtheit brachte<br />

es Dieburgs Bürgermeister Werner<br />

Thomas mit seinem Verbot, im örtlichen<br />

Freibad vom Zehn-Meter-Turm zu springen:<br />

Es bestehe Blendgefahr. Tatsächlich<br />

weist die 60 Jahre alte Anlage einen konstruktionsbedingten<br />

Mangel auf. Der<br />

Sprungturm zeigt nach Osten, Richtung<br />

Sonnenaufgang. Damit verstößt er gegen<br />

DIN EN 13451-10, eine d<strong>eu</strong>tlich jüngere<br />

Norm für den Bäderbau, die wiederum<br />

auf eine Richtlinie der D<strong>eu</strong>tschen Gesellschaft<br />

für das Badewesen e. V. zurückgeht.<br />

Sie besagt: „In Europa sollten<br />

Sprunganlagen im Freien nach Norden<br />

gerichtet sein.“<br />

Als Bürgermeister Thomas von einem<br />

Gutachter auf das Problem aufmerksam<br />

30<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong><br />

Feinstaub: Osterf<strong>eu</strong>er<br />

verboten<br />

gemacht wurde, legte er gleich<br />

den ganzen Turm samt Becken<br />

still. Von Abriss und N<strong>eu</strong>bau war<br />

die Rede. Inzwischen hat sich die<br />

Aufregung etwas gelegt. Doch<br />

wegen der „Blendgefahr“ (Thomas)<br />

darf die Anlage erst betreten<br />

werden, wenn die Sonne<br />

hoch am Himmel steht. Weitere<br />

Expertisen wurden in Auftrag gegeben.<br />

In der Regel haben sich die Bürger<br />

an die staatliche Bevormundung<br />

gewöhnt, zumal da, wo sie<br />

im Namen der Sicherheit daherkommt.<br />

Seit viele Kommunen die<br />

Hygienevorschriften verschärft haben,<br />

gibt es auf Schul- und Vereinsfesten zur<br />

Salmonellenabwehr jetzt eben keinen<br />

selbstgemachten Kartoffelsalat mehr.<br />

Die Bürger verzichten aufs Osterf<strong>eu</strong>er<br />

(Brandgefahr, Feinstaubbelastung), be -<br />

gnügen sich beim Musikhören mit Zimmerlautstärke<br />

(die EU begrenzt<br />

den Kopfhörerausgang beim<br />

MP3-Player auf 85 Dezibel)<br />

und haben auch ihren orthopädischen<br />

Sitzball fürs<br />

Büro wieder abgeschafft,<br />

seit die gesetzliche Be -<br />

rufs genossenschaft unter<br />

Berufung auf Paragraf 4<br />

ArbSchG monierte, dass<br />

sich der Benutzer eines solchen<br />

Balls im „labilen Gleichgewicht“<br />

befinde.<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

Lebensmittelkennzeichnung: Verbraucher als Trottel<br />

Mitunter gehen Verbote<br />

auch auf den Druck von Lobbyisten<br />

zurück, wie sich bei<br />

der Rauchmelderpflicht zeigt.<br />

In fast allen Bundesländern sind Immobilienbesitzer<br />

inzwischen verpflichtet,<br />

Rauchmelder an die Decken von Schlafzimmern<br />

und Wohnungsfluren zu kleben.<br />

Bricht ein F<strong>eu</strong>er aus, reißen die Geräte<br />

die Bewohner mit einem Alarmsignal<br />

aus dem Schlaf – so lautet jedenfalls<br />

der Plan. „Die Zahl der Brandopfer kann<br />

um 40 Prozent gesenkt werden“, heißt es<br />

bei der Initiative „Rauchmelder retten<br />

Leben“.<br />

Mehr als zwei Milliarden Euro dürfte<br />

es kosten, alle Häuser und Wohnungen<br />

mit Rauchmeldern auszustatten. Hinzu<br />

kommen die Kosten für Installation und<br />

jährliche Wartung. Und so stellt sich<br />

heraus, dass hinter der Initiative „Rauchmelder<br />

retten Leben“ ein Lobbyverein<br />

namens „Forum Brandrauchprävention“<br />

steckt, in dem sich die großen Hersteller<br />

und Dienstleister der Rauchmelderbranche<br />

zusammengeschlossen haben: Bavaria<br />

Rauchmelder, Bosch Sicherheitssysteme,<br />

Siemens, Ista, Techem, Minol Messtechnik,<br />

Hekatron. Die Geschäftsstelle<br />

des Vereins ist in den Räumen einer Berliner<br />

PR-Agentur untergebracht.<br />

Weniger klar ist, ob die Rauchmelder<br />

wirklich die Sicherheit verbessern. Statistisch<br />

belegen lässt sich das nicht. Zwar<br />

ist die Zahl der Todesfälle bei Wohnungsbränden<br />

in den vergangenen zehn Jahren<br />

allgemein zurückgegangen. Doch verblüffenderweise<br />

fiel der Rückgang in Bundesländern,<br />

in denen keine Rauchmelderpflicht<br />

bestand, stärker aus als in Bundesländern<br />

mit Rauchmelderpflicht.<br />

Zumal die Geräte ihre Macken haben.<br />

Sie verursachen etwa 90000 Fehleinsätze<br />

der F<strong>eu</strong>erwehr pro Jahr. In Hamburg stellte<br />

sich zuletzt fast jeder zweite Notruf<br />

als Falschalarm heraus.<br />

Der überforderte Kunde<br />

Menschen verhalten sich, zugegeben,<br />

nicht immer rational. Jeder Zweite fasst<br />

an Silvester gute Vorsätze, doch nur jeder<br />

Zehnte hält sich auch daran. Vor dem<br />

Krankenhaus stehen Lungenpatienten in<br />

Bademantel und Filzpantoffeln und<br />

stecken sich hustend eine Zigarette an.<br />

Es gibt mehr Lebensversicherungen in<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> als Leben, die man versichern<br />

könnte.<br />

Viele Politiker glauben deshalb, dass<br />

es sich beim Durchschnittskonsumenten<br />

um ein betr<strong>eu</strong>ungsbedürftiges Wesen<br />

handle, das im Tarifdschungel von Stromversorgern,<br />

Handy-Anbietern und Fitnessstudios<br />

den Überblick verliere. Den<br />

Werbeversprechungen stehe dieser arme<br />

Kunde ratlos gegenüber. Der Supermarkt<br />

sei für ihn zu einem Ort geworden, an<br />

dem er belogen und ausgeplündert werde.<br />

Nach dieser Logik haben es die Verbraucher<br />

in Pjöngjang oder Havanna vergleichsweise<br />

gut, denn wo die Regale leer<br />

sind, müssen sie nicht fürchten, in die<br />

Konsumfalle gelockt zu werden.<br />

War im Koalitionsvertrag von Union<br />

und FDP noch vom Leitbild des mündigen<br />

Verbrauchers die Rede, spricht Verbraucherschutzministerin<br />

Ilse Aigner h<strong>eu</strong>te<br />

gern vom „vulnerablen“, verletzlichen<br />

Konsumenten. In den aktuellen Leitlinien<br />

der SPD-Bundestagsfraktion heißt es:<br />

„Der stets informierte, immer rationale<br />

und selbstbestimmt handelnde Verbraucher<br />

existiert im Alltag nicht.“ Es folgt<br />

eine 14-Punkte-Liste angeblich typischer<br />

Torheiten, von „verwendet Daumenre-


MAURIZIO GAMBARINI / PICTURE ALLIANCE / DPA<br />

Rauchmelder: Sieg der Lobby<br />

JO NEANDER / OBS<br />

Tabakwarnung: Der Bürger weiß nicht, was gut für ihn ist<br />

JOERG KOCH / DAPD<br />

geln“ über „verschiebt gerne Entscheidungen“<br />

und „überschätzt sich selbst“ bis<br />

hin zu „irrt häufig“, „ist überlastet“ und<br />

„lässt sich durch Emotionen leiten“.<br />

Die Politik will dem Konsumenten also<br />

helfen. Sie verabschiedet eine Vorschrift,<br />

wonach eine Kalbsleberwurst, die zwar<br />

Kalbfleisch, aber keine Kalbsleber enthält,<br />

demnächst „Kalbfleisch-Leberwurst“<br />

genannt werden muss. Sie zwingt Werbeagenturen<br />

dazu, zahlreiche Warnhinweise<br />

und Fürsorgebotschaften in ihre<br />

Anzeigen einzubauen. Sie geißelt spärlich<br />

gefüllte Pralinenschachteln als Luftnummern<br />

und üppig gefüllte Pralinenschachteln<br />

als Dickmacher.<br />

Manchmal stellt sich leider heraus, dass<br />

der Verbraucherschutz den Verbrauchern<br />

mitunter mehr schadet als nutzt. Etwa<br />

bei der Finanzberatung. Um zu verhindern,<br />

dass Banken ihre Kunden unzureichend<br />

über Risiken aufklären, führte die<br />

Bundesregierung vor gut drei Jahren ein<br />

Pflichtprotokoll ein. Die Berater müssen<br />

seither abfragen, welches Risiko der Kunde<br />

eingehen will, über welche Kenntnisse<br />

und Erfahrungen er verfügt, wie er<br />

finanziell dasteht. Der Kunde<br />

quittiert das Protokoll mit seiner<br />

Unterschrift.<br />

Doch was zum Schutz<br />

der Verbraucher gedacht<br />

war, schützt nun die Banken.<br />

In der Praxis sichern<br />

sich die Berater mit dem<br />

Formular erfolgreich gegen<br />

Schadensersatzklagen ab,<br />

die sie früher, ohne Unterschrift<br />

des Kunden, womöglich<br />

verloren hätten. Dabei ist<br />

das Kauderwelsch der Beratungsprotokolle<br />

für Nicht -<br />

experten kaum zu verstehen<br />

– was ebenfalls an den überkomplexen<br />

Vorgaben des Gesetzgebers<br />

liegt.<br />

Allzu simpel darf die Beratung des Verbrauchers<br />

aber auch nicht sein. Politiker<br />

von SPD und Grünen fordern eine Farbkennung<br />

von Lebensmitteln. Gesunde<br />

Nahrung soll auf der Verpackung eine<br />

grüne Ampel tragen, allzu Süßes, Salziges<br />

oder Fettes dagegen eine rote Ampel.<br />

Blendgefahr:<br />

Turmspringen nach<br />

Süden untersagt<br />

Der Vorschlag klingt überz<strong>eu</strong>gend einfach.<br />

Doch die Verwirrung des Verbrauchers<br />

wäre bei einer Lebensmittelampel<br />

wohl noch größer. Orangensaft würde<br />

plötzlich als ungesund klassifiziert: zu<br />

viel Zucker. Ebenso Vollkornbrot: zu viel<br />

Salz. Und das native, kaltgepresste Olivenöl<br />

aus dem Bioladen stünde ebenfalls<br />

am Pranger: zu viel Fett.<br />

Der süchtige Bürger<br />

Wenn der Staat alle Bereiche des Lebens<br />

in Watte gepackt hat, bleibt am Ende nur<br />

noch ein Gegner übrig: der Bürger selbst.<br />

Früher bed<strong>eu</strong>tete Freiheit, alles tun zu<br />

dürfen, was einem anderen nicht schadet.<br />

Doch diese Definition gilt bei einigen<br />

Politikern als allzu egozentrisch. Ihrer Ansicht<br />

nach bed<strong>eu</strong>tet Freiheit, alles tun zu<br />

dürfen, was der Gesellschaft nutzt.<br />

Besonders d<strong>eu</strong>tlich zeigt sich die Umd<strong>eu</strong>tung<br />

des Freiheitsbegriffs beim Rauchverbot.<br />

Erst ging es darum, die Nichtraucher<br />

in öffentlichen Gebäuden vor Qualm<br />

zu schützen. Dagegen konnte niemand<br />

etwas haben; die Freiheit des Rauchers<br />

endet da, wo die Freiheit<br />

des Nichtrauchers beginnt.<br />

Auch das Rauchverbot in<br />

Kneipen und Restaurants<br />

mit der Begründung, der<br />

Qualm stelle ein Gesundheitsrisiko<br />

für die dort<br />

Beschäftigten dar, konnte<br />

man nach dieser Logik gelten<br />

lassen.<br />

Nun aber lautet das Ziel, den<br />

Raucher vor sich selbst zu<br />

schützen. Die EU will verbieten,<br />

dass dem Tabak Aromen<br />

wie Menthol beigemischt werden.<br />

75 Prozent einer Kippenschachtel<br />

sollen künftig mit<br />

Schockfotos belegt werden. Den Herstellern<br />

wird es untersagt, Rauchen in einen<br />

„positiven Zusammenhang“ zu stellen,<br />

und was genau das bed<strong>eu</strong>tet, will die EU-<br />

Kommission offenbar von Fall zu Fall<br />

entscheiden. Sogar ein Verbot aller Markenlogos<br />

steht im Raum. Die Gesundheitspolitiker<br />

aller Bundestagsfraktionen<br />

unterstützen die EU-Pläne.<br />

Niemand bezweifelt, dass Rauchen<br />

sehr gesundheitsschädlich ist. Zigaretten<br />

sind so ungesund, dass sie das Leben<br />

nachweislich verkürzen. Damit freilich<br />

entfällt ein wichtiges Argument für ein<br />

Verbot. Raucher sind unterm Strich keine<br />

Belastung für den Staat und die sozialen<br />

Sicherungssysteme, wie zahlreiche Stu -<br />

dien herausgefunden haben.<br />

Es gibt, im Gegenteil, keinen schlimmeren<br />

Rentenkassenschädling als den<br />

nichtrauchenden, sportlichen, alkoholabstinenten,<br />

ernährungsbewussten Gesundheitsapostel.<br />

Eine Untersuchung im<br />

Auftrag des niederländischen Gesundheitsministeriums<br />

kam zu dem Ergebnis,<br />

dass der durchschnittliche Raucher bis zu<br />

seinem Ableben mit rund 77 Jahren etwa<br />

220 000 Euro Behandlungskosten verursacht.<br />

Nichtrauchende und schlanke Menschen<br />

hingegen sterben mit 84 Jahren und<br />

haben dann insgesamt 281000 Euro gekostet,<br />

also gut 60000 Euro mehr.<br />

Die Gesundheitspolitiker haben sich<br />

deshalb einen Kniff einfallen lassen: Sie<br />

betrachten den Bürger als Opfer seiner<br />

Sucht.<br />

Demnach würden die allermeisten<br />

Raucher am liebsten mit der Qualmerei<br />

aufhören, schaffen es aber nicht, weil<br />

das Nikotin sie im Griff hält. Der Staat<br />

kann nun so tun, als hätten ihn die Raucher<br />

um Hilfe gerufen. Indem er das Rauchen<br />

gesetzlich untersagt, wird er zum<br />

Befreier.<br />

Das Suchtargument ist bei fürsorglichen<br />

Politikern auch deshalb so beliebt,<br />

weil es sich leicht auf andere Bereiche<br />

übertragen lässt. Es wimmelt bereits von<br />

Abhängigkeiten, von der Internet- über<br />

die Kauf- bis zur Sex- und Zuckersucht.<br />

Der Spielraum für weitere Befreiungs -<br />

taten ist dementsprechend groß.<br />

Das Schilderparadoxon<br />

Die Hauptverkehrsstraße im niedersächsischen<br />

Bohmte ist ein Schock für jeden<br />

Autofahrer – es gibt keine Verkehrszeichen:<br />

kein Vorfahrtsschild, keine Ampel,<br />

keinen Zebrastreifen. Genau genommen<br />

gibt es nicht einmal eine richtige Straße.<br />

Fahrbahn, Radweg, Bürgersteig: Alles<br />

DER SPIEGEL 33/2013 31


Schilderfreie Zone, Bauhof in Bohmte: Weniger Regeln, mehr Sicherheit<br />

geht irgendwie ineinander über – und das<br />

bei mehr als 12000 Autos und Lastwagen,<br />

die hier Tag für Tag mitten durch den<br />

Ortskern rollen.<br />

Ja, sind die L<strong>eu</strong>te in Bohmte denn total<br />

verrückt geworden?<br />

„Im Gegenteil“, sagt Sabine de Buhr-<br />

Deichsel, 50. „Seit wir die Schilder abgeschafft<br />

haben, fließt der Verkehr nicht<br />

nur viel flüssiger, es ist auch sicherer so.“<br />

De Buhr-Deichsel ist Vizebürgermeisterin<br />

32<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

CHRISTOPH GÖDAN / LAIF / DER SPIEGEL<br />

FRISO GENTSCH / PICTURE-ALLIANCE/ DPA<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong><br />

im Ort; sie hat Fotos mitgebracht, um zu<br />

zeigen, wie es bis vor vier Jahren aussah.<br />

Man sieht eine stark befahrene Haupt -<br />

verkehrsstraße, mehrere Ampeln, zwei<br />

Dutzend Schilder und eine Kr<strong>eu</strong>zung,<br />

vor der sich Staus gebildet haben. „Ständig<br />

Lärm und Gestank“, sagt Sabine de<br />

Buhr-Deichsel, „das war nicht auszu -<br />

halten.“<br />

H<strong>eu</strong>te geht es in Bohmte zwar langsam,<br />

aber stetig voran. Wo früher Ampeln<br />

die Vorfahrt regelten, fädeln die Autos<br />

jetzt im Reißverschlussverfahren ein.<br />

Viele Fahrer verständigen sich mit Blicken<br />

und Handzeichen. Ein Radler biegt<br />

gemächlich nach links ab, ein Lieferwagen<br />

parkt vor einem Bekleidungsgeschäft,<br />

ein Autofahrer wendet. Das alles<br />

geschieht, ohne dass der Verkehr ins Stocken<br />

geriete. In vier Jahren ohne Beschilderung<br />

hat es nicht einen größeren Unfall<br />

gegeben.<br />

Aber was ist mit den Fußgängern? Wie<br />

kommen Kinder auf die andere Straßenseite,<br />

wenn es keine Ampel und keinen<br />

Zebrastreifen gibt? Wie sollen sich alte<br />

L<strong>eu</strong>te und Behinderte gegen 12000 Autos<br />

durchsetzen?<br />

Es gibt eine spektakuläre Methode, das<br />

herauszufinden. „Ich tue jetzt mal so, als<br />

wäre ich blind“, sagt de Buhr-Deichsel<br />

und kneift die Augenlider zusammen. Sie<br />

steht an einer besonders engen Stelle<br />

nahe der Bäckerei, von rechts kommen<br />

Autos, von links nähert sich ein Sattelschlepper.<br />

„Und jetzt gehe ich einfach<br />

mal los.“<br />

Und tatsächlich: Der Lkw bremst vor<br />

ihr ab, die Autos lenken um sie herum.<br />

Mit geschlossenen Augen geht de Buhr-<br />

Deichsel über die Straße und erreicht unversehrt<br />

die andere Seite.<br />

Aus der ganzen Welt sind Wissenschaftler<br />

in den vergangenen Jahren nach<br />

Bohmte gereist, um die schilderfreie Straße<br />

zu studieren. Die „Washington Post“<br />

und das japanische Staatsfernsehen berichteten.<br />

Bei der EU, die den Umbau<br />

mitfinanziert hat, gilt das Projekt als<br />

Erfolg. Mehr als hundert Gemeinden in<br />

Großbritannien, Belgien und den Nie -<br />

derlanden haben inzwischen ebenfalls<br />

einige ihrer Straßen von Verkehrsschildern<br />

befreit.<br />

Doch wie kommt es, dass Fußgänger<br />

in Düsseldorf eine acht Seiten lange Broschüre<br />

studieren sollen, bevor sie über<br />

die Ampel gehen, während sie in Bohmte<br />

zur Not sogar mit geschlossenen Augen<br />

einfach so über die Straße laufen dürfen?<br />

Wo sind sie in Bohmte bloß hin, die rücksichtslosen<br />

Autofahrer, die Rüpel-Radler<br />

und die gedankenlosen Fußgänger?<br />

Vizebürgermeisterin de Buhr-Deichsel<br />

glaubt, dass zu viele Regeln schlecht für<br />

die Sicherheit seien, weil sie die Verkehrsteilnehmer<br />

in Sicherheit wiegten, sie aber<br />

in Wahrheit oft überforderten. Wo es hingegen<br />

keine Schilder gebe, seien die L<strong>eu</strong>te<br />

wachsam. Die Unsicherheit erhöht die<br />

Sicherheit, ein scheinbares Paradoxon. In<br />

Bohmte haben sie sich deshalb gegen ein<br />

besonderes Tempolimit entschieden. Am<br />

Anfang der Gemeinschaftsstraße steht<br />

nur das Schild „Vorfahrt geändert“.<br />

Ab da gelten rechts vor links sowie Paragraf<br />

1 Absatz 1 der Straßenverkehrsordnung:<br />

„Die Teilnahme am Straßenverkehr<br />

erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige<br />

Rücksicht.“


Lob der Freiheit<br />

Politiker sind Volksvertreter, nicht Vormünder.<br />

„Wer einem anderen das Beste<br />

wünscht, ist ein guter Mensch“, sagt der<br />

frühere Verfassungsrichter Paul Kirchhof.<br />

„Wer das Beste befiehlt, ist ein Tyrann.“<br />

Die meisten Bürger sind sehr wohl in<br />

der Lage, auf sich selbst aufzupassen. Als<br />

die Autofahrer erkannten, dass Bremskraftverstärker<br />

und Anti-Blockier-Systeme<br />

die Sicherheit d<strong>eu</strong>tlich erhöhen, brauchte<br />

es kein Gesetz, das den Einbau dieser Geräte<br />

vorschrieb. Womöglich hätte sich der<br />

Anschnallgurt auch ohne gesetzlichen<br />

Zwang durchgesetzt. Wohingegen die Vermengung<br />

von Pflanzentreibstoff zu E10-<br />

Benzin sicher nicht gekommen wäre, hätte<br />

der Staat hier kein Gesetz erlassen.<br />

Viele Verbote zielen am Problem vorbei<br />

oder treffen Unschuldige. Das Alkoholverbot<br />

in der Hamburger U-Bahn<br />

richtet sich auch gegen die harmlose Frauenrunde,<br />

die mit Prosecco Junggesellinnenabschied<br />

feiert. Dem betrunkenen<br />

Pöbler hingegen ist das Gesetz egal. War -<br />

um hat er neben ihnen seine dreckigen<br />

Schuhe auf den Sitz gelegt? Weil ein<br />

Schild fehlt, das ihm dies verbietet?<br />

Wer dem Durchschnittsverbraucher<br />

Konsumvorschriften machen will, sollte<br />

sich daran erinnern, dass dieser kein<br />

Hanswurst ist, sondern der Souverän im<br />

marktwirtschaftlichen System. Die Verbraucher<br />

entscheiden durch ihre Nachfrage,<br />

was wie produziert wird. Wer<br />

ihren Konsum manipuliert, verändert<br />

den Markt. Es braucht<br />

also gute Gründe, die Verbraucher<br />

zu zwingen, Produkte<br />

zu bezahlen, die sie<br />

nicht bestellt haben, ob es<br />

sich nun um Strom aus<br />

Photovoltaikanlagen oder<br />

um Energiesparlampen<br />

handelt.<br />

Verbote tragen dazu bei, Eigenverantwortung<br />

und Selbstbestimmung<br />

zu ersticken. Die<br />

Verantwortung liegt dann immer<br />

woanders, nie bei den<br />

Akt<strong>eu</strong>ren. Der Wiener Philosoph<br />

Konrad Paul Liessmann sagt: „Verspielt<br />

jemand sein Vermögen an der Börse,<br />

wurde er schlecht beraten; scheitert<br />

jemand in der Schule, waren die Lehrer<br />

eine Katastrophe; studieren zu wenig<br />

Frauen technische Physik, hat die Gesellschaft<br />

versagt. Was gilt eigentlich der Wille<br />

des Einzelnen in solch einer Welt verschobener<br />

Verantwortlichkeit?“<br />

Zur Freiheit gehört schließlich auch die<br />

Möglichkeit, sich unvernünftig zu verhalten.<br />

Wo kein anderer Schaden nimmt,<br />

können gutgemeinte Ratschläge getrost<br />

ignoriert werden. Es gibt sogar ein Recht<br />

auf Rausch.<br />

Liebe Nannys: Die kurze Phase vor<br />

dem Tod nennt man – Leben.<br />

Alkoholgenuss im<br />

Zug verboten<br />

„Fr<strong>eu</strong>nde des Kiffens“<br />

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer, 41, über die<br />

Verbotsforderungen seiner grünen Partei<br />

SPIEGEL: Unterstützen Sie die Forderung<br />

des Grünen-Wahlprogramms, in<br />

öffentlichen Kantinen einmal pro Woche<br />

nur Vegetarisches anzubieten?<br />

Palmer: Als freiwillige Aktion, wie es<br />

von uns gemeint ist: ja. Dass etwas<br />

weniger Fleischkonsum gesünder für<br />

uns und besser für die Tiere wäre,<br />

kann ja niemand bestreiten.<br />

SPIEGEL: Als Oberbürgermeister könnten<br />

Sie Ihren Einfluss auf die Schulspeisung<br />

geltend machen und in Tübingen<br />

einen Veggie-Day einführen.<br />

Palmer: Tierschutz- und Vegetarier -<br />

organisationen haben mich schon oft<br />

dazu aufgefordert. Ich sage: sehr gern,<br />

wenn die Schulen das wollen. Aber<br />

ich werde das nicht verordnen.<br />

SPIEGEL: Ihre Nachwuchsorganisation<br />

Grüne Jugend fordert zudem ein Verbot<br />

der ersten Klasse im Regionalverkehr.<br />

Ein guter Plan?<br />

Palmer: Als Jugendlicher fand ich die<br />

erste Klasse auch sinnlos. H<strong>eu</strong>te brauche<br />

ich sie, um arbeiten zu können.<br />

Diese Forderung wird nicht grünes<br />

Programm.<br />

SPIEGEL: Und hier noch ein Vorschlag<br />

aus der grünen Bundestagsfraktion:<br />

Affenverbot für<br />

Zoos.<br />

Palmer: Ich war gerade im<br />

n<strong>eu</strong>en, t<strong>eu</strong>ren Affenhaus<br />

der Stuttgarter Wilhelma.<br />

Toll! Ich finde, artgerechte<br />

Haltung ist die Lösung.<br />

SPIEGEL: Wie kommt es, dass<br />

grüne Politiker ständig Verbote<br />

fordern?<br />

Palmer: Das tun wir nicht. Es<br />

ist kein typisch grünes, sondern<br />

ein typisch d<strong>eu</strong>tsches<br />

Zeitgeistphänomen, alles regeln<br />

zu wollen. Als Oberbürgermeister<br />

werde ich überschüttet mit Verboten,<br />

an denen die Grünen vollkommen<br />

unschuldig sind.<br />

SPIEGEL: Zum Beispiel?<br />

Palmer: Wegen der Fluchtwegeverordnung<br />

dürfen wir in unserem schönen,<br />

altehrwürdigen Tübinger Schloss n<strong>eu</strong>erdings<br />

keine Konzerte mehr veranstalten.<br />

Und in unseren Schulgebäuden<br />

mussten wir die Geländer erhöhen.<br />

Da ist in hundert Jahren zwar<br />

noch kein Kind heruntergefallen.<br />

Aber angeblich stellen die alten Geländer<br />

ein untragbares Risiko dar.<br />

Kommunalpolitiker Palmer<br />

SPIEGEL: Trotzdem fällt auf, dass die<br />

Grünen den Bürgern gern vorschreiben<br />

wollen, wie sie zu leben haben.<br />

Palmer: Wer sich bei den Grünen engagiert,<br />

hat eine Mission. Letztlich<br />

geht es uns, im positiven Sinne, um<br />

nichts weniger als die Rettung der<br />

Welt. Deswegen bin ich der Partei<br />

überhaupt beigetreten. Wir sind der<br />

Ansicht, dass dazu jeder Einzelne etwas<br />

beitragen kann. Die Herausforderung<br />

für uns besteht nun darin, unsere<br />

Misson zu verfolgen, ohne missionarisch<br />

zu werden. Das ist ein Balanceakt,<br />

der uns insgesamt gelingt.<br />

SPIEGEL: Sie halten Verbote für ein ungeeignetes<br />

Mittel?<br />

Palmer: Verbote sind die Ultima Ratio.<br />

Ich setze lieber auf die Kraft von Argumenten.<br />

Wenn wir vorrechnen können,<br />

dass sich eine Energiesparmaßnahme<br />

finanziell lohnt, werden die<br />

Bürger freiwillig mitmachen. Man<br />

überz<strong>eu</strong>gt die L<strong>eu</strong>te leichter mit einem<br />

erhobenen Rechenschieber als<br />

mit einem erhobenen Zeigefinger.<br />

SPIEGEL: Bei ihrer Gründung galten die<br />

Grünen als Revoluzzer, als Bürgerschreck,<br />

als Anarcho-Truppe. Wo ist<br />

der alte Geist geblieben?<br />

Palmer: Wir sind immer noch eine rebellische<br />

Partei …<br />

SPIEGEL: … die das Kiffen legalisieren,<br />

Zigarettenautomaten hingegen ver -<br />

bieten will. Wie passt denn das zusammen?<br />

Palmer: Wir sind eine Partei, die unterschiedliche<br />

Strömungen vereinigt,<br />

in diesem Fall gesundheitsbewusste<br />

Eltern auf der einen Seite und Fr<strong>eu</strong>nde<br />

des Kiffens auf der anderen. Aber<br />

solange mir bei uns niemand vorschreiben<br />

will, beim Kiffen mitzumachen,<br />

halte ich diesen Widerspruch in<br />

unserer Politik gut aus.<br />

INTERVIEW: ALEXANDER NEUBACHER<br />

DER SPIEGEL 33/2013 33<br />

HC PLAMBECK / LAIF


<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong><br />

CSU-Kontrahenten Söder, Aigner: Ein Schauspiel, wie es die Republik selten erlebt<br />

34<br />

KARRIEREN<br />

Empathie gegen Ego<br />

Ilse Aigner und Markus Söder wollen Horst Seehofer als<br />

bayerischen Ministerpräsidenten beerben.<br />

Ihr Duell bringt Spannung in den drögen Sommerwahlkampf.<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

DOMINIK BECKMANN / BRAUERPHOTOS<br />

Wenn es darum geht, im bayerischen<br />

Erbfolgekrieg zu sticheln,<br />

ist Horst Seehofer keine<br />

Bühne zu abgelegen. Die<br />

WAHL<br />

Bänke der Rachlalm sind bis<br />

2013 zum letzten Platz besetzt.<br />

Wanderer fläzen sich im Gras und packen<br />

ihre Brotzeit aus, Bayerns Ministerpräsident<br />

hat sich extra von München zu dem<br />

Ausflugsziel auf 920 Meter Höhe im<br />

Chiemgau kutschieren lassen, um die<br />

Almbauern im Wahljahr zu umgarnen.<br />

Doch statt eine große Rede zu halten,<br />

reicht er das Mikrofon an die Frau weiter,<br />

die in Wanderhosen und Karobluse neben<br />

ihm sitzt. „Sie ist jung, sie ist kräftig,<br />

sie ist nervenstark“, sagt er und räumt<br />

die Bühne für Ilse Aigner. „Sie hat das<br />

Schlusswort“, sagt ihr Parteichef großzügig.<br />

Und schränkt grinsend ein: „Solange<br />

sie nichts gegen die bayerische Staatsregierung<br />

sagt.“ Es sind Bilder höchster<br />

Harmonie, Seehofer macht sich klein, damit<br />

seine Spitzenfrau glänzen kann.<br />

Im Saal des Nürnberger Sheraton-Hotels<br />

kann von Rücksicht dagegen keine<br />

Rede sein. „<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> geht es nur so<br />

gut, weil es Bayern gutgeht“, tönt Markus<br />

Söder. In markigen Worten hastet Bayerns<br />

Finanzminister durch seine Bewerbungsrede<br />

für den Bezirksvorsitz, als Seehofer<br />

eintrifft. Der CSU-Chef muss vor<br />

der Tür warten, keine Situation, die er<br />

besonders schätzt.<br />

Nach wenigen Minuten wird es ihm zu<br />

bunt, er marschiert in den Saal. Söders<br />

Zuhörer applaudieren. Er kann nur zusehen,<br />

wie Seehofer ihm die Show stiehlt.<br />

„Wir müssen uns gegenseitig ertragen“,<br />

stichelt der Parteichef, als er das Rednerpult<br />

übernimmt. Er spart nicht mit Seitenhieben<br />

auf seinen Gastgeber. „Jede<br />

Reise nach Franken ist eine Bildungsreise.<br />

Ich muss wissen, was er macht.“<br />

Seehofer liebt solche Auftritte. Nichts<br />

verschafft dem ewigen Hallodri an der<br />

Spitze des Freistaats mehr Spaß als Frotzelei<br />

über sein Personal. Wenn die bayerische<br />

Nachfolgedebatte am Köcheln bleibt<br />

und die CSU im Gespräch – umso besser.<br />

Aigner und Söder machen kein Geheimnis<br />

daraus, dass sie Seehofer als Ministerpräsidenten<br />

und CSU-Chef beerben wollen.<br />

Und Seehofer hat längst durchgespielt,<br />

wen er auf welchen Posten einsetzen will.<br />

Wenn die Landtagswahl am 15. September<br />

geschlagen ist, steht der Höhepunkt<br />

dieses Duells noch bevor. Aigner<br />

greift nach dem Posten der Fraktionsvorsitzenden<br />

im bayerischen Landtag als<br />

Sprungbrett für die Seehofer-Nachfolge.<br />

Söder will genau das verhindern und in<br />

ein paar Jahren selbst bayerischer Ministerpräsident<br />

werden.<br />

Es ist ein Schauspiel, wie es die Republik<br />

selten erlebt: ein Langstrecken-<br />

Machtkampf auf offener Bühne. Frau gegen<br />

Mann, Katholikin gegen Protestant,<br />

Oberbayerin gegen Franke, Empathie ge-


gen Ego. Das Duell Aigner gegen Söder<br />

spiegelt die Zerrissenheit des Freistaats<br />

und seiner Regierungspartei wider. Vor<br />

allem aber ist es ein Kräftemessen zweier<br />

völlig unterschiedlicher Politiker. Aigner<br />

ist fr<strong>eu</strong>ndlich, zurückhaltend, defensiv,<br />

Söder laut, ehrgeizig und populistisch.<br />

Mit stolzgeschwellter Brust beschreibt er<br />

sich als letzte Testosteroneinheit der d<strong>eu</strong>tschen<br />

Politik.<br />

In anderen Teilen <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong>s wäre<br />

klar, wie so ein Rennen ausgeht, zumal<br />

h<strong>eu</strong>tzutage, wo es keimfrei und korrekt<br />

zugehen muss in der Politik. Doch in Bayern<br />

und vor allem in der CSU wurde immer<br />

schon mit härteren Bandagen gekämpft.<br />

Und so geht es auch um die Seele<br />

der Christsozialen und die Frage, welche<br />

Partei die CSU künftig sein wird: Will sie<br />

ihr Raufboldimage pflegen oder ins seriöse<br />

Fach wechseln? Nicht wenige in der<br />

CSU finden, dass es Zeit dafür wird.<br />

Ein Knall geht durch den Raum und<br />

noch einer. Ilse Aigner erschrickt kurz,<br />

dann lächelt sie. Die Schuhplattler des<br />

Trachtenvereins schlagen sich auf die<br />

Schenkel. Anfang Juni gibt die Bundesagrarministerin<br />

im oberbayerischen Weiler<br />

Böbing den Startschuss für den Wettbewerb<br />

„Unser Dorf hat Zukunft“.<br />

Aigner sagt Sätze fürs Poesiealbum:<br />

„Wenn du schnell gehen willst, dann geh<br />

allein, wenn du weit gehen willst, dann<br />

geh gemeinsam.“ Oder, als es beim Dorfrundgang<br />

Bindfäden regnet: „Die Sonne<br />

war im Herzen.“ Es ist ein typischer Termin<br />

für Aigner, harmonisch und harmlos.<br />

Wo Aigner hinkommt, badet sie in Sympathie.<br />

In Böbing schleichen am Ende die<br />

Dorfältesten in der Krachledernen heran,<br />

um „die Ilse“ mal so richtig zu drücken.<br />

Im Kampf gegen Söder hat sie einen starken<br />

Verbündeten – das Volk.<br />

Söder kann nicht fassen, wie Aigner<br />

die Herzen zufliegen. Nach dem Scheitern<br />

von CSU-Star Karl-Theodor zu Guttenberg<br />

wähnte er sich schon halb auf<br />

Seehofers Thron. Als sich Aigner im September<br />

vor einem Jahr entschied, nach<br />

Bayern zu wechseln, verstand Söder das<br />

als Kampfansage. Aigner übermittelte<br />

ihm die Nachricht persönlich, es war ein<br />

denkwürdiges Telefonat.<br />

Söder schob sein eisernes Ich hervor,<br />

er zürnte und schimpfte. Aigner solle<br />

bloß nicht glauben, dass die Oberbayern<br />

jetzt alle Posten bekommen würden.<br />

„Wir brauchen erst die Mehrheit, dann<br />

können wir ans Verteilen denken“, antwortete<br />

Aigner. Sie ließ seinen Dampfhammer<br />

in Watte versinken.<br />

Die beiden tauschen SMS aus, telefonieren<br />

viel, bald wollen sie sogar gemeinsam<br />

in Söders Heimat Nürnberg übers<br />

Volksfest schlendern. Doch ihre Rivalität<br />

ist nicht gespielt. Es ist wie so oft in der<br />

CSU. L<strong>eu</strong>te, die sich seit Jahrzehnten kennen<br />

und um jede Schwäche des anderen<br />

wissen, werden plötzlich zu Gegnern.<br />

Das Kräftemessen zwischen<br />

Aigner und Söder begann<br />

schon vor zwei Jahrzehnten.<br />

1995 musste der<br />

Posten des bayerischen<br />

Chefs der Jungen Union<br />

besetzt werden. Aigner hatte<br />

sich bereits in die Welt<br />

der Politik vorgetastet und<br />

war stellvertretende JU-<br />

Chefin. Beim Kampf um<br />

den Chefposten verzichtete<br />

sie aber zu Söders Gunsten.<br />

Söder dankte es ihr<br />

nicht. Jahre später, Aigner<br />

war seit wenigen Monaten<br />

Bundesagrarministerin und<br />

Söder Umweltminister in<br />

München, wetterte er gegen<br />

die „Gen-H<strong>eu</strong>schrecken“ aus Amerika.<br />

Im Auftrag Seehofers drängte er die<br />

Parteifr<strong>eu</strong>ndin, den Anbau der Gen-Kartoffel<br />

Amflora zu untersagen. Aigner<br />

stand so da, als würde sie die Befehle direkt<br />

aus der Münchner Staatskanzlei empfangen.<br />

„Es war ein fürchterlicher Krach“,<br />

erinnert sich Aigner.<br />

Als CSU-Fraktionschef Georg Schmid<br />

im April in den Strudel der Verwandtenaffäre<br />

geriet und gehen musste, schien Söder<br />

fast am Ziel. Als Nachfolger Schmids<br />

hätte er den Machtkampf für sich entschieden.<br />

Aigner griff zum Hörer und<br />

warb für eine Übergangslösung bis zur<br />

Wahl. Seehofer unterstützte sie, er hatte<br />

kein Interesse daran, dass Aigner beschädigt<br />

wurde. Söder wurde gestoppt. Vorerst.<br />

Parteichef Seehofer<br />

Beide tauschen SMS aus,<br />

telefonieren viel, doch ihre<br />

Rivalität ist nicht gespielt.<br />

Ein Freitagnachmittag Ende Juni, Söders<br />

schwarzer Audi schiebt sich durch<br />

den Stau der Nürnberger Innenstadt. Söders<br />

Stimmkreis im Nürnberger Westen<br />

hat mit Ilse Aigners Bilderbuchbayern<br />

nichts gemein. Hier gibt es ein Bahnhofsviertel<br />

und eine Rotlichtmeile, Arbeitslose<br />

und Migranten.<br />

„Das ist hier nicht der Grunewald“,<br />

sagt Söder. In Wirklichkeit meint er: Das<br />

hier ist nicht Oberbayern. Dort, in der<br />

satten Champions-League-Erfolgsregion,<br />

kann jeder eine Mehrheit für die CSU<br />

holen. Hier, in Nürnberg, gelingt das nur<br />

einem harten Burschen wie ihm.<br />

Im Kampf gegen Aigner inszeniert er<br />

sich als Anti-Münchner. Für ihn ist Franken<br />

ein Landstrich, der im Vergleich zum<br />

reichen Oberbayern seit je benachteiligt<br />

wird. Und den er, Söder, auf Augenhöhe<br />

hievt. „Wieso braucht München einen<br />

Konzertsaal? Wir auch.“ Söder hat aus seinem<br />

Ehrgeiz nie einen Hehl gemacht, in<br />

ANDREAS GEBERT / DPA<br />

seinem Büro am Münchner Odeonsplatz<br />

steht eine Skulptur, ein Mann mit Fernglas,<br />

der Richtung Staatskanzlei späht.<br />

Auf Seehofers Vorwürfe, er sei ein Ichling,<br />

der sich mit „Schmutzeleien“ den<br />

Weg nach oben bahne, reagierte Söder<br />

im vergangenen Dezember besonnen.<br />

„Mein Motto ist: Ruhe bewahren, Haltung<br />

zeigen, Pflichten erfüllen“, sagte er<br />

im Landtag. Seine Beliebtheit in der Partei<br />

ist seitdem d<strong>eu</strong>tlich gestiegen.<br />

Als der Audi die Ringstraße mit Blick<br />

auf die Kaiserburg erreicht, tönt er, das<br />

Bauwerk sei gerade mit 16 Millionen Euro<br />

St<strong>eu</strong>ergeldern saniert worden. „Das habe<br />

ich gemacht.“ Bei solchen Sätzen glüht<br />

Söder vor Bed<strong>eu</strong>tung wie einst sein Ziehvater<br />

Edmund Stoiber.<br />

Ilse Aigner dagegen hat nur ein kleines<br />

Kr<strong>eu</strong>z verteidigt. Sie erzählt die Geschichte<br />

Anfang Februar im Bräuwirt in<br />

Miesbach und danach immer wieder. Unten<br />

in der Stube spielt die Hausmusik mit<br />

Akkordeon und Zither auf, oben im Saal<br />

lässt sich Aigner für die Landtagswahl<br />

aufstellen. Etwa hundert L<strong>eu</strong>te sind da,<br />

Schulfr<strong>eu</strong>nde und ihre engsten Verbündeten.<br />

Die Wahl ist geheim, doch die Vorsichtsmaßnahme<br />

hätte man sich sparen<br />

können. Aigner erhält hundert Prozent.<br />

Das Kr<strong>eu</strong>z, das zum Kern ihrer Antrittsreden<br />

in Bayern wird, hängt im Besucherraum<br />

des Berliner Agrarministeriums, beinahe<br />

unsichtbar, ein schlichtes Holzkr<strong>eu</strong>z<br />

auf heller Holzwand. Vertreter aus dem<br />

Personalrat drängten, das Kr<strong>eu</strong>z abzu -<br />

nehmen. Auch von einer Besuchergruppe<br />

der Grünen gab es Beschwerden. Dann<br />

kommt Aigners Pointe: „Das Kr<strong>eu</strong>z hängt<br />

noch immer.“ Großer Beifall.<br />

Die Anekdote ist typisch für Aigner.<br />

Sie will Entscheidungsstärke demonstrieren,<br />

doch in Wirklichkeit beschreibt sie<br />

einen defensiven Akt. Aigner wehrt Kürzungen<br />

von EU-Fördergeldern für die<br />

Bauern ab, sie reagiert, wenn Dioxin in<br />

Hühnereiern gefunden wird, und sie weigert<br />

sich, ein Kr<strong>eu</strong>z abzuhängen.<br />

„Konflikt um des Konflikts willen hat<br />

sich noch nie bewährt“, sagt sie. „Die<br />

DER SPIEGEL 33/2013 35


CSU ist nicht mehr wie in Strauß’ Zeiten.“<br />

Das war’s mit ihrer Bayern-Vision.<br />

Sogar ihr Privatleben poliert sie kurz<br />

vor der Wahl, damit böse Gerüchte erst<br />

gar nicht aufkommen. Als sie jüngst ihren<br />

Namen googelte und die Suchmaschine<br />

als Ergänzung „Fr<strong>eu</strong>nd“ und „Lebensgefährte“<br />

anbot, war sie erschrocken. Ihre<br />

Beziehung zu einem Unternehmer ist<br />

längst vorbei, in der „Bunten“ machte sie<br />

es jetzt offiziell. „Mein Fr<strong>eu</strong>nd und ich<br />

haben uns getrennt.“ Aigner ist Single.<br />

Seehofer sieht das Bemühen um einen<br />

reibungslosen Wahlkampf mit Wohlgefallen.<br />

Erst kürzlich nahm er Söder zur Seite<br />

und ermahnte ihn: „Wer jetzt Zwietracht<br />

sät, ist über Jahre beschädigt.“ Doch trotz<br />

aller Sympathie für Aigner hat er nichts<br />

entschieden. „Sympathien beim Wähler<br />

sind für Politiker natürlich sehr wichtig“,<br />

sagt er, „aber sie sind nicht alles.“<br />

Denn zur Jobbeschreibung des CSU-<br />

Chefs gehört es seit je, den Anliegen der<br />

ewig von Selbstzweifeln geplagten Regionalpartei<br />

auch in Berlin Gehör zu verschaffen.<br />

Um ein vergleichsweise schlichtes<br />

Projekt wie das Betr<strong>eu</strong>ungsgeld<br />

durchzusetzen, brauchte selbst ein Machtprofi<br />

wie Seehofer stählerne Nerven. Die<br />

Frage stellt sich: Kann Aigner das?<br />

Zusagen für den Fraktionsspitzenposten<br />

gibt es keine, und Seehofer will den<br />

Posten Aigner längst nicht in jedem Fall<br />

überlassen. Nur falls die CSU weiter mit<br />

der FDP regieren muss, ist Aigner gesetzt.<br />

Dann sind Verhandlungsgeschick und<br />

Ausgleichsfähigkeit gefragt, ihre Stärken.<br />

Sollte die CSU dagegen die absolute<br />

Mehrheit erreichen, muss der Fraktionschef<br />

eine selbstbewusste Abgeordnetentruppe<br />

in Schach halten, eine Aufgabe<br />

für einen Brachialpolitiker wie Söder.<br />

Langsam dämmert es vielen, dass sich<br />

Aigners Popularität und Söders Durchsetzungsstärke<br />

gut kombinieren ließen,<br />

nicht wenige plädieren für eine Arbeitsteilung<br />

für die Zeit nach Seehofer. Aigner<br />

würde dann Ministerpräsidentin, Söder<br />

Parteichef und Minister in Berlin. Vorbilder<br />

dafür gibt es. Unter Alfons Goppel<br />

als Ministerpräsident und Franz Josef<br />

Strauß als Parteichef und Bundespolitiker<br />

hatte die CSU ihre erfolgreichste Zeit.<br />

Doch Söder winkt ab, vorerst jedenfalls.<br />

Er kandidiert nicht für den Bundestag.<br />

Er wäre in den nächsten Jahren ein<br />

Bundesminister von Seehofers Gnaden.<br />

Aigner dagegen legt ihr Schicksal vertrauensvoll<br />

in die Hände ihres Chefs. „Die<br />

Kunst vom Horst ist rauszufinden: Wer<br />

ist wofür geeignet?“, sagt sie. Ein Montagnachmittag,<br />

Aigner ist auf dem Sprung<br />

ins nächste Bierzelt. In der Nähe der Salzburger<br />

Autobahn sitzt sie in einem Gasthof,<br />

die Gäste bestellen Weißbier. Aigner<br />

ist ein bisschen matt, sie ist schon den ganzen<br />

Tag auf den Beinen. „Am liebsten<br />

würde ich jetzt ein Glas Sekt trinken“,<br />

sagt sie, „stört Sie das?“ PETER MÜLLER<br />

FDP<br />

„Wir sind das Korrektiv“<br />

FDP-Chef Philipp Rösler, 40, fordert, den Soli<br />

auch gegen das Votum der Kanzlerin abzuschaffen und<br />

die Energiewende auf eine n<strong>eu</strong>e Basis zu stellen.<br />

SPIEGEL: Glauben Sie an ein<br />

Leben nach dem Tod?<br />

Rösler: Natürlich, ich bin<br />

schließlich Katholik.<br />

WAHL<br />

SPIEGEL: Dann muss Ihr eigenes<br />

Schicksal Sie im Glauben<br />

2013<br />

ja enorm gestärkt haben. Anfang des<br />

Jahres galt Ihr baldiges Ableben im Amt<br />

des FDP-Chefs als so gut wie sicher. Dann<br />

haben die Liberalen bei der Landtagswahl<br />

in Niedersachsen knapp zehn Prozent der<br />

Stimmen geholt, und Sie durften bleiben.<br />

Wie war Ihre politische Nahtoderfahrung?<br />

Rösler: Nicht nur in der katholischen<br />

Kirche, sondern auch für die schon manches<br />

Mal totgesagte FDP spielt die Auf -<br />

erstehung eine besondere Rolle. Hier<br />

kann ich nun einige persönliche Erfahrungen<br />

beist<strong>eu</strong>ern.<br />

MAURICE WEISS / DER SPIEGEL<br />

SPIEGEL: Heißt das, die Tage des „netten<br />

Herrn Rösler“ sind gezählt?<br />

Rösler: In der Politik ist Führung gefordert,<br />

gerade von einem Parteivorsitzenden. Natürlich<br />

sollte er sympathisch auftreten,<br />

aber er darf keinen Zweifel daran lassen,<br />

dass er bereit ist, für seine Überz<strong>eu</strong>gungen<br />

auch bei Gegenwind zu kämpfen.<br />

Eines ist doch klar: Wer eine solch schwierige<br />

Phase durchgestanden hat, schöpft<br />

daraus Kraft für die nächsten politischen<br />

Debatten.<br />

SPIEGEL: Sie haben Ihr Amt vor allem<br />

dadurch gerettet, dass Sie Fraktionschef<br />

Rainer Brüderle in der entscheidenden<br />

Sitzung überrumpelt haben. Sie haben<br />

ihm den Parteivorsitz angeboten, er hat<br />

abgelehnt. Jetzt, im Wahlkampf, soll er<br />

die Sturmspitze sein, Sie der Mann -<br />

36 DER SPIEGEL 33/2013


<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong><br />

schafts kapitän. Wie viel Spielraum lassen<br />

Sie Ihrem wichtigsten Mann auf dem<br />

Feld?<br />

Rösler: Als Spitzenkandidat prägt Rainer<br />

Brüderle unseren Wahlkampf. Anders als<br />

bei der SPD funktioniert bei uns die Zusammenarbeit<br />

zwischen dem Spitzenkandidaten<br />

und dem Parteivorsitzenden hervorragend.<br />

Wir arbeiten eng im Team zusammen,<br />

legen gemeinsam die Themen<br />

fest, melden uns mit gemeinsamen Initiativen<br />

zu Wort, und wir werden bei den<br />

meisten Großkundgebungen gemeinsam<br />

auftreten.<br />

SPIEGEL: Gehört zu dieser Gemeinsamkeit<br />

auch, dass Sie Brüderle jüngst beim Thema<br />

Solidaritätszuschlag zurückgepfiffen<br />

haben?<br />

Rösler: Das Gegenteil ist der Fall. Auch<br />

beim Soli haben wir eine klare gemeinsame<br />

Linie.<br />

SPIEGEL: Die FDP-Fraktion hat dafür plädiert,<br />

den Solidaritätszuschlag bereits ab<br />

dem Jahr 2014 abzusenken. Sie dagegen<br />

wollen die Bürger erst später entlasten.<br />

Rösler: Da missinterpretieren Sie ein Gutachten,<br />

das zeigen sollte, ob und wie eine<br />

Entlastung möglich ist. Beim Soli sprechen<br />

Rainer Brüderle und ich dieselbe<br />

Sprache. Wir wollen den Soli schrittweise<br />

abschaffen, aber wir wollen das tun, ohne<br />

im Gegenzug die Schulden zu erhöhen.<br />

Das ist ein solides Konzept. Entscheidend<br />

ist, dass der Soli bald Geschichte ist.<br />

SPIEGEL: Daraus wird wohl nichts. Die<br />

Bundeskanzlerin lehnt es ab, den Soli anzutasten.<br />

Rösler: Der Soli wurde 1991 eingeführt,<br />

um die d<strong>eu</strong>tsche Einheit und den sogenannten<br />

Solidarpakt zwischen alten und<br />

n<strong>eu</strong>en Bundesländern zu finanzieren.<br />

Der Solidarpakt läuft 2019 aus. Bei der<br />

Einführung wurde versprochen, den Soli<br />

zeitlich zu begrenzen. An dieses Ver -<br />

sprechen fühlt sich die FDP gebunden.<br />

Ich bin zuversichtlich, dass<br />

sich auch die Union dieser Argumentation<br />

nicht verschließt.<br />

Für die FDP ist das Einhalten<br />

dieses Versprechens ein wichtiger<br />

Punkt.<br />

SPIEGEL: Mit anderen Worten,<br />

in der nächsten Legislaturperiode<br />

soll es genauso laufen<br />

wie in dieser. Die FDP verspricht<br />

fleißig St<strong>eu</strong>ersenkungen,<br />

die von der Union genauso<br />

fleißig abgewehrt werden.<br />

Glauben Sie im Ernst,<br />

dass Sie die Wähler auf diesem<br />

Weg von Schwarz-Gelb<br />

überz<strong>eu</strong>gen können?<br />

Rösler: Wir haben in dieser<br />

Legislaturperiode dazu beigetragen,<br />

dass die Menschen<br />

um 22 Milliarden Euro ent -<br />

lastet worden sind. Und auf<br />

Drängen der FDP wurde<br />

die Praxis gebühr abgeschafft.<br />

Das zeigt, dass wir als Korrektiv funktionieren.<br />

Wir werden d<strong>eu</strong>tlich machen,<br />

dass auch in der kommenden Legislaturperiode<br />

nur die FDP für eine Entlastung<br />

der Bürger steht. Alle anderen Parteien<br />

wollen St<strong>eu</strong>ern und Abgaben erhöhen,<br />

wir wollen die Menschen entlasten, sobald<br />

wir die Spielräume im Haushalt<br />

geschaffen haben.<br />

SPIEGEL: Das Problem ist nur, dass die Vorstellungen<br />

über das, was notwendig ist,<br />

im schwarz-gelben Lager auseinander -<br />

driften. Dürfen wir Sie mit einigen der<br />

jüngsten politischen Forderungen aus der<br />

Union konfrontieren?<br />

Rösler: Nur zu.<br />

SPIEGEL: Was halten Sie vom Vorschlag<br />

der Kanzlerin, mit Hilfe einer Mietpreisbremse<br />

in den Großstädten die Wohnungsnot<br />

zu lindern?<br />

Rösler: Durch einen Preisdeckel wird keine<br />

einzige n<strong>eu</strong>e Wohnung geschaffen. Nötig<br />

ist vielmehr, auf dem Immobilienmarkt<br />

die richtigen Anreize für mehr Investitionen<br />

zu setzen.<br />

SPIEGEL: Unionsfraktionschef Volker Kauder<br />

will lieber die Mütterrente erhöhen,<br />

als die Sozialbeiträge zu senken. Stimmen<br />

Sie zu?<br />

Rösler: Dass wir die Abgaben auf den Faktor<br />

Arbeit in der vergangenen Legislaturperiode<br />

reduziert haben, war eine der<br />

wichtigsten Voraussetzungen für die positive<br />

Entwicklung am Arbeitsmarkt. Ich<br />

habe nicht den Eindruck, dass die Union<br />

das anders sieht. Im Gegenteil: Das haben<br />

wir gemeinsam erreicht.<br />

SPIEGEL: Die CDU drängt trotz des NSA-<br />

Abhörskandals darauf, die Kommunikationsdaten<br />

mindestens sechs Monate zu<br />

speichern. Sind Sie dabei?<br />

Rösler: Die jüngsten Enthüllungen zeigen,<br />

wie richtig der jahrelange Kampf von<br />

Justizministerin Sabine L<strong>eu</strong>th<strong>eu</strong>sser-<br />

Schnarrenberger und der gesamten FDP<br />

Liberale Brüderle, Rösler: „Wir arbeiten eng im Team“<br />

gegen die sogenannte Vorratsdatenspeicherung<br />

war und ist. In der Union hat<br />

hier offenbar auch ein Nachdenken eingesetzt.<br />

SPIEGEL: Der Graben zwischen Ihrer Partei<br />

und der CDU vertieft sich auch beim<br />

wichtigsten Thema Ihres eigenen Ressorts,<br />

der Energiewende. Täuscht der<br />

Eindruck, dass Umweltminister Peter Alt -<br />

maier besser mit den Grünen regieren<br />

könnte als mit Ihnen?<br />

Rösler: Das kann ich nicht erkennen. Gemeinsam<br />

mit Peter Altmaier ist es gelungen,<br />

wichtige Weichen für die Energiewende<br />

zu stellen. Richtig ist allerdings,<br />

dass bislang nur die FDP ein Konzept<br />

vorgelegt hat, wie die Förderung ern<strong>eu</strong>erbarer<br />

Energien reformiert werden<br />

kann.<br />

SPIEGEL: Es bleibt dabei, dass Sie mit der<br />

Union in vielen wichtigen Fragen aus -<br />

einanderliegen. Werden wir in der nächsten<br />

Legislaturperiode also eine N<strong>eu</strong>inszenierung<br />

des Stücks „Gurkentruppe gegen<br />

Wildsäue“ erleben?<br />

Rösler: Die Auffassung, dass wir in allen<br />

wichtigen Fragen auseinanderliegen, teile<br />

ich überhaupt nicht. Bei den meisten Themen<br />

gibt es eine große Übereinstimmung.<br />

Die schwarz-gelbe Koalition hat in den<br />

vergangenen vier Jahren viel erreicht,<br />

von der Haushaltskonsolidierung bis hin<br />

zur erleichterten Zuwanderung. Den Ton<br />

im Regierungsbündnis habe ich übrigens<br />

zumindest in meiner Zeit als Parteivorsitzender<br />

immer als ausgesprochen angenehm<br />

empfunden. In schwierigen Phasen<br />

meiner Partei konnte ich mich auf Angela<br />

Merkel und Horst Seehofer stets verlassen.<br />

Das werde ich den beiden persönlich<br />

nicht vergessen.<br />

SPIEGEL: Selbst wenn es noch einmal für<br />

Schwarz-Gelb reicht, so hat im Bundesrat<br />

die Opposition noch jahrelang die Mehrheit.<br />

Die FDP kann fordern, was sie will,<br />

am Ende regiert eine informelle<br />

Große Koalition.<br />

Rösler: Ich war selbst lange<br />

Zeit Landespolitiker. Deshalb<br />

weiß ich, dass im Bundesrat<br />

die Maxime gilt: erst das<br />

Land, dann die Partei. Ich<br />

bin überz<strong>eu</strong>gt: Wenn die<br />

schwarz-gelbe Koalition gute<br />

Argumente hat, geschickt verhandelt,<br />

kann sie auch unter<br />

den jetzigen Mehrheitsverhältnissen<br />

im Bundesrat viel<br />

erreichen. Beim Netzausbau<br />

etwa ist das gerade erst ge -<br />

lungen.<br />

SPIEGEL: Die Kanzlerin lässt<br />

aber keine Gelegenheit aus,<br />

um klarzustellen, dass sie mindestens<br />

so gern wie mit Ihnen<br />

mit der SPD regieren würde.<br />

Müsste sich Angela Merkel<br />

nicht d<strong>eu</strong>tlicher zur FDP bekennen?<br />

MICHAEL KAPPELER / PICTURE ALLIANCE / DPA<br />

DER SPIEGEL 33/2013 37


<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong><br />

Rösler: Alle führenden Unionspolitiker<br />

von Angela Merkel über Volker Kauder<br />

bis zu Horst Seehofer haben sich für die<br />

Fortsetzung der schwarz-gelben Koalition<br />

ausgesprochen. Mir war das d<strong>eu</strong>tlich genug.<br />

Es waren vier gute Jahre für <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong>.<br />

Und wir wollen gemeinsam, dass<br />

dies so bleibt.<br />

SPIEGEL: Die Union vermeidet es aber<br />

auffällig, sich auf eine Koalitionsoption<br />

festzulegen. In der FDP dagegen drängen<br />

viele darauf, eine Ampelkoalition aus<br />

SPD, FDP und Grünen noch vor der<br />

Wahl formal auszuschließen. Wird es<br />

dazu kommen?<br />

Rösler: Die FDP wird am 12. September<br />

einen Wahlkonvent abhalten. Dort werden<br />

wir beschließen, dass die Liberalen<br />

nach der Wahl für eine Ampelkoalition<br />

nicht zur Verfügung stehen. Die Inhalte<br />

sind entscheidend, hier sehe ich keine<br />

Übereinstimmung.<br />

SPIEGEL: Dass sich die FDP freiwillig zum<br />

Anhängsel der Union macht, hat sich bislang<br />

für Sie nicht sonderlich ausgezahlt.<br />

In den Umfragen liegt Ihre Partei aktuell<br />

bei gerade fünf Prozent, und der beliebteste<br />

Liberale im Kabinett sind nicht Sie,<br />

sondern Außenamtschef Guido Westerwelle.<br />

Wurmt es Sie eigentlich, dass Ihr<br />

Vorgänger im Amt des Parteichefs so viel<br />

populärer ist als Sie?<br />

Rösler: Guido Westerwelle genießt im Inund<br />

Ausland zu Recht eine hohe Anerkennung<br />

für seine hervorragende Arbeit.<br />

Darüber fr<strong>eu</strong>e ich mich, denn das hilft<br />

der FDP.<br />

SPIEGEL: Kürzlich hat sich Westerwelle im<br />

„Stern“ bitter darüber beklagt, wie er<br />

beim Amtswechsel von einigen seiner<br />

Parteifr<strong>eu</strong>nde behandelt worden ist. Fühlten<br />

Sie sich angesprochen?<br />

Rösler: Nein. Es war 2011 eine gemeinsame<br />

Entscheidung der gesamten Parteispitze,<br />

die FDP im Hinblick auf die Wahl<br />

2013 personell n<strong>eu</strong> aufzustellen. Jetzt<br />

zeigt sich, dass die Konstellation, die wir<br />

gefunden haben, bestens funktioniert.<br />

Das sieht auch die Parteibasis so.<br />

SPIEGEL: Woher wollen Sie das wissen?<br />

Rösler: Ein gutes Indiz ist, welche Plakate<br />

unsere Kreisverbände für den Wahlkampf<br />

ordern. Am meisten werden die Motive<br />

mit unserem Spitzenkandidaten Rainer<br />

Brüderle bestellt, denn er ist unser Gesicht<br />

im Wahlkampf. Danach folgen die des Parteivorsitzenden<br />

und der anderen Minister.<br />

SPIEGEL: Wenn es für Schwarz-Gelb nicht<br />

reicht, arbeiten Sie dann wieder als Arzt<br />

in Hannover?<br />

Rösler: Die Frage stellt sich nicht. Ich bin<br />

überz<strong>eu</strong>gt, dass es reicht.<br />

INTERVIEW: MICHAEL SAUGA,<br />

GERALD TRAUFETTER<br />

38<br />

Animation: Die Karriere des<br />

Philipp Rösler<br />

spiegel.de/app332013roesler<br />

oder in der App DER SPIEGEL<br />

PARTEIENFINANZIERUNG<br />

Vier gute Jahre<br />

Die FDP-Bundestagsfraktion<br />

verschickt vor der Bundestagswahl<br />

fragwürdige Werbebriefe. Doch<br />

Rechnungshof und Bundestagsverwaltung<br />

halten sich zurück.<br />

FDP-Fraktions-Schreiben (Ausschnitt): Verdeckte Botschaft<br />

Das Schreiben, das mehrere zehntausend<br />

Anwälte Mitte Juli in<br />

ihrem Briefkasten fanden, beginnt<br />

mit einem Lob des Berufsstandes: Ohne<br />

Anwälte sei weder Recht noch Freiheit<br />

möglich. Dann gibt es noch ein besonders<br />

dickes Lob – für die FDP. Die habe im<br />

Bundestag nicht nur das anwaltliche Berufsrecht,<br />

sondern auch „die Rolle des Anwalts<br />

im gelebten Rechtsstaat“ gestärkt.<br />

Detailliert listet das Schreiben die Erfolge<br />

der Liberalen auf: höhere Gebühren,<br />

Ablehnung der Gewerbest<strong>eu</strong>er für die<br />

Freien Berufe, Förderung des elektronischen<br />

Rechtsverkehrs. N<strong>eu</strong>n Punkte umfasst<br />

die Lobeshymne. Der Brief schließt<br />

mit den Worten: „Es waren vier gute Jahre<br />

für <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong>! Vier gute Jahre für<br />

die Anwaltschaft und die Rechtspolitik<br />

insgesamt.“<br />

Das Schreiben liest sich wie eine der<br />

Werbebroschüren, die Parteien gern vor<br />

Wahlen an die Haushalte verschicken. Es<br />

gibt nur ein Problem: Es stammt nicht von<br />

der Partei, sondern von der FDP-Bundestagsfraktion.<br />

Und die darf Öffentlichkeitsarbeit<br />

betreiben, aber laut Parteiengesetz<br />

keine Wahlwerbung verschicken.<br />

Es ist nicht die erste fragwürdige Ak -<br />

tion der FDP in dieser Legislaturperiode.<br />

Das Bundesverfassungsgericht prüft, ob<br />

die Liberalen gegen die Regeln zur Parteienfinanzierung<br />

verstoßen haben. Vor<br />

den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen<br />

und Schleswig-Holstein im vergangenen<br />

Jahr hatte sich Fraktionschef Rainer<br />

Brüderle in Briefen an mehr als drei<br />

Millionen Bürger gewandt. Der Verfassungsgerichtshof<br />

in NRW bewertete das<br />

als eine verdeckte Werbebotschaft, die<br />

vermutlich gegen das Grundgesetz verstoße.<br />

Bei der Arbeitsteilung von Partei und<br />

Fraktion wurde schon häufiger heftig ge-<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

trickst. So setzte die FDP fast zwei Jahre<br />

lang Pressesprecher der Fraktion an Wochenenden<br />

und Feiertagen zu Bereitschaftsdiensten<br />

für die Partei ein. Auch<br />

dies ist verboten, weil die aus St<strong>eu</strong>ergeldern<br />

finanzierte Arbeit der Fraktion nicht<br />

den Parteien direkt zugutekommen soll.<br />

Auf Nachfrage der Bundestagsverwaltung<br />

erklärte die Partei, es habe sich nicht<br />

um unerlaubte Parteienfinanzierung gehandelt,<br />

weil Fraktion und Partei „in jeweils<br />

vergleichbarem Umfang“ voneinander<br />

profitiert hätten (SPIEGEL 32/2013).<br />

Doch das stimmt nicht. Im vergangenen<br />

Jahr übernahm die Partei nur rund<br />

zehn Bereitschaftsdienste für die Frak -<br />

tion. Fraktionssprecher hatten dagegen<br />

mehr als 20-mal Bereitschaftsdienst für<br />

die Partei. Von einem vergleichbaren Umfang<br />

kann keine Rede sein. Trotzdem erklärte<br />

die Fraktion in der vergangenen<br />

Woche auf Nachfrage ern<strong>eu</strong>t, die Rufbereitschaft<br />

sei „in der Regel“ abwechselnd<br />

von Fraktions- und Parteimitarbeitern<br />

wahrgenommen worden.<br />

Nun führt die Bundestagsverwaltung<br />

nach eigenen Angaben eine „Sachverhaltsklärung“<br />

durch. Die<br />

kann sich hinziehen. Bundestagspräsident<br />

Norbert<br />

Lammert agiert in der den<br />

Koalitionspartner betreffenden<br />

Angelegenheit bislang<br />

höchst defensiv. Die Frage,<br />

ob die FDP mit der Briefkampagne<br />

gegen das Parteiengesetz<br />

verstoßen habe,<br />

könne nicht abschließend<br />

beantwortet werden, heißt<br />

es in einem Brief Lammerts an die Grünen.<br />

Ob die FDP-Fraktion verdeckte<br />

Parteienfinanzierung betrieben habe,<br />

müsse zunächst der Bundesrechnungshof<br />

prüfen.<br />

Der sieht das anders. „Nach Auffassung<br />

des Bundesrechnungshofs hat der<br />

Bundestagspräsident eine Prüfzuständigkeit“,<br />

sagt eine Sprecherin. Eigentlich<br />

sind beide zuständig. „Es gibt bewusst<br />

eine doppelte Kontrolle durch Rechnungshof<br />

und Bundestag. Wenn eine Instanz<br />

auf die andere wartet, wird dieses System<br />

ausgehebelt“, kritisiert der Parteienforscher<br />

Martin Morlok.<br />

Auch der Rechnungshof verhält sich<br />

sehr zurückhaltend. Vor der Bundes -<br />

tagswahl wird es wohl nichts mehr werden.<br />

Immerhin dürfte die „Sachverhaltsklärung“<br />

den Prüfern der Behörde keine<br />

Schwierigkeiten bereiten. Mitverantwortlich<br />

für die Briefkampagne der FDP-<br />

Bundestagsfraktion vor der NRW-Wahl<br />

war der damalige Parlamentarische Geschäftsführer<br />

Christian Ahrendt. Im Januar<br />

legte Ahrendt sein Bundestags -<br />

mandat nieder, weil seine Partei ihn in<br />

ein n<strong>eu</strong>es Amt gehoben hatte. Er ist seither<br />

Vizepräsident des Bundesrechnungshofs.<br />

RALF NEUKIRCH


Freigelassener Mollath: „Du, der Gustl ist im Fernsehen“<br />

Am Dienstag voriger Woche klingelte<br />

das Telefon bei Petra M. Ein<br />

Mann vom Radio war dran, er<br />

fragte: „Wissen Sie’s schon?“ – „Was<br />

denn?“ – „Gustl Mollath ist frei. Was sagen<br />

Sie dazu?“ – „Das ist schön für ihn“,<br />

sagte Petra M. überrascht.<br />

Dann besann sie sich und schaute auf<br />

den Merkzettel, den sie neben das Telefon<br />

gelegt hat, für den Fall, dass mal wieder<br />

Reporter dran sind und etwas wissen<br />

wollen über ihre damalige Ehe mit Gustl<br />

Mollath: Hat er Sie wirklich geschlagen?<br />

Warum haben Sie erst nach mehr als<br />

einem Jahr Anzeige erstattet? Wann äußern<br />

Sie sich zu den Schwarzgeld-Vorwürfen?<br />

Warum haben Sie seine Habe<br />

vernichtet? Haben Sie Angst vor ihrem<br />

Ex-Mann?<br />

Auf dem Zettel steht: „Für den Moment<br />

ist alles gesagt. Bitte haben Sie dafür<br />

Verständnis.“ Das sagte sie zu dem<br />

Radiomann. Und legte auf.<br />

Das Telefon läutet oft bei Petra M., seit<br />

der Fall Gustl Mollath Schlagzeilen macht.<br />

Manchmal mitten in der Nacht, und am<br />

anderen Ende hört sie nur jemanden atmen.<br />

Manchmal kommen lange Hass -<br />

42<br />

JUSTIZ<br />

Die andere Hälfte<br />

Nach sieben Jahren in der Psychiatrie ist Gustl Mollath frei.<br />

Was sagt eigentlich seine Ex-Ehefrau dazu? Besuch bei<br />

einer Frau, die gefangen ist in einer längst beendeten Beziehung.<br />

tiraden, „natürlich anonym, die L<strong>eu</strong>te<br />

sind ja feige“. N<strong>eu</strong>lich sagte eine Frau einfach<br />

nur: Drecksau! Da entfuhr es ihr:<br />

Selber Drecksau. Sofort nahm sie sich<br />

vor, sich beim nächsten Mal zur Höflichkeit<br />

zu zwingen, sie will sich nicht auf<br />

dieses Niveau herabziehen lassen. Sie will<br />

ihre Ruhe.<br />

Wertsachen von Mollath<br />

Eine Kiste im Keller, eine im Wohnzimmer<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

GETTY IMAGES<br />

Als Nächstes war vorigen Dienstag<br />

aber eine Fr<strong>eu</strong>ndin dran: „Du, der Gustl<br />

ist im Fernsehen!“ Auf allen Sendern<br />

brachten sie es: Gustl Mollath, wie er auf<br />

dem Gelände des Bezirkskrankenhauses<br />

über eine grüne Wiese einem Pulk von<br />

Reportern und Unterstützern entgegengeht,<br />

im hellblauen Polohemd. Wie er erschöpft,<br />

verschwitzt und glücklich vor die<br />

Kameras tritt, nur mit Pflanzen im Arm,<br />

die er selbst gezogen hat in der forensischen<br />

Psychiatrie, aus einem Orangenund<br />

einem Dattelkern.<br />

Petra M. war mal Bankerin, h<strong>eu</strong>te behandelt<br />

sie Klienten mit Bioenergetik, sie<br />

reinigt Räume von schlechten Schwingungen.<br />

Schon lange hat sie die Business -<br />

kostüme gegen sportliche Jeans getauscht,<br />

sie ist eine zierliche Frau, die Haare kurz<br />

geschnitten, sie hat wieder geheiratet, ein<br />

n<strong>eu</strong>es Leben begonnen.<br />

Was hat sie in diesem Moment empfunden?<br />

Angst vielleicht vor dem, was<br />

nun auf sie zukommt? Oder doch eher<br />

Wut darüber, dass der Mann, der 2006 als<br />

ihr Peiniger verurteilt worden war, nun<br />

als Freiheitsheld und Unschuldslamm gefeiert<br />

wird? Petra M. zögert einen Augenblick,<br />

lächelt und sagt: „Ich will jetzt<br />

nichts Falsches sagen, aber irgendwie<br />

hat’s mich schon gerührt, wie er da stand<br />

und sich an dem Blumentopf festgehalten<br />

hat. Dabei hat ja nicht so viel gefehlt dar -<br />

an, dass er mich umgebracht hätte.“<br />

So sah es auch das Landgericht Nürnberg-Fürth<br />

im Jahr 2006. Gustl Mollath<br />

habe seine Frau geschlagen, gebissen und<br />

gewürgt bis zur Bewusstlosigkeit, er habe<br />

Menschenleben in Gefahr gebracht, indem<br />

er etliche Autoreifen auf eine Weise<br />

zerstach, dass die Luft aus den Reifen erst<br />

beim Fahren entwich. Er sei eine Gefahr<br />

für die Allgemeinheit. So steht es im Urteil.<br />

Aber das zählt nun nicht mehr.<br />

Das Oberlandesgericht Nürnberg hat<br />

die Wiederaufnahme des Verfahrens verfügt<br />

und Mollaths sofortige Entlassung.<br />

Auch für Mollath kam das plötzlich. Ein<br />

Fr<strong>eu</strong>nd half ihm, seine Sachen in einen<br />

Transporter zu packen, am späten<br />

Dienstagnachmittag waren<br />

siebeneinhalb Jahre Psychiatrieaufenthalt<br />

Geschichte. „Irgendwann“,<br />

sagt Petra M., „musste<br />

ja mal was passieren. Sie können<br />

den Mollath ja nicht ewig<br />

da drin behalten.“<br />

Immer nennt sie ihn h<strong>eu</strong>te<br />

„den Mollath“, nicht „Gustl“<br />

oder „meinen Ex-Mann“; das<br />

hält ihn auf Abstand zu ihrem<br />

jetzigen Leben, soweit das überhaupt<br />

möglich ist. Seit Wochen<br />

blickt er ihr in ganz Nürnberg<br />

von Plakaten entgegen, auf<br />

denen seine Unterstützer „Freiheit<br />

und Gerechtigkeit für Gustl<br />

Mollath“ fordern. Was Mollath<br />

selbst unter Gerechtigkeit ver-<br />

OTTO LAPP


steht, hat er in vielen Interviews gesagt:<br />

„die volle Rehabilitierung und Wiederherstellung<br />

meiner Unschuld“.<br />

Ihr, der Ex-Bankerin, haben diejenigen,<br />

die an Gustl Mollath glauben, in diesem<br />

Justizdrama die Rolle der bösen Frau zugedacht:<br />

die Hexe, die ihren unbequemen<br />

Mann ins Irrenhaus sperren lässt und ihn<br />

um Haus und Besitz bringt. „Vielleicht ist<br />

das so eine Urangst“, sagt Petra M., „anders<br />

kann ich mir den Hass, der mir entgegenschlägt,<br />

nicht erklären.“ Ihr glaube<br />

man nichts, ihm jedoch alles.<br />

Zum Beispiel, dass sie ihm alles genommen<br />

habe. Immer wieder hat er das in<br />

Interviews gesagt. Sein Unternehmen,<br />

sein Haus, seine Habe, auch seine Ausweispapiere<br />

– alles weg. Nicht mal das<br />

Bild seiner Mutter sei ihm geblieben.<br />

Das Bild der Mutter. Petra M. kennt es<br />

noch, aus Zeiten, in denen der Mollath<br />

für sie noch der Gustl war. „Es hing am<br />

Spiegel vor seinem Schlafzimmer“, sagt<br />

sie, „das war ihm heilig.“<br />

Nach Mollaths Fernsehauftritt stieg sie<br />

in den Keller. Eine Kiste hat sie dort stehen<br />

lassen, Geschirr, Kristallgläser und<br />

Besteck der Mutter sind darin, vielleicht<br />

kann er das ja jetzt brauchen. Auch die<br />

vielen Autoposter in schweren Rahmen<br />

sind noch da, die Mollath damals überall<br />

aufgehängt hatte. Die andere Kiste steht<br />

jetzt im Wohnzimmer. Petra M. weiß nicht<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong><br />

mehr genau, was sie alles hineingepackt<br />

hat, damals, als sie das Haus ihres Mannes<br />

vor der Zwangsversteigerung räumte.<br />

Es war ja mal die große Liebe, Gustl<br />

und Petra, sie 18 Jahre alt, als sie sich<br />

kennenlernten, er 22. Sie hatten ein schönes<br />

Leben, finanziert von ihrem Gehalt<br />

bei der Bank.<br />

Petra M. atmet noch einmal tief durch,<br />

dann schaut sie in die Kartons und<br />

Schachteln, öffnet eine blaue Kunststoffmappe:<br />

Z<strong>eu</strong>gnisse. Zum Beispiel das der<br />

Hiberniaschule, „da hat er sein Fach-Abi<br />

gemacht, als Zweitbester seines Jahrgangs“.<br />

Der Vertrag beim Maschinenbauer<br />

MAN, dann seine Kündigung: „…kündige<br />

ich fristlos“, steht da mit blauer Tinte<br />

geschrieben.<br />

Danach kam die Zeit, in der er einen<br />

Handel für Motorradreifen und Zubehör<br />

aufmachte, später restaurierte er alte<br />

Sportwagen, Ferraris, Alfas, Maseratis.<br />

Gemeinsam fuhren sie zu Autorennen<br />

nach Monza und Silverstone. Sie machte<br />

in der Bank Karriere. Doch seine Werkstatt<br />

lief nie. Jahrelang steckte sie ihr<br />

Geld in seine Firma, als sie damit aufhörte,<br />

im Jahr 2000, war er pleite.<br />

Petra M. öffnet jetzt einen großen braunen<br />

Umschlag. Stockfleckiges Papier, sie<br />

breitet es aus, schnuppert. Das mollathsche<br />

Familienstammbuch, in rotschwarz<br />

geprägtem Leinen. Eine Ahnentafel, das<br />

Reichspost-Sparbuch des Vaters. Und dann<br />

Fotoalben. „Hier, das ist er als Baby!“<br />

Nachdenklich betrachtet Petra M. das<br />

Schwarzweißporträt aus dem Jahr 1957:<br />

Mollath, noch kein Jahr alt, wie er ernst<br />

und ein wenig staunend in die Welt blickt.<br />

„Ich hasse ihn ja nicht“, sagt sie.<br />

Schrecklich müsse das sein, habe sie sich<br />

oft gedacht. So lange eingesperrt. Schließlich<br />

habe er sie ja nicht aus bösem Willen<br />

misshandelt: „Das war ja seine Krankheit,<br />

die ihn dazu gebracht hat.“<br />

Noch ein dicker Umschlag, Petra M.<br />

breitet seinen Inhalt aus: ein Führerschein<br />

aus dem Jahr 1972, da trägt Mollath das<br />

Haar noch verwegen, nicht so sorgfältig<br />

gescheitelt wie h<strong>eu</strong>te. Und einen Schnauzer<br />

wie Charles Bronson. „Der Führerschein<br />

ist ja h<strong>eu</strong>te noch gültig“, sagt Petra<br />

M. „Da braucht er sich gar keinen n<strong>eu</strong>en<br />

zu besorgen.“ Und die Reisepässe! Petra<br />

M. schaut in den letzten: abgelaufen im<br />

Jahr 2009.<br />

Nachdem Mollath in der Presse einmal<br />

mehr den Verlust seiner persönlichen<br />

Sachen beklagt hat, erzählt Petra M.<br />

einem Reporter vom „Nordbayerischen<br />

Kurier“, dass sie etliches davon für ihn<br />

aufbewahrt habe. Viele Wochen ist das<br />

nun her. „Ich dachte, wenn das in der<br />

Zeitung steht, klingelt hier sofort das<br />

Telefon“, sagt sie. „Aber komisch, keiner<br />

von all denen, die dem Mollath jetzt an-


geblich helfen wollen, hat sich daraufhin<br />

gemeldet.“<br />

Laut Gerichtsurteilen schuldet er ihr<br />

zum Zeitpunkt der Trennung mehr als<br />

210000 Euro plus Zins und Zinseszins,<br />

dazu kamen Schulden bei der Bank. Sie<br />

habe ihn in der Psychiatrie angerufen und<br />

ihm vorgeschlagen, das Haus auf dem freien<br />

Markt zu verkaufen, um einen besseren<br />

Preis zu erzielen als über die Zwangsversteigerung.<br />

Was nach Abzug seiner Schulden<br />

bei ihr übrig geblieben wäre, hätte ja<br />

ihm gehört. Aber der Mollath habe nicht<br />

gewollt. „Mit ihm war ja nicht zu reden.“<br />

Am Ende ordnet ein Gericht die<br />

Zwangsversteigerung an. Petra M. sagt,<br />

sie habe mitgeboten, um den Preis in die<br />

Höhe zu treiben. Ungewollt bekommt<br />

sie den Zuschlag, zahlt 226000 Euro. Die<br />

verteilt das Gericht an die Gläubiger, damit<br />

ist der größte Teil seiner Schulden<br />

bei ihr getilgt. Sie verkauft das Haus für<br />

264 000 Euro weiter.<br />

„Es wurde ihm nichts genommen“, sagt<br />

Petra M. „Er selbst hat alles verloren.<br />

Aber das will ja niemand hören“, eine andere<br />

Wahrheit, ihre Hälfte der Geschichte.<br />

Es wird jetzt einiges auf Petra M. zukommen,<br />

ein n<strong>eu</strong>es Gerichtsverfahren<br />

vor allem, schon jetzt war in der „Nürnberger<br />

Zeitung“ zu lesen, der größte Saal<br />

im Regensburger Gericht werde nicht reichen<br />

für die vielen Zuschauer. Und die<br />

Motorrad-Freak Mollath in den Achtzigern<br />

Zweitbester seines Jahrgangs<br />

meisten von ihnen, das lässt sich wohl<br />

h<strong>eu</strong>te schon sagen, werden kaum ein anderes<br />

Urteil akzeptieren als einen Freispruch<br />

für Gustl Mollath ohne Wenn und<br />

Aber. Petra M. sagt: „Ich staune nur. Für<br />

die L<strong>eu</strong>te ist er der Held, und ich bin die<br />

Böse.“<br />

Warum, so fragt sie, hat er nicht ein<br />

einziges Mal vor Gericht konkret bestritten,<br />

dass er sie geschlagen, gebissen, gewürgt<br />

hat?<br />

Das Attest, in dem sie sich ihre Verletzungen<br />

drei Tage nach dem Vorfall beim<br />

Arzt hatte dokumentieren lassen, brachte<br />

nun das Urteil zu Fall: Ausgestellt war es<br />

auf dem Briefpapier einer Ärztin, doch<br />

erstellt hatte es stellvertretend deren<br />

Sohn, ebenfalls Arzt, der Petra M. untersucht<br />

hatte. Das war für das Gericht nicht<br />

zu erkennen gewesen.<br />

Das Nürnberger Oberlandesgericht<br />

wollte nun nicht ausschließen, dass das<br />

Verfahren einen anderen Ausgang genommen<br />

hätte, wenn das Gericht davon<br />

gewusst hätte. Den Inhalt des Attests<br />

hatte das Gericht allerdings nicht angezweifelt.<br />

Irgendwas, so sieht Petra M. es, ist hier<br />

gewaltig schiefgelaufen, es sei eine verkehrte<br />

Welt: „Der Täter wird zum Opfer<br />

gemacht, das Opfer zum Täter“, sagt sie.<br />

„Er ist aber kein Opfer“, sagt sie. „Er hat<br />

sich das ja alles selbst zuzuschreiben.<br />

Aber die L<strong>eu</strong>te wollen sich das Bild von<br />

der bösen Frau einfach nicht mehr kaputtmachen<br />

lassen.“<br />

Und dann noch ein Griff in die Kiste:<br />

„Ach“, ruft Petra M., „da ist es ja!“<br />

Ein Abzug in Farbe, 9×13, das Bild der<br />

Mutter.<br />

BEATE LAKOTTA


<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong><br />

AFFÄREN<br />

Männerfr<strong>eu</strong>nde<br />

Olaf Glaeseker weist<br />

Korruptionsvorwürfe zurück –<br />

und widerspricht<br />

der Darstellung seines ehemaligen<br />

Chefs Christian Wulff.<br />

Weggefährten Wulff, Glaeseker 2010: „Null Kontakt“<br />

46<br />

Was ist von einer Ferienwohnung<br />

zu halten, die nahezu ausschließlich<br />

mit Ikea-Möbeln bestückt<br />

ist? Was bed<strong>eu</strong>tet es für den Wert<br />

eines Urlaubsdomizils, wenn ein Gast auf<br />

lackierten Euro-Paletten nächtigt, auf einer<br />

gewöhnlichen Matratze, ohne Bettgestell,<br />

ohne Lattenrost?<br />

Das sind merkwürdige Fragen, auch<br />

lästige, wenn man Staatsanwalt oder<br />

Strafverteidiger ist und kein Reiseveranstalter.<br />

Doch mit genau solchen Fragen<br />

haben sich in den letzten Monaten beide<br />

Seiten beschäftigt: die Ermittler der Zentralstelle<br />

für Korruptionsstrafsachen in<br />

Hannover und, im Auftrag seines Mandanten<br />

Olaf Glaeseker, dessen Verteidiger<br />

Guido Frings.<br />

Mit einer 69-seitigen Stellungnahme an<br />

das Landgericht Hannover ist das Verfahren<br />

gegen Glaeseker, den langjährigen<br />

Sprecher und Berater von Christian<br />

Wulff, vorige Woche in die nächste Runde<br />

gegangen. Frings weist darin den Vorwurf<br />

der Anklage zurück, sein Mandant habe<br />

sich von dem Party-Manager Manfred<br />

Schmidt bestechen lassen, mit kostenlosen<br />

Urlauben, Flügen und Unterkünften.<br />

Die Art, wie Glaesekers Anwalt argumentiert,<br />

streift des Öfteren den Tatbestand<br />

der Haarspalterei. Aber Frings<br />

wählt diesen Weg, um seinen Mandanten<br />

als engagiertes, tr<strong>eu</strong>es Arbeitstier darzustellen,<br />

als jemanden, der alles möglich<br />

macht – ob fürs Land Niedersachsen, für<br />

seinen Boss Wulff, den damaligen niedersächsischen<br />

Ministerpräsidenten, oder<br />

eben für Schmidt, seinen engen Buddy.<br />

Die Fr<strong>eu</strong>ndschaft zu dem Event-Veranstalter,<br />

so heißt es in der Stellungnahme,<br />

zeichne sich „durch eine Qualität aus, die<br />

nur wenigen zwischenmenschlichen Beziehungen<br />

vergönnt ist“.<br />

Als Beleg der „tiefen persönlichen Zuneigung“<br />

führt der Verteidiger an,<br />

Schmidt habe seinen Arzt<br />

von der Schweigepflicht gegenüber<br />

Glaeseker entbunden.<br />

Auch dass der weltgewandte,<br />

vielreisende Party-<br />

Macher das Ehepaar Glaeseker<br />

in dessen Eigenheim<br />

in der „knapp 5000 Einwohner<br />

zählenden Gemeinde<br />

Steinhude“ nicht nur mehrfach<br />

besucht, sondern dort<br />

auch übernachtet habe, sei<br />

„als besonderer Ausdruck<br />

eines von Vertrauen und<br />

tiefer Verbundenheit geprägten<br />

Fr<strong>eu</strong>ndschaftsverhältnisses“<br />

zu werten.<br />

Sogar die frühere ARD-<br />

Moderatorin Sabine Christiansen<br />

wird in die Argumentationskette<br />

eingefädelt.<br />

Auch sie eine Fr<strong>eu</strong>ndin<br />

von Schmidt, hatte den<br />

Ermittlern gegenüber ausgesagt:<br />

„Wenn er bei uns<br />

eingeladen war, hat er diese<br />

privaten Termine mit beruflichen<br />

Terminen kombiniert.<br />

Er war also mehrere<br />

Tage in Berlin und hat dann<br />

lieber im Hotel übernachtet.“<br />

Glaesekers Anwalt<br />

schließt daraus in seiner<br />

Stellungnahme: „Diese Bekundung<br />

verd<strong>eu</strong>tlicht in<br />

nicht zu überbietender Weise<br />

den besonderen Wert<br />

der (Gegen-)besuche Manfred<br />

Schmidts bei unserem<br />

Mandanten.“<br />

DANIEL PILAR / LAIF<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

Warum die Männerfr<strong>eu</strong>ndschaft so vorgeführt<br />

werden muss, ist simpel. Für den<br />

von Schmidt erfundenen und von 2007<br />

bis 2009 dreimal veranstalteten „Nord-<br />

Süd-Dialog“, dem Niedersachsens Mi -<br />

nisterpräsident als Schirmherr diente,<br />

sammelte Olaf Glaeseker fleißig Sponsorengelder,<br />

und zwar von seinem Mail-<br />

Account in der Regierungszentrale aus –<br />

weshalb die Staatsanwaltschaft Glaeseker<br />

wegen Bestechlichkeit im Amt angeklagt<br />

hat. Den geldwerten Vorteil, den Wulffs<br />

Sprecher in den Jahren des Nord-Süd-<br />

Dialogs durch Flüge und Logis auf<br />

Schmidts Kosten erhielt, beziffern die<br />

Strafverfolger auf rund 12000 Euro.<br />

Um den Vorwurf zu entkräften, will<br />

Glaeseker drei Umstände belegen: Erstens,<br />

dass er die Sponsorenakquise nicht<br />

als „Diensthandlung“ vorgenommen<br />

habe, sondern rein privat. Zweitens, dass<br />

ihn mit Schmidt eine „enge Fr<strong>eu</strong>ndschaft<br />

seit den 1990er Jahren“ verbinde; somit<br />

könne die private Einladung eines guten<br />

Fr<strong>eu</strong>ndes keine Bestechung sein. Und drittens,<br />

dass die geldwerten Vorteile nicht<br />

so hoch gewesen seien wie von der Anklage<br />

kalkuliert. Frings rechnet die Ausstattung<br />

und Größe der Ferienunterkünfte,<br />

die Kosten für die Flugtickets oder andere<br />

Annehmlichkeiten herunter – so<br />

dass subjektiv gar keine „Verpflichtung<br />

zur Dankbarkeit“ mehr erz<strong>eu</strong>gt werde.<br />

In solchen Zeilen wird d<strong>eu</strong>tlich, dass<br />

beide Seiten ihre Schriftsätze in erheb -<br />

licher Not verfasst haben: eine Staatsanwaltschaft,<br />

die sich müht, Glaeseker als<br />

behördenintern zuständigen Geldeintreiber<br />

für den Nord-Süd-Dialog zu präsentieren,<br />

der sich vom Event-Unternehmer<br />

schmieren ließ. Die Verteidigung, die es<br />

mit einem Hansdampf zu tun hat, dem<br />

augenscheinlich jedes Sensorium dafür<br />

fehlt, wie weit Fr<strong>eu</strong>ndschaft mit einem<br />

Geschäftspartner gehen sollte.<br />

Als Indiz für Glaesekers Bestechlichkeit<br />

sieht die Anklage, dass er in der<br />

Staatskanzlei die Ferienreisen zu Schmidt<br />

verheimlicht habe. Das sei aber nicht<br />

wahr, entgegnet Anwalt Frings. Vielmehr<br />

habe es die Staatsanwaltschaft versäumt,<br />

Glaesekers ehemaligen Stellvertreter zu<br />

befragen: Roman Haase könne bez<strong>eu</strong>gen,<br />

dass sich Wulff nach einem Urlaubsaufenthalt<br />

erkundigt habe, „wie es bei Manfred<br />

gewesen sei“.<br />

Wulff hatte bei seiner Befragung behauptet,<br />

zu Glaeseker in dessen Urlaubsabwesenheit<br />

„null Kontakt“ gehabt und<br />

von den Trips in Schmidts Feriendomizile<br />

nichts gewusst zu haben. Die Verteidigung<br />

beantragt deshalb die Vernehmung<br />

des Z<strong>eu</strong>gen Haase.<br />

Bestätigt dieser Glaesekers Version, so<br />

passiert womöglich, was Wulff immer zu<br />

verhindern suchte: Der Fall Glaese -<br />

ker/Schmidt wird auch für Wulff Konsequenzen<br />

haben – wegen einer falschen<br />

Aussage. HUBERT GUDE, ALFRED WEINZIERL


Entführer Degowski, Rösner 1988*, Haftanstalt Werl: Immer in Fesseln<br />

VERBRECHEN<br />

Schreckweite<br />

Augen<br />

25 Jahre nach dem Gladbecker<br />

Geiseldrama hofft der<br />

Mörder Dieter Degowski auf seine<br />

Freilassung. Ein Gutachter<br />

plädiert für Haftlockerungen.<br />

Im Juni 2008, knapp 20 Jahre nach dem<br />

Geiseldrama von Gladbeck, schreibt<br />

Dieter Degowski in der Haftanstalt<br />

Werl einen Brief. Er tippt zweieinhalb<br />

Seiten in die Maschine, und dafür, dass<br />

er einen Intelligenzquotienten von 79 hat,<br />

den Satzbau eines Sechsjährigen, die<br />

Rechtschreibung eines Legasthenikers,<br />

schätzt er seine Lage ziemlich gut ein.<br />

„Mein bestreben ist, ein Leben in die<br />

Gesellschaft in sozialer Verantwortung<br />

aufrichtig zu führen“, verspricht er. Aber:<br />

„Ich als LLer (Abkürzung für „Lebens-<br />

* Mit Silke Bischoff (r.) und weiteren Geiseln.<br />

länglicher“ –Red.) dem anderen LLer<br />

gegenüber im Nachteil stehe in Bezug,<br />

eines der spektakulärsten Verbrechen der<br />

Nachkriegsgeschichte zu gelten.“ Und<br />

deshalb ahnte er schon damals: „Das Ziel<br />

bei der mindes Strafverbüssungsdauer<br />

von 24 Jahren bedingt Entlassen zu werden,<br />

erreiche ich nicht.“<br />

Degowski, 57, sollte recht behalten.<br />

Auch fünf Jahre später sitzt er im Gefängnis.<br />

An diesem Mittwoch aber stellt sich<br />

bei einem Anhörungstermin des Land -<br />

gerichts Arnsberg in der Haftanstalt Werl<br />

die Frage, ob er entlassen werden kann.<br />

Es ist ausgerechnet die Woche, in der<br />

sich die Tat zum 25. Mal jährt und all die<br />

verstörenden Bilder wieder hochkommen:<br />

die Geiselnehmer Degowski und<br />

Hans-Jürgen Rösner, die eine Crime-<br />

Show in den Innenstädten von Bremen<br />

und Köln inszenieren; Journalisten in<br />

ihrem Schlepptau, die nach Bildern und<br />

Interviews gieren; die schreckweiten<br />

Augen der Geisel Silke Bischoff, 18, die<br />

den Gangstertrip durch die halbe Re -<br />

publik nicht überlebt. So wie der Italie -<br />

ner Emanuele de Giorgi, 15, den Degowski<br />

erschießt; der Junge hatte in einem<br />

Bus, den die Täter gekapert hatten,<br />

seine kleine Schwester Tatiana beschützen<br />

wollen.<br />

KEYSTONE / AP (O.); ROLAND GEISHEIMER / ATTENZIONE (U.)<br />

Degowski kann keinesfalls damit rechnen,<br />

in Kürze aus dem Knast zu kommen.<br />

Der Essener Psychiater Norbert Leygraf,<br />

der ihn begutachtet hat, lehnt eine baldige<br />

Entlassung ab. Immerhin hat die Arnsberger<br />

Kammer dieses Gutachten aber<br />

überhaupt in Auftrag gegeben. Das gilt<br />

unter Juristen als Indiz dafür, dass ein<br />

Gericht die Entlassung ins Auge fasst und<br />

ein Prozess in Gang kommen soll, der in<br />

die Freiheit führt. Nach einer längeren<br />

Phase mit Haftlockerungen könnte Degowski<br />

das Gefängnis verlassen.<br />

Diese Perspektive zeigt auch das Leygraf-Gutachten<br />

auf. Noch drei Jahre,<br />

heißt es darin, dann sollte Degowski reif<br />

für die Entlassung sein. Vorausgesetzt,<br />

dass Degowski sich bis dahin bei jeder<br />

n<strong>eu</strong>en Lockerung bewährt. Er käme damit<br />

seinem Komplizen d<strong>eu</strong>tlich zuvor;<br />

wie es für Rösner weitergeht, wird frühestens<br />

2016 geprüft.<br />

Degowski sitzt in Werl hinter acht Meter<br />

hohen Mauern im Hafthaus 1. Jeden<br />

Morgen um 6.15 Uhr Wecken und „Vitalkontrolle“,<br />

ein Beamter schaut nach, ob<br />

er noch lebt. Dann Frühstück in der Zelle,<br />

um 6.45 Uhr Ausrücken zur Arbeit, um<br />

11.40 Uhr Einrücken in die Zelle, Mittagessen,<br />

noch mal Arbeiten bis 15.30 Uhr.<br />

Degowski kehrt den Gefängnishof. Später<br />

darf er am Hofgang teilnehmen, um 21<br />

Uhr wird er eingeschlossen. Immer das<br />

Gleiche. Seine Schwester Annemarie hat<br />

noch Kontakt zu ihm. Er sei gesund, guter<br />

Dinge, nicht depressiv, wie er vor Jahren<br />

selbst mal geklagt hat. Und er wolle endlich<br />

entlassen werden.<br />

Schon vor fünf Jahren hatte ihm ein<br />

Therapiebericht Hoffnung gemacht. Dar -<br />

in bescheinigte der behandelnde Psychologe<br />

Werner Rebber, dass Degowski eine<br />

Therapie „mit zufriedenstellendem Ergebnis<br />

abgeschlossen“ habe. Aus Rebbers<br />

Sicht bestanden „keine Einwände dagegen,<br />

Herrn Degowski nach weiterer Gruppentherapie<br />

mittelfristig die Behandlung<br />

in einer sozialtherap<strong>eu</strong>tischen Einrichtung<br />

zu ermöglichen, um damit eine Haftentlassung<br />

vorzubereiten“.<br />

Degowski sei in Gesprächen durchaus<br />

in der Lage gewesen, „glaubwürdig Opferempathie<br />

zu äußern“, urteilte Rebber.<br />

Auch in seinem Brief 2008 hatte Degowski<br />

Worte des Mitleids für die Hinterbliebenen<br />

gefunden: „Ich ber<strong>eu</strong>e, was<br />

ich getan habe, was ich angerichtet habe<br />

aufrichtig.“ Und: „Ich empfinde es so,<br />

dass ich die Angehörigen in ihren Familien<br />

unsagbares Leid und Schmerzen im<br />

ihren Seelenheil zu gefügt habe.“ Doch<br />

sein Antrag, in die Sozialtherap<strong>eu</strong>tische<br />

Anstalt Gelsenkirchen verlegt zu werden,<br />

wurde abgelehnt, und auch mit den Lockerungen<br />

ging es nicht recht voran.<br />

In 25 Jahren hat Degowski nur viermal<br />

begleiteten Ausgang bekommen: dreimal<br />

zwischen 2002 und 2004 und zuletzt 2012,<br />

immer in Hand- und Fußfesseln, bewacht<br />

DER SPIEGEL 33/2013 47


von zwei bewaffneten Beamten. Besucht<br />

hat er den einzigen Menschen, zu dem er<br />

neben seiner Schwester noch Kontakt hat,<br />

einen pensionierten Gefängnispfarrer.<br />

Zwar machte Degowski dabei nie Ärger,<br />

ebenso wenig in der Anstalt. Keine Schlägereien,<br />

keine Drogen. Doch bei einer seiner<br />

ersten Ausführungen hatte es einen Medienauflauf<br />

gegeben. Seitdem wurden immer<br />

wieder Ausgänge abgelehnt, etwa mit<br />

der Begründung, selbst in Fesseln könnte<br />

Degowski seine Begleiter noch entwaffnen.<br />

Das scheint weit hergeholt, auch das<br />

Leygraf-Gutachten kommt zu dem<br />

Schluss, dass Degowski h<strong>eu</strong>te nicht mehr<br />

gefährlich sei. Tatsächlich sprach gegen<br />

Degowski aber zumindest die Einschätzung,<br />

die auch im Gutachten stehen soll:<br />

dass Therapien nicht mehr viel bringen.<br />

„Menschlich eine Null“, „dissozial“, „hat<br />

die Therapien nur angekratzt“, so beschrieb<br />

Anstaltsleiter Michael Skirl vergangenes<br />

Jahr im „Focus“ seinen Eindruck<br />

von Degowski. Aus Düsseldorfer<br />

Justizkreisen heißt es, Degowski empfinde<br />

unverändert kein echtes Mitgefühl mit<br />

den Hinterbliebenen. Er könne daherplappern,<br />

dass ihm das alles leidtue, aber<br />

ohne das verinnerlicht und reflektiert zu<br />

haben. Für ernsthafte Therapieerfolge<br />

fehle ihm schon der Intellekt.<br />

Das alles kann aber kein Grund sein,<br />

ihn noch auf unabsehbare Zeit wegzusperren.<br />

Nach der Rechtsprechung des<br />

Bundesverfassungsgerichts muss jeder<br />

Häftling eine Perspektive auf ein Leben<br />

in Freiheit haben. Auch wenn Therapien<br />

bei Degowski kaum noch etwas ändern,<br />

soll er laut Leygraf-Gutachten zumindest<br />

dafür trainiert werden, mit dem Alltag<br />

draußen klarzukommen.<br />

Hinzu könnten nach und nach Haft -<br />

lockerungen kommen: Ausgang ohne<br />

Fesseln, Ausgang ohne Begleiter, längerer<br />

Hafturlaub, Übergang in eine sozial -<br />

therap<strong>eu</strong>tische Anstalt und am Ende, was<br />

Experten die Entlassung in einen „so-<br />

zialen Empfangsraum“ nennen. Seine<br />

Schwester wird ihm so etwas nicht bieten<br />

können: „Zu mir kann er nicht“, sagt sie.<br />

In Frage käme aber ohnehin nur eine<br />

betr<strong>eu</strong>te Wohngruppe. Denn ohne enge<br />

Führung, so die Befürchtung, könnte Degowski<br />

wieder trinken – wie vor der Tat<br />

und mit unabsehbaren Risiken.<br />

Für einen Menschen wäre ein Degowski<br />

in Freiheit auf jeden Fall unerträglich, egal<br />

wie er sich führen würde: für Tatiana de<br />

Giorgi, die als Kind ihren Bruder sterben<br />

sah. Am Telefon in Italien sagt sie: „Ich<br />

bin mit einer Entlassung von Degowski<br />

auf keinen Fall einverstanden. Er hat meinen<br />

Bruder vor meinen Augen umgebracht,<br />

das ist doch wohl keine Kleinigkeit.“<br />

Aus dem Hintergrund ruft ihr Ehemann,<br />

das alles belaste seine Frau noch<br />

viel zu sehr. Dann ist das Gespräch zu<br />

Ende.<br />

48<br />

FELIX BOHR, JÜRGEN DAHLKAMP,<br />

BEATE LAKOTTA, BARBARA SCHMID<br />

Betroffene Müller, Jelitte, Haupt: Mit dem Fernglas beobachtete er sein abgesoffenes Zuhause,<br />

Es war dieses hässliche Geräusch, das<br />

Christa Jelitte zu gut kannte. Ein<br />

Sprudeln, von drüben am Supermarkt.<br />

Die Uhr zeigte 13.30 Uhr, es war<br />

der 5. Juni 2013. Wasser schoss aus den<br />

Gullys. „Es hat gerauscht wie ein Gebirgsbach“,<br />

erinnert sich Jelitte.<br />

Alle in Nünchritz nahe Riesa hatten<br />

das schon einmal erlebt, im August 2002,<br />

als in Sachsen und anderswo das Land<br />

großflächig überschwemmt wurde. Jeder<br />

hier wusste, was nun kommen würde.<br />

Das Wasser würde unaufhaltsam über die<br />

Straße kriechen, die Elbgasse fluten und<br />

dann die N<strong>eu</strong>bausiedlung. Die stinkende<br />

Brühe würde tagelang in Jelittes Wohnzimmer<br />

stehen, noch einmal, wie ein Alptraum,<br />

der immer wiederkehrt.<br />

Christa Jelitte ist 74 Jahre alt, ihr Mann<br />

Thomas 82. Von ihrem kleinen Traumhaus<br />

im Grünen ist nicht viel geblieben.<br />

Jelitte steht auf einer Bodenplatte aus<br />

Beton, Heizungsrohre laufen darüber, die<br />

Innenwände aus Gipskarton sind herausgerissen.<br />

Die Reste ihres Hauses sehen<br />

aus wie ein Großraumbüro im Rohbau.<br />

Kein Schlafzimmer mehr, keine Küche,<br />

kein Bad. Entf<strong>eu</strong>chter vom Roten Kr<strong>eu</strong>z<br />

dröhnen. Und über allem liegt der penetrante<br />

Gestank nach abgestandenem Elbwasser.<br />

NATURKATASTROPHEN<br />

Nur noch weg<br />

Nach der zweiten großen Flut innerhalb von elf Jahren<br />

haben zahlreiche Opfer an der Elbe die<br />

Geduld verloren: Sie wollen umgesiedelt werden.<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

„Wir haben uns wohl selbst belogen“,<br />

sagt die Rentnerin leise. Die Jelittes hatten<br />

geglaubt, 2002 ein Jahrhunderthochwasser<br />

überstanden zu haben, eines, wie<br />

es die nächsten hundert Jahre nicht wieder<br />

kommen würde.<br />

2001 hatten sie in Nünchritz gut 300 Meter<br />

neben der Elbe ihren Altersruhesitz<br />

gebaut. Als 2002 alles fertig war, kam die<br />

erste Flut. Christa Jelitte und ihr Mann<br />

fuhren nicht mehr in Urlaub, rackerten<br />

sich ab, sanierten das Haus. Nun sind sie<br />

elf Jahre älter, können nicht mehr selbst<br />

sanieren und wollen nur noch weg. Weg<br />

vom Fluss, damit nicht mehr jeder ausgiebige<br />

Regen sie in Panik versetzt.<br />

Nach der zweiten gewaltigen Flut innerhalb<br />

von elf Jahren hat unter Anwohnern<br />

der Elbe und vieler kleiner Flüsse<br />

ein Umdenken eingesetzt. 2002 wollten<br />

fast alle Hochwasseropfer – auch dank<br />

großzügiger Hilfen – ihre Häuser sanieren.<br />

Nun fordern zahlreiche Menschen ihre<br />

Umsiedlung in sichere Gebiete. Sie wollen,<br />

dass ganze Ortsteile geordnet abgerissen<br />

werden. Und sie wollen eine hundertprozentige<br />

Entschädigung, wie sie 2002 durch<br />

Spenden und staatliche Aufbauhilfen für<br />

den Wiederaufbau gewährt wurde.<br />

Nach der jüngsten Flut sollen 80 Prozent<br />

des Schadens vom Acht-Milliarden-


erst nach vier Tagen ging das Wasser zurück<br />

Fonds zur Aufbauhilfe erstattet werden,<br />

so sehen es die Pläne von Bund und<br />

Ländern vor. Doch Entschädigungen für<br />

h<strong>eu</strong>te unverkäufliche Grundstücke und<br />

Gebäude sind nicht vorgesehen. So fehlt<br />

den Betroffenen das Geld, an sicherer<br />

Stelle n<strong>eu</strong> anzufangen. Der Staat müsste<br />

ihnen die Flutgrundstücke und -häuser<br />

abkaufen, um ihre Umsiedlung zu ermög -<br />

lichen; die Gemeinden könnten den Flutopfern<br />

Ersatzflächen anbieten.<br />

In der Siedlung von Christa Jelitte stehen<br />

41 Häuser. 38 Besitzer wollen umziehen,<br />

manche sind schon dreimal abgesoffen.<br />

Im Ort hängen mit Parolen besprühte<br />

Bettlaken: „Wir wollen ein Leben ohne<br />

Angst“, „Absiedlung = Hochwasserschutz“,<br />

„Glaubt nicht, wir warten aufs<br />

nächste“. Ein Spaßvogel hat geschrieben:<br />

„Haus zu verkaufen“. Hier wird wohl lange<br />

kein Grundstück mehr verkauft.<br />

Die Nünchritzer geben der Kommune<br />

eine Mitschuld. Der Kreistag hatte 1977<br />

das Gelände ihrer Siedlung als „Überschwemmungsgebiet“<br />

ausgewiesen. Bebaut<br />

werden dürfe es nur, wenn „eine Gefährdung<br />

von Leben und Gesundheit der<br />

Bewohner und Sachwerte durch geeignete<br />

Maßnahmen ausgeschlossen“ werde.<br />

Zwar ließ die Gemeinde das Baugebiet<br />

aufschütten und damit höherlegen, doch<br />

offensichtlich nicht hoch genug.<br />

Ein paar Dörfer weiter, gut zehn Kilometer<br />

flussabwärts, will sich Mario Müller<br />

nicht mehr mit dem Blick zurück aufhalten.<br />

Der Angestellte einer Mülldeponie<br />

wird sein Haus in Altoppitzsch verlassen.<br />

Um jeden Preis. „Soll ich auf die nächste<br />

Schneeschmelze warten oder auf ein heftiges<br />

Sommergewitter?“<br />

Die Müllers haben einen Umsiedlungsantrag<br />

gestellt; zur Sicherheit haben sie<br />

sich ein n<strong>eu</strong>es Grundstück in sicherer Ent-<br />

fernung zum Kauf für den Fall vormerken<br />

lassen, dass die Gemeinde nichts tun sollte.<br />

1999 kamen sie in den Ort und bauten<br />

ein altes LPG-Gebäude aus. Es ging drei<br />

Jahre lang gut, dann stand das Wasser im<br />

Wohnzimmer zwei Meter hoch. Die Müllers<br />

waren nicht versichert. Sie bauten<br />

mit Spendengeldern alles n<strong>eu</strong> auf. Müllers<br />

Frau Birgit erlitt in dem Stress eine<br />

Totgeburt.<br />

Der 52-Jährige campiert im Wohn -<br />

wagen auf seinem Hof. Nur noch 40 Quadratmeter<br />

unter dem Dach sind im Haus<br />

bewohnbar. In der ehemaligen Küche<br />

sind beide Hochwassermarken zu erkennen:<br />

2002 waren es 2,02 Meter, dieses Mal<br />

1,81 Meter. Im verschlammten Swimmingpool<br />

tummeln sich kleine Elbfische.<br />

Am 5. Juni hat Müller bis kurz vor elf<br />

Uhr abends die wichtigsten Sachen zu<br />

Fr<strong>eu</strong>nden gefahren. Dann sah er die braune<br />

Welle auf sein Haus zurollen. 600 Meter<br />

ist die Elbe von seinem Grundstück entfernt,<br />

im Normalfall von einem Deich im<br />

Zaum gehalten. Nun sei das Wasser noch<br />

ein Meter höher gewesen als der Raps auf<br />

dem Feld. Mit dem Fernglas beobachtete<br />

2 km<br />

Strehla<br />

Elbe<br />

Ortsteil Altoppitzsch<br />

Wohnort von<br />

Mario Müller<br />

Riesa<br />

Zeithain<br />

Ortsteil Moritz<br />

Wohnort von Ines<br />

und Udo Haupt<br />

FOTOS: JOERG BRUEGGEMANN / OSTKREUZ / DER SPIEGEL<br />

Müller sein abgesoffenes Zuhause. Erst<br />

nach vier Tagen ging das Wasser zurück.<br />

Der Gutachter der Versicherung schätzte<br />

den Schaden auf 128000 Euro. Wenn Müller<br />

nicht wieder aufbaut, bekäme er wohl<br />

nur zwei Drittel davon. Das Grundstück<br />

wird kaum zu verkaufen sein.<br />

Die SPD in Sachsen will die Umsiedlungswilligen<br />

unterstützen und fordert<br />

einen Fonds. Der Dresdner Fraktionschef<br />

Martin Dulig bezeichnet es als „fatal“,<br />

die Menschen mit Ankündigungen n<strong>eu</strong>er<br />

Maßnahmen zum Hochwasserschutz zu<br />

beruhigen. Niemand könne garantieren,<br />

dass die Deiche künftig halten. Zudem<br />

verlagern immer höhere Deiche das Problem<br />

flussabwärts, was ein Grund dafür<br />

ist, dass Sachsen-Anhalt in diesem Jahr<br />

so stark unter dem Hochwasser gelitten<br />

hat. Dulig hofft, dass Versicherungen,<br />

Freistaat und Kommunen die Umsiedler<br />

gemeinsam unterstützen. Doch die sächsische<br />

Regierung brachte bislang nur die<br />

Möglichkeit zinsloser Kredite ins Spiel.<br />

Um den Politikern der Landesregierung<br />

seine Not begreiflich zu machen,<br />

will Udo Haupt endlich mal einen auf seinem<br />

Hof sehen. Sein Zuhause liegt im<br />

Ortsteil Moritz in Zeithain, nicht weit von<br />

den Häusern von Christa Jelitte und Mario<br />

Müller. Hier hatte Haupt, Anlagenfahrer<br />

in einer Chemiefabrik, 1995 sein Haus<br />

gebaut, 150 Meter von der Elbe entfernt.<br />

Das Hochwasser ruinierte ihm jetzt die<br />

dritte Fußbodenheizung. Eine vierte will<br />

er nicht einbauen.<br />

Beim Hochwasser 2002 war Haupts Öltank<br />

aufgetrieben und geplatzt, der Gutachter<br />

hielt die übelriechende Ruine trotzdem<br />

für reparabel. Udo und Ines Haupt<br />

gingen ans Werk. 2006 stellte sich heraus,<br />

dass die Mühe vergebens war, das Heizöl<br />

im Mauerwerk stank noch immer erbärmlich.<br />

Die nächste Sanierung zahlte die<br />

Diakonie, aus Spendengeldern.<br />

Im Juni saß Udo Haupt dann trotz<br />

Evakuierungsanweisung mit seiner Katze<br />

im Haus und tat, was noch getan werden<br />

konnte. Sandsäcke stapeln, Möbel nach<br />

oben tragen, Steckdosen entfernen. Dann<br />

saß er oben auf der Treppe und sah zu,<br />

wie sein Haus volllief. Die Elbe stand<br />

43 Zentimeter hoch in seinem<br />

Wohnzimmer.<br />

Haupt sagt, er erwarte von<br />

den Politikern ein faires Angebot.<br />

Die Häuser sollten geschätzt,<br />

das private Vermögen<br />

solle offengelegt werden.<br />

Dann müsse von Fall zu Fall<br />

Wohnort von<br />

Christa Jelitte<br />

Nünchritz<br />

eine Lösung gefunden werden.<br />

Für zehn Millionen Euro sollen<br />

bei Moritz nun wohl die<br />

Deiche ern<strong>eu</strong>ert werden. „Da<br />

sollen sie den Menschen lieber<br />

fünf Millionen für die Um -<br />

siedlung geben“, sagt Udo<br />

Haupt, „und das Wasser laufen<br />

lassen.“ STEFFEN WINTER<br />

DER SPIEGEL 33/2013 49


Überläufer Carney (l.) mit Fr<strong>eu</strong>nden in Ost-Berlin 1988: Zur Belohnung blaue Dopingpillen<br />

ZEITGESCHICHTE<br />

Geheimnisse im Gummistiefel<br />

Ein amerikanischer Soldat, stationiert in Berlin, gehörte zu den<br />

Top-Agenten der Stasi. Jetzt hat er seine Memoiren geschrieben –<br />

argwöhnisch beobachtet von US-Militär und alten Genossen. Ex-Spion Carney 2011<br />

Berlin-Marienfelde im Herbst 1983:<br />

Der Tag, an dem Jeff Carney seinen<br />

Teil dazu beitrug, die Welt zu<br />

retten, war erst vier Stunden alt. Carney,<br />

20 Jahre alt, Abhörspezialist der US-Luftwaffe,<br />

saß vor seinen Geräten, die in den<br />

Osten lauschten. Nachtschicht, keine besonderen<br />

Vorkommnisse.<br />

Da erzählte ihm sein Vorgesetzter, dass<br />

es in wenigen Stunden eine Geheimoperation<br />

geben sollte. Eine Art Kriegsspiel:<br />

US-Kampfflugz<strong>eu</strong>ge, die sich bedrohlich<br />

dem sowjetischen Luftraum nähern würden;<br />

alarmierende Signale auf den Radarschirmen<br />

der Russen, Verwirrung. Diese<br />

Manöver, so das Kalkül, würden den Gegner<br />

so verunsichern, dass drüben die ganze<br />

Reaktionskette für den Ernstfall abliefe<br />

– und damit für die US-Aufklärung erkennbar<br />

wäre wie eine Lichterkette.<br />

Was aber, wenn die Russen dann tatsächlich<br />

an den Ernstfall glaubten und<br />

den Gegenschlag auslösten? Carney, der<br />

seit ein paar Monaten als Agent für die<br />

Stasi arbeitete, hatte nur noch Stunden.<br />

Er musste seine Schicht absitzen, dann<br />

hetzte er zu einem Kontaktmann der<br />

Stasi, einem Lehrer in West-Berlin. Und<br />

tatsächlich kam die Nachricht drüben<br />

50<br />

an: nur eine Finte, eine Falle, nicht der<br />

Ernstfall.<br />

Später, nach seiner Flucht in die DDR,<br />

bekam Carney von Stasi-Chef Erich Mielke<br />

die „Medaille der Waffenbrüderschaft“<br />

in Gold. Und noch später, nach dem Mauerfall,<br />

von einem US-Gericht eine Verurteilung<br />

zu letztlich 20 Jahren Haft in Fort<br />

Leavenworth, dem Militärgefängnis in<br />

Kansas. Denn Carney, Codename „Kid“,<br />

war einer von zwei Top-Agenten, mit denen<br />

die Stasi das US-Militär in West-Berlin<br />

unterwandert hatte. Den Schaden, den<br />

„Kid“ mit seinem Geheimnisverrat in gut<br />

zwei Jahren anrichtete, schätzten die<br />

Amerikaner auf 14,5 Milliarden Dollar<br />

(SPIEGEL 29/2003).<br />

Über das Leben auf beiden Seiten des<br />

Kalten Krieges hat Carney, der nach elf<br />

Jahren vorzeitig freikam, nun seine<br />

Memoiren geschrieben*. Auf knapp 700<br />

Seiten offenbart er Ansichten eines Ex-<br />

Spions und Einsichten in eine Welt, die<br />

seit einer Ewigkeit versunken scheint, obwohl<br />

sie vor noch nicht mal 25 Jahren<br />

untergegangen ist. Eine Welt von Lüge<br />

* Jeffrey M. Carney: „Against All Enemies“. Eigenverlag,<br />

bei Amazon; 700 Seiten; 20 Dollar.<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

und Verrat, Tarnung, Täuschung, mit<br />

toten Briefkästen im Wald und jener<br />

Getränkedose, Lipton-Eistee, in deren<br />

Boden eine Minikamera verschraubt war.<br />

Damit fotografierte sich Carney für die<br />

Stasi reihenweise durch Aktenordner der<br />

US-Aufklärung.<br />

Dass das Buch selbst weitgehend frei<br />

von Lügen und Fälschungen sein dürfte,<br />

darauf d<strong>eu</strong>ten die zahlreichen Schwärzungen<br />

hin. Rund ein Jahr lang prüften<br />

Air Force und NSA das Werk, sie machten<br />

an zahlreichen Stellen unkenntlich,<br />

was aus ihrer Sicht bis h<strong>eu</strong>te geheim bleiben<br />

muss. Und doch: Was die Zensoren<br />

übrig ließen, erlaubt spannende Einblicke<br />

in den Alltag an der unsichtbaren Front<br />

der Ost-West-Spionage.<br />

Carney hatte im Sommer 1980 bei der<br />

Air Force angeh<strong>eu</strong>ert. Es war eine Flucht<br />

mit nur 17 Jahren aus einem zerrütteten<br />

Elternhaus, in dem es nicht mal jeden Tag<br />

genug zu essen gab. Drei Jahre D<strong>eu</strong>tsch<br />

in der Schule brachten ihm das Ticket zur<br />

6912th Electronic Security Group in Marienfelde,<br />

wo ihn aber Ärger mit Vorgesetzten,<br />

eine labile Psyche und Angst vor<br />

der Entdeckung seiner Homosexualität<br />

am 22. April 1983 überlaufen ließen. Und


<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong><br />

das im wahrsten Sinne des Wortes: Er<br />

spazierte nach einem Kneipenbesuch<br />

über die Zonengrenze am Checkpoint<br />

Charlie und meldete sich bei den verdutzten<br />

Ost-Grenzern, ohne dass West-Geheimdienste<br />

davon etwas mitbekamen.<br />

Er wolle gern in der DDR leben, sagte er<br />

den sofort herbeigerufenen Stasi-L<strong>eu</strong>ten,<br />

doch die hatten eine bessere Verwendung:<br />

Sie schickten ihn zurück und platzierten<br />

ihn als Maulwurf in seiner Einheit.<br />

Ein Jahr später versetzte ihn die Air<br />

Force in die USA, beförderte ihn zum Ausbilder<br />

für Abhörspezialisten. In dieser<br />

Zeit spionierte er weiter, bis er die Nerven<br />

verlor und über die DDR-Botschaft in Mexiko<br />

nach Ost-Berlin flüchtete. Dort machte<br />

die Stasi aus Jeffrey Carney einen Jens<br />

Karney, Legende: Postangestellter. Und<br />

weil er nicht nur Englisch, sondern auch<br />

den Militärjargon der Amerikaner besser<br />

als jeder andere verstand, hörte er für die<br />

Stasi bis zum Mauerfall die US-Botschaft<br />

in Ost-Berlin und die US-Militärmission<br />

in Potsdam ab. Im April 1991 – Carney<br />

hielt sich inzwischen als U-Bahn-Fahrer<br />

der Berliner Verkehrsbetriebe über Wasser<br />

– entführte ihn ein Greiftrupp des US-<br />

Geheimdienstes OSI auf offener Straße<br />

und verschleppte ihn in die Staaten.<br />

Zu seinen frühen Lieferungen an die<br />

Stasi, damals noch in Berlin, hatten 1983<br />

dicke Ausbildungs- und Trainingshand -<br />

bücher für US-Abhörspezialisten gezählt.<br />

Carney hatte sie in die Gummistiefel seiner<br />

ABC-Ausrüstung gesteckt und aus<br />

dem amerikanischen Horchposten in Marienfelde<br />

geschmuggelt. Schon da hatte<br />

er die Erfahrung gemacht, dass beim US-<br />

Militär vertrauliche Papiere herumlagen<br />

und sich Geheimnisse gern mit der Ankündigung<br />

„Eigentlich darf ich es ja nicht<br />

sagen …“ in Geplapper verwandelten.<br />

Für eine Lieferung an die Stasi bekam<br />

er meistens nur 300 D-Mark. Das Geld<br />

sei ihm, wie er schreibt, auch<br />

nicht so wichtig gewesen, er<br />

habe vielmehr etwas gegen<br />

die aus seiner Sicht aggres -<br />

sive US-Politik tun wollen.<br />

Doch wie wichtig er für die<br />

DDR war, wurde ihm klar,<br />

als er seinem Führungsof -<br />

fizier sagte, er würde gern<br />

mal ein paar Muskelpräpa -<br />

rate ausprobieren, für sein<br />

Hobby – lange Fahrradtouren<br />

durch Berlin. Kurz danach<br />

versorgte ihn die Stasi<br />

mit dem Besten, was das<br />

DDR-Doping zu bieten hatte:<br />

Oral-Turinabol, jene blauen<br />

Pillen, mit denen die DDR<br />

ihre Schwimmer und Leichtathleten<br />

zu Olympiasiegern<br />

aufpumpte.<br />

Später in Texas fotografierte<br />

sich Carney in einer Air-<br />

Force-Bibliothek durch Meter<br />

von Aktenordnern mit Verschluss -<br />

sachen. Dabei will er unter anderem auf<br />

ein Papier gestoßen sein, das die Amerikaner<br />

als Trickser entlarvt habe, wenn<br />

sie die militärische Stärke von Ost und<br />

West verglichen. Um die Bedrohung aus<br />

dem Osten aufzubauschen, hätten sie auf<br />

der anderen Seite sogar die zahlreichen<br />

Panzerveteranen mitgerechnet, die nach<br />

dem Krieg in vielen Städten als Denkmal<br />

zum Ruhme der Roten Armee aufgebockt<br />

worden waren.<br />

Eine andere Liste, die er fand, habe<br />

sieben Namen enthalten, Mitglieder von<br />

Todesschwadronen, die in den USA für<br />

Mordaufträge in ihrer Heimat ausgebildet<br />

worden seien – weitere Details dazu hat<br />

die Air Force in Carneys Memoiren lieber<br />

geschwärzt.<br />

Nach seiner Flucht in die DDR merkte<br />

Carney schnell, dass er dort keine Fr<strong>eu</strong>nde<br />

hatte, nur Geheimdienstler, die ihn<br />

benutzen wollten. Oder auch nicht. Zunächst<br />

habe ihn die DDR nämlich loswerden<br />

wollen, nach Schweden; doch aus Sorge,<br />

er könne dort plaudern, habe ihn die<br />

Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) dann<br />

doch im eigenen Land untergebracht: bei<br />

den Funkaufklärern, die sich in die Kabel<br />

der US-Botschaft und der US-Militärmission<br />

in der DDR einklinkten.<br />

Die westd<strong>eu</strong>tschen Tonbandgeräte<br />

vom Typ Uher SG-561, die dabei zum<br />

Einsatz kamen, habe man sich erst leisten<br />

können, nachdem die DDR 1983 durch<br />

Vermittlung von Bayerns Ministerpräsident<br />

Franz Josef Strauß den lebensrettenden<br />

Milliardenkredit erhalten habe. Kassetten<br />

für andere Uher-Geräte stammten<br />

direkt von der Grenze, wo sie West -<br />

touristen abgenommen worden seien.<br />

In seinen Erinnerungen erzählt Carney,<br />

wie er in den mitgeschnittenen Gesprächen<br />

nach Vorlieben von Sekretärinnen<br />

der US-Botschaft suchte, damit Romeo-<br />

US-Horchposten in Berlin-Marienfelde 1986: Minikamera in der Dose<br />

Agenten der Stasi mit einem genauen<br />

Profil auf Damenjagd gehen konnten.<br />

Oder wie er mal beim Abhören mitbekam,<br />

dass eine Botschaftsmitarbeiterin<br />

eine Putzfrau suchte. Kurz danach hing<br />

an den Bushaltestellen auf dem Arbeitsweg<br />

der Frau das Stellengesuch einer<br />

Putzfrau, die der Stasi später bereitwillig<br />

die Tür zur Wohnung der Diplomatin<br />

öffnete.<br />

Allerdings ahnten die Amerikaner<br />

durchaus, dass sie überwacht und abgehört<br />

wurden, was mitunter zu skurrilen<br />

Gesprächen führte. Etwa nach dem Bombenanschlag<br />

auf die von US-Soldaten besuchte<br />

Discothek La Belle, für den ein<br />

libysches Kommando verantwortlich war.<br />

Kurz danach fuhr ein verdächtiges Auto<br />

an der US-Botschaft in Ost-Berlin vorbei,<br />

und ein besorgter Diplomat sagte ins Telefon:<br />

„Wenn ihr Ostd<strong>eu</strong>tschen zuhört,<br />

ich habe hier ein Nummernschild für<br />

<strong>eu</strong>ch“ – das Diplomatenkennzeichen eines<br />

Autos, das auf die libysche Vertretung<br />

zugelassen war. Die Stasi sollte die Libyer<br />

von weiteren Anschlägen abhalten.<br />

H<strong>eu</strong>te, zehn Jahre nach der Entlassung<br />

aus dem Militärgefängnis, lebt Carney<br />

mit seinem Adoptivsohn in Ohio. Als Vorbestrafter,<br />

noch dazu als Verräter, findet<br />

er keine feste Stelle, und auch der Versuch,<br />

in Berlin noch mal Fuß zu fassen,<br />

scheiterte. Von Herbst 2010 bis Herbst<br />

2011 wohnte er in der alten Frontstadt.<br />

Bekannte von früher – auch solche, die<br />

nicht bei der Stasi waren – wollten ihm<br />

helfen. Sie besorgten ihm eine Anstellung<br />

bei einem Verlag, der bevorzugt Titel für<br />

Regime-Nostalgiker führt, von Margot<br />

Honecker bis Egon Krenz. Hier sollte<br />

auch Carneys Buch erscheinen, aber offenbar<br />

passte es beim Verlag dann doch<br />

nicht ins Programm – und auch einigen<br />

Ex-Stasi-Granden nicht ins Weltbild.<br />

Schließlich lässt Carney darin nicht nur<br />

die Amerikaner schlecht aussehen,<br />

sondern auch die Stasi.<br />

„Du bist uns gegenüber<br />

unfair“, habe sich ein ehemaliger<br />

Stasi-Oberst mokiert.<br />

Prompt fiel Carneys Monatslohn<br />

immer kleiner aus,<br />

es reichte nicht für die Aufenthaltserlaubnis,<br />

und mit<br />

seiner Rückkehr in die Staaten<br />

hat nicht nur der Verlag<br />

die Buchrechte verloren, sondern<br />

Carney auch den letzten<br />

Glauben an alte Kame -<br />

raden. „Da waren einige<br />

spürbar froh, mich wieder<br />

loszuwerden. Mit diesen<br />

L<strong>eu</strong>ten bin ich fertig.“ Was<br />

die Sache für Carneys<br />

Zukunft allerdings noch<br />

schwieriger macht: Er hat<br />

nun kaum noch Fr<strong>eu</strong>nde,<br />

nicht mal mehr die alten, die<br />

falschen. JÜRGEN DAHLKAMP<br />

DER SPIEGEL 33/2013 51<br />

CHRIS HOFFMAN / PICTURE-ALLIANCE / DPA


Szene<br />

Was war da los,<br />

Herr Herrera?<br />

Jorge Herrera, 37, Fallschirmjäger<br />

aus Kolumbien,<br />

über Abstürze: „Als<br />

wir zum ersten Mal auf<br />

2000 Meter Höhe über<br />

dem kolumbianischen<br />

Dschungel auf der<br />

Absprungrampe saßen,<br />

strampelte meine Hündin<br />

so sehr, dass wir fast<br />

vornübergekippt wären.<br />

Jany ist eine Belgische<br />

Schäferhündin, sie<br />

hatte ziemlich viel<br />

Angst. Mittlerweile<br />

öffnet sie beim<br />

Sprung manchmal<br />

die Lefzen,<br />

so dass die<br />

Luft sie kitzelt. Es sieht<br />

dann aus, als würde sie<br />

lachen. Ich habe 500<br />

Sprünge hinter mir, Jany<br />

erst 5. Meine Kameraden<br />

und ich werden gerufen,<br />

wenn Flugz<strong>eu</strong>ge entführt<br />

werden oder Terroristen<br />

sich im Dschungel verstecken.<br />

Jany kann Sprengstoff<br />

riechen, wenn wir<br />

uns in vermintem Gelände<br />

bewegen. Sie beschützt<br />

uns. Der nächste Schritt<br />

ist, dass Jany lernt, aus<br />

einer Sauerstoffflasche zu<br />

atmen. Dann können wir<br />

aus noch größerer Höhe<br />

abspringen.“<br />

Herrera (l.)<br />

HGMPRESS<br />

Warum fotografieren Sie Scheidungen, Frau Palma?<br />

Jede dritte Ehe in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong><br />

zerbricht. Carmen Palma, 40, aus<br />

München verdient ihr Geld als<br />

Scheidungsfotografin.<br />

SPIEGEL: Frau Palma, was macht eine<br />

Scheidungsfotografin?<br />

Palma: Ich fotografiere Menschen nach<br />

einer Trennung in ihrem Brautkleid<br />

oder ihrem Hochzeitsanzug.<br />

SPIEGEL: Warum?<br />

Palma: Ich glaube, die Menschen haben<br />

ein Bedürfnis danach, alles foto -<br />

grafisch festhalten zu wollen: Geburtstagsfeiern,<br />

die Hochzeit, die Scheidung.<br />

Viele meiner Kundinnen heben<br />

die Bilder sorgsam auf und schauen<br />

sie sich bei Gelegenheit an, einfach<br />

um an einen Abschnitt ihres Lebens<br />

erinnert zu werden.<br />

SPIEGEL: Glauben Sie, dass diese Fotos<br />

den Menschen dabei helfen, ihre<br />

Trennung zu verarbeiten?<br />

Palma: Frauen knüpfen sehr viel Kraft<br />

aus solchen Shootings. Bislang hat<br />

52<br />

jede Frau gesagt, dass sie sich danach<br />

befreit fühlt. Frauen verarbeiten<br />

dadurch die Trennung.<br />

SPIEGEL: Was zeichnet eine gute Scheidungsfotografin<br />

aus?<br />

Palma: Wichtig ist, dass die Frauen, die<br />

zu mir kommen, das Gefühl haben,<br />

sich fallenlassen zu<br />

können. Denn es entstehen<br />

emotionale Momente,<br />

wenn zum Beispiel<br />

eine Frau ihr Hochzeitskleid<br />

in Stücke reißt und<br />

dann verbrennt oder<br />

ihren Hochzeitsschuh<br />

mit einer Axt zertrümmert.<br />

SPIEGEL: Wie sind Sie auf<br />

diesen Beruf gekommen?<br />

Palma: Früher war ich<br />

Angestellte bei einer<br />

Krankenkasse. Als ich<br />

mich vor zwei Jahren als<br />

Fotografin selbständig<br />

gemacht habe, habe ich Palma-Foto<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

nach einem Alleinstellungsmerkmal<br />

gesucht. Im Internet bin ich dann<br />

auf die Scheidungsfotografie gestoßen.<br />

Das war gleich mein Ding, weil ich<br />

auch selbst geschieden bin und<br />

weiß, was Frauen in so einer Situation<br />

durchmachen.<br />

SPIEGEL: Kommen auch<br />

Männer zu Ihnen, um sich<br />

fotografieren zu lassen?<br />

Palma: Ich hatte zwei Anfragen<br />

von Männern. Allerdings<br />

sind beide abgesprungen.<br />

Ich glaube, das<br />

liegt daran, dass Männer<br />

nicht so eine emotionale<br />

Bindung zu ihrem Hochzeitsanzug<br />

haben.<br />

SPIEGEL: Fotografieren Sie<br />

auch Hochzeiten?<br />

Palma: Vor drei Wochen<br />

habe ich zum ersten<br />

Mal eine Hochzeit fotografiert.<br />

Es war wunderschön.<br />

CARMEN PALMA


Gesellschaft<br />

Herr Schwotzer aus Baranowitschi<br />

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE: Warum zwei Weißrussen Scheinehen mit D<strong>eu</strong>tschen eingingen<br />

Es ist schon spät am Abend, ein Sommergewitter<br />

zieht über Chemnitz,<br />

und Oleg Schwotzer, 47 Jahre alt,<br />

groß, braun, mit grauen, kurzen Haaren,<br />

steht noch immer in seiner Werkstatt und<br />

repariert Autos. Er will die Zeit nutzen,<br />

Geld verdienen, weil er nicht weiß, wie<br />

lange es dauert, bis die Polizei zu ihm<br />

kommt und ihm sagt, dass alles vorbei<br />

sei und er zurückmüsse nach Weißrussland.<br />

Angefangen hatte es vor 17 Jahren,<br />

als Oleg und seine Frau Oksana<br />

noch glaubten, das Leben<br />

stehe ihnen offen. Die beiden waren<br />

das Ehepaar Karpovich aus<br />

der Stadt Baranowitschi in Weißrussland,<br />

140 Kilometer südwestlich<br />

von Minsk. Sie waren sich<br />

auf der Straße das erste Mal begegnet,<br />

hatten sich verliebt und<br />

studiert, er Kraftfahrz<strong>eu</strong>gtechnik,<br />

sie Ökonomie. Aber sie waren,<br />

weil die Möglichkeiten fehlten,<br />

in einer Fabrik gelandet.<br />

Sie bekamen einen Sohn, Artiom,<br />

sie waren glücklich, aber<br />

seit dem Putsch gegen Gorbatschow<br />

hörten sie oft Schüsse auf<br />

den Straßen ihrer Nachbarschaft.<br />

Sie besuchten Demonstrationen,<br />

und sie waren von Soldaten umgeben.<br />

Sie sorgten sich um ihre<br />

Zukunft.<br />

Oleg bewarb sich bei der Regierung<br />

von Weißrussland dar -<br />

um, an einem Programm teil -<br />

zunehmen, das ihn zu einem<br />

Praktikum in eine d<strong>eu</strong>tsche Autowerkstatt<br />

führte. Olegs Abschluss<br />

war gut, es verschlug ihn<br />

nach Chemnitz. Tagsüber ar -<br />

beitete er in einer Ford-Vertragswerkstatt,<br />

die n<strong>eu</strong>e Stadt war<br />

grau, aber fr<strong>eu</strong>ndlich. Am Abend ging<br />

er ein Bier trinken, er hatte d<strong>eu</strong>tsche<br />

Fr<strong>eu</strong>nde, sie erzählten ihm, wie leicht<br />

das sei – eine Scheinehe.<br />

Oleg fuhr nach Hause, weihte seine Frau<br />

in den Plan ein. Dann beschlossen sie, mutig<br />

zu sein. Oksana suchte die Papiere her -<br />

aus und bat im Standesamt von Baranowitschi<br />

um die Scheidung. Im Februar 1997<br />

kam sie mit einem Koffer und dem Jungen<br />

an der Hand auf einem Bahnhof in Berlin<br />

an. Oleg holte sie ab, sie fuhren gemeinsam<br />

nach Chemnitz und aßen dort im Imbiss<br />

neben dem Schuhladen einen Döner.<br />

Kurz zuvor hatte der geschiedene Oleg<br />

in Chemnitz ein zweites Mal geheiratet,<br />

im geliehenen Anzug, eine blonde Frau<br />

Schwotzer. Kurz danach heiratete Oksana<br />

dort auch, jetzt nicht mehr im weißen<br />

Kleid, einen großgewachsenen Mann namens<br />

Knöfel. Oleg und Oksana fühlten<br />

sich nicht gerade wohl dabei, aber sie<br />

dachten auch an ihren Sohn, und am<br />

Ende lief alles unkomplizierter, als sie befürchtet<br />

hatten.<br />

Sohn Artiom, Eltern Knöfel, Schwotzer<br />

Aus Bild.de<br />

Es gab keine langen Befragungen, keine<br />

Tests. Sie gingen einfach mit den n<strong>eu</strong>en<br />

Papieren in die Ausländerbehörde und<br />

beantragten ihre Aufenthaltserlaubnis.<br />

Sie ern<strong>eu</strong>erten die Genehmigung regelmäßig,<br />

nur dann trafen sie auch ihre n<strong>eu</strong>en<br />

Ehepartner.<br />

Ansonsten lebten Oleg und Oksana das<br />

Leben, das sie leben wollten. Sie hatten<br />

eine gemeinsame Wohnung, eine mit drei<br />

Klingelschildern, Oleg trat der Handwerkskammer<br />

bei und eröffnete eine Autowerkstatt.<br />

Er beschäftigte junge L<strong>eu</strong>te,<br />

spielte Volleyball, ging am Wochenende<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

in den Angelverein. Oleg und Oksana hatten<br />

Fr<strong>eu</strong>nde, sie zahlten St<strong>eu</strong>ern. Artiom,<br />

der Sohn, besuchte das Gymnasium, er<br />

vertrat das Land Sachsen viermal bei „Jugend<br />

trainiert für Olympia“ im Badminton.<br />

So vergingen die Jahre.<br />

Weite Teile ihres alten Lebens hatten<br />

sie schon vergessen. Sie fuhren nach Paris,<br />

ins Disneyland, und Oleg Schwotzer, ehemals<br />

Oleg Karpovich, sprach viel über<br />

die n<strong>eu</strong>gewonnene Freiheit. Nur manchmal,<br />

da bekamen sie Angst,<br />

wenn die Polizei im Haus war,<br />

weil jemand zu viel Krach machte.<br />

Oleg und Oksana flogen auf,<br />

warum, wissen sie nicht.<br />

Die Schreiben der Ausländerbehörde,<br />

die gleichzeitig im<br />

Briefkasten lagen, waren einzeln<br />

adressiert an Oleg Schwotzer,<br />

Oksana Knöfel und Artiom Karpovich.<br />

Sie enthielten alle die -<br />

selbe Aussage: Entzug der Aufenthaltserlaubnis.<br />

Beinahe drei Jahre sind seitdem<br />

vergangen. Oleg Schwotzer<br />

hat sich einen Anwalt gesucht,<br />

der sitzt jetzt an Olegs Seite in<br />

einem Büro neben der Werkstatt,<br />

als Oleg seine Geschichte erzählt.<br />

Der Mann aus Weißrussland<br />

trägt eine schwarze Arbeitshose<br />

und sieht müde durch das Fenster<br />

in den Regen. Draußen auf<br />

dem Hof stehen die Autos, die<br />

er an diesem Tag repariert hat.<br />

Man weiß nicht, wann diese<br />

Geschichte zu Ende geht. Verschiedene<br />

Gerichte beschäftigen<br />

sich mit dem Fall. Es gibt Unterschriftensammlungen,<br />

Politiker<br />

und Fr<strong>eu</strong>nde setzen sich für die<br />

Familie ein, Nachbarn schreiben<br />

Briefe an Behörden. Auch der<br />

Angelverein setzt sich für die Familie ein.<br />

Herr Schwotzer soll im kommenden Jahr<br />

ehrenamtlicher Fischereiaufseher werden.<br />

Artiom, das ist inzwischen sicher, darf<br />

vorerst in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> bleiben, seine<br />

Eltern nicht. Für sie kann es jeden Tag<br />

zurück gehen, weil sie sich ihre Aufenthaltstitel<br />

durch die Scheinehen erschlichen<br />

haben.<br />

Man kann es kurz machen und sagen:<br />

D<strong>eu</strong>tsche Behörden sind herzlos. Man<br />

kann es aber auch anders sehen und sagen:<br />

Was Oleg und Oksana taten, ist illegal.<br />

BARBARA HARDINGHAUS<br />

R. BONSS / MOMENTPHOTO.DE / DER SPIEGEL<br />

53


Gesellschaft<br />

LEBENSRETTER<br />

Discounter der Herzen<br />

Der Chirurg Devi Shetty betreibt in Indien Krankenhäuser nach dem Aldi-Prinzip –<br />

preiswert, schmucklos, zuverlässig. Bald soll seine<br />

Billigmedizin auch in die Erste Welt exportiert werden. Von Guido Mingels<br />

Im Loch zwischen den am Brustbein doziert er weiter seine Ideen in den<br />

auseinandergesägten, mit stählernen Raum.<br />

Klammern auseinandergezwungenen „Indien bringt eine riesige Menge Ärzte<br />

Rippen glänzt, klein und rosa, ein krankes und medizinische Fachl<strong>eu</strong>te hervor. Wir<br />

Herz, Muskel des Lebens.<br />

haben zudem die meisten Kranken und<br />

„Wussten Sie, dass in Indien pro Jahr finden deshalb Lösungen, die für die ganze<br />

28 Millionen Babys geboren werden? Das<br />

Welt gut sind. Indien kann in zehn Jah-<br />

ist eines pro Sekunde. Drei Millionen davon<br />

ren Weltmarktführer der globalen Ge-<br />

sterben vor ihrem fünften Geburtstag sundheitsindustrie sein.“<br />

an einem behandelbaren Herzleiden.“ Indien, das Land der ungeh<strong>eu</strong>erlichen<br />

Das ist er also, Doktor Shetty. Der große<br />

Zahlen. 1,2 Milliarden Menschen. Bis 2050<br />

Lebensretter, Chirurg der Armen, Phil - könnten es 1,6 Milliarden sein. Betrachtet<br />

anthrop, Gesundheitsfabrikant, Pionier man die Umrisse des Subkontinents auf<br />

der Billigmedizin für die Massen. Einst dem Globus, so sieht man einen gewaltigen<br />

war er Arzt des Vertrauens von Mutter<br />

Reißzahn, der sich in den Planeten<br />

Teresa.<br />

schlägt. Und mörderisch muss sich das<br />

Vor ihm liegt der geöffnete Brustkorb Leben anfühlen, für die rund 350 Millionen,<br />

eines Patienten, das Interview findet während<br />

die in Indien mit weniger als einem<br />

der Operation statt, Zeit ist Geld, Dollar pro Tag auskommen müssen. Der<br />

Geld ist Leben. Aus einem Radio klingt zweitbevölkerungsreichste Staat der Welt,<br />

indische Popmusik, wie sie der Meister weltgrößte Demokratie, Atommacht, vor -<br />

gern zur Arbeit hört. Es ist drei Uhr an aussichtlich drittgrößte Wirtschaftsmacht<br />

einem Montagnachmittag in Bangalore, bis zur Mitte des Jahrhunderts. Sieben<br />

Karnataka, Indien.<br />

Prozent durchschnittliches Wirtschaftswachstum<br />

„300000 Kinder in Indien sterben pro<br />

in den vergangenen 20 Jahren,<br />

Jahr am Tag ihrer Geburt. Jedes siebte Platz 67 von 81 auf dem Welthunger-<br />

Kind auf der Welt, das den fünften Geburtstag<br />

Index. Die Mittelschicht wächst, aber vie-<br />

nicht erlebt, stirbt in Indien. Alle le Millionen Menschen bleiben auf der<br />

zehn Minuten stirbt eine indische Mutter Strecke, zermalmt. Nach 65 Jahren ist ein<br />

im Kindbett.“<br />

indisches Leben im Durchschnitt vorbei.<br />

Von seinem Gesicht, mit einem Mundschutz<br />

Wohl nirgendwo auf der Welt, so hat der<br />

bedeckt, sind nur die l<strong>eu</strong>chtenden indische Ökonom und Nobelpreisträger<br />

Augen zu sehen. Sein Name ist Devi Prasad<br />

Amartya Sen erklärt, hat so viel Fort-<br />

Shetty, Dr. Shetty oder nur Devi, wie schritt den Armen so wenig gebracht.<br />

es auf seinem Arztkittel steht. Zum T<strong>eu</strong>fel,<br />

Debasis Santra ist vier Jahre alt und<br />

Devil, fehlt nur ein Buchstabe, dabei hat ein Loch im Herzen.<br />

ist er für viele tausend Menschen, die in Er sitzt mit seinen Eltern Pratima und<br />

seinen Kliniken behandelt wurden, nicht Swaphan Santra in der Eingangshalle von<br />

weniger als ein Engel.<br />

Dr. Shettys Narayana Health City neben<br />

Mehr als 30000 Patienten soll der einer vielarmigen, über dem Wasser<br />

Mann, 60 Jahre alt, operiert haben. Als schwebenden Statue des Gottes, der der<br />

„Henry Ford der Herzchirurgie“ hat ihn Klinik ihren Namen gab. Großer subarterieller<br />

das „Wall Street Journal“ bezeichnet,<br />

Ventrikelseptum-Defekt, steht in<br />

weil er die Grundsätze der Massenproduktion<br />

den Akten, eingeschränkt durch einen Pro-<br />

auf die Medizin<br />

laps des rechten Aortenklap-<br />

anwendet, um die Kosten radikal<br />

pensegels. Ein hübscher, kleiner,<br />

mangelernährter Junge<br />

zu senken.<br />

N<strong>eu</strong>-Delhi<br />

Sein Ziel ist eine Art in -<br />

aus einem Dorf bei Kalkutta,<br />

dustrielle Revolution des<br />

Kalkutta ein blaues Baby, wie man sie<br />

Gesundheitswesens in der INDIEN nennt, die Kinder, deren Blut nicht<br />

Dritten Welt. Während Dr.<br />

genügend Sauerstoff erhält: Finger-,<br />

Shetty mit einem Spatel Verkalkungen<br />

Zehenspitzen und Zunge verfärben sich<br />

aus einer Arterie schabt, oft blau. Debasis hustet. Seine Mutter<br />

hat<br />

54<br />

Bangalore<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

ihm einen schwarzen Punkt zwischen die<br />

Augenbrauen gemalt, der soll ihn beschützen.<br />

Ohne Operation wird der Junge nicht<br />

lange leben. Er ist einer von Millionen.<br />

„Ich gebe dem Leben ein Preisschild“,<br />

sagt Doktor Shetty.<br />

Auf dem Schreibtisch seines riesigen<br />

Sprechzimmers steht das Modell eines<br />

Herzens. Eine Gandhi-Statue blickt von<br />

einem Sideboard, ein grellbuntes Gemälde<br />

des Gottes Krishna als Kind hängt an<br />

der Wand. Der nächste Patient wartet bereits<br />

auf einem Sofa in der Ecke. Shetty<br />

sagt, er empfange jeden Tag 50 bis 70 Patienten<br />

zur Besprechung, dazwischen führe<br />

er zwei bis drei Operationen aus.<br />

Was heißt das, ein Leben mit Preisschild?<br />

Als junger Chirurg in Kalkutta<br />

habe er die Erfahrung gemacht, sagt Shetty,<br />

dass die erste Frage der vielen mittellosen<br />

Patienten, denen er die notwendige<br />

Operation geschildert hatte, immer dieselbe<br />

war: Wie viel kostet das? „Als ich<br />

ihnen die Zahl nannte, bedankten sie sich<br />

und kamen nie wieder.“ Irgendwann beschloss<br />

Shetty, dass er keine Patienten<br />

mehr ziehen lassen wollte, nicht in den<br />

Tod. Mit Geld seines Schwiegervaters<br />

gründete er 2001 am Rande von Banga -<br />

lore seine eigene Klinik und setzte alles<br />

daran, die Kosten zu senken, ohne die<br />

Qualität zu gefährden. Die Zahl auf dem<br />

Preisschild musste so niedrig sein, dass<br />

auch die Armen es sich leisten konnten,<br />

weiterzuleben. Um das zu erreichen,<br />

musste Shetty, der Idealist, zum Manager<br />

werden, zum Discounter der Herzen.<br />

Unter dem Namen Narayana Hrudayalaya,<br />

Tempel des Herzens, inzwischen<br />

verkürzt auf Narayana Health, ist in<br />

zwölf Jahren eine Kette mit bisher 19 Kliniken<br />

in ganz Indien entstanden, für die<br />

Shetty verschiedene Vorbilder zitiert:<br />

den amerikanischen Discounter Wal-<br />

Mart, Billigfluggesellschaften wie Ryan -<br />

air oder Air Asia, die japanische Auto -<br />

industrie. 13 000 Betten betreibt das Unternehmen<br />

mittlerweile, bis 2018 sollen<br />

es 30 000 sein. Aus d<strong>eu</strong>tscher Sicht könnte<br />

man von Aldi-Kliniken sprechen. Shetty<br />

strebt im Gesundheitswesen ähnliche<br />

Ziele an, wie sie in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> die Gebrüder<br />

Albrecht für den Einzelhandel


Patient Debasis mit Eltern<br />

Chirurg Shetty, Patienten<br />

FOTOS: NAMAS BHOJANI / DER SPIEGEL


verfolgten: billig, schmucklos,<br />

zuverlässig gut.<br />

Die Qualität genügt internationalen<br />

Standards: Die Klinik<br />

in Bangalore ist von der<br />

angesehenen Joint Commis -<br />

sion International, JCI, akkreditiert.<br />

Die JCI-Kriterien werden<br />

vor allem in der Ersten<br />

Welt, auch in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong>, als<br />

Basis für die Zertifizierung<br />

von Gesundheitseinrichtungen<br />

verwendet. In Entwicklungsländern<br />

gelingt es nur<br />

wenigen Einrichtungen, das<br />

JCI-Gütesiegel zu bekommen.<br />

Shetty schafft dies dank<br />

einer Ökonomie der großen<br />

Zahlen. Die Narayana Health<br />

City in Bangalore, Hauptstadt<br />

seines Gesundheitsimperiums,<br />

versammelt auf 100 000 Quadratmetern<br />

Kliniken für Herz-,<br />

Krebs-, Augenkrankheiten<br />

und viele andere Leiden, bietet<br />

3200 Betten an, gleich viele<br />

wie die Berliner Charité.<br />

Ähnlich den Flugz<strong>eu</strong>gen der<br />

Billiganbieter, die so kurz wie<br />

möglich am Boden bleiben,<br />

sind Shettys Opera tionssäle<br />

an sechs Tagen pro Woche so<br />

oft wie möglich belegt. In der<br />

Herzklinik, mit 1000 Betten<br />

weltweit eine der größten ihrer<br />

Art, haben die Chirurgen<br />

im vergangenen Jahr 11400<br />

Herzoperationen absolviert,<br />

mehr als 30 pro Tag. Das<br />

D<strong>eu</strong>tsche Herzzentrum Berlin<br />

bei der Charité verfügt über<br />

168 Betten und führte im letzten<br />

Jahr 3000 vergleichbare<br />

Eingriffe durch. 1500 Euro berechnet die<br />

Shetty-Klinik im Durchschnitt für eine<br />

Koronararterien-Bypass-OP, eine der<br />

meistverbreiteten Prozeduren – etwa<br />

halb so viel wie in indischen Privatkliniken<br />

üblich. In <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> kostet derselbe<br />

Eingriff je nach Komplexität etwa<br />

12000 bis 17000 Euro, in den USA rund<br />

15 000 bis 30 000 Euro.<br />

Auf dem Preisschild für das Leben von<br />

Debasis steht: 125 000 Rupien. 1500 Euro.<br />

Und über das Gelände der Megaklinik<br />

läuft unbehelligt eine Kuh. Innen, in der<br />

großen Eingangshalle des Herzzentrums,<br />

die an ein Flughafenterminal erinnert, sitzen<br />

mehrere hundert Patienten in langen<br />

Stuhlreihen. Eine Gruppe Sikhs kauert<br />

am Boden, Röntgenbilder werden herumgereicht,<br />

eine verhüllte Muslimin stillt unter<br />

dem Tschador ihr Baby.<br />

Die Armen stehen vor dem Büro von<br />

Lakshmi Mani und warten. Zu Lakshmi,<br />

Vorsteherin der Spendenabteilung, einer<br />

65-Jährigen mit resolutem Blick, kommen<br />

jene, denen auch die niedrigen Tarife der<br />

Narayana-Klinik noch zu hoch sind. Für<br />

56<br />

Schlafsaal der Klinik in Mysore<br />

Gesellschaft<br />

141 Dollar pro Bürger wendet Indien<br />

jährlich für die Gesundheit auf.<br />

die Ärmsten der Armen geht die Klinik<br />

auf Geldsuche. Die Tür öffnet sich, Familie<br />

Santra ist an der Reihe. Debasis sitzt<br />

auf dem Schoß seiner weinenden Mutter,<br />

der Vater steht schweigend daneben. Swaphan<br />

Santra ist Hilfsarbeiter auf dem Bau<br />

und verdient 4000 Rupien im Monat, etwa<br />

50 Euro. Lakshmi Mani, die auf einen<br />

Bildschirm blickt, rechnet den Eltern vor,<br />

was es kosten würde, das Leben ihres<br />

Sohnes zu retten.<br />

„Es ist eine komplizierte Operation.<br />

Der Vollpreis würde 213000 Rupien betragen,<br />

wir bieten <strong>eu</strong>ch aber einen Spezialpreis<br />

von 125000 Rupien an.“<br />

Die Mutter und der Vater blicken ein -<br />

ander an. Sie haben nicht so viel Geld.<br />

„Wie viel habt ihr?“<br />

„30000. So viel werden wir bei Fr<strong>eu</strong>nden<br />

sammeln“, sagt die Mutter. „Und sobald<br />

wir das Geld für unser verkauftes<br />

Land erhalten, noch mal 30000.“<br />

60000 Rupien sind gut 700 Euro. Es fehlen<br />

noch 65000 Rupien oder 800 Euro für<br />

die Operation. Dieses Geld wird Lakshmi<br />

bei einer wohltätigen Stiftung beantragen.<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

NAMAS BHOJANI / DER SPIEGEL<br />

Die Eltern sinken auf die<br />

Knie, wollen Lakshmis Füße<br />

küssen, sie wiegelt ab. In drei<br />

Tagen sollen sie wiederkommen,<br />

um ihren Fall Vertretern<br />

der Stiftung „Have a Heart“<br />

vorzutragen, einer Gruppe<br />

von Wohltätern, die Shettys<br />

Klinik nahesteht. Erst wenn<br />

die Spender überz<strong>eu</strong>gt sind,<br />

dass der Patient das Geld<br />

wirklich braucht, wird das Almosen<br />

bewilligt.<br />

Lakshmi Mani sagt, man<br />

dürfe die Armen nicht gratis<br />

behandeln. Das würde die Klinik<br />

finanziell überfordern.<br />

„Und wir würden von Patienten<br />

schlicht überschwemmt.“<br />

In Shettys Kliniken werden<br />

die Preise an die Kunden angepasst.<br />

Etwa 60 Prozent der<br />

Patienten bezahlen den vollen<br />

Tarif, 40 Prozent erhalten Rabatt,<br />

einige von ihnen werden<br />

gratis behandelt. So subventionieren<br />

die Vermögenden<br />

die Mittellosen. Etwa 40 Prozent<br />

der Narayana-Patienten<br />

in Bangalore erhalten zudem<br />

irgendeine Form von staatlicher<br />

Hilfe. Nicht aber die Familie<br />

Santra.<br />

Debasis, Pratima und Swaphan<br />

Santra kommen aus einem<br />

Ort namens Bishnupur,<br />

in der Nähe von Kalkutta,<br />

1800 Kilometer weit weg von<br />

Bangalore. Die Busreise dauerte<br />

vier Tage. In Kalkutta<br />

fanden sie keine Klinik, die<br />

bereit war, ihren Sohn aufzunehmen,<br />

doch sie hatten von<br />

Dr. Shettys Krankenhaus in Bangalore gehört,<br />

wo niemand abgewiesen wird. Das<br />

Stück Land, von dem sie bisher lebten,<br />

600 Quadratmeter, werden sie verkaufen,<br />

um die Operation bezahlen zu können.<br />

Pratima Santra hat ihren Brautschmuck<br />

veräußert, sie haben alles, was sie haben,<br />

aufs Spiel gesetzt, sie werden nicht zurückkehren.<br />

Die Frage, ob sie noch weitere<br />

Kinder haben wolle, verneint die<br />

Mutter und legt ihre Hand auf den Kopf<br />

des Sohnes. „Wir müssen zuerst dieses<br />

retten.“<br />

Ein Husten schüttelt Debasis.<br />

Die Großbaustelle im Süden Bangalores,<br />

auf der das Leben der Santras stattfindet,<br />

heißt „Mahaveer Orchids“. Es entstehen<br />

490 großzügige Wohnungen für<br />

die n<strong>eu</strong>e indische Mittelschicht, der sie<br />

nie angehören werden, „aber vielleicht“,<br />

sagt Pratima, „wird ja unser Sohn irgendwann<br />

so wohnen“. Sie blickt zu dem hoch<br />

aufragenden Betonskelett. Daneben stehen<br />

lange Reihen von Hütten aus Wellblech<br />

und Ästen, vorübergehende Heimat<br />

für die paar hundert Bauarbeiter. Viele


von ihnen leben wie der<br />

Handlanger Swaphan Santra<br />

zusammen mit ihrer Familie<br />

hier. Kinder spielen zwischen<br />

Betonmischern, eine große<br />

Schuttmulde nutzen sie als<br />

Schwimmbecken. Sind die<br />

Hochhäuser fertig, werden die<br />

Hütten abgerissen, und die<br />

Arbeiter ziehen weiter, auf<br />

der Suche nach n<strong>eu</strong>en Jobs.<br />

Hinter einer aus dem Wellblech<br />

gefrästen Tür, auf der<br />

die Nummer 26 steht, leben<br />

die Santras. Zehn Quadratmeter.<br />

Eine Pressspanplatte, mit<br />

einer Bastmatte belegt, dient<br />

als Bett. Es gibt ein elektrisches<br />

Kabel mit einer Lampenfassung<br />

an der Decke, das<br />

durch alle Hütten gezogen<br />

wurde, doch keinen Stromschalter,<br />

weshalb Pratima die<br />

Glühbirne, die sie wie einen<br />

Schatz aufbewahrt, immer<br />

wieder n<strong>eu</strong> in die Fassung<br />

schraubt, um Licht zu machen.<br />

Ein einziges Spielz<strong>eu</strong>g<br />

ist zu sehen, ein kleiner, gelber<br />

Plastikbagger. Debasis<br />

schiebt ihn durch den Staub.<br />

Dann sagt der Vater, der<br />

sehr selten spricht: „Aber das<br />

Leben in der Stadt ist besser<br />

als auf dem Dorf.“ Er will<br />

nicht zurück. Er verdient hier<br />

besser. An den meisten Tagen<br />

gibt es genug zu essen.<br />

Direkt vor den Toren von<br />

Dr. Shettys Health City erklingt<br />

das Grundrauschen der<br />

Dritten Welt. Hupende Autos,<br />

gemurmelte Gebete, vielsilbiges<br />

Gerede, der Ameisenmarkt der Straßenhändler.<br />

Manchmal taucht im Vor -<br />

übergehen aus dem fremden Schwall die<br />

vertraute Melodie von Apples Handy-<br />

Klingelton auf, Marimba. Die Hosur<br />

Road, je nach Fahrkünsten vier- bis zwölf -<br />

spurig befahrbar, ist Bangalores Schnellstraße<br />

in den Fortschritt. Sie verbindet<br />

das Zentrum mit dem Stadtviertel Elec -<br />

tronic City, in dem Dutzende Weltkon -<br />

zerne wie Siemens, Bosch, General Elec -<br />

tric oder Hewlett-Packard präsent sind,<br />

um vom gutausgebildeten, billigen Personal<br />

zu profitieren. Wenn das indische<br />

Billigauto Tata Nano westliche Konkurrenten<br />

aufschreckte, wenn der indische<br />

IT-Gigant Infosys aus diesem Nichts<br />

heraus die Welt eroberte, warum sollte<br />

das Dr. Shettys Kliniken nicht auch gelingen?<br />

Denn Shettys Traum reicht weit über<br />

Indien hinaus. Er möchte expandieren,<br />

nach Afrika, Südamerika, sogar nach<br />

Europa. Schon h<strong>eu</strong>te belegen Patienten<br />

aus 70 Ländern zehn Prozent der Betten<br />

in Bangalore, sie kommen vor allem aus<br />

Patientin Lois Ben aus Nigeria mit Großmutter Fagbola<br />

11400 Herz-OPs wurden<br />

in der Shetty-Klinik 2012 durchgeführt.<br />

Afrika und dem Mittleren Osten. Ihnen<br />

will Shetty künftig ent gegenkommen und<br />

seine Billigmedizin in viele Länder exportieren.<br />

Längst ist auch ein Hospital<br />

auf den Cayman Islands im Bau, das im<br />

Frühjahr 2014 eröffnet werden und sich<br />

an US-amerikanische Kunden richten<br />

wird. Shetty sagt: „Wir möchten den<br />

Amerikanern mit ihrem absurd ineffizienten<br />

Gesundheitswesen zeigen, was h<strong>eu</strong>te<br />

möglich ist.“ 2011 war eine Delegation<br />

um den damaligen slowenischen Ministerpräsidenten<br />

Borut Pahor zu Besuch in<br />

Bangalore, man diskutierte über einen<br />

möglichen Ableger in Slowenien, um <strong>eu</strong>ropäische<br />

Patienten zu erreichen. Auch<br />

mit Georgien und Malta sind Shettys Manager<br />

im Gespräch.<br />

Der 59-jährige Amerikaner Brian Navalinsky<br />

kam im Jahr 2011 nach Bangalore,<br />

weil ihm mehrere Ärzte in den USA gesagt<br />

hatten, eine Operation sei zu riskant.<br />

Einer der Mediziner gab ihm noch fünf<br />

Jahre. Eine Klinik unterbreitete ihm einen<br />

Kostenvoranschlag über 200000 Dollar.<br />

Er recherchierte im Internet nach Alternativen,<br />

„und Doktor Shettys<br />

Name tauchte immer wieder<br />

auf“, erzählt Navalinsky am<br />

Telefon. Ihm gefiel auch, dass<br />

der zuständige Spezialist in<br />

Bangalore die komplizierte<br />

Prozedur, die nötig war, „dreimal<br />

pro Woche macht und<br />

nicht dreimal pro Jahr“, wie<br />

viele amerikanische Herzchir -<br />

urgen. Auf dem Preisschild<br />

für sein Weiterleben, das ihn<br />

aus Indien erreichte, stand:<br />

19000 Dollar. Er stieg ins Flugz<strong>eu</strong>g.<br />

Rebecca Fagbola, 58, aus<br />

Nigeria, Zimmer 18 im 5.<br />

Stock der Herzklinik, erhielt<br />

in Lagos die Information, es<br />

gebe in ganz Afrika keinen<br />

Chirurgen, der imstande sei,<br />

ihre Enkelin Lois Ben, 3 Jahre,<br />

zu operieren. Aber man kenne<br />

jemanden in Bangalore.<br />

Sie stieg ins Flugz<strong>eu</strong>g.<br />

Die Assistenzärzte Anne-<br />

Laure Colin aus Frankreich<br />

und Brendan McKenna aus<br />

Irland, die neben Dr. Shetty<br />

im Operationssaal stehen, um<br />

von ihm zu lernen, hätten<br />

auch in <strong>eu</strong>ropäischen Kliniken<br />

arbeiten können. Aber Colin<br />

wollte erleben, „wie man die<br />

wichtigste Frage im Gesundheitswesen<br />

anpacken kann,<br />

die der Kosten“. Und McKenna<br />

wollte schlicht „die Zukunft<br />

der Herzchirurgie sehen“.<br />

Sie stiegen ins Flugz<strong>eu</strong>g.<br />

Shetty glaubt, dass Masse<br />

zu Qualität führt. Seine Ärzte<br />

entwickeln aufgrund der<br />

schieren Fallzahlen eine Routine, die für<br />

westliche Fachl<strong>eu</strong>te unerreichbar ist. Ähnlich<br />

einer Fließbandproduktion ist auch<br />

die Arbeitsteilung in den OPs organisiert:<br />

Nachwuchschirurgen machen den Hautschnitt,<br />

öffnen den Brustkorb, bereiten<br />

alles vor, während die leitenden Ärzte<br />

erst für den heiklen Teil des Eingriffs im<br />

OP erscheinen.<br />

An einem Donnerstag in Bangalore ist<br />

die Familie Santra auf dem Weg zu ihrem<br />

Auftritt vor dem Ausschuss der privaten<br />

Have-a-Heart-Stiftung. Die Spender müssen<br />

davon überz<strong>eu</strong>gt werden, dass die<br />

Santras die Unterstützung verdienen. Es<br />

fehlen 800 Euro für das Leben von Debasis.<br />

Gemeinsam mit 15 weiteren Patientenfamilien,<br />

die in anderen Kliniken aus<br />

Geldmangel abgelehnt wurden, sind sie<br />

in einem Bus von der Klinik ins Stadtzentrum<br />

gefahren worden, wo sie nun im<br />

vierten Stock eines halbfertigen Lagerhauses<br />

warten.<br />

Wie bei einem Hochschulexamen sitzen<br />

die Vertreter der Stiftung auf einem<br />

Podium, über Patientenakten geb<strong>eu</strong>gt,<br />

DER SPIEGEL 33/2013 57<br />

NAMAS BHOJANI / DER SPIEGEL


58<br />

Gesellschaft<br />

Narayana-Klinik-Gelände in Bangalore<br />

350 Millionen Inder leben<br />

von weniger als einem Dollar pro Tag.<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

NAMAS BHOJANI / DER SPIEGEL<br />

während vor ihnen eine Familie<br />

nach der anderen Platz<br />

nimmt. Mita Das, 46, hat einen<br />

schweren Herzklappenfehler.<br />

Es fehlen 320 Euro zur<br />

Finanzierung des Eingriffs, für<br />

ihren Mann vier Monatsgehälter.<br />

Bewilligt. Roopa Kumari,<br />

n<strong>eu</strong>n Jahre, Herzfehlbildung,<br />

380 Euro. Bewilligt. Der Vater,<br />

weinend, bittet außerdem um<br />

Geld für eine Vermissten -<br />

anzeige, sein einziger Sohn,<br />

acht jährig, sei vor zwei Mo -<br />

naten verschwunden. Die<br />

Schicksale werden im Zehnminutentakt<br />

abgehandelt.<br />

„Wir bewilligen fast jeden<br />

Antrag“, sagt Manohar Chatlani,<br />

Vorsitzender der Stiftung,<br />

„aber wir wollen die<br />

L<strong>eu</strong>te erst persönlich sehen.“<br />

Es komme vor, dass manche<br />

sich für ärmer ausgeben, als<br />

sie sind, „und das merken<br />

wir“, sagt Chatlani. Der Unternehmer,<br />

Betreiber einer<br />

Billigmodekette, unterstützt<br />

pro Jahr etwa tausend Herzoperationen.<br />

Jeden Tag rette<br />

er ein paar Leben, sagt er. „Es<br />

gibt dir ein High, Leben zu<br />

retten kann süchtig machen.“<br />

Auch der Antrag von Santra,<br />

Debasis, aus Bishnupur,<br />

Distrikt Bankura, Westbengalen,<br />

geht durch. 800 Euro.<br />

Man bittet die Eltern, mit dem<br />

Jungen nächste Woche in der<br />

Klinik zu erscheinen und ihren<br />

Anteil des Honorars bar<br />

mitzubringen. Pratima Santra<br />

küsst ihren Sohn. Eine Frau<br />

von der Stiftung drückt ihm einen Schokoriegel<br />

in die Hand.<br />

Mit 14 Jahren hörte Devi Shetty, das<br />

achte von n<strong>eu</strong>n Kindern eines Restaurantbetreibers<br />

im südindischen Mangalore,<br />

dass es einem Arzt in Südafrika namens<br />

Christiaan Barnard zum ersten Mal gelungen<br />

sei, ein Herz zu transplantieren.<br />

Der junge Shetty wollte das auch können.<br />

Nach dem Medizinstudium in Indien arbeitete<br />

er sechs Jahre lang in der Herzchirurgie<br />

des Guy’s Hospital in London.<br />

Das pragmatische englische Gesundheitssystem<br />

beeindruckte ihn, und er nahm<br />

1989 seine wichtigste Erkenntnis mit zurück<br />

nach Indien: „Eine Lösung, die man<br />

sich nicht leisten kann, ist keine.“<br />

Am radikalsten umgesetzt ist Shettys<br />

Billigstrategie im soeben eröffneten Krankenhaus<br />

in der Stadt Mysore, drei Autostunden<br />

von Bangalore. Die Preise sind<br />

hier noch einmal wesentlich niedriger als<br />

in Bangalore. Eine einfache Herzopera -<br />

tion kostet rund 1000 Euro, Shettys Ziel<br />

sind 600 Euro. Die 200-Betten-Anlage, in<br />

zehn Monaten aus vorgefertigten Bauteilen<br />

errichtet, ist nur einstöckig, das spart<br />

t<strong>eu</strong>re Fundamente und Aufzüge. Die Patienten<br />

werden in großen Sälen mit 50<br />

Betten untergebracht, die nur mit Vorhängen<br />

voneinander getrennt sind. Klimaanlagen<br />

gibt es nur in den Behandlungsräumen,<br />

nicht in den Schlafsälen. Das Spardiktat<br />

geht so weit, dass die Angehörigen<br />

der Patienten dazu angehalten werden, einen<br />

mehrstündigen Pflegekurs zu absolvieren,<br />

damit sie den Krankenschwestern<br />

einfache Aufgaben wie das Wechseln von<br />

Verbänden abnehmen können. So gelingt<br />

es der Klinik, mit zehn Prozent weniger<br />

Pflegepersonal auszukommen. Nach diesem<br />

Vorbild will Shetty in den kommenden<br />

fünf Jahren 100 identische Kliniken<br />

in indischen Provinzstädten bauen, um<br />

die medizinisch besonders schlecht ausgestattete<br />

Landbevölkerung zu versorgen.<br />

„Alle großen Errungenschaften der<br />

Welt galten als undenkbar, bevor sie Wirklichkeit<br />

wurden.“ Sinnsprüche wie diesen<br />

hat Shetty gerahmt in seinem Büro hängen,<br />

neben Fotos von Mutter Teresa, deren<br />

Herz er einmal flickte. Sein Sendungsbewusstsein,<br />

sein Vertrauen in<br />

die eigene Mission, ohnehin<br />

schon gut entwickelt, kann aggressive<br />

Züge annehmen,<br />

wenn er über die Erste Welt<br />

spricht. Die Gesundheitsversorgung<br />

vieler Industriestaaten<br />

– vornehmlich an den Bedürfnissen<br />

orientiert, kaum an<br />

den Kosten – ist in seinen Augen<br />

„krankhaft t<strong>eu</strong>er, übertechnisiert,<br />

überluxuriös“ und<br />

damit nicht zukunftsfähig. Einbettzimmer<br />

hält er für Sünde.<br />

„Die Gesundheitssysteme<br />

in der reichen Welt stammen<br />

aus einer Zeit, als die L<strong>eu</strong>te<br />

mit 60 pensioniert wurden<br />

und mit 70 starben. H<strong>eu</strong>te<br />

feiern die L<strong>eu</strong>te ihren 95. Geburtstag.<br />

Das Geld der St<strong>eu</strong>erzahler<br />

wird diese Strukturen<br />

auf Dauer nicht finanzieren<br />

können.“ Blickt Shetty<br />

von der Dritten auf die Erste<br />

Welt, zeichnet er das Bild einer<br />

Gesundheitswirtschaft im<br />

Stadium der Dekadenz. „Sie<br />

erfinden dauernd n<strong>eu</strong>e Pillen,<br />

n<strong>eu</strong>e Impfungen und komplizierte,<br />

kostspielige Maschinen.<br />

Was wir aber brauchen, sind<br />

Innovationen der Arbeitsprozesse.“<br />

Äußert man Kritik an<br />

Shettys Konzepten, etwa an<br />

den langen Arbeitszeiten der<br />

Chirurgen, reagiert er verständnislos:<br />

„Soldaten im<br />

Krieg können auch nicht um<br />

fünf nach Hause gehen.“<br />

Dann verabschiedet sich Dr.<br />

Devi Prasad Shetty, Chirurg<br />

der Mittellosen, Kostenkiller,<br />

Träger des „Economist“-Preises für innovative<br />

Business-Prozesse, und bittet den<br />

nächsten Patienten herein.<br />

Um acht Uhr morgens am 14. Juli 2013<br />

wird Debasis Santra im Kinderherzzentrum<br />

der Narayana Health City aufgenommen.<br />

In einer Plastiktüte, von der<br />

Mutter aus Angst vor Dieben unter ihrem<br />

Sari versteckt, haben die Eltern ihren Anteil<br />

an den Operationskosten mitgebracht,<br />

60000 Rupien. Von den bunten Wänden<br />

der Flure lächeln Mickey Mouse und Pluto<br />

und lauter andere Figuren, die Debasis<br />

noch nie gesehen hat. Am nächsten Tag<br />

schließt eine Chirurgin das Loch in der<br />

Scheidewand zwischen Debasis’ Herzkammern.<br />

Als der Junge aufwacht, in<br />

einem n<strong>eu</strong>en Leben, erkennt er die Mutter,<br />

den Vater. Sein Herz schlägt, hundertmal<br />

pro Minute. Er ist durstig. Er sagt:<br />

„Mama“.<br />

Video:<br />

Der Chirurg der Armen<br />

spiegel.de/app332013indien<br />

oder in der App DER SPIEGEL


Facebooktussis<br />

HOMESTORY Warum wir durch Social Media<br />

zu unsozialen Wesen geworden sind<br />

Mein erster Facebookeintrag wird bald sechs Jahre alt,<br />

so lange verbrenne ich also meine Freizeit schon mit<br />

L<strong>eu</strong>ten, von denen ich die meisten gar nicht richtig<br />

kenne. Zu den Bikinifotos kommen wir noch. Im Großen und<br />

Ganzen hätte man diese Zeit wohl besser nutzen können, im<br />

Schwimmbad beispielsweise, mit Spaziergängen oder den Sopranos.<br />

Nur war damals, am Anfang, nicht absehbar, wie bed<strong>eu</strong>tend<br />

diese Website für unseren Alltag werden und wie tief<br />

Mark Zuckerberg in unsere Köpfe kriechen würde.<br />

N<strong>eu</strong>lich war zu lesen, dass Facebook jeden Monat Millionen<br />

Nutzer verliere, vor allem in westlichen Ländern. Zeit, sich<br />

Gedanken über ein untergehendes Phänomen zu machen. Wäre<br />

Facebook eine Party, dann wäre es jetzt drei Uhr morgens,<br />

und die interessanten Gäste hätten sich verabschiedet. Zurück<br />

bleiben diejenigen, die heimlich hoffen, dass sie doch noch jemanden<br />

zum Knutschen finden, was auch unterhaltsam sein<br />

kann, aus Beobachterperspektive.<br />

Am Anfang ging es auf der Seite anarchisch zu, weil man unter<br />

Fr<strong>eu</strong>nden war. Man hackte Frechheiten in den Statusschlitz,<br />

verschickte digitale Küsse und teilte in frühen Fällen von oversharing<br />

allen mit, dass man gerade Suppe kochte oder Tee<br />

trank. Als Verwandte, ältere Kollegen und L<strong>eu</strong>te aus dem weiteren<br />

Bekanntenkreis dazukamen, die nicht alles sehen mussten,<br />

nahm die Lockerheit ab. Das eine oder andere Foto wurde<br />

versteckt, Einträge wurden redigiert oder gelöscht. Ein Mensch<br />

ist immer nur so mutig wie sein gewagtestes Status-Update.<br />

Im Alltag hatte der steigende Facebookkonsum heikle Folgen.<br />

Es entwickelte sich ein Phänomen, das wir Facebooktussis nannten<br />

– junge Frauen, umhüllt von der blassen Aura eines l<strong>eu</strong>chtenden<br />

Mobiltelefons, die wie zerstr<strong>eu</strong>te Heilige auf Partys her -<br />

umstanden und ihre Aufmerksamkeit denjenigen schenkten, die<br />

gerade anderswo mit ihrem Handy beschäftigt waren.<br />

Facebook war immer eine Übung in simulierter Lässigkeit,<br />

Raum für ein schöneres, glänzenderes Ich. Plötzlich konnte<br />

man mangelnde Schlagfertigkeit dadurch kompensieren, dass<br />

man minutenlang über einen originellen Kommentar nachdachte.<br />

Im Alltag ist das schwierig.<br />

2009 lautet mein meistkommentierter Eintrag: „Tennis-Arm<br />

ist Achtziger, ich habe einen Kicker-Arm.“ Partys, Schnappschüsse,<br />

Zufallsbekanntschaften, angetrunkene Ideen um zwei<br />

Uhr früh klopfe ich darauf ab, ob sie es wert sind, anderen<br />

übermittelt zu werden. Das große Selbstüberwachungszeitalter<br />

beginnt, in dem ein Ereignis nicht mehr stattfindet, wenn es<br />

nicht geteilt wird.<br />

Es ist nicht nur lustig, auf der eigenen Facebooktimeline in<br />

die Vergangenheit zu reisen. Etliche Einträge blieben unbeantwortet,<br />

andere leider nicht. Im Frühjahr 2011 schickt mir meine<br />

Mutter eine Fr<strong>eu</strong>ndschaftsanfrage und kommentiert ein Foto<br />

von mir in Badehose, das von meiner damaligen Mitbewohnerin<br />

hochgeladen wurde, mit zehn Ausrufezeichen. Auf viele<br />

Cartoons aus dem „New Yorker“, die ich hochlade, reagiert<br />

dagegen niemand.<br />

Allmählich begann sich etwas zwischen mir und meinen<br />

Fr<strong>eu</strong>nden zu verschieben. Wir wurden ungeduldiger, unkonzentrierter<br />

miteinander, wenn wir uns sahen, vielleicht in der<br />

Befürchtung, etwas zu verpassen, was parallel im Internet passiert.<br />

Wir stellten einander weniger Fragen, denn unsere Leben<br />

synchronisierten sich ja online. Noch ein Effizienzgewinn. Ich<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

frage mich, was wir mit der gesparten Zeit gemacht haben.<br />

Unsere Sprache wurde kurzatmiger, wir rutschten in Super -<br />

lative ab – irre, krass, Wahnsinn, geil. Die Zwischentöne aber,<br />

die Selbstironie, die Zweifel, diese schöne, alberne Melancholie<br />

nach drei, vier Stunden Plaudern, all das, auf dem Vertrauen<br />

wächst und später vielleicht Fr<strong>eu</strong>ndschaft, wurde seltener.<br />

Es lag nicht nur an Zuckerberg und seiner Website, aber die<br />

Digitalisierung des Fr<strong>eu</strong>ndeskreises hat dazu beigetragen, dass<br />

der Alltag unromantischer geworden ist. Wenn ich mich mit<br />

Fr<strong>eu</strong>nden traf, wusste ich manchmal nicht, was ich erzählt und<br />

was ich nur gepostet hatte. Morgens griff ich als Erstes zum<br />

Handy neben dem Bett, um zu schauen, was das Leben der<br />

anderen machte. Mit dem Schlafzimmer war auch der letzte<br />

analoge Ort in der Wohnung entweiht, der bislang für Bücher,<br />

Träume und Liebe reserviert war.<br />

Die Bikinifotos spielten natürlich mit. Keine Ahnung, wie<br />

viel Lebenszeit der west<strong>eu</strong>ropäische Durchschnittsmann damit<br />

verbringt, sich durch Urlaubsbilder von Facebookfr<strong>eu</strong>ndinnen<br />

zu klicken, mit denen er nicht liiert ist. Vermutlich Jahre. Wenn<br />

ich die Signale richtig d<strong>eu</strong>te, geht aber auch das zurück beziehungsweise<br />

werden die Nutzerinnen sparsamer mit Bildern.<br />

Mein Kumpel Thomas erklärt die westliche Facebookkrise so:<br />

„Irgendwann kommt der Tag, an dem du alle Frauen abgecheckt<br />

hast, die du früher in der Schule scharf fandest.“<br />

Inzwischen stapelt sich auf meiner Facebookseite sehr viel<br />

Müll: 22 Gründe, weshalb dein Hund introvertiert ist (ich habe<br />

keinen Hund); ein Video von Dustin Hoffman, der h<strong>eu</strong>lt; ein<br />

Link zu Fotos, die beweisen sollen, dass Hipster doch nicht tot<br />

sind. Ab und zu drücke ich „Gefällt mir“, damit niemand denkt,<br />

ich sei komplett durchgeknallt und hätte mich abgemeldet.<br />

Facebook wollte die Bindung zwischen Menschen im digi -<br />

talen Universum weiterführen. Inzwischen geben die meisten<br />

dort nichts mehr von sich preis, ihre Einträge lesen sich wie<br />

Meldungen eines außer Kontrolle geratenen Livetickers:<br />

„Träumte, ich war in San Francisco letzte Nacht.“ – „Beachparty.“<br />

– „Sonne & Home Office.“ – „Rügen-Nord.“<br />

Das ist kein schlechtes Zeichen. Die Chance wächst, dass<br />

wir uns endlich wieder mit den wichtigen Dingen befassen.<br />

Wir müssen reden.<br />

CHRISTOPH SCHEUERMANN<br />

Meine Mutter kommentiert<br />

ein Foto von mir in Badehose<br />

mit zehn Ausrufezeichen.<br />

59<br />

THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL


DEUTSCHLAND, WIE GEHT’S? (II) Demokratien lassen sich daran<br />

messen, ob sie ihren Bürgern Lebenschancen einräumen. Knapp<br />

zwei Drittel aller D<strong>eu</strong>tschen glauben, dass die sozialen Verhält -<br />

nisse dabei sind zu erstarren – wer oben ist, dessen Kinder haben<br />

beste Chancen, ihren Status zu bewahren; wer unten ist, dem<br />

bleibt der Aufstieg, anders als in den Anfängen der Republik, eher<br />

verwehrt. Was tun? Die SPD propagiert im Wahlkampf eine St<strong>eu</strong>er<br />

für Gutverdiener. In Nordrhein-Westfalen versteht sich Hannelore<br />

Kraft als Kümmerin, die sich der Nöte der Bedrängten annimmt.<br />

Aber lassen sich so die wachsenden Gegensätze verringern?<br />

Wahlplakate in Berlin<br />

STEFAN BONESS / IPON<br />

Der n<strong>eu</strong>e Ständestaat<br />

Die Parteien versprechen „soziale Gerechtigkeit“ und buhlen damit um die Wählergunst.<br />

Für viele ist es eine Verteilungsfrage, doch in Wahrheit geht es um Chancen.<br />

Wer von unten startet, hat in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> kaum Aussicht, je nach oben zu kommen.<br />

Wer weiß schon, ob er jemals<br />

zurückkehren wird in diesen<br />

Büropalast. Wer weiß schon,<br />

ob er noch einmal eine solche<br />

WAHL<br />

Halle betreten darf, in der die<br />

2013<br />

Mitarbeiter ihren Espresso<br />

auf Designerliegen schlürfen und durch<br />

ein Glasdach in den Himmel blicken.<br />

Can, 20 Jahre alt und Sohn türkischer<br />

Einwanderer, weiß es nicht. Und so zückt<br />

er sein Smartphone und schießt ein paar<br />

Erinnerungsfotos. Von der glänzenden<br />

Kaffeemaschine. Den Pflanzen in den Betonbassins.<br />

Und vom Paternoster, der in<br />

ewiger Kette Männer im dunklen Anzug<br />

und Damen im schmalen Rock unter das<br />

Sonnendach befördert.<br />

So weit oben ist Can nur Gast. Mit dem<br />

Karohemd und dem großen Kopfhörer,<br />

der um seinen Nacken baumelt, bleibt er<br />

in der Münchner Dependance der Boston<br />

60<br />

Consulting Group sichtbar fremd. Er ist<br />

hier, weil einer der Unternehmensberater<br />

sein persönlicher Coach ist. Die Arbeitsagentur<br />

hat sie zusammengebracht. Nun<br />

arbeiten sie gemeinsam an einem Projekt:<br />

Cans Zukunft.<br />

Bislang sah die ziemlich düster aus.<br />

Can hat das, was Betr<strong>eu</strong>er vom Amt<br />

„schwierige Startbedingungen“ nennen.<br />

Er wuchs in einer Gegend auf, in der es<br />

sehr viele Hochhäuser und sehr wenige<br />

Musikschulen gibt. Er hat die fünfte Klasse<br />

wiederholt, die siebte und die zehnte.<br />

Er verließ die Schule mit einer Fünf in<br />

Mathe und einer Fünf in D<strong>eu</strong>tsch. Bewerbungen<br />

hat er gar nicht erst abgeschickt.<br />

Nun soll ihm ein Berater helfen, ein<br />

Mann „aus einer anderen Welt“, wie Can<br />

sagt, aus einem Leben, in dem man den<br />

Doktortitel auf Visitenkarten druckt und<br />

seine Kinder zum Austauschjahr nach<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

Übersee schickt. Von montags bis donnerstags<br />

kümmert sich der Boston-Consulting-Mann<br />

Fabian Barthel darum, Straßen<br />

und Staudämme in Afrika zu planen.<br />

Freitagnachmittags hilft er Can dabei,<br />

eine Lehrstelle zu finden – unentgeltlich,<br />

als eine Art persönlicher Entwicklungshelfer.<br />

„Cans Startbedingungen waren definitiv<br />

schlechter als meine. Aber es kann<br />

doch nicht sein, dass uns das ein Leben<br />

lang prägt“, sagt Barthel. Seine Vorstellung<br />

von Gerechtigkeit sei jedenfalls eine<br />

andere.<br />

Was die Parteien unter Gerechtigkeit<br />

verstehen, können Can und Barthel auf<br />

den Plakaten und Flyern lesen, die jetzt<br />

überall im Land verteilt werden. Unionspolitiker<br />

preisen Betr<strong>eu</strong>ungsgeld für Eltern<br />

an, die ihre Kinder zu Hause erziehen.<br />

Die SPD verspricht stabilere Renten.<br />

Es soll alles gut bleiben – für die, für die


Serie<br />

BERT HEINZLMEIER / DER SPIEGEL<br />

schon beinahe alles gut ist. Nur für Can<br />

wird das wenig ändern.<br />

Die Parteien haben die soziale Gerechtigkeit<br />

als Wahlkampfschlager entdeckt.<br />

Das G-Wort zieht sich wie ein roter Faden<br />

durch viele Programme. Rund 60-mal verheißen<br />

die Grünen Gerechtigkeit, auf fast<br />

40 Nennungen kommt die SPD – knapp<br />

gefolgt von der Linkspartei. Die SPD will<br />

die „Fliehkräfte in der Gesellschaft“ (Kanzlerkandidat<br />

Peer Steinbrück) eindämmen,<br />

indem sie die St<strong>eu</strong>ern für Gutverdiener erhöht.<br />

Die Grünen wollen die Reichen mit<br />

einer Vermögensabgabe zur Kasse bitten.<br />

Ihre Wähler seien für „eine gerechte Verteilung<br />

der St<strong>eu</strong>ern“, sagt Grünen-Spitzenkandidatin<br />

Katrin Göring-Eckardt. Auch<br />

wenn sie dafür zahlen müssten.<br />

Die Union knüpft das Versprechen sozialer<br />

Gerechtigkeit nicht an höhere St<strong>eu</strong>ern,<br />

aber an staatliche Wohltaten. Die<br />

Rente für ältere Mütter will sie erhöhen<br />

und kleine Senioreneinkommen zu einer<br />

Lebensleistungsrente aufstocken. Das Betr<strong>eu</strong>ungsgeld<br />

soll schon im nächsten Jahr<br />

steigen. „Jede Familie ist anders. Und uns<br />

besonders wichtig“, hat die Union auf<br />

ihre Wahlplakate gedruckt. Sie hätte auch<br />

schreiben können: Es wird Geld geben.<br />

„Soziale Gerechtigkeit ist ein schillernder<br />

Begriff, unter dem jeder etwas anderes<br />

versteht. Gerade das macht ihn im<br />

Wahlkampf so attraktiv für die Parteien“,<br />

sagt Michael Sommer, der die D<strong>eu</strong>tschen<br />

regelmäßig befragt, was sie vom Ausgleich<br />

in der Gesellschaft halten. Im<br />

Wahljahr hat der Projektleiter beim Institut<br />

für Demoskopie Allensbach eine<br />

große Studie vorgelegt. Die Parteistrategen<br />

hätten sie vielleicht mal lesen sollen.<br />

Knapp zwei Drittel der D<strong>eu</strong>tschen glauben,<br />

dass die sozialen Verhältnisse in der<br />

vergangenen Legislaturperiode ungerechter<br />

geworden sind. Doch zugleich hat der<br />

Anteil der Bundesbürger, die das St<strong>eu</strong>ersystem<br />

für unfair halten, stark abgenommen.<br />

Nur 21 Prozent der Befragten halten<br />

die Verteilung der Einkommen für das<br />

wichtigste Problem. Mit 57 Prozent glaubt<br />

die Mehrheit, dass Gerechtigkeit vor allem<br />

die Ausgewogenheit von Chancen bed<strong>eu</strong>te<br />

– und damit etwas völlig anderes.<br />

Die Umfragen decken sich mit den<br />

Befunden der Wissenschaft. Seit den<br />

achtziger Jahren geht die Schere zwischen<br />

Arm und Reich beständig auseinander.<br />

Doch seit etwa 2005 schließt sie<br />

sich bei den Einkommen wieder ein wenig,<br />

weil der Arbeitsmarkt brummt, konstatiert<br />

das D<strong>eu</strong>tsche Institut für Wirtschaftsforschung<br />

(DIW).<br />

Gewachsen sind dagegen die Barrieren<br />

zwischen den Schichten. In der Zeitspanne<br />

zwischen 1996 und 1999 schafften es in<br />

Westd<strong>eu</strong>tschland fast 70 Prozent der<br />

Menschen, sich aus der untersten Ein -<br />

kommensschicht nach oben zu arbeiten.<br />

Zwischen 2006 und 2009 konnten sich<br />

aber nur noch 52 Prozent verbessern. In<br />

Ostd<strong>eu</strong>tschland sind es sogar nur 45 Prozent.<br />

Von „Verharrungstendenzen“ spricht<br />

DIW-Forscher Markus Grabka. „Die Aufstiegsbewegung<br />

vom unteren Rand der<br />

Gesellschaft in die Mitte ist erlahmt.“<br />

Wenn es um soziale Dynamik geht, ist<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> nur Mittelmaß. In einem internationalen<br />

Vergleich von 28 Industrienationen<br />

sortierte das arbeitgebernahe<br />

Institut der d<strong>eu</strong>tschen Wirtschaft Köln die<br />

Bundesrepublik jüngst in Sachen Chancen -<br />

gerechtigkeit nur auf dem 14. Platz ein –<br />

hinter Rumänien und Slowenien.<br />

Dass es hierzulande so schwierig geworden<br />

ist, von unten nach oben zu kommen,<br />

untergräbt auch das Vertrauen in<br />

die Wirtschaftsordnung, wie vor knapp<br />

zwei Jahren der Sachverständigenrat<br />

mahnte. Nur dann, wenn es eine hohe<br />

Durchlässigkeit gebe, würden sich die<br />

Menschen aus der unteren Einkommensklasse<br />

„ausreichend motiviert fühlen, in<br />

ihre Qualifizierung und damit in ihren<br />

gesellschaftlichen Aufstieg zu investieren“,<br />

schrieben die fünf Wirtschaftsweisen.<br />

Und nur dann, wenn jeder glaubt,<br />

dass er es einmal selbst nach oben schaffen<br />

kann, wird er akzeptieren, dass es<br />

Menschen gibt, die mehr verdienen.<br />

Doch in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> droht der Glaube<br />

an ein besseres Leben verlorenzugehen.<br />

Der Darmstädter Soziologe Michael<br />

Hartmann erforscht, wer es hierzulande<br />

nach oben schafft. Die ernüchternde Erkenntnis<br />

lautet: Die da oben waren immer<br />

schon da. Und die da unten werden<br />

nach ganz oben nur sehr selten kommen.<br />

„Die Gesellschaft ist gespalten“, konstatiert<br />

Hartmann. „Hier glauben viele Menschen<br />

inzwischen, dass es ihren Kinder<br />

nicht bessergehen wird als ihnen selbst,<br />

sondern eher schlechter.“<br />

Dabei zählte die Überz<strong>eu</strong>gung, dass jeder<br />

es schaffen kann, wenn er sich nur<br />

anstrengt, zu den Gründungsmythen der<br />

alten Bundesrepublik. 1957, in den Jahren<br />

des Wirtschaftswunders, erfand der erste<br />

westd<strong>eu</strong>tsche Wirtschaftsminister Ludwig<br />

Erhard die Erfolgslosung vom „Wohlstand<br />

für alle“. Gut ein Jahrzehnt später ergänzte<br />

Bundeskanzler Willy Brandt Erhards<br />

materielle Verheißung um das Versprechen<br />

von sozialem Aufstieg: Mit Bildung<br />

für alle wollte die sozial-liberale<br />

Geförderter Jugendlicher Can DER SPIEGEL 33/2013 61


Serie<br />

Koalition eine weitgehend schrankenlose<br />

Gesellschaft schaffen, in der nicht das<br />

Schicksal der Geburt über die Zukunft<br />

eines Menschen entscheidet. Aus Arbeiterkindern<br />

sollten endlich auch Akademiker<br />

werden können.<br />

Eine Zeitlang funktionierte das sogar.<br />

Doch inzwischen wird der Aufstieg in die<br />

oberen Gesellschaftsetagen durch eine<br />

doppelte Barriere gebremst. Zum einen<br />

sorgt der gespaltene Arbeitsmarkt dafür,<br />

dass ganze Erwerbstätigen-Gruppen von<br />

der Wohlstandsentwicklung abgekoppelt<br />

werden. Zum anderen versagt das Bildungssystem<br />

bei der Aufgabe, gleiche<br />

Startchancen für alle zu schaffen.<br />

Das Problem beginnt mit der Geburt.<br />

„In <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> hängen die Bildungschancen<br />

der Kinder stark von der materiellen<br />

Lage ihrer Eltern ab“, sagt Soziologe<br />

Hartmann. Wenn der Nachwuchs<br />

dann auch noch aus einer Migranten -<br />

familie stammt, in der kaum D<strong>eu</strong>tsch gesprochen<br />

wird, ist der Kreislauf programmiert:<br />

kein D<strong>eu</strong>tsch, kein Schulabschluss.<br />

Kein Schulabschluss, kein Job.<br />

In der katholischen Kita St. Raphael<br />

im rheinland-pfälzischen Weißenthurm<br />

tummeln sich 115 Kinder. Kein einziges<br />

kommt aus einem Akademikerhaushalt,<br />

vier von fünf haben ausländische Wurzeln.<br />

Auf einer Weltkarte an der Wand<br />

können sie zeigen, wo ihre Eltern geboren<br />

wurden: in Syrien oder Russland, in<br />

Polen oder Marokko.<br />

Kita-Leiterin Martina Huckriede hat<br />

viel unternommen, um die Defizite ihrer<br />

Schützlinge auszugleichen. Sie hat das<br />

Personal aufgestockt und vier „interkulturelle<br />

Fachkräfte“ eingestellt. Sie hat sogar<br />

ein Qualitätshandbuch zur Sprachförderung<br />

verfasst. Seither hat sich vieles<br />

gebessert, und doch erlebt Huckenriede<br />

immer wieder, was sie „eine<br />

62<br />

THEODOR BARTH / DER SPIEGEL<br />

Kinder in der Kita St. Raphael in Weißenthurm<br />

typische Karriere“ nennt: Migrationshintergrund,<br />

Sprachprobleme,<br />

Schulabbruch. „Ich<br />

fr<strong>eu</strong>e mich über jedes Kind,<br />

das später einmal auf das<br />

Gymnasium geht oder eine<br />

tolle Handwerksausbildung<br />

macht.“<br />

Eigentlich sollten die Fähigkeiten und<br />

Talente eines Kindes über sein Schicksal<br />

entscheiden. Stattdessen sortiert das d<strong>eu</strong>tsche<br />

Bildungssystem nach sozialer Herkunft.<br />

Von 100 Kindern aus Akademikerfamilien<br />

erreichen 79 die gymnasiale<br />

Oberstufe, aus Nicht-Akademiker-Haushalten<br />

schaffen es nur 43.<br />

Im Juni urteilte die Bertelmann-Stiftung<br />

über die Chancengleichheit im Bildungssystem,<br />

trotz leichter Fortschritte<br />

habe „auch weiterhin die soziale Herkunft<br />

großen Einfluss auf den Bildungserfolg“.<br />

Es ist der Ständestaat im modernen<br />

Gewand.<br />

Die Bildungspolitik ist ein nationales<br />

Notstandsgebiet. Statt Problemgruppen<br />

gezielt zu fördern, verzetteln sich die<br />

klammen Länder in einem sinnlosen<br />

Wettbewerb: vier Jahre Grundschule in<br />

Bayern, sechs Jahre in Berlin. Die einen<br />

schaffen die Hauptschule ab, die anderen<br />

halten an ihr fest. Mal Abitur in 13 Jahren,<br />

mal in 12 – oder man überlässt die Entscheidung<br />

einfach den Schulen selbst.<br />

„VIELE MENSCHEN GLAUBEN<br />

INZWISCHEN, DASS ES IHREN<br />

KINDERN NICHT BESSER -<br />

GEHEN WIRD ALS IHNEN SELBST.“<br />

Und noch immer verlassen jedes Jahr<br />

rund 50 000 junge Menschen ohne Hauptschulabschluss<br />

die Schulen.<br />

Wenn sie Glück haben, finden sie sogar<br />

einen Job. Der Weg in die oberen Ränge<br />

der Einkommenspyramide aber bleibt ihnen<br />

oft versperrt, weil die Arbeitswelt<br />

den sozialen Graben im Land weiter vertieft.<br />

Wer gut ausgebildet und flexibel ist,<br />

findet beste Job- und Karrierechancen.<br />

Viele Geringqualifizierte dagegen müssen<br />

sich mit einem Platz im wachsenden Niedriglohnsektor<br />

der Republik begnügen, in<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

dem beruflicher und materieller Aufstieg<br />

vielfach nicht mehr vorgesehen sind. Dabei<br />

haben die Arbeitsmarktreformen der<br />

rot-grünen Koalition geholfen, Armut in<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> zu verringern. Denn die entscheidende<br />

Bedingung, um am wachsenden<br />

Wohlstand teilzuhaben, ist Arbeit.<br />

Bis 2005 war die Arbeitslosigkeit in<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> stets gestiegen, jeder Abschwung<br />

hinterließ einen höheren Sockel<br />

an Chancenlosen. Dann hat sich der Trend<br />

umgekehrt, selbst die Zahl der Langzeitarbeitslosen<br />

schrumpft. Doch<br />

der Erfolg hat seinen Preis.<br />

Das Normalarbeitsverhältnis<br />

mit unbefristetem und sicherem<br />

Vertrag wurde ergänzt mit<br />

dem unerbittlichen Prinzip<br />

der Hartz-Reform: Schlecht -<br />

bezahlte Arbeit ist besser als<br />

keine Arbeit.<br />

Seither wächst die Zahl niedrig entlohnter<br />

Jobs: Teilzeitstellen, Leiharbeit<br />

und Minijobs. Das senkte die Arbeits -<br />

losigkeit. Aber die n<strong>eu</strong>en flexiblen Jobs<br />

bildeten weniger Brücken in traditionelle<br />

Arbeitsverhältnisse als erhofft. Noch h<strong>eu</strong>te<br />

liegt die Arbeitslosenquote Gering -<br />

qualifizierter bei fast 20 Prozent. Dazu<br />

müssen die Betroffenen Unsicherheit und<br />

Härten ertragen.<br />

Oliver Schneider ist 32 Jahre alt. Er hat<br />

die Fachhochschulreife erlangt und eine<br />

Lehre als Kfz-Elektriker bei Daimler in


Wunsch und Wirklichkeit<br />

„Was ist soziale Gerechtigkeit?“<br />

IfD-Allensbach-Umfrage 2013<br />

Sindelfingen gemacht. Später wechselte<br />

er zu einer P<strong>eu</strong>geot-Werkstatt. Als nach<br />

zwei Jahren einer der Beschäftigten gehen<br />

musste, traf es Schneider. „Ich war der<br />

Jüngste und hatte keine Familie“, sagt er.<br />

Ende 2003 schickte ihn die Arbeitsagentur<br />

zu einer Zeitarbeitsfirma. In den<br />

vergangenen zehn Jahren ist Schneider<br />

davon nicht mehr losgekommen. Wenn<br />

ihn eine Zeitarbeitsfirma entließ, schickten<br />

ihn die Vermittler gleich wieder in<br />

die Leiharbeit; manchmal zum selben<br />

Unternehmen, das ihn gerade eben entlassen<br />

hatte.<br />

„Mittlerweile habe ich mindestens<br />

30 verschiedene Jobs in 45 Firmen gemacht“,<br />

sagt Schneider. Er arbeitete während<br />

einer Rückholaktion wieder beim<br />

Daimler auf Zeit. Er war Möbelpacker<br />

und Bauhelfer, er saß im Büro und stand<br />

an Maschinen in der Industrie. Mal war<br />

er für Tage, mal für Jahre an ein Unternehmen<br />

ausgeliehen. Vom „Klebeeffekt“<br />

der Zeitarbeit hat er nichts gespürt.<br />

„Wenn ich länger in einem Betrieb war,<br />

habe ich reingekloppt, um übernommen<br />

zu werden“, sagt Schneider. Geklappt<br />

hat es nie.<br />

Schneider bekommt um die 1050 Euro<br />

netto im Monat. Der Kfz-Elektriker hofft<br />

noch immer auf einen regulären Job, seine<br />

Chancen hält er für gering. Fragt man<br />

nach seiner Perspektive, fällt ihm nur ein<br />

Wort ein: „Beschissen.“<br />

Auswahl Ja-Antworten<br />

Dass man von dem Lohn für<br />

seine Arbeit auch leben kann<br />

91 %<br />

Alle Kinder haben die<br />

gleichen Chancen auf<br />

eine gute Schulausbildung<br />

Wer mehr leistet, soll auch<br />

mehr verdienen als derjenige,<br />

der weniger leistet<br />

Der Staat muss durch St<strong>eu</strong>ern<br />

dafür sorgen, dass die Einkommensunterschiede<br />

in der Gesellschaft<br />

nicht größer werden<br />

53 %<br />

70 %<br />

Familien mit Kindern werden<br />

vom Staat finanziell unterstützt 66 %<br />

90 %<br />

Anteil der Schulanfänger, die ein Studium beginnen<br />

Kinder von<br />

Nichtakademikern<br />

23 %<br />

Kinder von<br />

Akademikern<br />

77 %<br />

Einen Aufstieg aus der untersten Einkommensklasse<br />

in eine höhere schafften<br />

zwischen 1996 und 1999 2006 und 2009<br />

im Westen 69 % 52 %<br />

im Osten 64 %<br />

45 %<br />

Quellen: Statistisches Bundesamt, DSW/HIS 2012; Sachverständigenrat 2011<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> nähert sich einer Drei-<br />

Klassen-Gesellschaft: An der Spitze stehen<br />

Manager mit Millionengehältern,<br />

Freiberufler mit gutgehenden Kanzleien<br />

oder Büros, erfolgreiche Selbständige. Es<br />

folgt die Masse gutausgebildeter Angestellter<br />

und Facharbeiter mit hohen und<br />

durchschnittlichen Löhnen. Das untere<br />

Drittel der Geringqualifizierten und Ausgest<strong>eu</strong>erten<br />

aber hat kaum Aussicht auf<br />

Aufstieg.<br />

In den ersten Nachkriegsjahrzehnten<br />

profitierten auch die mit wenig Lohn<br />

vom wachsenden Wohlstand. H<strong>eu</strong>te<br />

sind selbst Menschen, die früher zum<br />

Kern bestand der Arbeitnehmerschaft<br />

zählten – Verkäufer, Erzieherinnen oder<br />

Köche –, von der Einkommensentwicklung<br />

abgekoppelt.<br />

„Insbesondere ab Mitte der n<strong>eu</strong>nziger<br />

Jahre öffnete sich die Einkommensschere<br />

zwischen Gering- und Hochqualifizierten“,<br />

sagt Ulrich Walwei, Vizedirektor<br />

des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung<br />

(IAB). Nach Berechnungen<br />

des Instituts fielen die Reallöhne der Geringqualifizierten<br />

in den vergangenen<br />

zwei Jahrzehnten auf den Stand von<br />

1984, während die der Hochqualifizierten<br />

kräftig stiegen – trotz Krisen und Lohnzurückhaltung.<br />

Wer viel hat, bekommt immer mehr.<br />

Wer nicht mal Bildung besitzt, bleibt Verlierer.<br />

Es ist ein T<strong>eu</strong>felskreis, der die soziale<br />

Schichtung im Land weit stärker<br />

prägt als jede St<strong>eu</strong>er- oder Gesundheitsreform.<br />

Für die Politiker ist das eine bittere<br />

Nachricht. Wollen sie <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> wirklich<br />

gerechter machen, so lautet die Botschaft,<br />

müssten sie für mehr Aufstiegsmöglichkeiten<br />

sorgen, vor allem im Bildungswesen<br />

und am Arbeitsmarkt.<br />

Doch die Pläne von Sozialdemokraten<br />

und Grünen, mehr Geld bei den Reichen<br />

einzusammeln und in die Bildung zu stecken,<br />

sind nur bedingt hilfreich. So zeigt<br />

eine n<strong>eu</strong>e DIW-Studie, dass die St<strong>eu</strong>erpläne<br />

viel weniger Geld einbringen werden<br />

als gedacht. Außerdem haben die Parteien<br />

noch weitere kostspielige Versprechen<br />

im Angebot.<br />

Vor allem aber lässt sich das Problem<br />

nicht allein mit Geld lösen. Mehr Krippenplätze<br />

und Erzieher bringen wenig,<br />

wenn Familien ihre Kinder gar nicht erst<br />

in die Kita schicken. Und den Arbeitsmarkt<br />

auf Aufstieg zu programmieren<br />

verlangt ein Umdenken bei allen Beteiligten.<br />

Nötig wären Unternehmer, die<br />

mehr in Weiterbildung investieren, Arbeitsvermittler,<br />

die stärker auch geringqualifizierte<br />

Beschäftigte betr<strong>eu</strong>en, und<br />

Politiker, die Schluss machen mit der Privilegierung<br />

prekärer Beschäftigungsverhältnisse<br />

wie zum Beispiel Minijobs. „Wir<br />

müssen die Forderung nach lebenslangem<br />

Lernen endlich ernst nehmen“, sagt IAB-<br />

Vizedirektor Walwei.<br />

Doch mit solch langwierigen Umbauprogrammen<br />

lassen sich kaum kurzfristige<br />

politische Erfolge erzielen. Und so<br />

greifen Bürger, die etwas gegen die größten<br />

Gerechtigkeitsdefizite im Land unternehmen<br />

wollen, zur Selbsthilfe.<br />

Berater Fabian Barthel hatte irgendwann<br />

genug davon, nur zuzusehen, wie<br />

das System Bildungsverlierer in Serie produziert.<br />

Deshalb trat er der Initiative<br />

„Joblinge“ bei, einem Sozialprojekt der<br />

Boston Consulting Group und der Eberhard<br />

von Kuenheim Stiftung. Barthel will<br />

nicht, dass „die Frage, ob man in einem<br />

akademischen Umfeld oder in einem sozialen<br />

Brennpunkt groß geworden ist,<br />

den Lebensweg bestimmt“. Deshalb hat<br />

er mit Can über Wochen trainiert, wie<br />

man Bewerbungen schreibt und im Vorstellungsgespräch<br />

antwortet.<br />

Inzwischen gibt es Erfolge. N<strong>eu</strong>lich hat<br />

Can ein Praktikum bei einer Versicherung<br />

gemacht. Im September tritt er eine Lehrstelle<br />

an. Und Can hat noch mehr Ziele.<br />

„Mein Traum ist, dass ich mir irgendwann<br />

eine eigene Wohnung in einer guten Gegend<br />

leisten kann“, sagt er. Schwabing<br />

zum Beispiel gefällt ihm gut.<br />

In München ist das ganz weit oben.<br />

MARKUS DETTMER, CORNELIA SCHMERGAL<br />

63


Wahlkämpfer Kraft, Steinbrück in Mettmann<br />

RALPH SONDERMANN<br />

„Wir sind die Guten“<br />

Was ist h<strong>eu</strong>te sozialdemokratisch? In Nordrhein-Westfalen, ihrem Herzland, verstehen sich<br />

die Sozialdemokraten als große Kümmerer, und Hannelore Kraft ist ihr Idealbild.<br />

Wenn es schiefgeht am 22. September, könnte Kraft Parteichefin werden. Von Stefan Willeke<br />

An einem dieser heißen Sommerabende,<br />

die jeden vernünftigen<br />

Gedanken verdunsten<br />

lassen, setzt sich Rudolf<br />

WAHL<br />

Malzahn in sein Auto und<br />

2013<br />

fährt zum Carolinenglück.<br />

Das Bergwerk Carolinenglück gibt es<br />

zwar schon seit fast 50 Jahren nicht mehr,<br />

aber die Kleingartensiedlung Carolinenglück<br />

und das Vereinsheim Carolinenglück<br />

sind noch immer da. Das Glück hat<br />

also überlebt, das ist das Wichtigste.<br />

Malzahn ist guter Dinge. Er hat das rote<br />

Parteibuch eines n<strong>eu</strong>angeworbenen Ge -<br />

nossen in die Tasche gesteckt, als Beleg für<br />

einen Trend. Er trägt eine rote Hose, auch<br />

das ist eine Mitteilung. „Ich hole ein paar<br />

L<strong>eu</strong>te zusammen“, hat er am Telefon gesagt,<br />

und das hörte sich ein bisschen so an,<br />

als hätte der Anführer der Hells Angels angekündigt:<br />

„Ich hole die Jungs zusammen.“<br />

64<br />

Da sitzen sie dann eng nebeneinander<br />

an einem Kneipentisch, fünf Männer aus<br />

dem Vorstand des SPD-Ortsvereins Bochum-Hamme,<br />

mit Gesichtern wie aus<br />

einem Bilderbuch der d<strong>eu</strong>tschen Arbeiterbewegung.<br />

Rudolf Malzahn, genannt<br />

Rudi, gelernter Maschinenschlosser, Chef<br />

des Ortsvereins. Martin Oldengott, Wirtschaftsförderer<br />

in Castrop-Rauxel. Gerhard<br />

Gleim, genannt Gerd, Klempner.<br />

Dieter Schröder, ehemals Fuhrparkchef<br />

bei Aldi in Datteln. Norbert Kriech, Elektriker.<br />

Norbert hat eine Narbe neben dem<br />

rechten Auge. Dieter trägt einen Brustb<strong>eu</strong>tel.<br />

Gleich werden sie bei der Kellnerin<br />

eine Platte Mettbrötchen bestellen.<br />

Die SPD in Bochum-Hamme ist der bekannteste<br />

Ortsverein der Partei, seit diese<br />

Männer auf eine Idee kamen, für die sie<br />

sich noch h<strong>eu</strong>te lieben: Wir schmeißen<br />

Wolfgang Clement raus, den früheren<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen,<br />

Kanzler Schröders Superminister.<br />

Clement hatte vor der hessischen Landtagswahl<br />

im Jahr 2008 in einem Zeitungsbeitrag<br />

dazu geraten, der SPD die Stimme<br />

zu verweigern, und der kleine SPD-Ortsverein<br />

aus Bochum strengte ein Ausschlussverfahren<br />

an. Am Ende wurde Clement<br />

nicht rausgeworfen, aber er war zermürbt<br />

und trat aus.<br />

Rudi sagt: „Der Wolfgang Clement war<br />

noch nie ein Sozialdemokrat.“ Genau genommen<br />

nennt er ihn gar nicht Clement,<br />

er sagt immer „Klemment“, mit kurzem<br />

e. Das klingt dann, als hätte sich bei Clement<br />

etwas Entscheidendes verklemmt.<br />

Norbert sagt: „Die SPD war immer für<br />

die Schwachen da.“<br />

Rudi sagt: „Wir sind ein Bollwerk.“<br />

Martin sagt: „Wir sind in einer Schwarzweiß-Welt<br />

groß geworden.“


Serie<br />

Dieter sagt: „Wir sind Links-Denker.“<br />

Weil Rudi Malzahn gern das letzte<br />

Wort behält, sagt er noch: „Wir sind die<br />

Kümmerer.“<br />

Das hat er auch Sigmar Gabriel auf<br />

einer Veranstaltung zugerufen, dem Parteichef,<br />

damit der weiß, wer die echten<br />

Kümmerer sind, diejenigen, die sich<br />

schon gekümmert haben, bevor die nordrhein-westfälische<br />

Ministerpräsidentin<br />

Hannelore Kraft und ihre L<strong>eu</strong>te sich<br />

ständig Kümmerer nannten. „Sigmar“,<br />

rief Malzahn mit seiner durchdringen -<br />

den Stimme, „hömma, wir sind die Küm -<br />

merer!“<br />

Das war der Versuch, Bochum-Hamme<br />

zum Modell zu machen – für die ganze<br />

Partei. Es war auch der Versuch, dem Vorsitzenden<br />

zu erklären, warum sich die Sozialdemokratie<br />

in Nordrhein-Westfalen<br />

nach ein paar elenden Jahren politisch<br />

erholt hat, warum sie konstanter ist als<br />

die Bundespartei, erfolgreicher.<br />

Nordrhein-Westfalen wird von der SPD<br />

regiert, zusammen mit den Grünen. Bei<br />

der Landtagswahl im Mai 2012 holte die<br />

Partei der Ministerpräsidentin 39 Prozent<br />

der Stimmen. In Meinungsfragen steht<br />

Kraft noch h<strong>eu</strong>te ungewöhnlich gut da.<br />

Martin sagt: „In vier Jahren ist sie Kanzlerkandidatin.“<br />

Norbert sagt: „Wenn Hannelore<br />

Kraft jetzt schon angetreten wäre,<br />

hätten wir bessere Chancen.“ Es ist völlig<br />

klar, dass sie einem Kandidaten, der niemals<br />

eine Flasche Pinot Grigio für fünf<br />

Euro kauft, von Grund auf misstrauen.<br />

In der Adventszeit verteilen die L<strong>eu</strong>te<br />

von der SPD Bochum-Hamme Weihnachtsmänner<br />

aus Schokolade, versehen<br />

mit einem kleinen Flugblatt. Am Muttertag<br />

verschenken sie Rosen, auch mit Flugblatt.<br />

Sie besorgen Wohnungen für Alte,<br />

beschaffen dem Fußballverein Geld. Sie<br />

setzten sich dafür ein, eine Baracke niederzureißen,<br />

in der Asylbewerber lebten,<br />

und die Menschen auf andere Wohnungen<br />

zu verteilen. Gerd sagt, er habe ein<br />

Foto vom Patriarchen eines Roma-Clans<br />

geschossen, der am Straßenrand auf einem<br />

Sessel thront und seine Füße in einer<br />

Wasserwanne badet.<br />

Die Männer von der SPD sind für geordnete<br />

Verhältnisse. Sie prozessieren<br />

gern. Im Augenblick klagen sie gegen den<br />

Betrieb einer Mülldeponie. Steckt man<br />

in einem Konflikt, dann ist es bestimmt<br />

ein beruhigendes Gefühl, einen dieser<br />

Männer hinter sich zu wissen. Aber sie<br />

sind auch die Pest. Es muss nur einer von<br />

Malzahns Gruppe in einer Behörde auftauchen.<br />

Man kann sich gut vorstellen,<br />

wie sich die Sachbearbeiter dann in ihren<br />

Zimmern einschließen, weil sie ahnen,<br />

dass gleich eines ihrer Vorhaben blockiert<br />

werden soll.<br />

Malzahns Männer waren auch dagegen,<br />

dass die Love Parade in Bochum stattfindet,<br />

wegen der Enge und des Drecks.<br />

„Die Geschichte hat uns recht gegeben“,<br />

sagt Martin. Norbert sagt: „Sozialdemokrat<br />

ist man, wenn man sich für die Mehrheit<br />

der Bevölkerung einsetzt.“<br />

Rudi sagt: „Wir sind hier weit und breit<br />

der einzige Ortsverein mit einem Mitgliederzuwachs.“<br />

160 Genossen, Jahr für Jahr<br />

ein paar mehr. Einer ist mal ausgetreten,<br />

der ehemalige Schriftführer, wegen des<br />

Rauchverbots in Kneipen. Gerd sagt: „Ich<br />

habe schon in der dritten Klasse geraucht.“<br />

In die Gesichter dieser Männer haben<br />

sich Lebensgeschichten gegraben. Rudi<br />

Malzahn und seine Genossen spielen sich<br />

Mitglieder des SPD-Ortsvereins Bochum-Hamme*<br />

auf, aber sie verstellen sich nicht. Sie verkörpern<br />

etwas, um das sich Politiker bemühen.<br />

Man braucht nicht viel Phantasie, um<br />

die politische Linie aus Bochum-Hamme<br />

zur Staatskanzlei in Düsseldorf zu verlängern,<br />

wo seit drei Jahren eine Sozialdemokratin<br />

regiert, die viel Geld in benachteiligte<br />

Städte und in benachteiligte<br />

Familien steckt, die Studiengebühren gestrichen<br />

und damit ärmere Familien entlastet<br />

hat, die den gemeinsamen Schulunterricht<br />

von behinderten und nicht -<br />

behinderten Kindern fördert. „Kein Kind<br />

zurücklassen“, das ist ihre wichtigste poli -<br />

tische Botschaft.<br />

Fasst man Krafts Bilanz wohlwollend<br />

zusammen, dann kann man sagen: Sie<br />

macht die Sozialdemokratie bei den Menschen<br />

glaubhaft, die sie wählen sollen.<br />

Sie macht sich verdient um Politik, weil<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

sie der Politikverdrossenheit, die im Kern<br />

aus Politikerverdrossenheit besteht, mit<br />

ihrer frappierenden Normalität entgegenwirkt.<br />

Von anderen Sozialdemokraten<br />

wird sie um ihre Popularität beneidet.<br />

Das Erstaunliche an Hannelore Kraft<br />

ist die Stille, die sie geschaffen hat. Ihre<br />

Politik verursacht fast keine störenden<br />

Geräusche. Sie koaliert mit den Grünen,<br />

aber anders als bei ihren sozialdemokratischen<br />

Vorgängern Peer Steinbrück und<br />

Wolfgang Clement, die lieber mit der<br />

FDP als mit den Grünen regiert hätten,<br />

dringt kein politischer Streit nach draußen.<br />

Es ist ihr gelungen, sich durchzusetzen,<br />

ohne sich in Kämpfen aufzureiben.<br />

„Sie hat zwar die Macht, aber sie fängt<br />

damit wenig an“, sagt ein Sozialdemo-<br />

krat, der viele SPD-Politiker ehemaliger<br />

Landesregierungen gut kennt. „Früher<br />

stellte sich ein Ministerpräsident gegen<br />

den Wind, weil er glaubte, er müsse die<br />

Richtung des Windes ändern. Hannelore<br />

Kraft lässt sich mit dem Wind treiben.<br />

Vielleicht ist das die weibliche Art, Politik<br />

zu machen, vielleicht ist es sogar die klügere<br />

Methode.“<br />

Der Christdemokrat Jürgen Rüttgers,<br />

der im Jahr 2010 als Ministerpräsident<br />

von Nordrhein-Westfalen abgelöst wurde,<br />

hoffte noch, sich das Image des früheren<br />

SPD-Regierungschefs Johannes Rau aneignen<br />

zu können. Aber das ging schief.<br />

Rüttgers bemühte sich um den Nachlass<br />

des politischen Gegners und machte sich<br />

* V. l.: Martin Oldengott, Dieter Schröder, Rudolf Malzahn,<br />

Gerhard Gleim, Norbert Kriech im Vereinsheim<br />

Caro linenglück.<br />

65<br />

KARSTEN SCHÖNE / DER SPIEGEL


Serie<br />

FOTOS: KARSTEN SCHÖNE / DER SPIEGEL<br />

Opel-Betriebsrat Einenkel<br />

Sozialdemokratin Hördum<br />

dadurch unglaubwürdig. Hannelore Kraft<br />

unternimmt gar nicht erst den Versuch,<br />

sich mit ihren Vorgängern in eine Reihe<br />

zu stellen. Ohnehin misstraut sie den alten<br />

Männerbünden der nordrhein-westfälischen<br />

SPD, den Skatrunden und Biertischbeschlüssen,<br />

und deswegen misstraut<br />

sie zugleich einem Teil ihrer eigenen Biografie.<br />

So ist sie ja groß geworden, in Mülheim<br />

an der Ruhr, umgeben von der Stahl -<br />

arbeiter-SPD der siebziger und achtziger<br />

Jahre. Sie kann fünfmal kurz hintereinander<br />

„dat“ und „wat“ sagen – was dann<br />

wie eine Verneigung vor ihrer eigenen<br />

Geschichte wirkt. Aber man würde Hannelore<br />

Kraft unterschätzen,<br />

wenn man annähme, sie führe<br />

nichts im Schilde.<br />

Besucht man sie in ihrem<br />

Büro in Düsseldorf, dann sitzt<br />

man einer auf merksamen<br />

Frau gegenüber, die eine knallrote<br />

Hose trägt und nicht bereit<br />

ist, sich politisch festzu -<br />

legen. Fragt man sie, ob sie für die untere<br />

Hälfte der Gesellschaft Politik mache,<br />

dann antwortet sie: „Nicht ausschließlich.“<br />

Sie handle auch im Sinne der<br />

mittelstän dischen Unternehmer.<br />

Hannelore Kraft spricht von Politik wie<br />

von einer Werkstatt. Politik müsse reparieren,<br />

was kaputtgegangen sei. Sie sagt:<br />

„Ich sehe all die Menschen vor mir, die<br />

es im Leben schwer haben.“ Dafür findet<br />

man in ihrer Politik eine Menge Belege.<br />

Dann, am Ende des Gesprächs, wird sie<br />

<strong>eu</strong>phorisch und sagt über die SPD einen<br />

bemerkenswerten Satz: „Wir sind die Guten.“<br />

Das ist ein Satz, der hängenbleibt.<br />

Man könnte denken, das sei ein flapsiger<br />

Wahlkampf-Slogan, aber sie meint<br />

diesen Satz ernst. Als sich Kraft nach der<br />

66<br />

Landtagswahl im Jahr 2010 mit den Verhandlungsführern<br />

der CDU im Konferenzraum<br />

eines Düsseldorfer Flughafenhotels<br />

traf, um die Chancen für eine gemeinsame<br />

Regierung zu sondieren, ging<br />

es anderthalb Stunden lang allein darum,<br />

den Christdemokraten moralisches Versagen<br />

vorzuhalten. Kraft regte sich damals<br />

über ein „Kraftilanti“-Wahlplakat<br />

der CDU auf, das sie als ätzenden Spott<br />

empfunden hatte. Beobachter erinnern<br />

sich daran, wie unablässig Hannelore<br />

Kraft die CDU-Politiker in jeder der gemeinsamen<br />

Sitzungen zu einer Katharsis<br />

nötigen wollte, bevor sie bereit war, über<br />

Inhalte zu reden. Die politische Stärke<br />

ALLES, WAS SICH NICHT AUS<br />

DER VERGANGENHEIT ERGIBT, GILT<br />

ALS VERDÄCHTIG. DAS IST DAS<br />

SOZIALDEMOKRATISCHE DILEMMA.<br />

war ihr nicht genug, auch moralisch musste<br />

sie gewinnen.<br />

„Wir sind die Guten.“ Das könnte die<br />

Losung des Jahres 2013 werden. Jeder<br />

möchte gut sein, moralisch überlegen. Sogar<br />

die Anti-Euro-Partei Alternative für<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> plakatierte den Satz auf eine<br />

Wand in einer Versammlungshalle. Selbst<br />

Politiker, die aus der Politik geflohen sind,<br />

wie der ehemalige Hamburger Bürgermeister<br />

Ole von B<strong>eu</strong>st, bemühen mora -<br />

lische Kategorien, um ihre Motive zu veredeln.<br />

Die Guten sind überall. Nur: Was<br />

ändert sich dadurch?<br />

Die Sozialdemokratie ist zu einem unscheinbaren<br />

Gast geworden an einem Ort,<br />

der ihr eigentlich gehören müsste, den<br />

Opel-Werken in Bochum. Die Stadt wird<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

von der SPD regiert, seit es die Bundesrepublik<br />

gibt. Auch als andere rote Städte<br />

an der Ruhr plötzlich schwarz wurden,<br />

blieb Bochum rot.<br />

Opel war der Beweis für politische Weitsicht.<br />

Noch bevor die meisten Bergwerke<br />

in den sechziger Jahren starben, trafen<br />

sich Politiker mit den Managern des Autokonzerns<br />

General Motors in Hotels außerhalb<br />

der Stadt. In geheimen Verhandlungen<br />

holten Politiker die Opel-Werke<br />

in die Stadt, gegen den Willen des Bergbaus,<br />

der sich vor einer Konkurrenz fürchtete,<br />

die höhere Löhne zahlen könnte.<br />

Dem Bergbau gehörten die Flächen, auf<br />

denen die Opel-Werke entstehen sollten,<br />

und die Politiker traten als Zwischenhändler<br />

auf, die ihre wahren<br />

Absichten verschleierten.<br />

Opel war ihr Scoop.<br />

Das Werk wurde später zu<br />

einem Aushängeschild der Sozialdemokratie,<br />

weil in ihm<br />

vieles zusammenkam, wofür<br />

die SPD stand. Opel war der<br />

Sieg des politischen Willens über die vorherrschende<br />

Industrie. Opel bed<strong>eu</strong>tete Ern<strong>eu</strong>erung,<br />

20000 Arbeitsplätze. Opel löste<br />

ein Versprechen ein, das die Sozialdemokraten<br />

der siebziger Jahre gaben: Morgen<br />

wird es <strong>eu</strong>ch besser gehen. Das war ein<br />

ma terialistischer Zugang zur Politik, aber<br />

einer, der ein ganzes Land beflügelte.<br />

Inzwischen steckt Opel tief in der Krise,<br />

das Bochumer Werk soll Ende kommenden<br />

Jahres geschlossen werden, dagegen<br />

haben die Arbeiter oft protestiert. Früher<br />

waren das Veranstaltungen, auf denen<br />

die roten Fahnen der IG Metall neben<br />

denen der SPD flatterten. Fragt man<br />

Rainer Einenkel, den Chef des Betriebsrats<br />

im Bochumer Autowerk, wie viele<br />

seiner L<strong>eu</strong>te h<strong>eu</strong>te noch Sozialdemokra-


ten seien, dann muss er eine Weile überlegen.<br />

Der Betriebsrat hat 31 Mitglieder.<br />

„Vier müssten es sein“, sagt Einenkel, „ich<br />

weiß es aber nicht genau. Die treten nicht<br />

groß in Erscheinung.“<br />

Im Dezember erklärte der Kanzlerkandidat<br />

Peer Steinbrück in einer Talkshow,<br />

es sei sinnlos, das Bochumer Werk zu<br />

retten, es sei wirtschaftlich am Ende. Und<br />

es folgte einer dieser Tage, an denen<br />

Einenkel zu den Sozialdemokraten im<br />

Opel-Betriebsrat ging und ihnen sagte:<br />

„Nehmt es nicht persönlich.“ Der parteilose<br />

Einenkel, der früher Kommunist war,<br />

ist inzwischen geübt darin, Sozialdemokraten<br />

zu trösten.<br />

Es sei seltsam, sagt Einenkel, mit dem<br />

Wirtschaftsministerium des Landes habe<br />

er kaum noch Kontakt. Schlage er morgens<br />

seine Pressemappe auf, entdecke er<br />

nie einen Artikel über Opel, in dem Hannelore<br />

Kraft vorkomme. Äußert sie sich<br />

dazu nicht, weil sie hier nichts mehr gewinnen<br />

kann? Einenkel gibt noch nicht<br />

auf. Vor Jahren sei ihm schon einmal mitgeteilt<br />

worden, das Werk werde geschlossen.<br />

Ein Datum für das Ende wurde genannt,<br />

und eine Uhrzeit. Aber das Werk<br />

hat überlebt.<br />

Fragt man Einenkel, ob es für die Opel-<br />

Arbeiter noch Gründe gebe, SPD zu wählen,<br />

antwortet er: „Einen Grund muss es<br />

noch geben, ja.“<br />

Welchen?<br />

„Vielleicht wegen der sozialen Gerechtigkeit.“<br />

Wo sehen Sie die?<br />

Er versucht, etwas zu entgegnen, aber<br />

ihm fällt nichts ein. Schließlich sagt er:<br />

„Es ist nicht so, dass wir meinen: Die SPD<br />

hilft uns.“<br />

Sozialdemokraten sind hier nicht die<br />

Guten und nicht die Bösen. Sie sind hilflose<br />

Beobachter. Das kann man bedauern,<br />

aber man kann es Hannelore Kraft nicht<br />

vorwerfen. Es wäre aber an der Zeit zu<br />

fragen: Was kommt, wenn Opel geht?<br />

Gibt es ein sozialdemokratisches Bild der<br />

Zukunft, einen Entwurf, irgendetwas, das<br />

die politische Phantasie anspricht? Ein<br />

Versprechen, das besser in die Zeit passt<br />

als Opel?<br />

Vor langer Zeit war die SPD in Nordrhein-Westfalen<br />

eine Macht der Ern<strong>eu</strong>erung,<br />

inzwischen ist sie ein Reparatur -<br />

betrieb, dessen Chefin sich überlegt, für<br />

welchen Schaden sie zuständig ist, für<br />

welchen nicht. Der fröhliche Materia -<br />

lismus, den die SPD einst in wirtschaftlich<br />

stabileren Zeiten verströmte, ist einem<br />

engagierten Flickschustern gewichen, das<br />

viel Geld kostet.<br />

130 Milliarden Euro Schulden hat<br />

Nordrhein-Westfalen angehäuft. Solange<br />

die St<strong>eu</strong>ereinnahmen so hoch sind wie<br />

im Augenblick, ist Krafts Politik nicht<br />

akut in Gefahr. Verringern sich die<br />

Einnahmen, droht sofort die Grundlage<br />

zu zerbrechen. Im März rügte das<br />

Landesverfassungs gericht in Münster<br />

zum dritten Mal Nordrhein-Westfalens<br />

Haushalt. Der Haushalt sei verfassungswidrig,<br />

wegen der hohen Kredite, so etwas<br />

ist bei früheren Landesregierungen<br />

nicht vorgekommen.<br />

Blickt man argwöhnisch auf Hannelore<br />

Kraft, dann kann man sagen: Sie baut<br />

ihre Regierung zu einem Landessozialamt<br />

um. Sie vergrößert die Basis der<br />

poli tisch Begünstigten, aber sie verkleinert<br />

den gestalterischen Ehrgeiz an der<br />

Spitze. Die SPD hat keine Idee gefunden,<br />

die nach vorn weist, das ist ihr Problem.<br />

Wen vertritt die Partei, wenn es immer<br />

sinnloser wird, sich für Fabrikarbeiter<br />

starkzumachen, von denen es immer<br />

weniger gibt? Was hat die SPD einem


Serie<br />

Menschen zu sagen, der keine schwere<br />

Last mehr trägt?<br />

Tine Hördum ist so ein Mensch. In ihrer<br />

Familie gibt es keine Bergarbeiter, sie<br />

fährt auch keinen Opel. Vor einem Café<br />

in Köln bindet sie ihr Fahrrad an einem<br />

Laternenpfahl fest. Sie setzt sich lachend<br />

auf einen Stuhl und steckt die Sonnenbrille<br />

ins Haar. Sie sagt, sie mag den Sommer.<br />

Tine Hördum ist 30 Jahre alt, seit<br />

2012 ist sie im Landesvorstand der SPD.<br />

Tine Hördum machte auf sich auf -<br />

merksam, weil sie die erste Frau war, die<br />

in Köln die Juso-Gruppe leitete, in der<br />

dann die Zahl der Mitglieder überraschend<br />

stark stieg. Sie wohnt in Köln-<br />

Rodenkirchen, einem sehr bürgerlichen<br />

Viertel, frei von sozialen Schäden. Zwischen<br />

Tine Hördum in Köln-Rodenkirchen<br />

und Rudi Malzahn in Bochum-<br />

Hamme gibt es keine Verbindung außer<br />

dem Parteibuch.<br />

Man müsste Tine Hördum mühevoll erklären,<br />

wie eine Kokerei funktioniert.<br />

Viele Menschen verstehen nicht sofort,<br />

was sie meint, wenn sie mit einer ihrer<br />

liebsten Abkürzungen um sich wirft:<br />

ÖPNV (Öffentlicher Personennahverkehr).<br />

Bei den Kölner Stadtwerken ist sie<br />

für Europapolitik zuständig. Europa beschäftigt<br />

sie sehr. Sie hat Fr<strong>eu</strong>nde in Italien,<br />

sie hat einen dänischen und einen<br />

68<br />

d<strong>eu</strong>tschen Pass. Oft hat sie in Brüssel zu<br />

tun. Das ist die berufliche Seite.<br />

Die sozialdemokratische Seite ist anders.<br />

Sobald sie sich für Familien in sozialen<br />

Brennpunkten einsetzt, muss sie<br />

das Viertel verlassen, in dem sie lebt. Sie<br />

muss sich für Menschen interessieren, die<br />

Schwierigkeiten haben, die Miete zu zahlen.<br />

Sie muss sich aus ihrem eigenen Leben<br />

entfernen. Sie vertieft sich in Probleme,<br />

die nicht ihre sind. Das ist ein poli -<br />

tischer Auftrag, und den nimmt sie ernst.<br />

Sie sagt, sie sei in die SPD eingetreten,<br />

weil das die Partei des sozialen Zusam-<br />

Stahlarbeiter in Duisburg<br />

menhalts sei. Sie ist bereit, bis Bochum-<br />

Hamme zu denken, auch wenn ihr Brüssel<br />

näherliegt.<br />

Eine junge Sozialdemokratin, die in<br />

<strong>eu</strong>ropäischen Kategorien denkt, fern von<br />

alten Seilschaften, das könnte ein interessanter<br />

Weg sein. Jemand wie Tine Hördum<br />

könnte Modell stehen für eine so -<br />

zialdemokratische Idee, die sich gegen<br />

ihre Beharrungskräfte durchsetzt. Aber<br />

so sind die Verhältnisse in Nordrhein-<br />

Westfalen noch lange nicht, das ist das<br />

sozialdemokratische Dilemma. Was sich<br />

nicht aus der Vergangenheit erschließt,<br />

gilt sofort als verdächtig oder als Verrat.<br />

Man sieht es an Norbert Römer, dem<br />

Fraktionschef der SPD im Landtag. Er ist<br />

Hannelore Krafts wichtigster Vertrauter,<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

VOLKER HARTMANN / DAPD<br />

66 Jahre alt. Römer war früher Chef der<br />

Bergarbeiterzeitung „Einheit“, ein knochenharter<br />

Lobbyist der Montanindustrie.<br />

Die „Einheit“ war für die SPD an der<br />

Ruhr immer das, was der „Bayernkurier“<br />

für die CSU ist, nicht bloß eine Zeitung,<br />

sondern eine Festung. Wer wie Römer<br />

der „Einheit“ vorstand, hat sich als Planierraupe<br />

bewährt. Manche seiner Genossen<br />

nennen ihn „Hannelores Kettenhund“.<br />

Das Überraschende daran ist, dass<br />

es Kraft gelungen ist, Römer an ihre Kette<br />

zu legen.<br />

Stärker denn je versucht sie, die Fraktion<br />

im Landtag geschlossen auf ihre Linie<br />

zu ziehen. Ein Abgeordneter sagt: „Kraft<br />

hat einen Plan, den kaum jemand kennt.<br />

Römer könnte ihn kennen.“ Der Plan<br />

könnte sein: Bundesvorsitzende der Partei<br />

zu werden, falls SPD-Chef Sigmar Gabriel<br />

am 22. September über eine drastische<br />

Wahlniederlage stürzen sollte. Dann würde<br />

sich die Frage nach der Ern<strong>eu</strong>erung<br />

stellen, und auf Hannelore Kraft käme<br />

die SPD sehr schnell. Bundespolitik, Berlin?<br />

Das hat sie immer dementiert.<br />

Ministerpräsidentin, so bet<strong>eu</strong>ert sie,<br />

werde sie bleiben, und ihre Absage an<br />

Berlin ist auch ein Instrument in Düsseldorf.<br />

Rebellen gibt es in ihrer Fraktion<br />

ohnehin nicht mehr, aber wenn mal ein<br />

Abgeordneter wagt, sich querzustellen,<br />

kommt hinterher Norbert Römer oder<br />

einer seiner Verbündeten und bittet den<br />

Abweichler zum Gespräch. Über die Besoldung<br />

von Beamten wurde im Juli heftig<br />

gestritten. „In der ganzen Debatte“,<br />

sagt ein Abgeordneter, „bewegte sich<br />

Kraft keinen Millimeter. Das ging schon<br />

Richtung Basta-Politik. Sie fühlt sich persönlich<br />

angegriffen, wenn zu viele L<strong>eu</strong>te<br />

nicht ihrer Meinung sind. In dieser Unerbittlichkeit<br />

ähnelt sie inzwischen Wolfgang<br />

Clement.“<br />

Es gibt niemanden in der Fraktion, der<br />

ihr gefährlich werden könnte, niemanden,<br />

der es wagt, sie herauszufordern. Des -<br />

wegen nennen einige SPD-Abgeordnete<br />

sie „Mutti“ – Angela Merkels Spitzname.<br />

Aber das ist ein heimlicher Spott, eine<br />

kleine Gemeinheit, die bloß getuschelt<br />

wird. Dass es sich niemand mit ihr verderben<br />

will, sagt etwas über Hannelore<br />

Krafts Autorität, aber es sagt noch viel<br />

mehr über die Verzagtheit in ihrer Partei.<br />

Krafts Fraktionschef Norbert Römer<br />

drückt es so aus: „Die SPD ist da am<br />

erfolgreichsten, wo sie ganz alt ist und<br />

sich auf ihre Traditionen besinnt.“ Treffender<br />

kann man das Dilemma nicht<br />

beschreiben.<br />

Im nächsten Heft: Regieren im Haifisch -<br />

becken Berlin. Dazu ein Essay über das<br />

Ostd<strong>eu</strong>tsche in Angela Merkel.


Subventionsempfänger Landwirtschaft<br />

FINANZPOLITIK<br />

Stillstand beim Subventionsabbau<br />

ANDREAS DUNKER / NRW-IMAGE.DE<br />

Die Bundesregierung ist in den vergangenen drei Jahren mit<br />

dem Abbau von Subventionen kein Stück vorangekommen.<br />

Das geht aus dem n<strong>eu</strong>en Subventionsbericht hervor, den Finanzminister<br />

Wolfgang Schäuble (CDU) in dieser Woche dem<br />

Kabinett vorlegt. Demnach werden die direkten Finanzhilfen<br />

und St<strong>eu</strong>ervergünstigungen des Bundes für Unternehmen im<br />

kommenden Jahr mit 21,8 Milliarden Euro genauso hoch sein<br />

wie schon 2011. Zwar sind die Finanzhilfen dem Bericht zufolge<br />

zeitweise um 700 Millionen Euro auf 5,5 Milliarden<br />

Euro gesunken. Die Einsparungen werden aber im nächsten<br />

Jahr wieder eingebüßt – durch zusätzliche Fördermittel im<br />

Energiebereich, insbesondere durch die „Aufstockung des<br />

CO 2 -Gebäudesanierungsprogramms“ und die „Strompreiskompensation<br />

für stromintensive Unternehmen“. Die St<strong>eu</strong>er -<br />

vergünstigungen des Bundes fallen nächstes Jahr mit 15,5<br />

Milliarden Euro nur um rund hundert Millionen Euro geringer<br />

aus als 2011. In den Vorjahren kam der Subventionsabbau<br />

d<strong>eu</strong>tlich zügiger voran. 54 Prozent der Subventionen entfallen<br />

auf die gewerbliche Wirtschaft, der Rest verteilt sich vor allem<br />

auf Verkehr, Wohnungswesen und Landwirtschaft.<br />

70<br />

ZAHL DER WOCHE<br />

10,3 Prozent<br />

mehr Erdgas als im ersten Halbjahr<br />

2012 haben die D<strong>eu</strong>tschen bis Ende<br />

Juni verbraucht. Aufgrund des lan -<br />

gen Winters haben sie länger geheizt.<br />

Kein anderer Energieträger ver -<br />

zeichnete so einen starken Zuwachs.<br />

Arbeiter an Erdgas-Pipeline<br />

STEFAN SAUER / DPA<br />

SIEMENS<br />

Cromme will bleiben<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

Cromme, Siemens-Technopark Mülheim<br />

Nach dem Rauswurf von Siemens-<br />

Chef Peter Löscher fordern Kritiker,<br />

dass auch der verantwortliche Chefaufseher<br />

Gerhard Cromme spätestens zur<br />

nächsten Hauptversammlung Ende Januar<br />

2014 abtritt. Doch der 70-Jährige<br />

stellt sich offenbar auf einen längeren<br />

Verbleib an der Spitze des Kontrollgremiums<br />

ein. Das zeigen bislang unbekannte<br />

Details zu seiner Aufsichtsratstätigkeit:<br />

Kurz nach seinem erzwungenen<br />

Ausscheiden als Chefkontroll<strong>eu</strong>r<br />

bei ThyssenKrupp Ende März bezog<br />

Cromme ein komfortables Büro in der<br />

Nähe seines Privatwohnsitzes – am<br />

Siemens-Standort in Mülheim an<br />

der Ruhr. Dort sind Teile der Energie -<br />

sparte des Konzerns untergebracht.<br />

Die n<strong>eu</strong>en Räumlichkeiten liegen im<br />

Siemens-Technopark an der Mellinghofer<br />

Straße. Betr<strong>eu</strong>t wird Cromme von<br />

seiner ehemaligen Assistentin bei<br />

ThyssenKrupp. Dabei nutzt er schon<br />

seit längerem zwei Büros samt Sekretariat<br />

und Fahrdienst an den Siemens-<br />

Verwaltungssitzen in München und<br />

Berlin. Die Gesamtkosten dafür in<br />

Höhe von mehr als 100000 Euro pro<br />

Jahr trägt Siemens. Ein Konzern -<br />

sprecher erklärt, die Rechtsabteilung<br />

und eine externe Anwaltskanzlei<br />

hätten das Vorgehen geprüft, und der<br />

Vorstand habe es gebilligt. Ähnliche<br />

Regelungen gebe es im Übrigen<br />

auch bei anderen Dax-Unternehmen.<br />

DIETER GOLLAND (R.)


Wirtschaft<br />

Bauarbeiten an der A100 in Berlin<br />

MATTHIAS BALK / DPA<br />

VERKEHR<br />

Ramsauers Schlafbaustellen<br />

Das Vorhaben klingt gut, Verbesserungen<br />

aber gibt es kaum: Bereits seit<br />

knapp zwei Jahren ruft Bundesverkehrsminister<br />

Peter Ramsauer (CSU)<br />

die Bürger auf, jene Baustellen zu<br />

melden, „auf denen kein Mensch arbeitet“.<br />

Mit Hilfe des „Baustellenmelders“<br />

auf der Internetseite seines<br />

Ministeriums will er die Zahl der Stillstandbaustellen<br />

verringern. Tatsächlich<br />

aber bringt die Einrichtung so gut<br />

wie nichts, wie aus einer Anfrage der<br />

Grünen im Bundestag hervorgeht.<br />

Danach sind zwar bis Ende Juli 3244<br />

Hinweise zu sogenannten Schlafbaustellen<br />

eingegangen. Aber nur bei 14<br />

von bundesweit rund tausend Baustellen<br />

kam es zu Bauzeitverkürzungen.<br />

Ramsauers Ministerium räumt in<br />

seiner Antwort sogar ein, bei bereits<br />

bestehenden Baustellen gar nicht eingreifen<br />

zu können. Eine nachträgliche<br />

Bauzeitverkürzung sei „rechtlich<br />

problematisch, da sie eine Änderung<br />

eines bereits abgeschlossenen Vertrags<br />

bed<strong>eu</strong>te“. Die Meldungen der Bürger<br />

würden den Ländern zugeleitet und<br />

die an den Bund zurückgemeldeten<br />

Ursachen „vertieft ausgewertet“, heißt<br />

es unklar. „Herr Ramsauer ist besonders<br />

gern dort aktiv, wo er entweder<br />

nicht zuständig ist oder wo Ankündigungen<br />

ohne Folgen bleiben“, kritisiert<br />

deshalb Valerie Wilms, Verkehrsexpertin<br />

der Grünen. „Der Baustellenmelder<br />

ist eine reine Show-Nummer.“<br />

BAYERNLB<br />

Ermittler contra Richter<br />

Die Münchner Staatsanwaltschaft gibt<br />

die Hoffnung nicht auf, dass der umstrittene<br />

Kauf der Kärntner Skandalbank<br />

HGAA durch die BayernLB doch<br />

noch vor Gericht verhandelt wird. Anlass<br />

ist ausgerechnet ein Beschluss, in<br />

dem das Landgericht München begründet,<br />

warum der Kern der Affäre im<br />

geplanten Prozess gegen acht Ex-Vorstände<br />

keine Rolle spielen soll. Die<br />

81 Seiten umfassende Abhandlung<br />

könnte aber nach Auffassung der Ermittler<br />

der Hauptverhandlung in un -<br />

zulässiger Weise vorgreifen. Die<br />

Staatsanwaltschaft wirft Ex-BayernLB-<br />

Chef Werner Schmidt und seinen früheren<br />

Kollegen vor, sie hätten beim<br />

Erwerb der HGAA gut eine halbe Milliarde<br />

Euro zu viel bezahlt und so das<br />

Vermögen der Bank geschädigt. Das<br />

Landgericht argumentiert hingegen,<br />

die Ex-Vorstände hätten ihren Er -<br />

messensspielraum nicht überschritten.<br />

In ihrem Beschluss bieten die Juristen<br />

allerdings selbst Ansatzpunkte für<br />

Kritik. So beschäftigen sie sich etwa<br />

mit Personen, die in der Anklageschrift<br />

gar nicht auftauchen. Ob die An klage<br />

doch noch im vollen Umfang zur<br />

Hauptverhandlung zugelassen wird,<br />

entscheidet nun das Oberlandesgericht.<br />

Schmidt<br />

GUIDO KRZIKOWSKI / REUTERS<br />

DER SPIEGEL 33/2013 71


Internetunternehmer Bezos<br />

INTERNET<br />

Bezos’ n<strong>eu</strong>e Bühne<br />

Die Mächtigen des Silicon Valley wollen nicht länger bloß für technische Revolutionen<br />

stehen. Sie suchen die intellektuelle Debatte und den politischen Einfluss.<br />

Das zeigt auch der Kauf der „Washington Post“ durch den Amazon-Gründer.<br />

MACKENZIE STROH / CONTOUR BY GETTY IMAGES


Es ist Tag eins nach dem Verkauf der<br />

„Washington Post“ an den Internetunternehmer<br />

Jeff Bezos, und die<br />

Zeitungen schlagen bereits den Ton von<br />

Geschichtsbüchern an. „Zäsur“, „Zeitenwende“,<br />

„Ära“. Bezos wird als „Retter<br />

aus dem Internet“ bejubelt, der nicht nur<br />

an die „Washington Post“ glaube, sondern<br />

an die Zukunft der Zeitung ganz allgemein.<br />

In Washington sichern sich die „Post“-<br />

Mitarbeiter rasch noch ein persönliches<br />

Exemplar ihres Blattes mit der Titelzeile<br />

„Grahams to sell the ,Post‘“, das jetzt<br />

schon als historisch gilt. Morgens um<br />

n<strong>eu</strong>n Uhr sind die Zeitungskörbe im Verlagsgebäude<br />

– sonst den ganzen Vormittag<br />

über gutgefüllt – bereits leergeräumt.<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong>s Journalisten sind ähnlich<br />

aufgeschreckt wie ihre US-Kollegen. Immerhin<br />

ist es erst zwei Wochen her, dass<br />

Springer sich von einem Schwung international<br />

eher unbed<strong>eu</strong>tender Blätter für<br />

eine knappe Milliarde Euro trennte. Und<br />

nun geht ein Weltsymbol für investigativen<br />

Journalismus für den lächerlichen<br />

Preis von 250 Millionen Dollar (etwa 190<br />

Millionen Euro) weg. An ein Weltsymbol<br />

für das Revolutionieren oder – je nach<br />

Perspektive – Zerstören einer anderen<br />

Printbranche, des Buchmarkts.<br />

An Tag vier nach dem Deal ist die Debatte<br />

noch keinen Millimeter weiter. Journalisten<br />

und Zeitungen machen das, was<br />

sie am besten können: Sie kreisen um<br />

sich selbst. Kaum einer stellt die naheliegende<br />

Frage: Was hat Bezos von dem<br />

Deal?<br />

Seit einiger Zeit ist eine d<strong>eu</strong>tliche<br />

Tendenz zu beobachten: Die führenden<br />

Köpfe des Silicon Valley, schwerreich, erfolgsverwöhnt<br />

und ökonomisch mit die<br />

mächtigsten US-Manager, sind zunehmend<br />

bemüht, ihren wirtschaftlichen und<br />

kulturellen Einfluss auf die politische<br />

Bühne zu übertragen.<br />

Bislang war das Motto der Weltveränderer<br />

im Silicon Valley: Wozu sich<br />

einmischen in Washington, wo es nur<br />

die Mittelmäßigen hinverschlägt, die<br />

nicht wirklich etwas bewegen?<br />

Aber zunehmend haben einige der<br />

führenden Köpfe durchblicken lassen,<br />

dass sie anders denken. Sie merken, dass<br />

die von ihnen gest<strong>eu</strong>erte digitale Revolution<br />

tatsächlich die Welt verändert. Dass<br />

sie ihren Glauben an die Berechenbarkeit<br />

von allem und jedem, ihre Philosophie<br />

der totalen Transparenz in Realität umsetzen<br />

können – dass sie dafür aber politischen<br />

Einfluss benötigen.<br />

Es sind die großen Namen der Branche,<br />

die mit einem Mal Gefallen am politischen<br />

Geschäft und politischer Debatte<br />

finden: Facebook-Gründer Mark Zuckerberg<br />

und seine Vertraute Sheryl Sandberg,<br />

Yahoo-Chefin Marissa Mayer, Google-<br />

Mann Eric Schmidt – also die geballte<br />

ökonomische und technologische Kraft<br />

8,5 Mrd. $ 1,65<br />

2011<br />

30<br />

Mio. $<br />

2013<br />

250<br />

Mio. $<br />

2013<br />

Wirtschaft<br />

dessen, wofür das Silicon Valley symbolhaft<br />

steht.<br />

Auch Bezos ist so ein Typ. Auch wenn<br />

er 1300 Kilometer abseits des Valley residiert.<br />

Einer mit einer unternehmerischen<br />

Vision, die längst nicht mehr bloß unternehmerisch<br />

ist. Seine Idee von der absoluten<br />

Verfügbarkeit aller Waren zu jeder<br />

Zeit an jedem Ort, der er alles unterordnet,<br />

ist in Wahrheit ein politisches Projekt.<br />

Es ist das Projekt eines Kommerzes<br />

ohne Einschränkung.<br />

Bezos arbeitet unermüdlich an seinem<br />

Reich. Er ist ja längst nicht mehr nur der<br />

Herrscher des weltweiten Online-Handels,<br />

sondern ist beteiligt an Weltraumprojekten,<br />

an der Erforschung des Quantencomputers<br />

und Dutzenden anderen Innova -<br />

tions-Dingen. Zudem kommt Amazon das<br />

politische Tagesgeschäft immer häufiger<br />

in die Quere. Hier werden Mehrwert -<br />

st<strong>eu</strong>erprivilegien in Frage gestellt, dort<br />

wird das Preismodell für E-Books kritisiert.<br />

„Die Ironie ist, dass viele von uns in<br />

Studententagen politisch aktiv waren“,<br />

sagt Kevin Hartz. Er weiß genau, was das<br />

Silicon Valley bewegt. Wenige sind an so<br />

vielen Erfolgsgeschichten der vergangenen<br />

Jahre beteiligt wie er. Seitdem Hartz<br />

bereits Ende der n<strong>eu</strong>nziger Jahre sein erstes<br />

IT-Unternehmen verkaufte, hat er immer<br />

wieder früh in Start-ups investiert,<br />

die auch dank seiner Hilfe zu globalen<br />

Größen aufstiegen: PayPal, Airbnb (siehe<br />

Seite 80), Pinterest – unter anderem.<br />

Die Politik sei lange als „aufgeblasener,<br />

bürokratischer Prozess“ wahrgenommen<br />

Billiges Papier<br />

Kaufpreise von Internetunternehmen<br />

verglichen<br />

mit der „Washington Post“<br />

315<br />

Mio. $<br />

2010<br />

580<br />

Mio. $<br />

2005<br />

Mrd. $<br />

2006<br />

715<br />

Mio. $<br />

2012<br />

worden, sagt Hartz. Als Technologie -<br />

unternehmer lasse sich mehr bewegen,<br />

fänden die klugen Köpfe im Silicon Valley.<br />

„Jetzt aber wird realisiert, dass wir<br />

mehr Einfluss nehmen müssen in Washington.<br />

Wir verstehen nur die dortigen<br />

Mechanismen noch nicht genau, das lernen<br />

wir gerade.“<br />

Doch es sei klar: Ähnlich wie man hier<br />

ständig auf der Suche nach technischen<br />

N<strong>eu</strong>erungen sei, müsse nun ein innovativer<br />

Ansatz für den Umgang mit Politik<br />

und Regierung gefunden werden. Der<br />

Kauf einer einflussreichen Zeitung mitsamt<br />

ihrem Renommee ist so ein Ansatz,<br />

zwar kein wirklich innovativer, aber ein<br />

relativ billiger. Die Preise von Zeitungen<br />

sind rasant gefallen. 2007 war dem Milliardär<br />

Sam Zell die Tribune-Gruppe, zu<br />

der die „Chicago Tribune“ und die „Los<br />

Angeles Times“ gehören, noch sagenhafte<br />

8,2 Milliarden Dollar wert. Und in<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> wurden im gleichen Jahr für<br />

die „Braunschweiger Zeitung“ noch 210<br />

Millionen Euro aufgerufen, d<strong>eu</strong>tlich mehr,<br />

als die „Post“ jetzt wert sein soll.<br />

Doch die Branche redet sich weiter<br />

Mut zu, hofft auf Retter Bezos und merkt<br />

kaum, dass der Verkauf einer ihrer Ikonen<br />

in der anderen Branche, von der sie<br />

aufgesogen wird, lediglich noch eine<br />

Randnotiz ist. Kann sein, dass Bezos die<br />

Zeitung rettet, aber das ist bloß ein Nebeneffekt.<br />

Bei der „Post“ beantwortete Chefredakt<strong>eu</strong>r<br />

Martin Baron in der vergangenen<br />

Woche Fragen aus seiner Belegschaft. Er<br />

erwarte „n<strong>eu</strong>e große Ideen“ von Bezos,<br />

sagte er. „Er investiert in uns, weil er eine<br />

große unternehmerische Gelegenheit<br />

sieht.“ Gesprochen mit dem n<strong>eu</strong>en Eigentümer<br />

hatte er da noch nicht, aber er gab<br />

sich notorisch optimistisch. Bezos habe<br />

„nicht nur den Buchmarkt, sondern<br />

auch den gesamten Einzelhandel umgekrempelt“,<br />

so Baron. „Das war revolutionär.“<br />

Ein solcher Unternehmer<br />

kaufe sich für 250 Millionen<br />

Dollar nicht einfach nur ein<br />

Spielz<strong>eu</strong>g.<br />

Vielleicht kein Spielz<strong>eu</strong>g.<br />

1,1<br />

Mrd. $<br />

2013<br />

1,0<br />

Mrd. $<br />

2013<br />

Aber ein Werkz<strong>eu</strong>g? Der<br />

Amazon-Gründer wäre ja<br />

nicht der erste Protagonist<br />

der Digitalbranche, der sich<br />

nicht mehr damit zufriedengeben<br />

will, die digitale Revolution<br />

bloß ökonomisch<br />

und gesellschaftlich voranzutreiben.<br />

Es ist nach der<br />

technologischen auch die intellektuelle<br />

Umwälzung, die im<br />

Silicon Valley jetzt alle anzustreben<br />

scheinen. Und das ironischerweise am<br />

liebsten immer noch mit den alten Mitteln<br />

der politischen Debatte – bedrucktem<br />

Papier.<br />

Im Frühjahr veröffentlichte Google-<br />

Chairman Eric Schmidt gemeinsam mit<br />

DER SPIEGEL 33/2013 73


Zuckerberg (r., mit Präsident Obama)<br />

Mayer<br />

Google-Mann Jared Cohen das Buch<br />

„The New Digital Age“, das ja vor allem<br />

eine politische Reflexion der Zukunftsagenda<br />

von Google ist. Und Facebook-<br />

Chefin Sheryl Sandberg mischte sich<br />

ebenfalls per Buch in Frauenpolitik und<br />

Arbeitswelt ein. Vor allem Schmidts<br />

Werk ist eine aufschlussreiche Lektüre.<br />

Da wird d<strong>eu</strong>tlich, warum die Einmischung<br />

in die Politik für die Digitalelite<br />

so essentiell ist: Die Veränderungen, die<br />

Schmidt für die nächsten Jahre annimmt,<br />

werden nicht bloß die Ökonomie verändern<br />

– sie werden die Frage von Grundrechten<br />

noch einmal ganz n<strong>eu</strong> stellen,<br />

weil es immer weniger um Maschinen<br />

und immer mehr um das Zusammenwachsen<br />

von Mensch und Maschine gehen<br />

wird.<br />

Dazu kommt ein n<strong>eu</strong>er Gestaltungsdrang.<br />

Eine ganze Phalanx der führenden<br />

Köpfe des Silicon Valley, allen voran Face -<br />

book-Gründer Zuckerberg und Yahoo-<br />

Chefin Mayer, hat sich vor wenigen Monaten<br />

zu einer Lobby-Organisation namens<br />

FWD.us zusammengefunden. Das<br />

offizielle Ziel: eine n<strong>eu</strong>e Einwanderungspolitik<br />

sowie bessere Schul- und Uni-Ausbildung.<br />

Doch das Ganze ist zugleich<br />

auch ein Versuchslabor, wie sich politischer<br />

Einfluss organisieren lässt.<br />

Zuckerberg nutzte dabei originellerweise<br />

die „Washington Post“, um für seine<br />

Position zu werben. „Wir haben eine seltsame<br />

Einwanderungspolitik für eine Nation<br />

von Einwanderern“, schrieb er. Es<br />

74<br />

Sandberg<br />

Silicon-Valley-Manager: N<strong>eu</strong>e Debattenlust der Online-Ikonen<br />

REUTERS<br />

MARIO TAMA / AFP<br />

Schmidt (3. v. r., in Nordkorea)<br />

könne nicht angehen, dass man viele der<br />

ausländischen Studenten wieder aus dem<br />

Land schmeiße, nachdem man sie erst<br />

zum Studieren in die USA geholt habe.<br />

Die n<strong>eu</strong>e Debattenlust der Online-Ikonen<br />

ist erfolgreich. Zuckerbergs Engagement<br />

hat in kurzer Zeit zu einem Entwurf<br />

für eine Einwanderungsreform geführt.<br />

Was die Tech-Protagonisten nun darin bestärkt,<br />

sich endlich eine umfassendere offizielle<br />

Agenda zu schaffen.<br />

Was da gerade geschieht, ist ein fundamentaler<br />

Wandel gegenüber früheren Generationen<br />

der Internetwirtschaft, die<br />

von Männern wie Steve Jobs und Bill<br />

Gates geprägt wurden. Lange haben sich<br />

die meisten Führungsfiguren des Silicon<br />

Valley konsequent von der politischen<br />

Bühne ferngehalten. Noch vor einem Jahr<br />

sagte ein Apple-Top-Manager, es sei die<br />

Pflicht seines Konzerns, die besten Produkte<br />

möglich zu machen, aber nicht,<br />

Amerikas Probleme zu lösen. Doch diese<br />

Zurückhaltung ist vorbei.<br />

Für die Machtzentralen der Welt, sei<br />

es Washington oder Brüssel, haben große<br />

Teile der Tech-Elite zwar weiter bloß eine<br />

Mischung aus Desinteresse und Verachtung<br />

übrig. Auf Partys und in kleinem<br />

Kreis wird gern gelästert, wie langsam<br />

und ineffizient die politische Welt sei, gest<strong>eu</strong>ert<br />

von ahnungslosen Bürokraten. Inkompetenz<br />

ist ein Wort, das in solchen<br />

Gesprächen häufig fällt.<br />

Doch jetzt zeigen sie n<strong>eu</strong>en Ehrgeiz:<br />

der lahmen Politik-Welt zu zeigen, dass<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

ULLSTEIN BILD<br />

DAVID GUTTENFELDER / AP<br />

auch sie sich auf das Silicon-Valley-Tempo<br />

der Veränderung einstellen muss.<br />

Unpolitisch war die digitale Elite nie,<br />

sie hat sich nur nicht politisch betätigt.<br />

Im Gegenteil, sie ist zutiefst ideologisch.<br />

Ihre Wurzeln liegen in der Gegenkultur<br />

der sechziger Jahre in San Francisco. Bis<br />

h<strong>eu</strong>te ist die gesamte Tech-Szene geprägt<br />

von utopistischen Phantasien und durchzogen<br />

von ultraindividualistischen, libertaristischen<br />

Denkern – allen voran Peter<br />

Thiel, Facebook-Investor der ersten Stunde<br />

und einer der einflussreichsten Gestalten<br />

im Silicon Valley. Er diskutiert auch<br />

gern öffentlich mit Google-Mann Schmidt,<br />

wie sie die Welt verändern, verbessern,<br />

ja aus ihrer Sicht beglücken wollen.<br />

Die Internet-Techis waren nie bloß die<br />

Adepten eines Geschäftsmodells, sondern<br />

stets auch der esoterische Zirkel von Zukunftsgläubigen,<br />

die Computertechnologie<br />

als Spitze des menschlichen Fortschritts<br />

sahen. Als Fortsetzung der Evolution<br />

mit anderen Mitteln.<br />

Doch allmählich merken sie, dass sich<br />

ihre Sicht auf die Welt dauerhaft nur<br />

durchsetzen kann, wenn sich ihre Ansichten<br />

auch in der intellektuellen und politischen<br />

Diskussion bewähren. Aus der technologischen<br />

Mission der Zuckerbergs und<br />

Bezos’ und Schmidts wird immer mehr<br />

eine weltanschauliche – mit einem Hang<br />

ins Technologisch-Totalitäre.<br />

Bei Facebook ist es Konzernglaube, das<br />

soziale Netzwerk bringe die Menschheit<br />

näher zusammen und löse dadurch schon<br />

allerhand Probleme. Bei Google schwören<br />

nicht wenige, dass Technologie an<br />

sich „gut“ sei und stets das Potential besitze,<br />

die Menschheit weiter voranzubringen.<br />

Diese Haltung herrscht fast überall<br />

im Valley, frei nach dem Motto: Für jedes<br />

Problem gibt es die passende App.<br />

Nach dieser Denkweise ist es nur konsequent,<br />

dass jemand wie Jeff Bezos die<br />

„Washington Post“ kauft: als VIP-Eintrittskarte<br />

in die konservative Polit-Szene von<br />

Washington.<br />

Lange haben sich die Macher im Valley<br />

weitgehend darum gedrückt, aktiver Teil<br />

der öffentlichen Diskussion zu sein, der<br />

schon längst über die Folgen ihrer Arbeit<br />

geführt wird: Was ist noch privat in der<br />

digitalen Welt? Welche Bildungspolitik<br />

brauchen wir? Was sind die Folgen für<br />

den Arbeitsmarkt in einer zunehmend<br />

technologisierten Umgebung? Wie sichert<br />

man die Rechte von Menschen, wenn Maschinen<br />

immer mehr Macht bekommen?<br />

Wenn sich jetzt Bezos und das Silicon<br />

Valley stärker politisch engagieren, wird<br />

erstens spürbar, dass es tatsächlich um<br />

politische Fragen geht. Zweitens, dass<br />

Politik und Staat bisher kaum Antworten<br />

haben. Und drittens wird es zumindest<br />

für Bezos kaum noch zu verhindern sein,<br />

dass er als Person in den Mittelpunkt der<br />

Debatte gerät.<br />

MARKUS BRAUCK,<br />

JAN FRIEDMANN, THOMAS SCHULZ


Wirtschaft<br />

VERMÖGEN<br />

„Der Gewinner kriegt alles“<br />

Die kanadische Journalistin Chrystia Freeland gibt<br />

Einblicke in die Welt der Superreichen: Sie bleiben am liebsten<br />

unter sich und fühlen sich vom Staat schikaniert.<br />

Freeland, 45, war für verschiedene Medien<br />

tätig, unter anderem als leitende<br />

Redakt<strong>eu</strong>rin der „Financial Times“. Ihr<br />

Buch über die n<strong>eu</strong>e globale Geld-Elite erscheint<br />

jetzt in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong>*.<br />

SPIEGEL: Frau Freeland, Unternehmer<br />

wie der spanische Zara-Gründer Ar -<br />

mancio Ortega oder Ikea-Mogul Ingvar<br />

Kamprad häufen unvorstellbare Ver -<br />

mögen an, frühere Unternehmer brauchten<br />

dafür Generationen. Wie ist das<br />

möglich?<br />

Freeland: Wir leben in einer Superstar-<br />

Wirtschaft. Es gilt das Prinzip: „The winner<br />

takes it all“ – der Gewinner kriegt<br />

alles. Technologie und Globalisierung ermöglichen<br />

es ihm, seine Erträge zu vervielfachen.<br />

Zara ist dafür ein gutes Beispiel.<br />

Ortega verteilt n<strong>eu</strong>e Mode massenhaft<br />

in alle Welt, im Wochentakt. Er wäre<br />

wahrscheinlich auch früher ein erfolgreicher<br />

Unternehmer gewesen – mit vier<br />

oder fünf Läden in einer Stadt. So aber<br />

wurde er zum Multimilliardär.<br />

* Chrystia Freeland: „Die Superreichen. Aufstieg und<br />

Herrschaft einer n<strong>eu</strong>en globalen Geldelite“. Westend<br />

Verlag, Frankfurt am Main; 368 Seiten; 22,99 Euro.<br />

SPIEGEL: Ortega begann angeblich als Aushilfskraft<br />

in einer Hemdenschneiderei.<br />

Kann jeder superreich werden, wenn er<br />

eine gute Idee hat und 100 Stunden die<br />

Woche arbeitet?<br />

Freeland: Viele Superreiche stammen<br />

selbst nicht aus reichen Familien, das ist<br />

anders als früher. Aber sie kommen in<br />

der Regel auch nicht aus Slums. Viele<br />

stammen aus der Mittelschicht, sind sehr<br />

jung und haben eine sehr gute Ausbildung<br />

…<br />

SPIEGEL: … und fast alle sind Männer. War -<br />

um eigentlich?<br />

Freeland: Die Welt an der Spitze des Reichtums<br />

ist tatsächlich sehr patriarchalisch<br />

strukturiert. Die Ehefrauen arbeiten selten.<br />

Warum, ist ein Mysterium.<br />

SPIEGEL: Scheint eine sehr eigene Welt zu<br />

sein.<br />

Freeland: Absolut. Superreiche leben in<br />

einer globalen Gemeinschaft, gehen zu<br />

den gleichen Konferenzen, reisen in die<br />

gleichen Hotels und in die gleichen<br />

Städte. Ein Private-Equity-Unternehmer<br />

sagte mir, er habe mehr gemeinsam mit<br />

jemandem, der eine große afrikanische<br />

Bank leitet, als mit jemandem aus seiner<br />

Heimatstadt.<br />

SPIEGEL: Diese globale Elite nimmt Einfluss<br />

auf die Politik, auch in den USA.<br />

Superreiche bezahlen die Wahlkämpfe<br />

der Präsidentschaftskandidaten, sie gründen<br />

gigantische Denkfabriken und kaufen<br />

nun auch noch Zeitungen. Kann man so<br />

etwas noch Demokratie nennen?<br />

Freeland: Natürlich, was ist die Alternative?<br />

Eine Diktatur sind die USA sicherlich<br />

nicht.<br />

SPIEGEL: Eine Oligarchie?<br />

Freeland: Noch nicht. Aber das viele Geld<br />

in der Politik ist ein Problem. Und es gibt<br />

noch ein subtileres Thema: Die Superreichen<br />

leben weit entfernt von dem Rest<br />

der Bevölkerung, aber Journalisten und<br />

Politiker haben Zugang zu dieser Welt.<br />

Dadurch denken alle irgendwann ähnlich.<br />

Sie erkennen dann vielleicht, dass die<br />

Wirtschaft gestört ist, aber sie sehen das<br />

aus der Perspektive der L<strong>eu</strong>te, die an der<br />

Spitze stehen …<br />

SPIEGEL: … die oft ziemlich erstaunlich ist.<br />

Als US-Präsident Obama 2010 die Reichen<br />

über höhere St<strong>eu</strong>ern stärker an der<br />

Bekämpfung der Finanzkrise beteiligen<br />

wollte, verglich das der Gründer der Private-Equity-Firma<br />

Blackstone, Stephen<br />

Schwarzman, mit Hitlers Einmarsch in<br />

Polen.<br />

Freeland: Dieses Sichtweise, vom Staat<br />

schikaniert zu werden, fand ich am erstaunlichsten.<br />

Ein Hedgefonds-Manager<br />

hatte zur gleichen Zeit eine E-Mail geschrieben<br />

mit der Betreffzeile: Geprügelte<br />

Ehefrau. So fühlte er sich durch die Regierung<br />

behandelt. Ein anderer Investor<br />

verglich die Behandlung mit der Verfolgung<br />

von ethnischen Minderheiten.<br />

SPIEGEL: Viele russische Oligarchen pflegen<br />

engste Verbindungen zum Staat. Die<br />

Familie des früheren chinesischen Pre-<br />

Die Reichsten der Welt Vermögen, in Milliarden Dollar<br />

1. Carlos Slim Helú<br />

Unternehmer<br />

(Telekommunikation)<br />

MEXIKO ........................73<br />

Milliardäre 2013<br />

1426<br />

Veränderung<br />

gegenüber 2012<br />

+16%<br />

2. Bill Gates<br />

Microsoft -Gründer<br />

USA............................67<br />

3. Amancio Ortega<br />

Textilunternehmer (Zara)<br />

SPANIEN .......................57<br />

Gesamtvermögen<br />

5,4 Billionen Dollar<br />

+17%<br />

Länder mit den meisten Milliardären<br />

ACTION PRESS, WIREIMAGE, CORBIS, DPA<br />

4. Warren Buffett<br />

Investor<br />

USA............................54<br />

5. Larry Ellison<br />

Gründer des Software-<br />

Konzerns Oracle<br />

USA ...........................43<br />

USA 442<br />

China 122<br />

Russland 110<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> 58<br />

Indien 55<br />

Brasilien 46<br />

Türkei 43<br />

Hongkong 39<br />

Großbritannien 38<br />

Taiwan 26<br />

Quelle: Forbes, 2013<br />

Autorin Freeland<br />

JO-ANNE MCARTHUR / DER SPIEGEL<br />

DER SPIEGEL 33/2013 75


miers Wen Jiabao soll Milliarden Dollar<br />

besitzen. Selbst US-Präsident Obama<br />

bringt es auf ein Vermögen von mehreren<br />

Millionen Dollar. Werden die größten<br />

Länder der Erde nicht längst von Reichen<br />

geführt?<br />

Freeland: Es ist ein großer Unterschied, ob<br />

man einige Millionen Dollar besitzt oder<br />

Milliardär ist. Aber tatsächlich beziehen<br />

die USA ihre politischen Führungskräfte<br />

und ihre Unternehmensführer aus dem<br />

gleichen Pool von L<strong>eu</strong>ten. Obama war<br />

Herausgeber des „Harvard Law Review“.<br />

Er hätte eine sehr erfolgreiche Karriere<br />

in der Wirtschaft machen können, bei der<br />

er leicht mehrere Millionen Dollar im<br />

Jahr verdient hätte.<br />

SPIEGEL: Viele Politiker verschieben das<br />

Geldscheffeln auf die Zeit nach ihrer<br />

Amtszeit.<br />

Freeland: Es sorgt immer für Ärger, wenn<br />

Politiker nach ihrem Amtsende im Bankensektor<br />

oder mit Vorträgen und Büchern<br />

viel Geld verdienen. Aber was erwarten<br />

wir von ihnen? Sie sehen andere<br />

Menschen aus ihren Kreisen, die so viel<br />

mehr Geld machen. Ich halte es für einen<br />

Fehler, dass die L<strong>eu</strong>te im öffentlichen Sektor<br />

so schlecht angesehen sind und so<br />

schlecht bezahlt werden.<br />

SPIEGEL: Ist die Demokratie in Gefahr?<br />

Freeland: Die Kluft zwischen den Allerreichsten<br />

und dem Rest wird immer tiefer.<br />

Ich frage mich schon, ob eine Massen -<br />

demokratie so wirklich bestehen kann.<br />

Außerdem: Wenn sich der Reichtum immer<br />

mehr an der Spitze konzentriert, inwieweit<br />

kann ein Staat ihn dann noch so<br />

regulieren, wie es für eine funktionierende<br />

Wirtschaft unabdingbar ist?<br />

SPIEGEL: Dennoch liest sich Ihr Buch an<br />

vielen Stellen wie ein flammendes Plädoyer<br />

für eben jenen Kapitalismus, den<br />

diese L<strong>eu</strong>te vertreten.<br />

Freeland: Ich finde den Kapitalismus trotz<br />

allem großartig. Er ist definitiv das beste<br />

Wirtschaftssystem, um Wohlstand zu<br />

schaffen. Wir brauchen Menschen, die<br />

Amazon erfinden, Banken führen, Risiken<br />

eingehen. Es geht nicht darum, den<br />

Kapitalismus zu verdammen oder zu sagen:<br />

Die Superreichen sind schlechte<br />

Menschen. Schließlich hätte jedes Land<br />

gern ein Silicon Valley. Aber wir müssen<br />

dafür sorgen, dass die Gewinne nicht nur<br />

den L<strong>eu</strong>ten an der Spitze zugutekommen.<br />

SPIEGEL: Sie plädieren für strengere Regeln<br />

– und gleichzeitig kandidieren Sie<br />

in Ihrem Heimatland Kanada jetzt für<br />

eine liberale Partei für einen Parlamentssitz.<br />

Wie passt das zusammen?<br />

Freeland: Ich bin nicht reflexhaft für mehr<br />

oder für weniger Regeln, sondern für einen<br />

klugen Staat. Wenn die kapitalistische<br />

Demokratie der breiten Mehrheit ökonomisch<br />

nichts bringt, wird diese Mehrheit<br />

entweder den Kapitalismus aufgeben –<br />

oder die Kapitalisten werden die Demokratie<br />

aufgeben. INTERVIEW: ANNE SEITH<br />

76<br />

MICHAEL URBAN / DAPD<br />

Katjes-Produktion in Potsdam<br />

GELDANLAGE<br />

Aus purer Verzweiflung<br />

Mittelständler borgen sich zunehmend Geld<br />

von Privatl<strong>eu</strong>ten. Die lassen sich von den hohen Zinsen<br />

blenden – und übersehen oft die Risiken.<br />

Seine Internetwelten sind voller<br />

Aliens, Wikinger und sportlicher<br />

Herausforderungen. Remco Westermann,<br />

Chef des Online-Spiele-Vermarkters<br />

Gamigo, will in diesen Welten künftig<br />

Gewinne machen, vor allem mit dem Verkauf<br />

von virtuellen Schwertern und Golfschlägern.<br />

Der Verkauf solcher „items“<br />

sei seine „Haupteinnahmequelle“, sagt er.<br />

In den vergangenen Jahren hatte die<br />

Firma damit allerdings wenig Erfolg, der<br />

erste Überschuss nach zwei verlustreichen<br />

Jahren kam zuletzt vor allem deshalb zustande,<br />

weil einstige Gesellschafter der<br />

Firma auf die Rückzahlung von Millionendarlehen<br />

verzichteten. „Das ist kein gutes<br />

Zeichen“, sagt Heinz Steffen vom unabhängigen<br />

Analysehaus Faire search.<br />

Trotzdem sammelte Gamigo bei Anlegern<br />

kürzlich zwölf Millionen Euro frisches<br />

Geld für die Zukunft ein – über die<br />

Ausgabe einer Mittelstandsanleihe. Eine<br />

ähnlich wundersame Geldbeschaffung gelang<br />

dem Küchenhersteller Alno, der vergangenes<br />

Jahr noch kurz vor dem Bankrott<br />

stand. Er kam mit Hilfe solcher Schuldscheine<br />

im Frühjahr zu 45 Millionen Euro.<br />

Es waren nur zwei von einem Dutzend<br />

Emissionen allein im Jahr 2013 – der<br />

Markt für Mittelstandsanleihen ist zum<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

Milliardengeschäft geworden. Ausgelöst<br />

wurde der Boom durch die Börse Stuttgart,<br />

die vor drei Jahren das erste Handelssegment<br />

für die Papiere einrichtete.<br />

Vor allem Privatanleger greifen zu, als<br />

hätte es die Finanzkrise nie gegeben,<br />

wenn Unternehmen wie Gamigo, der<br />

Safthersteller Valensina oder das Kr<strong>eu</strong>zfahrtschiff<br />

MS „<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong>“ – bekannt<br />

aus der Serie „Das Traumschiff“ – ihre<br />

Schuldscheine feilbieten.<br />

Die Wiener Feinbäckerei Heberer sammelte<br />

sogar unabhängig von den Börsen<br />

8,5 Millionen Euro bei Kunden ein, sie<br />

druckte die Anzeigen für ihre Firmenanleihe<br />

schlicht auf die eigenen Brötchentüten.<br />

Hohes Risiko wird mit hohen Zinsen<br />

bezahlt, scheint der Deal bei solchen Geschäften<br />

zu lauten. 7,5 Prozent bieten die<br />

Firmen an – im Schnitt. Gamigo will seinen<br />

Anlegern sogar 8,5 Prozent zahlen.<br />

„Eigentlich wäre das eine gute Sache“,<br />

sagt Wirtschaftsprofessor Olaf Schlotmann<br />

über die n<strong>eu</strong>e Form der Unternehmensfinanzierung.<br />

„Wenn die Spielregeln<br />

fair wären.“<br />

Doch das sind sie nicht. Trotz der hohen<br />

Zinsen machen Anleger mit Mittelstandsanleihen<br />

oft ein ziemlich schlechtes Geschäft.<br />

Den Emittenten der Papiere geht es


Wirtschaft<br />

häufig sehr viel schlechter, als ihre Firmendaten<br />

glauben machen, und wenn sie wirklich<br />

pleitegehen, gehören Anleiheinvestoren<br />

zu den letzten in der langen Schlange<br />

von Gläubigern, die entschädigt werden.<br />

Gerade deshalb, mutmaßen Experten,<br />

werben viele Firmen gezielt um Privatanleger<br />

oder halbprofessionelle Vermögensverwalter<br />

als Käufergruppen. „Die sind<br />

leichter auszutricksen als Profis“, sagt der<br />

Geschäftsführer der Unternehmensberatung<br />

Capmarcon, Hans-Werner Grunow.<br />

Er hat gemeinsam mit Ökonom Schlotmann<br />

eine Studie zum Thema erstellt, die<br />

Ergebnisse sind erschütternd. Viele Firmen<br />

geben Mittelstandsanleihen demnach<br />

offenbar aus purer Verzweiflung heraus –<br />

weil sie keine normalen Kredite mehr bekommen.<br />

Das frische Geld fließt oft nicht<br />

in n<strong>eu</strong>e Investitionen, sondern in die Ablösung<br />

alter Verbindlichkeiten.<br />

Hauptprofit<strong>eu</strong>re des jungen Marktes<br />

sind deshalb weniger die Emittenten der<br />

Papiere als die Banken: Die Geldhäuser<br />

können sich ihrer Problemkredite ent -<br />

ledigen und kassieren dazu noch Provisionen.<br />

Denn auch ein Mittelständler braucht<br />

beim Gang an den Kapitalmarkt Hilfe von<br />

Profis. 150 Millionen Euro haben d<strong>eu</strong>tsche<br />

Finanzdienstleister so in den letzten Jahren<br />

verdient, schätzt Schlotmann.<br />

Auch beim Verkauf der Papiere an Anleger<br />

mischen die Geldhäuser mit. „Viele<br />

Banken bieten ihren Kunden sogar Anleihen<br />

von Firmen an, denen sie selber<br />

keinen Kredit mehr geben“, empört sich<br />

Anlegeranwalt Klaus Nieding.<br />

Umfragen zufolge kaufen zwar vor allem<br />

Anleger, die sich selbst als erfahren einstufen,<br />

Mittelstandsanleihen. Oft fallen sie<br />

aber auf das solide Rating herein, das etliche<br />

Mittelständler vorweisen können. Viele<br />

Firmen haben Noten im sogenannten Investmentgrade-Bereich,<br />

eine Empfehlung<br />

für eher sicherheitsbewusste Anleger also.<br />

Der Grund für die guten Z<strong>eu</strong>gnisse:<br />

Die Kriterien, nach denen die Rating-<br />

Agenturen Mittelständler b<strong>eu</strong>rteilen, sind<br />

oft laxer als bei Großkonzernen. Das tatsächliche<br />

Ausfallrisiko werde so häufig<br />

„fast zur Unkenntlichkeit“ verschleiert,<br />

so die Experten Grunow und Schlotmann.<br />

Die Anleihe des Düsseldorfer Immo -<br />

bilienunternehmens WGF galt sogar als<br />

„mündelsicher“. Mit diesem Label jedenfalls<br />

bot der Online-Broker-Dienst der<br />

Sparkassengruppe dem Rentner Wolfgang<br />

Leicht die Papiere an. „Die Erfolgsstory<br />

geht weiter“, stand im Betreff.<br />

Leicht, der früher Biochemiker war, lässt<br />

sich eigentlich in Gelddingen nicht so leicht<br />

einlullen. „Finanzen haben mich immer interessiert“,<br />

sagt er. Sogar eine Schulung<br />

zum Finanzcoach hat der Pensionär einmal<br />

gemacht. Doch die Zusicherung eines<br />

kr<strong>eu</strong>zsoliden Sparkassenunternehmens,<br />

„Die meisten Unternehmen<br />

haben Probleme mit<br />

dem Geschäftsmodell oder<br />

kämpfen um die Existenz.“<br />

dass die WGF-Papiere quasi vor Wertverlust<br />

geschützt seien, gaben den Ausschlag:<br />

Leicht investierte 20000 Euro – nun ist ein<br />

großer Teil des Geldes wohl weg. Denn<br />

WGF operiert mittlerweile am Rande der<br />

Pleite. Die Immobilien im Bestand sind<br />

nur knapp über die Hälfte der Summe<br />

wert, die sich die Firma ausgeliehen hat.<br />

Leicht fühlt sich übers Ohr gehauen –<br />

wie viele andere Anleger auch, die jetzt<br />

klagen, denn längst hat der Markt seine<br />

ersten Skandale. Der Schwarzwälder Straßenlaternenhersteller<br />

Hess AG etwa setzte<br />

kurz nach dem Börsendebüt seine<br />

Chefs wegen des Verdachts der Bilanzmanipulation<br />

vor die Tür. Die vermeintlichen<br />

Missetäter bestreiten die Vorwürfe,<br />

das Unternehmen musste aber trotzdem<br />

wenig später Konkurs anmelden.<br />

Der charismatische Gründer des schwäbischen<br />

Windparkentwicklers Windreich,<br />

Willi Balz, musste zuletzt sogar seine Privathäuser<br />

beleihen, um die Zinsen für einen<br />

Schuldschein nach zweitägiger Verspätung<br />

zu bedienen. Anfang März rückte<br />

die Staatsanwaltschaft in der Firmenzentrale<br />

zur Razzia an. Ein Verdacht unter<br />

vielen, den Balz vehement bestreitet:<br />

Insolvenzverschleppung.<br />

Fairesearch-Analyst Steffen hat schon<br />

vor Jahren auf das Chaos bei Windreich<br />

hingewiesen. Zu ihrem Anlagevermögen<br />

zählte die Firma früher sogar einige Oldtimer<br />

von Auto-Fan Balz.<br />

Ähnliche Zustände herrschen Steffen<br />

zufolge in vielen Unternehmen, die an<br />

den Anleihemarkt gehen: „Die meisten<br />

Unternehmen haben Probleme mit dem<br />

Geschäftsmodell oder kämpfen um die<br />

Existenz.“<br />

Vor allem bekannte Markennamen<br />

scheinen viele Anleger blind zu machen<br />

auch für andere Risiken. Der Süßigkeitenhersteller<br />

Katjes etwa stockte eine erste<br />

30-Mil lionen-Euro-Anleihe vergangenes<br />

Jahr nochmals um 15 Millionen Euro<br />

auf. Dabei verleihen die Anleger ihr Geld<br />

aber nicht an den d<strong>eu</strong>tschen Lakritzproduzenten<br />

selbst, sondern an eine Holding-<br />

Gesellschaft für die ausländischen Beteiligungen<br />

der Katjes-Gruppe. „Wenn die<br />

Holding in Konkurs geht, haben die Anleger<br />

ihr Geld verloren – egal wie gut das<br />

Geschäft in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> läuft“, erklärt<br />

Unternehmensberater Grunow. Die verschachtelte<br />

Struktur sei ein üblicher Trick,<br />

den viele Anleger nicht erkennen.<br />

„Laien sind mit Mittelstandsanleihen<br />

oft überfordert“, resümiert Anlegeranwalt<br />

Joachim Cäsar-Preller.<br />

Wie es um den Küchenhersteller Alno<br />

noch im April stand, ließ sich allerdings<br />

einfach auf den ersten Seiten des Anleiheprospektes<br />

nachlesen. Die „Fortführung<br />

der Unternehmenstätigkeit“, so heißt es<br />

da, hänge maßgeblich von der termingerechten<br />

Begebung einer Anleihe im Volumen<br />

„von mindestens EUR 40,0 Mio“ ab.<br />

Im Klartext: Alno hätte die Pleite gedroht,<br />

wäre die Mittelstandsanleihe gefloppt.<br />

Trotzdem waren die Papiere nach nur<br />

einer Stunde verkauft. ANNE SEITH<br />

Fertigung beim L<strong>eu</strong>chtenhersteller Hess, Anlage des Windparkentwicklers Windreich: Längst hat der Markt seine ersten Skandale<br />

PAWEL SOSNOWSKI / DAPD (L.); DANIEL MAURER / DDP IMAGES (R.)<br />

DER SPIEGEL 33/2013 77


Wirtschaft<br />

Mercedes-Arbeiter in Sindelfingen<br />

STEUERN<br />

Billiger Ouzo<br />

Innerhalb des Euro-Raums greift<br />

der Fiskus auf höchst unterschiedliche<br />

Weise zu: Ausgerechnet<br />

Bürger der Krisenstaaten müssen<br />

oft sehr wenig abgeben.<br />

In Griechenland haben St<strong>eu</strong>erfahnder<br />

einen schweren Job: Vergangene Woche<br />

wurden sie auf Kreta aus einem<br />

Dorf gejagt, weil sie Tavernenbesitzern<br />

Strafen wegen St<strong>eu</strong>ervergehen abverlangen<br />

wollten. Die Kneipiers hatten es unterlassen,<br />

Quittungen für Speisen und Getränke<br />

auszustellen.<br />

So wie in Griechenland hat der Fiskus<br />

auch in den meisten anderen Krisenstaaten<br />

wenig zu melden. Ein zyprischer Arbeitnehmer,<br />

beispielsweise, muss nur 20<br />

Prozent seines Gehalts für St<strong>eu</strong>ern und<br />

Sozialabgaben ausgeben. Da verwundert<br />

nicht, dass der Staat bei der Rettung seiner<br />

Banken passen musste. Im Frühjahr<br />

musste die drittgrößte Insel des Mittelmeers<br />

von den anderen Europäern vor<br />

dem Bankrott gerettet werden.<br />

Der Krisenstaat Irland hält sich ebenfalls<br />

vornehm zurück, wenn es um die<br />

Belastung der eigenen Bürger geht. Die<br />

Iren konnten schon am 24. April Tax Liberation<br />

Day feiern. Seitdem arbeitet der<br />

durchschnittliche Arbeitnehmer von der<br />

Grünen Insel nicht mehr für den Staat,<br />

sondern in die eigene Tasche. So kommt<br />

es, dass irische Arbeiter auch im dritten<br />

Jahr nach der nationalen Pleite im Durchschnitt<br />

netto mehr in der Tasche haben<br />

als die D<strong>eu</strong>tschen.<br />

Die 67,5 Milliarden Euro, die die Iren<br />

zur Rettung ihrer Banken brauchten, kamen<br />

vom Währungsfonds IWF und den<br />

anderen EU-Staaten. Hartnäckig und mit<br />

Erfolg weigerten die Iren sich, in den Verhandlungen<br />

mit den anderen Europäern<br />

selbst die Mini-Unternehmenst<strong>eu</strong>er von<br />

12,5 Prozent anzuheben.<br />

Dagegen müssen die Arbeitnehmer in<br />

den Geberländern Zentral<strong>eu</strong>ropas d<strong>eu</strong>tlich<br />

länger arbeiten, bis sie frei über ihr<br />

Geld verfügen können. Das zeigt eine<br />

Studie der konservativen Brüsseler Denkfabrik<br />

Institut Economique Molinari, die<br />

einen internationalen Vergleich der realen<br />

St<strong>eu</strong>erbelastung von Arbeitseinkommen<br />

mit Hilfe von OECD-Zahlen vorlegte.<br />

Zu den staatlichen Lasten zählten die<br />

Forscher neben der Einkommenst<strong>eu</strong>er<br />

auch noch die Sozialabgaben von Arbeitnehmern<br />

und -gebern sowie einen Teil<br />

der Mehrwertst<strong>eu</strong>er.<br />

Der d<strong>eu</strong>tsche Arbeitnehmer muss demnach<br />

im Durchschnitt 53 Prozent seines<br />

Gehalts an den Staat und die gesetzlichen<br />

Sozialkassen abliefern. Auch Franzosen,<br />

THOMAS NIEDERMUELLER / GETTY IMAGES<br />

Österreicher oder Belgier, die neben den<br />

D<strong>eu</strong>tschen zu wichtigen Finanziers der<br />

Solidarmaßnahmen in Europa gehören,<br />

brauchen viel länger als beispielsweise<br />

die Spanier und Portugiesen, bis sie nicht<br />

mehr ausschließlich für den Staat arbeiten<br />

(siehe Grafik).<br />

„Wir haben damit gerechnet, dass unsere<br />

Studie einiges Aufsehen in den Geberländern<br />

erregen wird“, sagt James Rogers<br />

vom Institut Molinari. Schließlich<br />

werden mit den dort erwirtschafteten<br />

d<strong>eu</strong>tlich höheren St<strong>eu</strong>ereinnahmen die<br />

Hilfen für die möglicherweise gar nicht<br />

so bedürftigen Nehmerländer finanziert.<br />

Allein <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> haftet bisher mit 95,3<br />

Milliarden Euro für die Krisenländer.<br />

Eine isolierte Betrachtung der Belastung<br />

durch St<strong>eu</strong>ern und Abgaben greift<br />

allerdings zu kurz. „Es kommt entscheidend<br />

darauf an, was der Staat mit dem<br />

ihm anvertrauten Geld macht“, sagt Stefan<br />

Bach, der St<strong>eu</strong>erexperte des D<strong>eu</strong>tschen<br />

Instituts für Wirtschaftsforschung<br />

in Berlin. Eine Belastung im wohlfahrtsökonomischen<br />

Sinne entstehe erst dann,<br />

wenn der Staat damit nicht effizient wirtschafte.<br />

Die D<strong>eu</strong>tschen können beispielsweise<br />

auf eine gut ausgebaute gesetzliche Kranken-<br />

und Rentenversicherung vertrauen,<br />

was die Notwendigkeit lindert, sich privat<br />

abzusichern. Die Leistungen des Sozialstaats<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong>s fallen in der Regel<br />

üppiger aus als die der meisten Krisenländer.<br />

So zahlt die Arbeitslosenversicherung<br />

auf Zypern nur sechs, in Irland nur<br />

n<strong>eu</strong>n Monate. Hunderttausende sind bereits<br />

ausgewandert, um der Not zu entgehen<br />

– mit allen negativen Konsequenzen<br />

für die Familien und die Gesellschaft.<br />

Dennoch belegen die niedrigen Abgabenquoten<br />

in den Krisenländern eindrucksvoll,<br />

dass dort noch finanzielle Reserven<br />

schlummern – vor allem bei den<br />

Reichen. Die Rückzahlung der großteils<br />

von den St<strong>eu</strong>erzahlern Zentral<strong>eu</strong>ropas<br />

garantierten Darlehen wird nur gelingen,<br />

wenn die Vermögenden aus den Krisenstaaten<br />

an den Lasten beteiligt werden.<br />

Und wenn der St<strong>eu</strong>erstaat sich auch in<br />

Griechenland durchsetzt, müssen auch<br />

die Ouzo-Trinker in der Taverne ihren<br />

Beitrag zur Rettung des Landes leisten.<br />

CHRISTOPH PAULY<br />

Durchschnittliche Abgabenbelastung<br />

in Prozent des Einkommens*<br />

* einschließlich<br />

geschätzter<br />

Mehrwertst<strong>eu</strong>er<br />

Quelle: Institut<br />

Economique Molinari<br />

20<br />

Zypern<br />

14. März<br />

31 42<br />

Irland<br />

24. April<br />

Spanien<br />

12. Juni<br />

Portugal<br />

4. Juni<br />

45 57<br />

53<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong><br />

13. Juli<br />

Frankreich<br />

26. Juli<br />

60<br />

Belgien<br />

8. August<br />

Tag der St<strong>eu</strong>erbefreiung<br />

Bis zu welchem Tag des Jahres<br />

arbeitet ein Angestellter<br />

ausschließlich für das Finanzamt?<br />

Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember<br />

78<br />

DER SPIEGEL 33/2013


GÜNTER WICKER / LIGATUR<br />

HAUPTSTADTFLUGHAFEN<br />

Gummi auf<br />

der Piste<br />

Nach fünf Monaten im Amt soll<br />

Hartmut Mehdorn Ergebnisse<br />

präsentieren. Doch der BER-Chef<br />

steckt in einem Machtkampf<br />

mit seinem Bau-Geschäftsführer.<br />

Manchmal gibt es im Urlaub Wichtigeres<br />

als Erholung. Diese Erfahrung<br />

machte Hartmut Mehdorn,<br />

als er sich in Südfrankreich ein paar Tage<br />

lang entspannen wollte.<br />

Am 2. August waren Ausflüge mit seinem<br />

Motorboot im Mittelmeer kein Thema<br />

mehr – Mehdorn musste kurzfristig<br />

für einen Tag nach Berlin reisen, wo ihn<br />

Klaus Wowereit mit Mitgliedern des Projektausschusses<br />

seines Aufsichtsrats am<br />

Airport Tegel in einem Sitzungssaal zum<br />

Rapport erwartete.<br />

Seit fünf Monaten ist der 71-Jährige als<br />

Flughafenchef im Amt. Jetzt wollen seine<br />

Gesellschafter – Berlin, Brandenburg und<br />

der Bund – nach vollmundigen Ankündigungen<br />

auch Ergebnisse sehen. In Wowereits<br />

Rathaus gilt der Manager schon als<br />

„Luftikus“.<br />

Auf der Aufsichtsratssitzung an diesem<br />

Freitag soll Mehdorn ins Kr<strong>eu</strong>zverhör genommen<br />

werden. Das Bundesverkehrsministerium<br />

hat einen umfangreichen Fragenkatalog<br />

vorbereitet. Wann werden die<br />

Beschl<strong>eu</strong>nigungseffekte seines Sprint-Programms<br />

sichtbar? Was genau machen die<br />

Roland-Berger-Berater, die Mehdorn für<br />

mehrere Millionen Euro ins Haus holte?<br />

Und wie soll die vorgezogene Eröffnung<br />

des Terminal-Flügels „Pier Nord“, die<br />

Mehdorn schon vor Wochen angekündigt<br />

hat, funktionieren?<br />

Vor allem aber drängen die Eigentümer<br />

auf ein schnelles, friedliches Ende des<br />

Machtkampfs zwischen Mehdorn und<br />

seinem Technikchef Horst Amann. Der<br />

war bereits vor einem Jahr als Trouble -<br />

shooter nach Berlin geholt worden und<br />

setzt – anders als sein n<strong>eu</strong>er, ungeduldiger<br />

Chef – auf eine gründliche, mehrjährige<br />

Sanierung.<br />

Schon in seiner ersten Arbeitswoche<br />

Mitte März stürmte Mehdorn wütend in<br />

Amanns Büro und knallte ihm mit den<br />

Worten „Was soll das?“ die aktuelle<br />

Ausgabe des SPIEGEL (11/2013) auf den<br />

Tisch. Rot markiert hatte er einen Satz,<br />

den Amann Tage zuvor bei der Vorstellung<br />

Mehdorns als n<strong>eu</strong>er Flughafenchef<br />

am Rande gesagt hatte: „Ich brauche keinen,<br />

der mir bei der Baufertigstellung<br />

hilft, das mache ich schon selber.“<br />

Es begann ein nerviger Kleinkrieg, der<br />

bis h<strong>eu</strong>te andauert.<br />

Mehdorn holte dieselben Baufachl<strong>eu</strong>te<br />

des alten Flughafenmanagements zurück,<br />

die Amann für unfähig gehalten und kaltgestellt<br />

hatte. Dann h<strong>eu</strong>erte er manche<br />

der zuvor gef<strong>eu</strong>erten Planer des Airport-<br />

Architekten Meinhard von Gerkan wieder<br />

an. Im SPIEGEL-Gespräch machte er<br />

sich über die umfangreiche Bestandsaufnahme<br />

lustig, die Amann in monatelanger<br />

Arbeit erstellt hatte. „Das ist Quatsch.<br />

Auf so eine Mängelliste kann ich verzichten“,<br />

sagte Mehdorn, der eigens eingestellt<br />

worden war, um die lähmende Ruhe<br />

am Bau zu beenden.<br />

Im „War Room“, den Mehdorn als n<strong>eu</strong>es<br />

Lagezentrum mitten im Terminal errichten<br />

ließ, sitzen der Chef und sein<br />

Flughafenmanager Mehdorn<br />

wichtigster Mitarbeiter zwar Seite an Seite.<br />

Intern machte Mehdorn aber schnell<br />

klar, dass ihm das gesamte Bauregime<br />

Amanns und insbesondere dessen Zeitplan<br />

nicht passten. Am liebsten hätte er<br />

seinen Bau-Geschäftsführer sofort rausgeworfen,<br />

wie er auch im größeren Kreis<br />

am Flughafen verkündete.<br />

Anfang Juni wurde Mehdorn bei Matthias<br />

Platzeck, dem bisherigen Aufsichtsratschef<br />

und Brandenburger Ministerpräsidenten,<br />

vorstellig und forderte die<br />

Ablösung Amanns – vergebens. Man brauche<br />

jetzt keine Personalquerelen, befand<br />

der Präsidialausschuss des Gremiums diplomatisch;<br />

das gemeinsame Ziel der Geschäftsführung<br />

müsse sein, den Flughafen<br />

möglichst schnell in Betrieb zu nehmen.<br />

Statt gemeinsamer Ziele jedoch verfolgen<br />

beide Manager jeweils eine eigene<br />

Agenda.<br />

Mehdorn wollte, damit das Milliardenprojekt<br />

auch einmal positive Schlagzeilen<br />

schreibt, möglichst schnell „Gummi auf<br />

der Piste“ sehen und den Probebetrieb<br />

im Pier Nord noch in diesem Jahr beginnen.<br />

„Vielleicht nur mit zwei kleinen<br />

Airlines, 1500 Fluggäste, sechs oder acht<br />

Flugz<strong>eu</strong>ge am Tag“, sagte er im Juni, „so<br />

können wir testen, wie etwa die Gepäckabfertigung,<br />

die Sicherheitskontrolle und<br />

die F<strong>eu</strong>erwehr funktionieren.“ Berlin<br />

hätte dann vorübergehend drei Flughäfen:<br />

Tegel, Schönefeld und das teileröffnete<br />

Terminal BER.<br />

Inzwischen musste er vor leitenden Managern<br />

einräumen, dass als „Zieltermin<br />

die Aufnahme des Testbetriebs bis März<br />

2014 als realistisch angesehen“ wird.<br />

Wenn es denn überhaupt dazukommt.<br />

Finanzexperten des BER halten den Umbau<br />

des Pier Nord schlicht für zu t<strong>eu</strong>er.<br />

Mehdorn müsste mehr als fünf Millionen<br />

Euro investieren, um unter anderem<br />

DER SPIEGEL 33/2013 79


80<br />

Wirtschaft<br />

Gepäckbänder, Sicherheitskontrollen und<br />

Check-in-Schalter zu installieren und damit<br />

den Nordflügel des Flughafens vor -<br />

übergehend zu einem funktionsfähigen<br />

Mini-Terminal umzubauen.<br />

Zudem würde der Teilbetrieb mit täglich<br />

sechs Starts und Landungen der Fluggesellschaft<br />

Germania pro Monat über<br />

eine halbe Million Euro verschlingen,<br />

etwa weil für jeden Flug Personal vom<br />

benachbarten Flughafen Schönefeld her -<br />

angekarrt werden müsste.<br />

Spätestens bis Februar 2015 muss alles<br />

schließlich wieder in den Originalzustand<br />

zurückgebaut werden – dann erlischt die<br />

bestehende Baugenehmigung. Deren Verlängerung<br />

sei „nicht mehr möglich“, heißt<br />

es in einem Vermerk der Flughafengesellschaft<br />

vom 31. Juli nach einem Gespräch<br />

mit dem zuständigen Bauordnungsamt.<br />

Amann, der den Testbetrieb ohnehin<br />

von Beginn an für eine unausgegorene<br />

PR-Aktion hielt, fühlt sich bestätigt. Der<br />

Bau-Geschäftsführer hat inzwischen ein<br />

Alternativszenario erarbeitet und dieses<br />

auch gleich dem Bundesverkehrsministerium<br />

und Wowereits Berliner Senatskanzlei<br />

vorgestellt. Danach soll der n<strong>eu</strong>e Flughafen<br />

nur in Teilbetrieb gehen, wenn<br />

gleichzeitig Schönefeld geschlossen wird.<br />

Neben den Fliegern der Gesellschaft Germania<br />

würden auch Easyjet und alle weiteren<br />

bislang in Schönefeld operierenden<br />

Fluglinien umziehen.<br />

Anders als Mehdorn will Amann den<br />

fertiggestellten Pier Nord nicht umbauen,<br />

sondern für Check-in-Schalter und Gepäckbänder<br />

einen schon bestehenden<br />

Anbau nutzen. Als Reserve soll ein<br />

schlichter Fertigbau errichtet werden. Der<br />

Betrieb wäre zwar weitgehend kostenn<strong>eu</strong>tral,<br />

weil die Ausgaben für das dann<br />

stillgelegte Terminal Schönefeld entfielen.<br />

Allerdings wären auch Investitionen von<br />

rund 16 Millionen Euro fällig, weil das<br />

Verkehrsaufkommen d<strong>eu</strong>tlich höher wäre<br />

als in Mehdorns Szenario. Im Sommer<br />

oder Herbst 2014 könnten laut Amann<br />

am Mini-Terminal die ersten Flieger starten.<br />

Falls sein Konzept technisch umsetzbar<br />

ist und die Airlines es akzeptieren –<br />

was manche Airport-Manager bezweifeln.<br />

Am Freitag will sich der Aufsichtsrat,<br />

da ein Zeitplan für die komplette Fertigstellung<br />

immer noch nicht erkennbar ist,<br />

nun mit beiden Konzepten zur Teileröffnung<br />

beschäftigen. Berlin und der Bund<br />

lassen bereits Sympathien für die Amann-<br />

Variante erkennen.<br />

Mehdorn hält dennoch an seinem Vorschlag<br />

fest und arbeitet in diesen Tagen<br />

intensiv an seiner Präsentation für das<br />

Kontrollgremium. Vor Vertrauten beklagte<br />

er kürzlich, dass es an dem klaren<br />

Willen fehle, an einem Strang zu ziehen.<br />

Wenn das Projekt BER gelingen solle,<br />

müssten die Politiker Vertrauen in seine<br />

Arbeit haben, und zwar „ohne Wenn und<br />

Aber“.<br />

ANDREAS WASSERMANN<br />

Airbnb-Nutzerin Odenthal<br />

TOURISMUS<br />

Teilen verboten<br />

Die kurzzeitige Vermietung privater Unterkünfte soll erschwert<br />

werden, aus Rücksicht auf die Wohnungsnot<br />

in Großstädten – und die Unternehmen des Hotelgewerbes.<br />

Vielleicht hatte der Berliner Senator<br />

für Stadtentwicklung Menschen<br />

wie Katja Odenthal im Sinn, als er<br />

über ein Verbot von Ferienwohnungen<br />

nachdachte. Odenthal lebt seit zehn Jahren<br />

in Berlin, ganz in der Nähe der zurzeit<br />

sehr gefragten Gegend Alt-Stralau im Viktoriakiez<br />

an der Rummelsburger Bucht.<br />

Weil Odenthal sich „schon immer irgendwie<br />

als WG-Typ“ sah, vermietet sie<br />

Teile ihrer Wohnung auf Zeit an Touristen.<br />

Anfangs aus finanziellen Gründen,<br />

Odenthal ist freiberufliche Autorin, sie<br />

schreibt Gebrauchskunst, wie sie es<br />

nennt, und ihr Einkommen war nicht immer<br />

rosig. Jetzt beherbergt sie Menschen<br />

aus der ganzen Welt vor allem deshalb,<br />

weil sie es „exotisch und spannend“ findet,<br />

mit anderen L<strong>eu</strong>ten und ihren Denkund<br />

Lebensweisen in Kontakt zu kommen.<br />

Zwischen 300 und 400 Euro st<strong>eu</strong>ern<br />

die Durchreisenden zur monatlichen Miete<br />

bei, im Sommer, wenn viele Touristen<br />

in der Stadt sind, tragen sie sie auch mal<br />

komplett. 60 bis 70 Prozent des Jahres<br />

hat Katja Odenthal fremde Menschen im<br />

Haus.<br />

Wie viele andere auch bietet die Wahl-<br />

Berlinerin ihre Räumlichkeiten auf dem<br />

Internetportal Airbnb an, einer Vermittlungsplattform<br />

aus San Francisco, die sich<br />

weltweit wachsender Beliebtheit erfr<strong>eu</strong>t.<br />

Längst gibt es Nachahmer wie 9flats,<br />

housetrip oder Wimdu, die nach einem<br />

ganz ähnlichen Prinzip funktionieren. Sie<br />

kassieren Provision für jede gebuchte<br />

Nacht, manche vom Vermieter, manche<br />

vom Mieter, einige auch von beiden.<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

Airbnb hat es nach Berechnungen des<br />

Magazins „Forbes“ im vergangenen Jahr<br />

auf einen Umsatz von 150 Millionen Dollar<br />

gebracht.<br />

Das US-Unternehmen vermittelt inzwischen<br />

in 34000 Städten und 192 Ländern<br />

mehr als 300 000 Privatwohnungen zu<br />

Urlaubszwecken. Auch in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong><br />

scheint sich das Konzept „Urlaub bei privaten<br />

Gastgebern“ durchzusetzen. Gerade<br />

bei Jüngeren ist es hip, statt in gleichförmigen<br />

Ps<strong>eu</strong>do-Design-Hotels bei Einheimischen<br />

zu übernachten, oft zu einem<br />

Bruchteil des Hotelpreises.<br />

Hierzulande ist Airbnb erst seit gut<br />

zwei Jahren aktiv, doch inzwischen sind<br />

schon über 20000 Übernachtungsmöglichkeiten<br />

auf der Seite registriert.<br />

Menschen wie Odenthal finden es<br />

schön, sich mit fremden L<strong>eu</strong>ten zu um -<br />

geben, und eigentlich müsste es auch im<br />

In teresse der Berliner Politik sein, Touristen<br />

in die Stadt zu locken. Dennoch sind<br />

einige Kurzzeitvermieter zum n<strong>eu</strong>en<br />

Feindbild der Volksvertreter geworden.<br />

Die werfen jenen vor, Wohnraum dem normalen<br />

Mietmarkt zu entziehen, stattdessen<br />

kurzfristig zu vermieten und damit die<br />

normalen Mieten in die Höhe zu treiben.<br />

Touristen eine Unterkunft zu bieten<br />

kann sich durchaus lohnen. Je nach Stadt,<br />

Ausstattung und Größe der Räumlichkeit<br />

sind zwischen 50 und 100 Euro pro Nacht<br />

drin. Für ausländische Gäste ist es reizvoll,<br />

bei normalen L<strong>eu</strong>ten unterzukommen,<br />

weil die ihnen ihre Stadt oft auf<br />

ganz andere Weise näherbringen als ein<br />

gewöhnlicher Reiseführer.<br />

THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL


Mitunter kommt es vor, dass Mieter<br />

aus ihrer alten Wohnung ausziehen und<br />

in eine n<strong>eu</strong>e wechseln, die alte nicht kündigen,<br />

sondern sie lieber als Ferienwohnung<br />

weiterbetreiben und sich damit ein<br />

Geschäftsmodell erschließen. Auf diese<br />

Weise summieren sich im Monat schnell<br />

1500 bis 3000 Euro, d<strong>eu</strong>tlich mehr als eine<br />

ortsübliche Miete – und meist auch ohne<br />

Kenntnis des Finanzamts.<br />

Doch das ist die Ausnahme, auch Odenthal<br />

vergibt lediglich ein Zimmer an<br />

Ferien gäste. Bereits das empfinden Politiker<br />

wie der Berliner Senator Michael<br />

Müller (SPD) als Wohnraumentzug, denn<br />

das Zimmer könnte ja auch dauerhaft als<br />

WG-Zimmer vermietet werden, beispielsweise<br />

an Studenten – zumindest theoretisch.<br />

„Mein vermietetes Zimmer stünde<br />

dem Wohnungsmarkt auf andere Weise<br />

gar nicht zur Verfügung“, sagt Odenthal.<br />

In Berlin soll voraussichtlich vom<br />

Herbst an jeder ein stattliches Bußgeld<br />

zahlen, dem nachgewiesen werden kann,<br />

dass er seine Wohnung zu kommerziellen<br />

Zwecken weitervermietet; so hat es der<br />

Senat im Juni beschlossen. Als „Schaufensterpolitik“<br />

bezeichnet der Verband<br />

Haus & Grund das n<strong>eu</strong>e Gesetz. Es müsse<br />

erst mal „mit harten statistischen Fakten<br />

nachgewiesen“ werden, dass eine ausreichende<br />

Versorgung der Bevölkerung mit<br />

Wohnraum zu angemessenen Preisen<br />

nicht mehr gegeben sei.<br />

Von den etwa 1,8 Millionen Wohnungen<br />

in Berlin werden bisher höchstens<br />

12000 als Ferienwohnungen genutzt. Die<br />

Not der Mieter wird das Gesetz deshalb<br />

kaum lindern.<br />

Ähnliche Gesetze gibt es in beliebten<br />

Touristenmetropolen wie San Francisco,<br />

London oder Paris. In <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> gehen<br />

München und Hamburg ebenfalls gegen<br />

schwarze Privatvermietungen vor. In München<br />

sei das Angebot an lukrativen Ferien -<br />

wohnungen in den vergangenen Jahren<br />

um 40 Prozent gestiegen, rechnet die örtliche<br />

SPD vor, während normale Wohnungen<br />

zur Mangelware werden. Bis zu 50000<br />

Euro Bußgeld riskiert in der bayerischen<br />

Gastgeberin Kuhl<br />

Hauptstadt, wer seine Wohnung unter der<br />

Hand an Kurzzeitgäste wie Touristen oder<br />

Messebesucher vergibt. Doch der Nachweis<br />

ist schwer. Im Jahr 2011 hat die<br />

Münchner Stadtverwaltung gerade mal<br />

183 zweckentfremdete Wohnungen in normalen<br />

Wohnraum zurückverwandeln lassen.<br />

Und in Hamburg stehen offiziell rund<br />

2000 Wohnungen leer, d<strong>eu</strong>tlich höher sei<br />

allerdings die Zahl der Zweckentfremdungen<br />

für Ferienwohnungen. „Wir vermuten<br />

30000 Fälle“, sagt Eckard Pahlke, Vorsitzender<br />

des Hamburger Mietervereins.<br />

Bei Airbnb ist man dennoch aufgeschreckt:<br />

Die politischen Vorstöße treffen<br />

das Geschäftsmodell der Plattform im<br />

Kern, auch wenn in den Regularien steht,<br />

dass jeder Nutzer sich mit den lokalen<br />

Gesetzeslagen selbst befassen muss.<br />

Das Unternehmen hat jetzt überprüft,<br />

wie viele der angebotenen Wohnungen so -<br />

genannte Primary Homes sind, also dau -<br />

erhaft vom eigentlichen Wohnungsinhaber<br />

genutzt werden. Heraus kamen etwa<br />

90 Prozent. „Da kann man nicht von spekulativem<br />

Leerstand sprechen“, sagt Lena<br />

Sönnichsen von Airbnb <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong>. Im<br />

Übrigen bewegten sich die Belegungsraten<br />

zwischen zwei und vier Prozent im Jahr.<br />

Deshalb wehren sich die Airbnb-L<strong>eu</strong>te<br />

auch gegen Verbote und Bußgelder.<br />

So unterstützten sie jüngst den New<br />

Yorker Nigel Warren bei einem Gerichtsprozess.<br />

Der hatte sein Zimmer in einer<br />

WG für die Zeit eines kurzfristigen Wochenendtrips<br />

bei Airbnb angeboten, um<br />

die Kosten für die t<strong>eu</strong>re Miete etwas zu<br />

reduzieren. Jemand schwärzte ihn an,<br />

nach seiner Rückkehr fand er einen Bußgeldbescheid<br />

in Höhe von 7000 Dollar in<br />

seinem Briefkasten. Er hätte sein Zimmer<br />

mindestens 30 Tage vermieten oder aber<br />

während der Vermietung selbst zu Hause<br />

sein müssen, dann wäre es legal gewesen.<br />

Nach einigem juristischen Hin und Her<br />

reduzierte sich die Strafe auf 2400 Dollar,<br />

weil sein fester Mitbewohner während<br />

Warrens Kurztrip anwesend war.<br />

Heike Kuhl findet ein solches „Zweckentfremdungsverbot“,<br />

wie es Berlin nun<br />

THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL<br />

einführen will, regelrecht absurd. Auch<br />

sie lebt in Berlin, auch sie vermietet ab<br />

und an ein Zimmer in ihrer Zweizimmerwohnung<br />

in Alt-Treptow, die sie mit ihrer<br />

Tochter und einem Hund bewohnt. „Ich<br />

teile gern“, sagt Kuhl, die das Zimmer ab<br />

31 Euro pro Nacht anbietet.<br />

Die selbständige Familientherap<strong>eu</strong>tin<br />

hat durchaus Verständnis dafür, dass<br />

Berlinern ein vernünftiger Mietmarkt erhalten<br />

bleiben soll, doch nicht, indem<br />

man L<strong>eu</strong>te bestraft, die ihre Wohnungen<br />

teilen. „Es gibt ja auch keine Zwangs -<br />

abgabe für Investoren, wenn ihre Büroklötze<br />

jahrelang als Spekulationsobjekte<br />

leer stehen.“<br />

Die Sorge um ausreichenden Wohnraum<br />

dürfte jedoch nur ein Grund für den<br />

Aktionismus des Gesetzgebers sein. Denn<br />

die Politik steht auch unter erheblichem<br />

Druck der Tourismusindustrie. Durch die<br />

n<strong>eu</strong>en Internet-Buchungsmöglichkeiten<br />

entstünden viele virtuelle Hotels, die mit<br />

den klassischen Anbietern konkurrierten,<br />

sagt Stephan Gerhard von der Beratungsfirma<br />

Tr<strong>eu</strong>gast. Der Hotelverband klagt,<br />

dass ihm Privatl<strong>eu</strong>te mittlerweile 87 Millionen<br />

Übernachtungen im Jahr abspenstig<br />

machen. „Damit geht der Hotellerie<br />

rund ein Viertel der jährlich rund 370 Millionen<br />

Übernachtungen in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong><br />

verloren“, behauptet der Präsident des<br />

D<strong>eu</strong>tschen Hotel- und Gaststättenverbandes,<br />

Willy Weiland. Wie er auf diese phantastische<br />

Zahl kommt, erklärt er nicht.<br />

Airbnb als größter Anbieter bringt es in<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> auf 1,8 Millionen Vermittlungen<br />

pro Jahr.<br />

Das Hotelgewerbe ärgert vor allem,<br />

dass es sich an zig Auflagen halten muss,<br />

während die Privatanbieter auch die ranzigsten<br />

Zimmer feilbieten dürfen, ohne<br />

kontrolliert oder gar zur Rechenschaft gezogen<br />

zu werden.<br />

Für Airbnb gleichen die Klagen der<br />

Tourismusindustrie denen der Telekommu -<br />

nikationskonzerne, als kostenlose Dienste<br />

wie Skype oder anfangs Whatsapp auf<br />

den Markt kamen. Die etablierten Konzerne<br />

riefen auch nach Regulierung, letztlich<br />

aber hätten sich die Ideen durchgesetzt.<br />

„Wir sind nun mal n<strong>eu</strong>, wir treten<br />

manchen auf die Füße, manchmal nur gefühlt,<br />

manchmal echt“, sagt Airbnb-Frau<br />

Sönnichsen.<br />

Katja Odenthal jedenfalls will weiterhin<br />

bei Airbnb aktiv bleiben. Demnächst<br />

beabsichtigt sie, ein Kochbuch mit den<br />

geheimen Familienrezepten ihrer Gäste<br />

zu veröffentlichen. Jedes einzelne hat sie<br />

mit ihnen gekocht. In der Speisefolge<br />

kommen singapurische Reisgerichte vor,<br />

aber auch n<strong>eu</strong>seeländische Gingernuts<br />

oder italienisches Tiramisu. JANKO TIETZ<br />

Video: Airbnb-Nutzerin Katja<br />

Odenthal zeigt ihre Wohnung<br />

spiegel.de/app332013airbnb<br />

oder in der App DER SPIEGEL<br />

DER SPIEGEL 33/2013 81


Panorama<br />

82<br />

KOMMENTAR<br />

Abgesagt,<br />

na und?<br />

Von Christian Neef<br />

Der Moskauer Gipfel zwischen Barack<br />

Obama und Wladimir Putin ist<br />

abgesagt. Na und? Früher wären die<br />

Russen schwer beleidigt gewesen.<br />

Jetzt herrscht in Moskau fast Gleichgültigkeit.<br />

Obama hat längst seinen<br />

Glanz verloren, der Kreml rechnet<br />

nicht mehr mit ihm; Außenminister<br />

John Kerry halten die Russen für unerfahren.<br />

Ein n<strong>eu</strong>er Kalter Krieg stehe<br />

bevor? Völliger Unsinn. In dem<br />

ging es für beide Staaten ums Über -<br />

leben, jeder Druck auf den nuklearen<br />

Knopf hätte Dutzende Städte des<br />

Gegners ausgelöscht und Millionen<br />

Menschenleben gekostet. Deswegen<br />

waren Moskau und Washington in<br />

Fragen der strategischen Stabilität<br />

immer wieder zum Dialog gezwungen,<br />

während sie geopolitisch erbarmungslos<br />

miteinander konkurrierten.<br />

Aber jetzt? Politisch ist keine der beiden<br />

Seiten durch die andere in ihrer<br />

Existenz bedroht – aber genau das<br />

macht die Suche nach gemeinsamen<br />

Interessen so schwer. Nur wenig verbindet<br />

die USA und Russland noch,<br />

nicht mal beim Handel kommen beide<br />

voran. Und Moskaus Einfluss auf<br />

den Rest der Welt ist mit dem Amerikas<br />

nicht mehr annähernd vergleichbar.<br />

In beiden Ländern ist der Blick<br />

auf den anderen innenpolitisch motiviert,<br />

die Lage verfahrener als im<br />

Kalten Krieg. In Washington gibt<br />

eine starke antirussische Lobby den<br />

Ton vor, in Moskau sind es die mächtigen<br />

Antiamerikaner. Auf Putin in<br />

der Affäre Snowden Druck auszuüben,<br />

als der Whistleblower noch am<br />

Flughafen in Scheremetjewo saß, war<br />

albern und der Kreml geradezu<br />

gezwungen, seine Unabhängigkeit<br />

zu beweisen. Andererseits: Es war<br />

Putin, der es nach seinem Amts -<br />

antritt vor einem Jahr ablehnte, zum<br />

G-8-Gipfel nach Camp David zu fahren.<br />

Wir dürfen keine Wunder erwarten,<br />

Putin wird eine schnippische,<br />

vielleicht böse Antwort auf Obamas<br />

Absage finden. In Amerika könnte<br />

ein Hardliner zum Boykott der Spiele<br />

in Sotschi aufrufen. Irgendwann<br />

aber wird in beiden Lagern die<br />

patho logische Fixiertheit auf den<br />

früheren Klassenfeind vergehen.<br />

Wähler, Sicherheitskräfte in Harare<br />

Nuklearexperte Mycle Schneider, 54,<br />

Herausgeber des „Welt-Statusberichts<br />

Atomenergie“, über das Krisen -<br />

management in Fukushima<br />

SPIEGEL: Japans Regierung hat den<br />

Konzern Tepco kritisiert, weil das vers<strong>eu</strong>chte<br />

Wasser ins Meer läuft. Sollte<br />

der Staat die Kontrolle übernehmen?<br />

Schneider: Die Firma ist de facto bereits<br />

bankrott und wurde nationalisiert,<br />

der Staat wäre also zuständig.<br />

Doch sie darf weiterwurschteln, als<br />

ginge es darum, eine Garage zu<br />

reparieren. Dabei erfordert der Umgang<br />

mit der beispiellosen Zerstörung<br />

von vier Atomanlagen die Beratung<br />

durch die besten internationalen<br />

Experten.<br />

SPIEGEL: Was ist das größte Problem?<br />

Schneider: Täglich drücken 400 Tonnen<br />

Grundwasser in die Keller, wo sich<br />

hochradioaktiv vers<strong>eu</strong>chtes Wasser<br />

sammelt. Diese gewaltigen Massen<br />

fließen zum Teil ins Meer. Tepco will<br />

nun eine Wand mit Kühlmitteln in den<br />

Boden einziehen, die das Grundwasser<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

SIMBABWE<br />

Beistand für den Diktator<br />

Nach dem erdrutschartigen Wahlsieg<br />

von Dauer-Präsident Robert Mugabe<br />

steht nun eine israelische IT-Firma<br />

unter Verdacht, dem Diktator beim<br />

Siegen geholfen zu haben. Die Opposi -<br />

tionspartei MDC sagt, es gebe Hinweise,<br />

dass das Unternehmen Nikuv International<br />

Projects aus Herzlija bei Tel<br />

Aviv an dem „gigantischen Wahlschwindel“<br />

beteiligt gewesen sei. Die<br />

israelischen IT-Experten arbeiten seit<br />

2000 mit dem Regime in Harare zusammen.<br />

Diesmal assistierten sie offenbar<br />

bei der Erstellung des Wählerverzeichnisses:<br />

Nur wer darin erfasst<br />

ist, darf abstimmen. Doch in vielen<br />

Stimmbezirken waren mehr Wähler<br />

als Einwohner verzeichnet, andererseits<br />

wurden 1,9 Millionen Wahlberechtigte<br />

unter 30 Jahren erst gar nicht<br />

registriert. Dafür standen nach Angaben<br />

unabhängiger Gutachter mehr als<br />

eine Million Geisterwähler auf den Listen.<br />

All das begünstigte Mugabe. In<br />

manchem Wahlkreis konnte<br />

dessen Partei ihren Anteil verzwanzigfachen.<br />

Insider berichten<br />

nun, dass Emmanuel Antebi,<br />

der Chef von Nikuv, am<br />

Tag vor den Wahlen noch eine<br />

90-minütige Unterredung mit<br />

Mugabe gehabt haben soll.<br />

Das Unternehmen bestreitet<br />

den Vorwurf der Manipula -<br />

tion. In Wahlkampfzeiten werde<br />

mit Dreck geworfen, Nikuv<br />

sei zu keinem Zeitpunkt in<br />

die Politik verwickelt gewesen,<br />

erklärte die Firma.<br />

JAPAN<br />

„Ein störanfälliges Provisorium“<br />

PETE MULLER / NEW YORK TIMES / LAIF<br />

vereist. Aber das wäre, wie so vieles<br />

in Fukushima, ein störanfälliges Provisorium:<br />

Es versagt, falls der Strom ausfällt.<br />

Anfällig ist auch die Kühlung:<br />

Die vier Kilometer langen Leitungen<br />

sind vor allem aus Plastik, nicht aus<br />

Stahl; Frost führt im Winter zu zahlreichen<br />

Lecks. Dabei müsste das System<br />

Jahrzehnte halten, bis der zerstörte<br />

Kernbrennstoff entfernt werden kann.<br />

SPIEGEL: Wie schwer ist die radioaktive<br />

Belastung der Umwelt?<br />

Schneider: Das Wasser ist besonders<br />

problematisch. Tepco lagert knapp<br />

300000 Tonnen belastetes Wasser in<br />

provisorischen Tanks; bis Mitte 2015<br />

sollen es mehr als doppelt so viele sein.<br />

Die Untersuchungskommission des<br />

Parlaments hat errechnet, dass in dem<br />

ganzen Wasser rund dreimal so viel<br />

radioaktives Cäsium-137 freigesetzt<br />

wurde wie beim GAU von Tscher no -<br />

byl. Auch ist Reaktor 4, in dessen Abklingbecken<br />

mehr Brennstäbe unter<br />

freiem Himmel lagern als in den drei<br />

anderen Reaktoren zusammen, in katastrophalem<br />

Zustand.


Ausland<br />

JOHAN ORDONEZ / AFP<br />

Bauern gegen Beton Die Maisbauern von San Juan<br />

Sacatepéquez, einer Gemeinde westlich von Guatemala-Stadt,<br />

gelten als friedliche L<strong>eu</strong>te. Doch wenn sie ihr Land bedroht<br />

sehen, hat ihre Sanftmut ein Ende: Zu Hunderten besetzten sie<br />

Felder, die sie einem fragwürdigen Fortschritt opfern sollen.<br />

Eine der reichsten Familien Guatemalas will hier eine Fabrik<br />

errichten, die Zement und Beton für den Bau einer mehr spu ri -<br />

gen Schnellstraße liefern soll. Die Bauern bangen nun um<br />

ihren Maisanbau und fürchten Umweltschäden. „Unsere Kinder<br />

essen keinen Zement, sie wollen Mais“, heißt ihre Parole.<br />

KOREA<br />

Weiße Fahne<br />

Gut vier Monate nach seinen militärischen<br />

Drohgebärden und der Schließung<br />

der Sonderwirtschaftszone Kaesong<br />

ist Nordkoreas Führer Kim Jong<br />

Un offenbar bereit, den Industriepark<br />

wieder für südkoreanische Unternehmen<br />

zu öffnen. Mitte dieser Woche<br />

wollen Vertreter beider Länder in Kaesong<br />

zusammentreffen und Details verhandeln.<br />

Pjöngjang garantiere die Sicherheit<br />

aller Südkoreaner, um eine<br />

„n<strong>eu</strong>e Phase von Versöhnung, Zusammenarbeit,<br />

Frieden, Wiedervereinigung<br />

und Wohlstand“ einzuleiten, ließ<br />

Kim mitteilen. Der Kursschwenk gilt<br />

als großer diplomatischer Erfolg für<br />

Seouls n<strong>eu</strong>e Präsidentin Park G<strong>eu</strong>n<br />

200 km<br />

CHINA<br />

Pjöngjang<br />

NORDKOREA<br />

Kaesong<br />

Seoul<br />

CHINA<br />

SÜDKOREA<br />

RUSSLAND<br />

Hye. Sie hatte die kommunistische<br />

Führung ultimativ zu Verhandlungen<br />

gedrängt: Parallel stellte ihre Regierung<br />

allen südkoreanischen Firmen<br />

staatliche Ausfallentschädigungen von<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

JAPAN<br />

insgesamt gut 250 Millionen Dollar in<br />

Aussicht. Das wurde als politischer<br />

„Todesstoß“ für jegliche Form wirtschaftlicher<br />

Zusammenarbeit in der<br />

Zukunft gewertet. Nun habe Kim<br />

durch sein Einknicken „die weiße Fahne<br />

hissen“ müssen und „sein Gesicht<br />

verloren“, sagt der südkoreanische<br />

Politikprofessor Son Tae Gyu. Zum<br />

ersten Mal seit über 20 Jahren habe<br />

der Süden wieder die politische Initiative<br />

zurückgewonnen, kommentiert<br />

der Seouler Wissenschaftler Chung<br />

Young Tae.<br />

In Kaesong an der Grenze zum Süden<br />

beschäftigten zuletzt mehr als 120<br />

süd koreanische Unternehmen rund<br />

53000 nordkoreanische Arbeiter in<br />

der Produktion von Billigprodukten.<br />

Das bescherte dem bitterarmen Regime<br />

im Norden Devisen von rund<br />

90 Millionen Dollar jährlich.<br />

83


Ausland<br />

TUNESIEN<br />

Revolution<br />

am Nullpunkt<br />

Knapp zwei Jahre nach der ersten freien Wahl herrscht<br />

Chaos im Geburtsland des Arabischen Frühlings.<br />

Die Säkularen wollen die regierenden Islamisten zum<br />

Rückzug zwingen; vielen geht es schlechter als zuvor.<br />

Berg Chambi<br />

Der Berg Chambi brennt, seit vier<br />

Tagen schon. An seinem Fuß, in<br />

einem Haus zwischen Olivenbäumen,<br />

schaut Khaled Dalhoumi zu, wie<br />

schwarzer Rauch in den Himmel steigt,<br />

als sei der Chambi ein Vulkan.<br />

Dumpfe Einschläge weckten Dalhoumi<br />

am Freitag vor einer Woche. Als er vor<br />

die Tür trat, sah er Bomben auf das Gebirgsmassiv<br />

fallen. Seither hört er rund<br />

um die Uhr Schüsse und Einschläge,<br />

nachts l<strong>eu</strong>chtet der Berg im F<strong>eu</strong>erschein<br />

gewaltiger Waldbrände. Der Berg, in dem<br />

sein Vater einst Blei schürfte und der später<br />

unter Naturschutz gestellt wurde, ist<br />

zum Kriegsgebiet geworden. „Es bricht<br />

mir das Herz“, sagt Dalhoumi.<br />

Khaled Dalhoumi ist 53 Jahre alt,<br />

Grundschullehrer und Gewerkschafter.<br />

Ein sanfter Mann mit Schnurrbart, der<br />

Karl Marx gelesen und die Revolution unterstützt<br />

hat. Nun versucht er zu verstehen,<br />

was mit seinem Berg geschieht, mit<br />

seiner Stadt, mit seinem Land.<br />

Das Chambi-Gebirge, 1544 Meter hoch,<br />

erhebt sich am Rand der Stadt Kasserine<br />

im Westen Tunesiens; die Grenze zu Algerien<br />

ist nah, die Hauptstadt Tunis vier<br />

Stunden Autofahrt entfernt. Kasserine<br />

84<br />

ONS ABID / DER SPIEGEL<br />

war einer der Orte, in denen Ende 2010<br />

die Revolution begann, die den Diktator<br />

Zine el-Abidine Ben Ali stürzte und die<br />

arabischen Aufstände in Gang setzte.<br />

Jetzt kämpft die tunesische Armee hier<br />

gegen islamistische Terroristen, deren<br />

Herkunft und Identität ungeklärt ist, und<br />

die das Gebirgsmassiv als Rückzugsort<br />

genutzt haben sollen. Seit die Kämpfer<br />

acht Soldaten töteten, geht die Armee<br />

mit vollem Einsatz gegen sie vor. Die<br />

Rauchsäule über Kasserine ist für Khaled<br />

Dalhoumi ein Zeichen, dass beim tunesischen<br />

Frühling etwas grundsätzlich schiefgegangen<br />

ist. „Die Revolution ist auf die<br />

falsche Spur geraten“, sagt er.<br />

Schuld sind seiner Meinung nach die<br />

Islamisten der Partei al-Nahda, die seit<br />

der Wahl vor knapp zwei Jahren zusammen<br />

mit zwei säkularen Parteien das<br />

Land regiert. Die Nahda und ihr Anführer<br />

Rachid Ghannouchi hätten kein Interesse,<br />

gegen Extremisten vorzugehen, glaubt<br />

Dalhoumi. „Vorher war es so: Ben Ali<br />

macht, was er will, und alle müssen<br />

schweigen. Nun ist es so: Die Islamisten<br />

machen, was sie wollen, und die anderen<br />

können sagen, was sie wollen.“<br />

Alles hängt für Dalhoumi zusammen:<br />

die Wut und Hoffnungslosigkeit der Menschen<br />

in Kasserine und im ganzen Land.<br />

Die Terroristen auf dem Berg und die ungeklärten<br />

Morde an zwei Oppositions -<br />

politikern. Und natürlich der Militärputsch<br />

in Ägypten. All das hat innerhalb kurzer<br />

Zeit dafür gesorgt, dass der komplizierte,<br />

aber hoffnungsvolle Übergang zur Demokratie<br />

zum Stillstand kam – und das Land<br />

in eine tiefe Krise gestürzt ist. Vorige Woche<br />

wurde nun sogar die Arbeit an der<br />

n<strong>eu</strong>en Verfassung ausgesetzt, obwohl dies<br />

das wichtigste Ziel der Regierung war.<br />

Der rauchende Berg ist ein Symbol für<br />

die politische Krise, weil hier wie da die<br />

Verhältnisse undurchsichtig sind und jede<br />

Konfliktpartei sich eine eigene D<strong>eu</strong>tung<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

Junge Männer im Café Total in Kasserine: Es gibt<br />

der Realität erschaffen hat, in der Verdächtigungen<br />

die Fakten ersetzen.<br />

Sicher ist: Am 25. Juli wurde der linksliberale<br />

Politiker Mohammed Brahmi vor<br />

seinem Haus in einem Vorort von Tunis<br />

erschossen, vor den Augen seiner Frau<br />

und Tochter. Z<strong>eu</strong>gen sagten später aus,<br />

sie hätten zwei Männer auf einem Motorrad<br />

gesehen. Die Tat erinnert an die Ermordung<br />

eines anderen führenden Oppositionspolitikers<br />

vor einem halben Jahr.<br />

Auch Chokri Belaid wurde vor seiner<br />

Wohnung ermordet, offenbar mit derselben<br />

Waffe, das gab das Innenministerium<br />

inzwischen bekannt. Beide Ermordeten<br />

waren lautstarke Kritiker des politischen<br />

Islam. Offiziellen Angaben zufolge gibt<br />

es 14 Verdächtige, die mit al-Qaida im<br />

Maghreb in Verbindung stehen sollen.


nichts zu tun, selbst die Jobs auf dem Bau, wo es drei Euro am Tag gibt, sind inzwischen rar<br />

ONS ABID / DER SPIEGEL<br />

Der Mord an Mohammed Brahmi löste<br />

eine Kettenreaktion aus: Noch am selben<br />

Tag protestierten Tausende auf der Avenue<br />

Habib Bourguiba in Tunis gegen die<br />

Regierung. Genau an jenem Ort, an dem<br />

auch Anfang 2011 die Proteste gegen das<br />

Regime von Ben Ali stattfanden. Die Polizei<br />

setzte Tränengas ein, dann zogen<br />

die Demonstranten vor das Parlamentsgebäude<br />

im Stadtteil Le Bardo.<br />

Dort demonstrierten in den darauffolgenden<br />

Tagen die Anhänger und Gegner<br />

von al-Nahda. Zwei Tunesien, dicht nebeneinander,<br />

getrennt nur durch Stacheldraht.<br />

Bei den Gegnern die J<strong>eu</strong>nesse dorée<br />

aus den Vorstädten, mit engen Jeans<br />

und t<strong>eu</strong>ren T-Shirts, bei den Islamisten<br />

die Frauen mit Kopftüchern. Aber manchmal<br />

eben auch andersherum: die zwei<br />

hübschen, unverhüllten Schwestern auf<br />

der Seite von al-Nahda, die schreien, die<br />

Oppositionellen seien Putschisten. Und<br />

die alte Verschleierte zwischen den Säkularen,<br />

die sagt, dies sei nicht der Islam,<br />

den sie wolle.<br />

Die Demonstrationen der Opposition<br />

sind größer, weil sie in der Hauptstadt in<br />

der Mehrheit ist. Deshalb karrte al-Nahda<br />

am Samstag vor einer Woche aus dem<br />

ganzen Land Zehntausende Unterstützer<br />

herbei. Am vergangenen Mittwoch konterte<br />

die Opposition mit einer eigenen<br />

Großdemonstration. Anschließend versuchten<br />

beide Seiten mit Hilfe von Luftaufnahmen<br />

zu beweisen, dass ihre Veranstaltung<br />

die größere gewesen sei.<br />

Die mehrheitlich säkularen Gegner der<br />

Islamisten fordern die sofortige Auflösung<br />

der gewählten Verfassunggebenden<br />

Versammlung; die meisten wollen zudem<br />

eine Regierung aus unabhängigen Technokraten.<br />

Die Nahda sei vielleicht nicht<br />

der Auftraggeber, zumindest aber politisch<br />

verantwortlich für die Morde, sagen<br />

ihre Gegner, weil sie zu zögerlich gegen<br />

die Extremisten vorgegangen sei. Der Verfassunggebenden<br />

Versammlung werfen<br />

sie überdies vor, ihr Mandat von einem<br />

Jahr weit überschritten zu haben.<br />

Die Oppositionsparteien haben sich<br />

den Forderungen der Demonstranten angeschlossen,<br />

etwa ein Drittel ihrer Abgeordneten<br />

boykottieren das Quasi-Parlament.<br />

Es ist ähnlich wie in Ägypten: Das<br />

Land ist gespalten, auf der einen Seite<br />

stehen die Islamisten, auf der anderen<br />

Seite formieren sich ihre Gegner – dazwi-<br />

DER SPIEGEL 33/2013 85


schen verläuft ein tiefer Graben.<br />

Und wie in Ägypten sieht<br />

sich auch hier eine demo -<br />

kratisch gewählte Regierung,<br />

angeführt von Islamisten, mit<br />

Rücktrittsforderungen konfrontiert,<br />

weil die Masse es so<br />

will. Die Armee hat in Tunesien<br />

allerdings keine politischen<br />

Ambitionen, dafür gibt<br />

es die mächtige Gewerkschaft<br />

UGTT, die schon während der<br />

Revolution eine entscheidende<br />

Rolle spielte und auch im<br />

aktuellen Konflikt Druck auf<br />

die Islamisten ausübt.<br />

Im Hauptsitz der Nahda, im<br />

großzügigen Büro seines Vaters,<br />

sitzt Moadh Ghannouchi,<br />

der im britischen Exil aufgewachsene<br />

Sohn und Stabschef<br />

des Parteiführers. Er spricht<br />

ein sehr britisches Englisch<br />

und weist die Verantwortung<br />

für die Morde weit von sich.<br />

Stattdessen beschuldigt er die<br />

Opposition, sie wolle einen<br />

Putsch herbeiführen, so wie in<br />

Ägypten. Doch anders als die<br />

Muslimbrüder sei al-Nahda<br />

stets kompromissbereit gewesen,<br />

sagt er: Man habe mit den<br />

Säkularen koaliert und auf die<br />

Erwähnung der Scharia in der<br />

Verfassung verzichtet.<br />

Für den Islamisten Ghannouchi<br />

repräsentiert die Opposition<br />

die alte, westlich geprägte Elite des<br />

Landes, die sich noch immer nicht damit<br />

abfinden wolle, dass sie nicht mehr allein<br />

das Sagen habe. Weil diese Säkularen<br />

aber mit demokratischen Mitteln offenbar<br />

nicht an die Macht kommen könnten, probierten<br />

sie es nun mit anderen Mitteln.<br />

Es zeige sich, sagt Ghannouchi, dass sie<br />

dem Islam keinen Platz in der Politik zubilligen<br />

wollten, egal wie demokratisch<br />

die Islamisten gewählt worden seien. Er<br />

scheint ernüchtert, dass es sich für die<br />

Nahda nicht aus gezahlt hat, sich an die<br />

Spielregeln zu halten. So argumentieren<br />

derzeit viele Islamisten in Tunesien.<br />

Die meist säkularen Gegner eint dagegen<br />

die Furcht vor einer geheimen Agenda<br />

der Islamisten. „Die Nahda-L<strong>eu</strong>te sind<br />

keine Demokraten, sie wollen sich nur<br />

an der Macht festklammern“, sagt Béji<br />

Caïd Essebsi, Gründer der wichtigsten<br />

Oppositionspartei Nida Tunis, dem „Ruf<br />

Tunesiens“. Es gibt sie erst seit kurzem,<br />

sie vereint Linke, Liberale und Mitglieder<br />

der früheren Regimepartei RCD – und<br />

sie könnte am meisten von den Protesten<br />

profitieren. Glaubt man den unzuverlässigen<br />

Umfragen, würde sie bei Wahlen<br />

al-Nahda als stärkste Partei ablösen.<br />

In der n<strong>eu</strong>en Parteizentrale im edlen<br />

Stadtteil Berges du Lac wird noch überall<br />

gehämmert, Essebsi sitzt müde im Sessel.<br />

86<br />

Studentin Rabhi mit Mutter: „Ich werde langsam zur Minderheit“<br />

Er diente schon unter Habib Bourguiba,<br />

dem ersten Präsidenten nach der Unabhängigkeit;<br />

nach der Revolution war er<br />

vorübergehend Premier. Nun ist er für<br />

viele Nahda-Gegner die letzte Hoffnung.<br />

Der Politiker hält nichts von dem Argument,<br />

die Islamisten seien demokratisch<br />

legitimiert. Er meint, ihr Mandat sei<br />

abgelaufen. Es stimmt, dass die Parteien<br />

vor der Wahl übereinkamen, die Arbeit<br />

an der Verfassung auf ein Jahr zu begrenzen.<br />

Der Zeitplan war allerdings von Anfang<br />

an unrealistisch.<br />

Bis zu der für Dezember angekündigten<br />

Wahl will Essebsi nun „unabhängigen<br />

Persönlichkeiten“ die Regierungsverantwortung<br />

übertragen. „Stimmt al-Nahda<br />

nicht zu“, sagt er, „riskieren wir ein ägyptisches<br />

Szenario.“ Die Nahda sei fast wie<br />

die Muslimbruderschaft, sie müsse sich<br />

auf Verhandlungen einlassen. Es klingt<br />

wie eine Drohung.<br />

Béji Caïd Essebsi und al-Nahda-Chef<br />

Rachid Ghannouchi sind derzeit die wichtigsten<br />

Gegenspieler, der eine ist 86, der<br />

andere 72 Jahre alt. In einem Land, in<br />

dem die Jugend die Revolution machte,<br />

verwalten nun alte Männer den Übergang<br />

zur Demokratie. Vor allem die Jungen in<br />

Tunis sind frustriert, dass alles so lange<br />

dauert, man spürt bei ihnen inzwischen<br />

so etwas wie Revolutionsnostalgie. Weil<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

ONS ABID / DER SPIEGEL<br />

kaum einer mehr weiß, was<br />

im Land passiert, aber alle<br />

mitreden wollen, mischen sich<br />

auf den Straßen Wahrheit und<br />

Verdächtigungen, Hysterie<br />

und Ängste, Gerüchte und<br />

Wut.<br />

In den Augen der Liberalen<br />

sind die Islamisten schuld am<br />

Anstieg der Gewalt im Land.<br />

Al-Nahda habe enge Verbindungen<br />

zu Salafisten und den<br />

Extremisten von Ansar al-<br />

Scharia, sagen ihre Gegner.<br />

Tatsächlich wurden unter der<br />

amtierenden Regierung auch<br />

einige Extremisten freigelassen;<br />

am Anfang schien die Regierung<br />

nicht gegen die Radikalen<br />

vorgehen zu wollen.<br />

In den Wochen seit dem<br />

zweiten Mord häufen sich nun<br />

aber Berichte über gefundene<br />

Waffen, verhaftete Terroristen<br />

und angebliche Anschlagsversuche.<br />

Es kursieren Videos<br />

von Polizeieinsätzen, doch<br />

weil sich die Behörden in<br />

Schweigen hüllen, sind viele<br />

Tunesier verunsichert. Auch<br />

dass die Armee zu den Vorgängen<br />

im Chambi-Gebirge<br />

keine Auskunft gibt und<br />

Journalisten fernhält, nährt<br />

die Verschwörungstheorien. Je<br />

nach dem, mit wem man<br />

spricht, stecken hinter all diesen<br />

Bedrohungen al-Qaida, al-Nahda, das<br />

alte Regime, die Linken, Frankreich,<br />

Katar, Israel, Algerien – oder eine beliebige<br />

Kombination davon.<br />

Viele Oppositionelle sprechen al-Nahda<br />

die Legitimität ab, ihr Wahlsieg sei<br />

ohnehin von Anfang an gekauft gewesen.<br />

Dabei gibt es dafür keinerlei Beweise.<br />

Die im Verfassungsentwurf vorgesehene<br />

Erwähnung des Islam als „Staatsreligion“<br />

führe direkt in die Scharia, glauben andere.<br />

Aber eine ähnliche Formulierung<br />

findet sich auch in der bisherigen Verfassung.<br />

Am meisten jedoch fürchten sie,<br />

dass die Islamisten bald die Verwaltung<br />

und das Innenministerium kontrollieren<br />

könnten, das Zentrum des einstigen Unterdrückungs-<br />

und Überwachungsapparats.<br />

Aber versucht nicht jede Regierung,<br />

Posten mit ihren eigenen L<strong>eu</strong>ten zu besetzen,<br />

vor allem nach Jahrzehnten der<br />

Diktatur?<br />

In Kasserine, der Stadt im Schatten des<br />

rauchenden Bergs, 200 Kilometer von Tunis<br />

entfernt, interessiert sich kaum jemand<br />

für den Machtkampf in der Hauptstadt.<br />

Hier, im vernachlässigten Landesinneren,<br />

begann der Arabische Frühling,<br />

und der Frust der Bewohner ist noch immer<br />

derselbe wie der jener Jugendlichen,<br />

die im Dezember 2010 im nahen Sidi Bouzid<br />

die Revolution ins Rollen brachten.


27 junge Männer starben damals<br />

auch in der Gegend um<br />

Kasserine, viele Bewohner waren<br />

stolz auf ihren Anteil am<br />

Sturz des autoritären Herrschers.<br />

Doch im Armenviertel<br />

Ennour, aus dem viele der Getöteten<br />

stammten, erzählen<br />

die Jugendlichen, es sei für sie<br />

h<strong>eu</strong>te noch immer einfacher<br />

zu stehlen, als einen Job zu<br />

finden. Die meisten von ihnen<br />

haben keine Ausbildung. Und<br />

wer doch eine hat, ist nicht<br />

viel besser dran.<br />

Rabeh, 20, hat gerade das<br />

Abitur bestanden und ist mit<br />

zwei Fr<strong>eu</strong>nden im Stadtzentrum<br />

von Kasserine unterwegs.<br />

Sie erzählen, dass sie bei der<br />

Wahl entweder für al-Nahda<br />

gestimmt oder zumindest mit<br />

den Islamisten sympathisiert<br />

haben – das aber sei vorbei.<br />

„Die haben zwei Jahre lang<br />

nichts gemacht“, sagt Rabeh,<br />

ein massiger Kerl. Er habe sich<br />

Jobs erhofft, aber es sei alles<br />

noch schlimmer geworden.<br />

Auf dem Bau erhalte man in<br />

Kasserine für einen Tag Arbeit<br />

sieben Dinar, das sind etwas<br />

über drei Euro. Und selbst diese<br />

Jobs würden immer rarer.<br />

Er sagt, er würde beim nächsten<br />

Mal Nida Tunis wählen.<br />

Aber eigentlich glaubt er nicht<br />

mehr an die Demokratie, er sagt einen<br />

harten Satz: „Dieses Volk ist für einen<br />

Diktator gemacht.“<br />

Rabeh erzählt, sein Bruder sei jetzt in<br />

Rom, er habe mit einem Boot übergesetzt,<br />

viele Fr<strong>eu</strong>nde und Verwandten hätten das<br />

Gleiche getan. Sein Fr<strong>eu</strong>nd Houssem, der<br />

im Touristenort Monastir studiert, ergänzt,<br />

dass er schon mehrere Angebote<br />

älterer Europäerinnen abgelehnt habe,<br />

sich Geld schicken zu lassen oder nach<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> zu kommen. Zwei seiner<br />

Cousins aber hätten sich darauf eingelassen,<br />

sie seien nun mit älteren Frauen verheiratet<br />

und warteten in Rom auf ihre italienische<br />

Staatsbürgerschaft.<br />

Houssem hält nichts von den Demonstrationen<br />

in Tunis, von den Forderungen,<br />

die Verfassunggebende Versammlung aufzulösen,<br />

er fühlt sich den Demonstranten<br />

aus den besseren Vororten von Tunis<br />

nicht sonderlich verbunden. Gleichzeitig<br />

ist er aber auch dagegen, Politik und Islam<br />

zu vermischen.<br />

Einer seiner Jugendfr<strong>eu</strong>nde ist Salafist<br />

geworden, er will Houssem jetzt dauernd<br />

belehren, dass man Mädchen nicht berühren<br />

und auch nicht mit ihnen reden dürfe.<br />

Und auch an seiner Universität in Monastir<br />

werden die Salafisten immer einflussreicher<br />

– sie haben durchgesetzt, dass die<br />

Kantine nun nach Geschlechtern getrennt<br />

Islamist Ghannouchi: Alte Männer verwalten den Übergang<br />

ist. Im ganzen Land ist zu spüren, dass<br />

sich ein Teil der Bevölkerung stärker der<br />

Religion zuwendet als vor der Revolution.<br />

Mittlerweile gibt es außerhalb von Tunis<br />

kaum noch Frauen, die kein Kopftuch<br />

tragen.<br />

Mariam Rabhi, 20, gehört zu den wenigen<br />

Frauen in Kasserine, die sich weigern,<br />

sich zu verhüllen. Sie sitzt mit ihrer<br />

Mutter Mounira um Mitternacht in einem<br />

Restaurant im Stadtzentrum. Das ist sehr<br />

ungewöhnlich, nicht wegen der Uhrzeit,<br />

denn es ist Ramadan, sondern weil Frauen<br />

hier selten auf den Straßen zu sehen<br />

sind – und schon gar nicht in Cafés.<br />

„In meiner Altersgruppe werde ich<br />

langsam zur Minderheit“, sagt die Studentin<br />

der französischen Literatur. „Nach<br />

dem Abitur beginnen die meisten Frauen,<br />

das Kopftuch zu tragen, damit ihre Eltern<br />

ihnen erlauben zu studieren.“ Und es<br />

seien gerade die Frauen, die Bestleistungen<br />

in der Schule brächten und an die<br />

Universität können, sagt sie, während die<br />

jungen Männer fast alle arbeitslos seien.<br />

Gleich um die Ecke, im Café Total, gibt<br />

es keine Frauen. Unter einem Eukalyptusbaum<br />

sitzen vier Männer, die sich hier<br />

fast jeden Abend treffen und diskutieren.<br />

Alle vier haben die Islamisten gewählt,<br />

drei von ihnen sind schwer enttäuscht,<br />

aber nicht alle aus dem gleichen Grund.<br />

Badredine Fridhi, 41, hatte<br />

erst genug von den Säkularen,<br />

doch jetzt ist er sauer auf al-<br />

Nahda. Denn die Kaufkraft<br />

sinke, die L<strong>eu</strong>te hätten kein<br />

Geld mehr. Sein Handel für<br />

Baumaterial laufe schlecht.<br />

Ihm gegenüber sitzt Mongi<br />

Bouazi, er ist 58 und arbeitet<br />

in einem Berufsbildungszentrum.<br />

Er ist nicht einverstanden.<br />

„Aller Wandel braucht<br />

Zeit“, sagt er. „Die Französische<br />

Revolution hat Jahrzehnte<br />

gedauert. Man kann eine<br />

Regierung nicht nach weniger<br />

als zwei Jahren b<strong>eu</strong>rteilen.“ Er<br />

würde sie wiederwählen. Bloß<br />

durchgreifen müsste sie mehr,<br />

gegen die Streiks, die es ständig<br />

gebe, Meinungsfreiheit hin<br />

oder her. Über die Demon -<br />

stranten in Tunis sagt er: „Die<br />

wollen einen Staatsstreich!“<br />

Der Dritte heißt auch Mongi,<br />

mit Nachnamen Yahyaoui,<br />

er ist 39: Seit vier Jahren<br />

schmuggle er Benzin aus Algerien<br />

nach Tunesien, das sei<br />

der lukrativste Job weit und<br />

breit. Doch obwohl das illegal<br />

sei und kaum verborgen ablaufe,<br />

unternehme die Polizei<br />

nichts dagegen. Gut für ihn,<br />

einerseits. Andererseits würde<br />

Yahyaoui auch gern mal wieder<br />

einer legalen Erwerbstätigkeit<br />

nachgehen. Doch solche Jobs gibt es<br />

kaum in Kasserine, klagt er: „Und die<br />

L<strong>eu</strong>te von al-Nahda denken nur an ihre<br />

eigenen Interessen.“<br />

Der Vierte schließlich, Ridha Abdelli,<br />

45, ist Französischlehrer und sagt, er dürfe<br />

keine andere Partei wählen. „Wir stimmen<br />

für jene, die für den Islam sind. Dazu<br />

verpflichtet uns die Religion.“ Aber er<br />

sei sehr enttäuscht, dass al-Nahda nicht<br />

versucht habe, die Scharia in die Verfassung<br />

aufzunehmen.<br />

Nicht weit entfernt von dem Café steht<br />

Khaled Dalhoumi am rauchenden Berg<br />

und sagt, auch er habe den Glauben an<br />

die Demokratie verloren. Sie funktioniere<br />

nicht in Ländern mit großer Armut.<br />

„Stimmen werden gekauft. Und die Islamisten<br />

veranstalten nur einmal Wahlen.“<br />

Es sei ein Fehler gewesen, sagt Dalhoumi,<br />

sie überhaupt erst durch Wahlen an die<br />

Macht kommen zu lassen.<br />

So d<strong>eu</strong>tlich wie der Mann am Fuß des<br />

Chambi würden das die Oppositions -<br />

führer in Tunis nie sagen. Aber manche<br />

von ihnen denken insgeheim ganz ähnlich.<br />

MATHIEU VON ROHR<br />

DER SPIEGEL 33/2013 87<br />

FETHI BELAID / AFP<br />

Video: Mathi<strong>eu</strong> von Rohr über<br />

Tunesiens enttäuschte Kämpfer<br />

spiegel.de/app332013tunesien<br />

oder in der App DER SPIEGEL


Sicherheitskontrolle in Sanaa: Die Maxime vom fernen Feind wurde abgelöst<br />

Osama Bin Laden telefonierte nicht.<br />

In den Jahren in Abbottabad vermied<br />

er alles, was die Geheimdienste<br />

auf seine Spur hätte führen können,<br />

er kommunizierte nur über Boten.<br />

Glaubt man, was zwei Journalisten vergangene<br />

Woche auf der amerikanischen<br />

Nachrichten-Website The Daily Beast veröffentlichten,<br />

so hat die Qaida-Führung<br />

nun aber derartige Vorsichtsmaßnahmen<br />

fallengelassen.<br />

Denn Auslöser für die Schließung von<br />

21 US-Vertretungen von Jemen bis Paki -<br />

stan soll eine Konferenzschaltung der Qaida-Führung<br />

gewesen sein. Die Top 20 des<br />

Terrors hätten da virtuell zusammengesessen:<br />

Qaida-Chef Aiman al-Sawahiri,<br />

der bei dieser Gelegenheit den Leiter der<br />

Filiale im Jemen, Nassir al-Wuhaischi, offiziell<br />

zur Nummer zwei ernannte; außerdem<br />

die Anführer im Irak, in Nordafrika,<br />

in Usbekistan, der pakistanischen Taliban<br />

sowie der nigerianischen Boko Haram,<br />

dazu ein Vertreter der aufstrebenden Qaida<br />

auf dem Sinai.<br />

88<br />

AL-QAIDA<br />

Geschwätzige Terroristen<br />

Eine Warnung vor n<strong>eu</strong>en Anschlägen versetzte nicht nur die USA<br />

in Angst. Dabei hat sich die von Bin Laden gegründete<br />

Bewegung längst auf lokale Kampffelder zurückgezogen – mit Erfolg.<br />

Qaida-Chef Sawahiri<br />

Seine Befehlsgewalt hat Grenzen<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

AFP<br />

„Es war wie ein Treffen der Bruderschaft<br />

des Bösen“, zitierten die Daily-<br />

Beast-Reporter einen von drei US-Geheimdienstlern,<br />

mit denen sie gesprochen<br />

hatten. Die Runde hätte Anschlagsziele<br />

erörtert und erwähnt, dass ein oder mehrere<br />

Teams bereits vor Ort seien.<br />

Dass sich ausgerechnet in Zeiten des<br />

NSA-Skandals die weltweit meistgesuchten<br />

Terroristen zu einer Einsatzbesprechung<br />

im Netz treffen,<br />

käme einem Bruch aller Regeln<br />

gleich, denen jemand wie Sa -<br />

wahiri auch nach zwei Jahrzehnten<br />

Fahndung nach ihm sein<br />

Über leben verdankt. „Hirnrissig“<br />

nannte deshalb ein ehemaliger<br />

US- Außenministeriumssprecher<br />

die Veröffentlichung, die Regierung<br />

schwieg. Die Darstellung<br />

birgt eine weitere Ungereimtheit:<br />

Sie geht davon aus, dass al-Qaida<br />

allem Verfolgungsdruck und internen<br />

Spannungen zum Trotz<br />

eine zentral gest<strong>eu</strong>erte Organisation<br />

sei, mit Sawahiri als Boss,<br />

auf den alle hören.<br />

Das aber widerspricht den Entwicklungen<br />

der letzten Jahre –<br />

und auch dem am vergangenen<br />

Mittwoch veröffentlichten 14.<br />

Uno-Bericht zu der Terrororganisation<br />

und ihren Ablegern:<br />

„Al-Qaidas dezimierte Kernführung<br />

im afghanisch-pakistanischen<br />

Grenzgebiet hat sich nicht<br />

erholt“, heißt es dort. „Sie zeigt<br />

sich eher unfähig, Anschläge zu<br />

organisieren und zu befehlen.“<br />

Sawahiri schaffe es nicht, die<br />

einzelnen Ableger zu vereinen.<br />

Eine Bedrohung gehe eher von Tätern<br />

aus, die sich über Propaganda im Internet<br />

selbst radikalisierten und Anschläge verübten<br />

– wie die beiden Tschetschenen,<br />

die im April beim Boston-Marathon Bomben<br />

legten. Zum anderen bestehe die Gefahr,<br />

dass al-Qaida n<strong>eu</strong>e Konflikte für sich<br />

nutze, wie derzeit den Krieg in Syrien.<br />

Dieser habe der Organisation einen „markanten<br />

Auftrieb gegeben“.<br />

Das sehen <strong>eu</strong>ropäische Geheimdienste<br />

genauso: Syrien ist zum bevorzugten Reiseziel<br />

für Dschihadisten geworden, in den<br />

vergangenen zwölf Monaten kamen sie<br />

zu Tausenden in das umkämpfte Land.<br />

Dass sie die Einzigen sind, die den Rebellen<br />

im Kampf gegen die Militärmaschinerie<br />

des Regimes zu Hilfe kommen, gibt<br />

ihnen eine fatale Macht.<br />

Und niemand scheint sie dabei aufhalten<br />

zu wollen: Auf Inlandsflügen nach<br />

Hatay in der Südtürkei sitzen Vollbärtige<br />

aus Saudi-Arabien, Tunesien und aus russischen<br />

Kaukasus-Republiken dicht an<br />

dicht. Sie reisen unbehelligt in die Türkei<br />

ein und werden von ihren Kameraden<br />

über die nahe syrische Grenze gebracht.<br />

Auch am Abfluggate stehen ähnliche Gestalten<br />

in der Schlange, mit leichtem Gepäck<br />

und oft noch dem roten Lehm Nordsyriens<br />

an den Schuhen.<br />

Die türkischen Behörden stören sich<br />

bislang nicht an den Dschihad-Touristen.<br />

An den Grenzübergängen preisen<br />

Schmuggler offen ihre Dienste an. Irgendwie<br />

komisch sei das schon, sagte im Juni<br />

ein einstiger syrischer Gefolgsmann des<br />

YAHYA ARHAB / DPA


Ausland<br />

„Emirs“ Asadullah al-Schischani aus der<br />

grenznahen Dschihadisten-Hochburg Atmeh:<br />

„Vor einem Monat ist ein Dutzend<br />

Tschetschenen unbehelligt von Hatay<br />

wieder nach Hause geflogen. Dabei hatten<br />

sie uns erzählt, sie würden alle von<br />

Interpol gesucht.“<br />

Al-Qaidas diffuse Ideologie vom fortwährenden<br />

Kampf verschafft der Organisation<br />

den taktischen Vorteil, bei diversen<br />

Konflikten gleichzeitig präsent sein zu<br />

können. Die einzelnen Qaida-Ableger<br />

nähren sich wie Parasiten von ihren<br />

unterschiedlichen Gegnern: Im Jemen<br />

kämpfen sie gegen die Regierungsarmee<br />

und gegen die USA; in Syrien gegen die<br />

alawitische Diktatur von Baschar al-Assad<br />

und gegen die Kurden; in Mali gegen<br />

die Regierung und die Tuareg; und im<br />

Irak vor allem gegen das schiitische Regime<br />

von Premier Nuri al-Maliki.<br />

Bin Ladens einstige Maxime vom „fernen<br />

Feind“, den es in Amerika und<br />

Europa zu treffen gelte, ist abgelöst worden<br />

vom Prinzip der Vereinnahmung lokaler<br />

Auseinandersetzungen unterschiedlichster<br />

Prägung.<br />

Den innerislamischen Bruderkrieg gegen<br />

die Schiiten erkannte schon Abu Mussab<br />

al-Sarkawi, der ehemalige, inzwischen<br />

getötete Qaida-Führer im Irak, als<br />

günstige Gelegenheit, einen ohnehin<br />

schwelenden Konflikt für die eigenen Ziele<br />

zu nutzen. Damals versuchte Osama<br />

Bin Laden noch, ihn zu stoppen; h<strong>eu</strong>te<br />

ist die Terrororganisation im Irak wieder<br />

im Aufschwung. Sie profitiert von der<br />

Politik des Premiers, der zugunsten seiner<br />

schiitischen Machtbasis systematisch alle<br />

Sunniten aus wichtigen Ämtern verdrängt.<br />

Der „Islamische Staat im Irak und Syrien“<br />

(Isis) ist zum schlagkräftigsten Ableger<br />

von al-Qaida aufgestiegen. Nach<br />

und nach übernimmt die Organisation in<br />

Syrien Kämpfer und Basen der Nusra-<br />

Front, einst ein Sammelbecken der Dschihadisten.<br />

Die Qaida-Führung hat hier allerdings<br />

wenig zu sagen: „Die erfolglosen<br />

Versuche Sawahiris, interne Konflikte beizulegen,<br />

zeigen die Grenzen seiner Befehlsgewalt“,<br />

so der Uno-Bericht.<br />

Sawahiris schwache Führungsposition<br />

brachte den „Washington Post“-Autor<br />

Max Fisher zu einer ganz n<strong>eu</strong>en Vermutung,<br />

warum der Qaida-Chef auf der angeblichen<br />

Schaltkonferenz so geschwätzig<br />

wurde: „Dass er eine große Operation anzuordnen<br />

vermochte, könnte ihm im internen<br />

Machtgerangel helfen.“<br />

Washingtons hektische Reaktion auf<br />

das Gespräch – ein gutes halbes Dutzend<br />

Drohnenattacken im Jemen und eine<br />

weltweite Reisewarnung für Amerikaner<br />

– dürfte ihn dann gefr<strong>eu</strong>t haben. Hätte<br />

Sawahiri doch genau jenen Effekt erzielt,<br />

den er beabsichtigte. Voraus gesetzt, die<br />

Geschichte stimmt.<br />

CHRISTOPH REUTER<br />

„Haarsträubende Fehler“<br />

Der US-Nahostexperte Gregory D. Johnsen über den Aufstieg<br />

von al-Qaida im Jemen und den Drohnenkrieg Amerikas<br />

Johnsen gilt als einer der<br />

besten Kenner von al-<br />

Qaida im Jemen. Ende<br />

2012 erschien zum gleichen<br />

Thema sein Buch<br />

„The Last Refuge“.<br />

Autor Johnsen<br />

„Schlechte Informanten“<br />

JEFF TAYLOR<br />

SPIEGEL: Die USA haben<br />

gerade den siebten<br />

Drohnenangriff in weniger<br />

als zwei Wochen auf<br />

mutmaßliche Mitglieder<br />

der Qaida im Jemen<br />

ausgeführt. Seit 2009<br />

gab es dort 75 Drohneneinsätze.<br />

Im gleichen<br />

Zeitraum stieg die Zahl<br />

der Qaida-Kämpfer von<br />

rund 300 auf über 1000 Kämpfer an –<br />

eine Folge der Drohnen?<br />

Johnsen: Es sind nicht nur die Drohnen,<br />

die zum Erstarken der Qaida im Jemen<br />

beigetragen haben. Aber sie sind<br />

das wichtigste Element. Denn sie treffen<br />

eben nicht nur Radikale, sondern<br />

auch deren Kinder, sie treffen unbeteiligte<br />

Zivilisten – und sie bringen die<br />

Jemeniten insgesamt gegen die USA<br />

auf. Denn sie sehen diese Attacken<br />

aus der Luft als Demütigung. Außerdem<br />

passieren immer wieder haarsträubende<br />

Dinge.<br />

SPIEGEL: Ein Beispiel?<br />

Johnsen: Der Geistliche Salim Ahmed<br />

Bin Ali Dschabir aus dem Ostjemen<br />

hielt im vergangenen Jahr Predigten<br />

gegen Qaida-Mitglieder und beschuldigte<br />

sie, keine wahren Muslime, sondern<br />

Mörder zu sein. Der Mann war<br />

so erfolgreich, dass al-Qaida aus seiner<br />

Gegend keine Rekruten mehr bekam.<br />

Also baten sie um ein Treffen mit<br />

ihm – und wurden alle zusammen von<br />

einer amerikanischen Drohne getötet:<br />

der Prediger, sein Begleiter und die<br />

Männer von al-Qaida. Schlechte In -<br />

formanten, das ist ein Kernproblem.<br />

Aber selbst wenn die Angriffe nur Mitglieder<br />

der Qaida träfen, würde das<br />

von den meisten Jemeniten nicht unbedingt<br />

als Maßnahme im Anti-Terror-Kampf<br />

verstanden.<br />

SPIEGEL: Sondern wie?<br />

Johnsen: Al-Qaida besteht im Jemen,<br />

anders als in Afghanistan, nicht im<br />

Wesentlichen aus Ausländern, sondern<br />

aus Einheimischen. Und jeder Jemenit<br />

hat eine Familie<br />

und einen Stamm. Wird<br />

er umgebracht, zählt für<br />

seine Angehörigen in<br />

erster Linie, dass einer<br />

der Ihren getötet wurde,<br />

was Vergeltung fordert.<br />

SPIEGEL: Haben die<br />

Drohnenangriffe am<br />

Ende also mehr n<strong>eu</strong>e<br />

Feinde geschaffen?<br />

Johnsen: Ich bin kein<br />

grundsätzlicher Kritiker<br />

der Einsätze. Aber die<br />

Obama-Regierung hat<br />

im Jemen den Fehler gemacht,<br />

den Verlockungen<br />

des taktischen Nutzens<br />

von Drohnen zu erliegen. Dar -<br />

über wurde versäumt, eine Strategie<br />

zu entwerfen, wie man mit al-Qaida<br />

langfristig umgehen will. Die Drohnen<br />

sollen alles richten. Und so etwas geht<br />

schief.<br />

SPIEGEL: Sie haben vor kurzem geschrieben,<br />

nur die Stammesführer und<br />

Geistlichen könnten al-Qaida dort<br />

schwächen. Aber wie?<br />

Johnsen: Indem man ihnen die Chance<br />

dazu lässt. Die Lage hat sich völlig<br />

verändert. Es geht inzwischen nicht<br />

mehr um Jemeniten gegen al-Qaida,<br />

sondern um Amerikaner gegen al-Qaida<br />

im Jemen. Die zahlreichen Angriffe<br />

lassen Qaida-Mitglieder in den Augen<br />

vieler Jemeniten als Patrioten erscheinen,<br />

während ihre Gegner als Handlanger<br />

der Amerikaner angesehen<br />

werden.<br />

SPIEGEL: Was würde eigentlich geschehen,<br />

wenn al-Qaida im Jemen einfach<br />

verschwände?<br />

Johnsen: Das Land würde dann wieder<br />

in Vergessenheit geraten, und mit den<br />

Millionenhilfen aus Amerika wäre es<br />

auch vorbei. Die USA sehen den Jemen<br />

nur noch im Zusammenhang mit<br />

al-Qaida. Das müsste sich als Erstes<br />

ändern. Das Land ist unfassbar arm,<br />

leidet unter Wassermangel, der Staat<br />

existiert in vielen Landesteilen kaum,<br />

Krankenversorgung, Strom und Gerichte<br />

funktionieren so gut wie nicht.<br />

Hier müsste Amerika helfen. Wenn<br />

sich nur die Radikalen kümmern, werden<br />

die populär, das gilt auch für al-<br />

Qaida.<br />

DER SPIEGEL 33/2013 89


Ehemaliger Regierungschef Berlusconi mit Verlobter Pascale*: Hausarrest in einem seiner italienischen Domizile?<br />

ALESSANDRO BIANCHI/REUTERS<br />

90<br />

ITALIEN<br />

Ein Urteil und<br />

viele Optionen<br />

Der wegen St<strong>eu</strong>erhinterziehung<br />

verurteilte Ex-Premier Silvio<br />

Berlusconi ringt ums politische<br />

Überleben. Und gefährdet<br />

den Fort bestand der Koalition.<br />

Sie sind entschlossen, an allen Fronten<br />

zu kämpfen. Zu Wasser, zu Lande<br />

und in der Luft. Unten, entlang<br />

den Sandstränden von Riccione oder<br />

Portofino, sollen die Sonnenhungrigen<br />

und Badenden Protestplakate zu sehen<br />

bekommen. Und oben, am Himmel über<br />

der Mittelmeerküste, Flugz<strong>eu</strong>ge mit<br />

Spruchbändern. Den Berlusconi-tr<strong>eu</strong>en<br />

Aktivisten schwebt dabei die Losung „Silvio<br />

libero“ vor – Freiheit für Silvio.<br />

Zu vier Jahren Haft wegen St<strong>eu</strong>erhinterziehung<br />

ist Ex-Premier Silvio Berlusconi<br />

rechtskräftig verurteilt worden. Er,<br />

der milliardenschwere Medienunternehmer,<br />

der zwei Jahrzehnte lang Italiens<br />

politische Bühne sich und seinen Geschäftsinteressen<br />

ungestraft dienstbar<br />

machte. Und der dabei dank trickreicher<br />

Anwälte Dutzende Anzeigen wegen Bilanzfälschung,<br />

Bestechung oder Mafia-<br />

Nähe, wegen Meineids und gebrochener<br />

Amtsgeheimnisse überstand.<br />

Umso tiefer sitzt nun, nach dem Verdikt<br />

des römischen Berufungsgerichts, der<br />

Schock. Umso lauter klagen sie in der autokratisch<br />

geführten Berlusconi-Partei<br />

Volk der Freiheit (PdL) über einen politisch<br />

motivierten Schuldspruch, bei dem<br />

ein 71 Jahre alter Richter das letzte Wort<br />

hatte, der sich gleich danach in einem Interview<br />

mit der Tageszeitung „Mattino“<br />

offenherzig und wider alle Regeln zur Urteilsfindung<br />

äußerte. Fiebrig arbeiten die<br />

PdL-Strategen nun an Maßnahmen, die ihrem<br />

Anführer den Kopf retten sollen. Landesweit<br />

läuft die Mobilisierung am 15. August<br />

an, an Ferragosto, Mariä Himmelfahrt,<br />

dem Tag, den Italiener als sommerliche<br />

Krönung süßen Nichtstuns verstehen.<br />

Berlusconi aber kümmert das nicht, er<br />

steht unter Zeitdruck. Denn über die Frage,<br />

ob ihm sein Abgeordnetenmandat im<br />

Oberhaus entzogen wird, berät der Senat<br />

am 9. September. Kurz darauf bricht eine<br />

30-Tage-Frist für den Ex-Premier an, in<br />

der er bekanntgeben muss, wie er seine<br />

Strafe verbüßen will.<br />

Dank Teilamnestie bleibt ihm nur noch<br />

ein Jahr abzusitzen. Zusätzlich kann ihm,<br />

wegen seines Alters von bald 77 Jahren,<br />

der Gang ins Gefängnis per Gerichts -<br />

beschluss erlassen werden. Eine vollständige<br />

Begnadigung durch Staatspräsident<br />

* Am 4. August in Rom.<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

Giorgio Napolitano gilt allerdings als wenig<br />

wahrscheinlich. Weswegen sich die<br />

Kommentatoren, nicht ohne wohliges<br />

Schaudern, seit Tagen der Erörterung der<br />

Alternativen widmen.<br />

Ob Berlusconi, der immerhin vier Regierungen<br />

in Rom vorstand, demnächst<br />

als Haftersatz Sozialarbeit leisten wird?<br />

Vielleicht gar mit Senioren, um endlich<br />

altersgemäß vom „Bunga Bunga zum Bingo<br />

Bingo“ überzuwechseln, wie der Regiss<strong>eu</strong>r<br />

und Oscar-Preisträger Roberto Benigni<br />

höhnisch forderte?<br />

Oder ob die Variante Hausarrest in Frage<br />

kommt, bei der Berlusconi, dessen Reisepass<br />

eingezogen wurde, sich zwar nicht<br />

für seinen Wohnsitz auf Antigua, wohl<br />

aber für eines seiner italienischen Domizile<br />

entscheiden könnte? Telefonate und Besuche<br />

müsste er sich in diesem Fall genehmigen<br />

und eine Meldepflicht bei der örtlichen<br />

Polizeistation möglicherweise gefallen lassen.<br />

Das letzte Wort hat in derlei Dingen<br />

das zuständige Gericht in Mailand. Der<br />

verurteilte Politiker jedoch scheint anderes<br />

im Sinn zu haben. Eine der rabiateren Frauen<br />

aus seinem Umfeld, die Abgeordnete<br />

Daniela Santanchè, hat er sicherheitshalber<br />

schon verkünden lassen, er werde am Ende<br />

den Weg in den Knast wählen – „aber vorher<br />

gehen wir noch an die Urnen“.<br />

Sollte Berlusconi mit seiner Drohung<br />

Ernst machen, so steht Italien ein unruhiger<br />

Herbst bevor. Die im April mühsam<br />

geschmiedete Koalition mit der Demokratischen<br />

Partei (PD), einem Mitte-links-


Ausland<br />

Bündnis, dem Regierungschef Enrico Letta<br />

angehört, wäre dann wohl Geschichte.<br />

Und Berlusconi, sofern noch nicht endgültig<br />

aus dem Senat verbannt, könnte<br />

bei N<strong>eu</strong>wahlen im Oktober oder November<br />

als Kandidat ein letztes Mal triumphieren<br />

– ehe er als Märtyrer den Weg<br />

hinter Gitter anträte.<br />

Im berüchtigtsten römischen Gefängnis,<br />

einem ockerfarbenen Klotz am Tiber-Ufer<br />

namens Regina Coeli, Himmels königin,<br />

hat der mit Berlusconi befr<strong>eu</strong>ndete Gefängnispfarrer<br />

bereits geistlichen Beistand<br />

gelobt für den Fall, dass der Cavaliere bei<br />

ihm einsitzen wolle. Eine Haftanstalt, in<br />

der Freiheitskämpfer wie der spätere Präsident<br />

Sandro Pertini unter den Faschisten<br />

gefangen gehalten wurden, würde zu Berlusconis<br />

Selbstbild blendend passen.<br />

Wer allerdings den Ex-Premier nach<br />

Verkündung des Urteils weinend und von<br />

seiner fast 50 Jahre jüngeren Verlobten<br />

Francesca Pascale getröstet sah, der mag<br />

an einen freiwilligen Opfergang in die<br />

Zelle am Tiber nicht glauben. Eher an einen<br />

Trick des für Possen und Peinlichkeiten<br />

berühmten Polit-Profis.<br />

Das von der Wirtschaftskrise schwer<br />

angeschlagene Italien und mit ihm der<br />

Rest der EU kommen durch den Richterspruch<br />

in Bedrängnis: Wird Berlusconi<br />

nicht begnadigt und somit wie im Urteilsspruch<br />

gefordert auf Jahre hinaus vom<br />

politischen Betrieb ausgeschlossen, so<br />

wäre dies wohl das Ende der regierenden<br />

Koalition. Einer Koalition, der Premier<br />

Letta in seiner 100-Tage-Bilanz, allen Differenzen<br />

mit dem Berlusconi-Lager zum<br />

Trotz, zaghafte Erfolge bei der Erholung<br />

der Wirtschaft attestierte.<br />

Und das, nachdem soeben im sechsten<br />

Quartal hintereinander eine Rezession gemeldet<br />

wurde; das durchschnittliche reale<br />

Einkommen von Beschäftigten ist mittlerweile<br />

auf den Stand von 1985 gesunken.<br />

Es könnte, so warnt der Gouvern<strong>eu</strong>r<br />

der Nationalbank, noch schlimmer kommen<br />

– im Falle politischer Instabilität folge<br />

die Strafe der Märkte sofort. Würde<br />

der Risikoaufschlag bei Staatsanleihen<br />

nur um einen halben Punkt steigen, so<br />

entspräche allein das einem Minus von<br />

2,5 Milliarden Euro in Italiens Kassen.<br />

Auch für Berlusconi könnte der Herbst<br />

trübe Tage bringen. Dann nämlich, wenn<br />

im „Ruby“-Prozess ein rechtskräftiges Urteil<br />

ergeht – wenn also der Richterspruch<br />

aus erster Instanz, sieben Jahre Haft wegen<br />

Prostitution und Amtsmissbrauchs,<br />

bestätigt wird. In diesem Fall würde die<br />

Haftverschonung für Berlusconi hinfällig,<br />

die allen über 70-Jährigen in Italien gewährt<br />

wird, sofern sie weder als Gewohnheits-<br />

noch Berufsverbrecher gelten.<br />

„Es wären dann insgesamt elf Jahre<br />

Haft“, urteilt der renommierte Turiner<br />

Rechtsexperte und Ex-Staatsanwalt Bruno<br />

Tinti, „und damit könnte er tatsächlich<br />

im Knast landen.“<br />

WALTER MAYR<br />

DER SPIEGEL 33/2013 91


Aktivistinnen Karantza, Xydia in Athen*: „Sie haben uns behandelt wie unmündige Kinder“<br />

Es gibt da eine Frage, die Mary Karantza<br />

schon seit längerem umtreibt,<br />

sie stellt sie auch an diesem August-<br />

Nachmittag wieder. Diesmal allerdings<br />

laut. Die Frage lautet: Was unterscheidet<br />

Griechenland von Rest <strong>eu</strong>ropa?<br />

Warum ticken die Griechen anders als<br />

die D<strong>eu</strong>tschen? Warum leben sie jahrelang<br />

unbekümmert über ihre Verhältnisse,<br />

verweigern ihrem Staat die St<strong>eu</strong>ern und<br />

werfen ihren Müll ungetrennt in große<br />

Container, obwohl sie wissen, dass er auf<br />

illegalen Deponien entsorgt wird?<br />

Karantza sitzt in ihrem hellen, loft -<br />

artigen Büro, der Weg dorthin führt<br />

durchs Zentrum Athens, ein Stahltor mit<br />

Gegensprechanlage sichert den Zugang<br />

zum Gebäude. Die Junkies hier in Psiri,<br />

so erklärt Karantza, spritzten sich seit kur-<br />

* Im einst verwahrlosten Teil der Hauptstadt in einer<br />

Gasse, die sie mit n<strong>eu</strong>en Lampen versahen.<br />

92<br />

GRIECHENLAND<br />

Lebenszeichen aus Athen<br />

Die Krise hat eine Generation von jungen, aufbegehrenden<br />

Bürgern hervorgebracht. Dem Stillstand begegnen<br />

sie mit Gemeinsinn, Kooperativen und kreativen Ideen.<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

zem einen Cocktail, versetzt mit Batteriesäure.<br />

Seither seien sie unberechenbar.<br />

Mit ihren Fragen will die 33-jährige<br />

Designerin, schmal und im schwarzen Jerseykleid,<br />

nicht etwa unfr<strong>eu</strong>ndliche Klischees<br />

über die Griechen aufzählen, im<br />

Gegenteil. Sie will mit diesen Klischees<br />

aufräumen, der Moment dafür sei gekommen,<br />

sagt sie. Ihr Loft dient als Labor.<br />

Das Experiment: eine griechische Zivilgesellschaft<br />

aufzubauen. Karantza ist, zusammen<br />

mit Ähnlichdenkenden, Pionierin<br />

dieser n<strong>eu</strong>en Bewegung.<br />

An einer Glasscheibe in ihrem Büro<br />

klebt in dicken, roten Lettern ein Bukowski-Zitat:<br />

„A chance for change is<br />

some where.“ Irgendwo existiert eine<br />

Chance auf Veränderung.<br />

Man muss sie nur suchen. Für Karantza<br />

bed<strong>eu</strong>tet die Krise diese Chance. Sie hat,<br />

gemeinsam mit Stephania Xydia, 26,<br />

„Imagine the City“ gegründet. Die Nichtregierungsorganisation<br />

ist eine Koordinierungsstelle<br />

für Bürgerinitiativen, zugleich<br />

aber auch eine Art Umerziehungsmaßnahme<br />

mit dem Ziel eines besseren<br />

Managements in Städten und Dörfern.<br />

Die Griechen, sagt Stephania Xydia,<br />

hätten nie gelernt, sich am öffentlichen<br />

Leben zu beteiligen, es selbst zu gestalten.<br />

„Der Staat hat uns behandelt wie unmündige<br />

Kinder, und die meisten waren froh<br />

darüber.“ Sie selbst ist in Luxemburg aufgewachsen,<br />

hat in England studiert. Erst<br />

2011 ist sie nach Athen zurückgekehrt,<br />

ihren Job als Unternehmensberaterin in<br />

London hat sie aufgegeben. Ihren Eltern<br />

war das nicht recht. Was willst du in<br />

Athen?, fragten sie. Etwas tun, antwortete<br />

die Tochter.<br />

Jetzt hält sie gemeinsam mit Karantza<br />

die lokalen Behörden in ganz Griechenland<br />

auf Trab. Seit es „Imagine the City“<br />

gibt, können die Bürger untereinander<br />

leichter Informationen austauschen, Gutachten<br />

und Statistiken etwa. Bürgermeister<br />

können nun nicht mehr schnell ein<br />

n<strong>eu</strong>es Rathaus oder einen n<strong>eu</strong>en Dorfplatz<br />

bauen, Dinge, die niemand braucht<br />

– außer den Verantwortlichen, die die<br />

Aufträge ihren Fr<strong>eu</strong>nden zuschanzen.<br />

Es bewegt sich etwas in Griechenland<br />

in diesen Monaten. Es wird nicht mehr<br />

nur gestreikt, gezetert und aus Protest<br />

mit Joghurt geschmissen. Es bildet sich,<br />

ausgelöst durch die Krise, ein n<strong>eu</strong>es Be-<br />

NIKOS PILOS / DER SPIEGEL


wusstsein, ein Gemeinsinn, der vorher so<br />

nicht vorhanden war.<br />

Es gibt nun zivilen Widerstand, der<br />

andere Ziele hat, als lediglich eigene Interessen<br />

durchzuboxen.<br />

In Thessaloniki wehren sich Bürger<br />

nicht einfach nur gegen die geplante<br />

Privatisierung der städtischen Wasserwerke,<br />

sondern sie haben als Kollektiv selbst<br />

ein Angebot für den Kauf eingereicht.<br />

„136“ heißt die Bewegung, weil jeder, der<br />

mitmacht, 136 Euro zahlen müsste, sollten<br />

die Behörden auf das Angebot ein -<br />

gehen.<br />

Auf der Halbinsel Chalkidiki protestieren<br />

die Bewohner auf einmal dagegen,<br />

dass eine kanadische Firma dort, gemeinsam<br />

mit einem griechischen Baulöwen,<br />

Gold abbauen will. Dabei war Umweltschutz<br />

bisher keine besonders griechische<br />

Tugend.<br />

Was also geschieht da gerade im Land,<br />

was ist los mit den Griechen?<br />

Es gehe nicht unbedingt um Mentalitäten,<br />

sagt Mary Karantza: „Lebt ein Grieche<br />

in Dänemark, verhält er sich irgendwann<br />

wie ein Däne, zahlt St<strong>eu</strong>ern und<br />

trennt den Müll. Ein D<strong>eu</strong>tscher hingegen,<br />

der auf dem Peloponnes wohnt, hört auch<br />

auf, seine Wasserrechnung zu bezahlen –<br />

weil sie sowieso nur unregelmäßig bei<br />

ihm eintrifft und keiner danach fragt.“<br />

Die Spielregeln des Staates, sagt Karantza,<br />

bestimmten die Handlungsweise<br />

einer Gesellschaft. Und für die meisten<br />

Griechen war der Staat lange vor allem<br />

ein Feind. Das Gemeinwesen wurde sabotiert,<br />

wo immer es möglich war. Das<br />

fing bei sich hemmungslos bereichernden<br />

Politikern an und hörte beim Taxifahrer<br />

auf, auch jetzt ist das manchmal noch so.<br />

Es war ja allen egal.<br />

Ausland<br />

„Andere Völker haben Institutionen,<br />

wir haben Luftspiegelungen“, schrieb der<br />

Autor Nikos Dimou 1975 in seiner berühmten<br />

Aphorismensammlung „Über<br />

das Unglück, ein Grieche zu sein“.<br />

Im sechsten Jahr der Krise sind selbst<br />

die Scheininstitutionen im Untergang begriffen:<br />

Das Gesundheitssystem ist so gut<br />

wie kollabiert. Die nationale Gesundheitsbehörde<br />

schuldet ihren Trägern mehr als<br />

zwei Milliarden Euro. Und der Staat selbst<br />

steht bei der Privatwirtschaft mit etwa sieben<br />

Milliarden Euro in der Kreide.<br />

Der Staat ist am Ende,<br />

finanziell und moralisch.<br />

Das ist keine ausschließlich<br />

schlechte Nachricht.<br />

Es sind die alten Spielregeln, die Griechenland<br />

in die Krise geführt haben. Die<br />

politische Klasse mag sie vorgegeben haben,<br />

aber fast jeder hat sich daran gehalten.<br />

Jetzt ist das Spiel zu Ende, es ist kein<br />

Geld mehr da für Fakelaki und Rousfeti,<br />

Korruption und Vetternwirtschaft, bisher<br />

zwei Grundprinzipien des griechischen<br />

Gemeinwesens.<br />

Und so gibt es plötzlich Raum für diejenigen,<br />

die n<strong>eu</strong>e Regeln aufstellen wollen.<br />

Für Veränderung. Für mehr Mit -<br />

einander. 3000 Initiativen wurden in den<br />

vergangenen drei Jahren gegründet, überall<br />

in Griechenland. Sie alle haben dasselbe<br />

Ziel: etwas besser zu machen als<br />

zuvor. Es gibt jetzt Lebensmittelkoope -<br />

rativen, Gemeinschaftsgärten, soziale<br />

Apotheken, Nachbarschaftshilfe für die<br />

Ärmeren.<br />

„Jahrzehntelang zählte für uns nur der<br />

BMW vor der Tür und die Miele-Waschmaschine<br />

im Bad“, sagt Andreas Roumeliotis,<br />

ein ehemaliger Journalist, der die<br />

Bemühungen der jungen griechischen Zivilgesellschaft<br />

in einem Buch zusammengefasst<br />

hat. „Ich kann auch ohne Euro“<br />

heißt es, und der Titel spielt nicht etwa<br />

auf die Rückkehr zur Drachme an, sondern<br />

darauf, dass Griechenland auch<br />

ohne BMWs ein reiches, weil fruchtbares<br />

Land ist.<br />

N<strong>eu</strong>nmal hat Roumeliotis, 52, in den<br />

vergangenen drei Jahren seinen Job verloren.<br />

Bevor Premierminister Antonis<br />

Samaras den Staatssender ERT von einem<br />

Tag auf den anderen schloss, hatte<br />

er dort eine Radiosendung. Im Augenblick<br />

lebt der Journalist auf Kreta und<br />

bastelt an einem sozialen Netzwerk: Unter<br />

der Adresse enallaktikos.gr sollen von<br />

September an alle sozialen Bewegungen<br />

im Land erfasst sein; die n<strong>eu</strong>e Infrastruktur<br />

der Solidarität, ob Suppenküche oder<br />

Kleiderbasar, kann dann auf Google<br />

Maps abgerufen werden.<br />

„Was wir jetzt leisten müssen, ist eigentlich<br />

Aufgabe des Staates“, sagt Roumeliotis.<br />

Aber der Staat ist am Ende, finanziell<br />

und moralisch. Das ist keine ausschließlich<br />

schlechte Nachricht. Es ist kein<br />

sanfter Umbruch, der da stattfindet. Eher<br />

ein recht brutales Erwachen.<br />

Allein auf Kreta gibt es mittlerweile fünf<br />

alternative Währungen. Bezahlt wird mit<br />

Dienstleistungen statt Euro, die eigentliche<br />

Währung aber heißt Vertrauen. Wenn der<br />

Schreiner einen Anwalt braucht, zimmert<br />

er ihm für seine Beratung anschließend<br />

einen Stuhl.<br />

In Athen gibt es Cafés, in denen ein<br />

Gast jeweils den Cappuccino für einen<br />

Demonstrierende Umweltschützer auf Chalkidiki: Bewusstsein, das vorher so nicht vorhanden war<br />

NIKOS PILOS<br />

DER SPIEGEL 33/2013 93


Ausland<br />

Unbekannten mitbezahlt, so dass auch<br />

Menschen, die sich das nicht mehr leisten<br />

können, hin und wieder ein Café<br />

besuchen. In Thessaloniki darf man seine<br />

Theaterkarte mit Lebensmitteln be -<br />

gleichen.<br />

Hätte die n<strong>eu</strong>e Solidarität im Land eine<br />

Ikone, Giorgos Vichas wäre in der engeren<br />

Auswahl. Der 55-jährige Kardiologe<br />

betreibt eine Klinik in einem Container<br />

auf der alten Luftwaffenbasis Elleniko im<br />

Süden Athens. Er arbeitet ehrenamtlich,<br />

zusammen mit 90 anderen Ärzten, fast<br />

alle Fachrichtungen sind vertreten. Geräte,<br />

Betten, Stühle und Medikamente sind<br />

Sachspenden; Geld nehmen Vichas und<br />

seine Kollegen nicht an.<br />

Gemeinsam ersetzen sie seit fast zwei<br />

Jahren den Staat, der die medizinische<br />

Grundversorgung seiner Bürger nicht<br />

mehr garantieren will und kann, weil diese<br />

sich ihre Versicherungen nicht mehr<br />

leisten können.<br />

Kardiologe Vichas: Ikone der n<strong>eu</strong>en Solidarität<br />

94<br />

Mittlerweile sitzen jeden Monat bis zu<br />

3000 Patienten in dem Warteraum, der<br />

aussieht wie eine provisorische Bushaltestelle.<br />

Die Zahl steigt weiter an. Trotzdem<br />

ist die Klinik nur auf den ersten Blick ein<br />

Symbol für das griechische Elend. Sie ist<br />

auch ein Beleg für den n<strong>eu</strong>en Zusammenhalt.<br />

Griechen, die gemeinsam etwas auf die<br />

Beine stellen, ohne dafür bezahlt zu werden,<br />

habe er vorher einfach nicht gekannt,<br />

sagt Giorgos Vichas: „Ich hätte nie<br />

geglaubt, dass eine Gesellschaft, die so<br />

lange derart oberflächlich war, sich solidarisch<br />

verhalten kann.“<br />

Bis zur Krise, sagt Vichas, habe nur die<br />

eigene Familie, das eigene Wohl gezählt.<br />

Jetzt gebe es zwar weniger Wohlstand,<br />

dafür aber mehr Anteilnahme und Mitgefühl.<br />

Die Krise bringt das Gute in den<br />

Griechen wieder zum Vorschein.<br />

Mary Karantza und Stephania Xydia,<br />

die beiden Frauen von „Imagine the<br />

City“, haben mit Hilfe ihres Netzwerks<br />

im vergangenen Winter 200 Lampen in<br />

einer unbel<strong>eu</strong>chteten Straße im Athener<br />

Zentrum angebracht. Aus der ganzen<br />

Stadt kamen L<strong>eu</strong>te, um zu helfen, jeder<br />

mit einem Lampenschirm. Die Aktion erregte<br />

derart Aufsehen, dass Coca-Cola<br />

sich als Sponsor anbot. Der Bürgermeister<br />

hat den Frauen eine Dankeskarte geschickt.<br />

Seit langem versucht die Stadt, ihr Zentrum<br />

wieder bewohnbar zu machen – derzeit<br />

leben hier vor allem Flüchtlinge und<br />

Drogensüchtige. Mit den n<strong>eu</strong>en Lampen<br />

haben Karantza und Xydia mehr erreicht<br />

als die Sonderkommandos, die der Innenminister<br />

regelmäßig schickt. In der Straße<br />

haben seither n<strong>eu</strong>e Läden eröffnet, einmal<br />

in der Woche wird Tango getanzt,<br />

Studenten wollen jetzt<br />

wieder hier wohnen.<br />

Es sind vor allem die<br />

Jüngeren, die den Aufbruch<br />

wollen und dafür<br />

hart arbeiten. Die Älteren<br />

haben das nie gelernt, sie<br />

hatten sich eingerichtet in<br />

einem System, in dem<br />

nicht Leistungen zählen,<br />

sondern die Verbindungen<br />

zu denen, die mehr Einfluss<br />

haben. Der größte<br />

Wunsch der Eltern für ihre<br />

Kinder war in ganz Griechenland<br />

lange Zeit derselbe:<br />

ein Job im Öffentlichen<br />

Dienst.<br />

Die Eltern mögen sich<br />

durch die Krise nicht sehr<br />

verändert haben, ihre Kinder<br />

aber umso mehr. „Viele<br />

suchen immer noch<br />

NIKOS PILOS / DER SPIEGEL<br />

nach einem Heilsbringer<br />

in der Politik, nach jemandem,<br />

der sie füttert“, sagt<br />

Mary Karantza.<br />

Sie hat oft überlegt, ihr Land zu verlassen.<br />

Bis vor kurzem hat sie ihr Büro<br />

mit zwei Modedesignerinnen geteilt, die<br />

eine lebt jetzt in Los Angeles, die andere<br />

in Berlin. „Es gibt hier so viele Möglichkeiten,<br />

etwas zu verändern“, sagt sie, „wir<br />

dürfen nicht gehen.“<br />

Im Herbst starten die beiden Frauen<br />

ihr n<strong>eu</strong>es Projekt. Dabei geht es nicht<br />

mehr um Städte, sondern um den Staat.<br />

Die beiden planen eine Art Verfassungskonvent,<br />

sie haben ihrem Vorhaben<br />

einen großen Namen gegeben: Politeia<br />

2.0. Alle, die etwas N<strong>eu</strong>es wollen für<br />

Griechenland, sollen mitmachen. Giorgos<br />

Vichas, der Kardiologe, hat bereits zugesagt.<br />

Sie wollen sie wirklich ändern, die<br />

Spielregeln.<br />

JULIA AMALIA HEYER<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

TÜRKEI<br />

Jede Menge<br />

Staatsfeinde<br />

Im Ergenekon-Prozess gegen<br />

angebliche Verschwörer wurden<br />

auch Oppositionelle verurteilt.<br />

Darunter sind drei Journalisten, die<br />

in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> Schutz suchen.<br />

Seit zwei Tagen ist Adnan Türkkan<br />

ein verurteilter Terrorist. Nun sitzt<br />

der junge Türke, 30 Jahre alt, angezogen<br />

wie fürs Büro, mit blauem Hemd<br />

und grauer Anzughose, in einer Kellerwohnung<br />

in der Nähe des Frankfurter Hauptbahnhofs.<br />

Und überlegt, ob er wieder zurückkehren<br />

will in seine Heimat. Oder ob<br />

er in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> Asyl beantragen sollte.<br />

An diesem Mittwoch ist er noch unsicher.<br />

Am 5. August wurde der Studentenführer<br />

und Fernsehjournalist von einem<br />

Sondergericht in Abwesenheit für schuldig<br />

erklärt, Mitglied der „bewaffneten<br />

Terrororganisation Ergenekon“ zu sein.<br />

Von seiner Verurteilung erfuhr Türkkan<br />

durch Zeitungen und Fernsehen. Nun soll<br />

er plötzlich ein Staatsfeind sein.<br />

„Zehneinhalb Jahre“, sagt er bedächtig.<br />

„Weil ich eine sogenannte Terrorstraftat<br />

begangen haben soll, haben sie mich zu<br />

zehneinhalb Jahren Haft verurteilt. Ich<br />

würde gern wissen, was für eine Tat das<br />

eigentlich gewesen sein soll.“ Im Urteil<br />

heißt es, wegen seines „negativen Verhaltens“<br />

während des Verfahrens könne die<br />

Strafe nicht reduziert werden. Und weil<br />

er als Wiederholungstäter gelten müsse,<br />

werde danach „seine Bewegungsfreiheit<br />

unter Kontrolle“ gestellt.<br />

Bereits Ende Juli war Türkkan zusammen<br />

mit zwei befr<strong>eu</strong>ndeten, ebenfalls angeklagten<br />

Journalisten von Istanbul nach<br />

Frankfurt geflogen. Die drei Türken bet<strong>eu</strong>ern,<br />

dass sie kamen, um an einer Konferenz<br />

teilzunehmen, nicht um sich ins Ausland<br />

abzusetzen. Doch sie dürften geahnt haben,<br />

dass ihnen lange Haftstrafen drohten.<br />

Auch die Kollegen, Mehmet Sabuncu<br />

und Mehmet Bozkurt, wurden am Montag<br />

wegen ihrer angeblichen Mitgliedschaft<br />

im Ergenekon-Geheimbund verurteilt,<br />

der eine zu sechs, der andere zu<br />

n<strong>eu</strong>n Jahren Haft. Der Oberste Gerichtshof<br />

muss ihre Urteile allerdings noch bestätigen;<br />

sie wollen vorerst in die Türkei<br />

zurückkehren. Gegen Türkkan liegt bereits<br />

ein Haftbefehl vor; er will daher in<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> bleiben.<br />

Sie sind 3 von insgesamt 275 Angeklagten<br />

im spektakulärsten und zugleich umstrittensten<br />

Prozess der jüngeren tür -<br />

kischen Justizgeschichte. 21 Angeklagte


Abtransport eines Ergenekon-Verurteilten*: Prozess voller Widersprüche und Unklarheiten<br />

wurden freigesprochen, gegen alle anderen<br />

Beschuldigten größtenteils drako -<br />

nische Strafen verhängt. Etwa gegen den<br />

ehemaligen Generalstabschef Ilker Başbug,<br />

lebenslang, und den prominenten<br />

Kolumnisten Mustafa Balbay, 34 Jahre<br />

und acht Monate Haft.<br />

Als das Verfahren im Sommer 2008<br />

begann, bezeichnete die türkische Presse<br />

es als „Jahrhundertprozess“. Die Staats -<br />

anwaltschaft erhob damals Anklage gegen<br />

Dutzende ranghohe Ex-Militärs, Geschäftsl<strong>eu</strong>te,<br />

Unterweltgrößen, Politiker, Anwälte<br />

und Akademiker, die ein nationalistisches<br />

Netzwerk namens Ergenekon gegründet<br />

haben sollen. Ergenekon, so heißt ein legendäres<br />

Tal in Zentralasien, dem Mythos<br />

nach ist es die Heimat der Urtürken.<br />

Der Vorwurf: Die Gruppe habe Attentate<br />

und Terroranschläge geplant, das dadurch<br />

entstehende Chaos habe die Armee<br />

nutzen wollen, um einzugreifen. Unter<br />

dem Vorwand, Ruhe und Ordnung<br />

wiederherzustellen, sollte die islamischkonservative<br />

Regierung von Ministerpräsident<br />

Recep Tayyip Erdogan<br />

gestürzt werden.<br />

Viele Türken glaubten<br />

diese Enthüllungen zunächst.<br />

In einem Land, das<br />

drei Putsche und zahlreiche<br />

Eingriffe der „Paschas“<br />

in die Politik erlebt hat,<br />

sitzt die Angst vor einem<br />

Umsturz noch immer tief.<br />

Und man weiß seit langem<br />

von geheimen Verbindungen<br />

zwischen Militär, Politik<br />

und Organisierter Kriminalität,<br />

jenem sogenannten<br />

tiefen Staat, der die<br />

* Vergangenen Montag bei Istanbul.<br />

Journalist Türkkan<br />

„Negatives Verhalten“<br />

türkische Politik aus dem Hintergrund<br />

manipuliert. Genauso weitverbreitet ist<br />

die türkische Passion für Verschwörungstheorien.<br />

Doch nährten n<strong>eu</strong>e Verhaftungswellen<br />

den Verdacht, dass der Regierung<br />

Erdogan nicht nur daran gelegen war, den<br />

„tiefen Staat“ trockenzulegen – sondern<br />

dass es auch darum ging, Kritiker außer<br />

Gefecht zu setzen.<br />

Von einer Hexenjagd auf politische<br />

Gegner sprach die oppositionelle Republikanische<br />

Volkspartei. Der britische Türkei-Experte<br />

Gareth Jenkins sagt, es gebe<br />

zwar zweifellos einige Beschuldigte, die<br />

in kriminelle Aktivitäten verwickelt gewesen<br />

seien. „Die meisten Angeklagten“,<br />

so Jenkins, „scheinen jedoch nur insofern<br />

schuldig, als dass sie säkularistische und<br />

ultranationalistische Ansichten teilen.“ Es<br />

handele sich also in erster Linie um einen<br />

politischen Prozess.<br />

Wohl deshalb geriet auch Adnan Türkkan<br />

2008 ins Visier der Ermittler. Am<br />

1. Juli standen mehrere bewaffnete Polizisten<br />

der Anti-Terror-Einheit TEM vor<br />

der Tür des damals 26-Jährigen<br />

und führten ihn ab.<br />

Die Begründung: Verdacht<br />

auf „Mitgliedschaft in einer<br />

Terrororganisation“.<br />

Der Student kam in Untersuchungshaft<br />

und wurde<br />

verhört. „Dabei ging es vor<br />

allem um regierungskritische<br />

Demonstrationen, die<br />

ich mitorganisiert habe“,<br />

erzählt Türkkan. Er gehört<br />

zu den Gründern der kemalistischen<br />

Jugendorganisa -<br />

HESSEN TOPLUM ZEITUNG<br />

tion TGB; er hat nie verheimlicht,<br />

dass er von der<br />

islamistischen Regierungspartei<br />

AKP wenig hält.<br />

MURAD SEZER / REUTERS<br />

Aus Mangel an Beweisen wurde er vier<br />

Tage später wieder freigelassen, doch die<br />

Ermittler behielten ihn im Auge, hörten<br />

seine Telefonate ab und konfrontierten<br />

ihn später mit deren Inhalt. „Sie drehten<br />

jedes Wort um und interpretierten es so,<br />

als wäre ich ein Putschist.“<br />

Während des unter Ausschluss der Öffentlichkeit<br />

stattfindenden Verfahrens<br />

wurde er einmal angehört. Doch der Richter<br />

fragte lediglich seine Personalien ab,<br />

dann verlas Türkkan eine Erklärung – das<br />

war alles. Die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft<br />

ist ein Wirrwarr ominöser<br />

Vorwürfe. Es heißt dort, dass bei der<br />

Durchsuchung verdächtige Visiten- und<br />

Kreditkarten gefunden worden seien,<br />

dass er mit radikalen Parteien kooperiere<br />

und zu Demonstrationen gegen die Regierung<br />

aufrufe. Sie schloss daraus, Türkkan<br />

habe eine Art Jugendorganisation<br />

von Ergenekon aufbauen wollen.<br />

Auch Sabuncu und Bozkurt warten<br />

noch auf Beweise für die Vorwürfe gegen<br />

sie. Die Journalisten gerieten offenbar<br />

vor allem in Verdacht, weil sie für die linksnationalistische<br />

Tageszeitung „Aydinlik“<br />

arbeiten. Diese hatte den Mitschnitt eines<br />

kompromittierenden Telefonats zwischen<br />

Erdogan und dem ehemaligen nordzyprischen<br />

Premier veröffentlicht, in dem sie<br />

die Entmachtung eines Rivalen diskutierten.<br />

„Dieses Gespräch wurde allen Zeitungen<br />

in der Türkei zugespielt, wir<br />

waren die Einzigen, die es wortwörtlich<br />

wiedergaben“, sagt Bozkurt.<br />

Für den Türkei-Kenner Jenkins steckt<br />

der Ergenekon-Prozess voller Widersprüche.<br />

Schon 2009 veröffentlichte der Brite<br />

einen kritischen Bericht: Es gebe keinen<br />

klaren Beleg für die Existenz des Geheimbundes,<br />

nur Aussagen „geheimer Z<strong>eu</strong>gen“<br />

und Dokumente ohne eind<strong>eu</strong>tige<br />

Urheberschaft. Selbst in den Abhörprotokollen<br />

von Angeklagten fehlten Hinweise<br />

auf Ergenekon.<br />

Besonders merkwürdig findet Jenkins,<br />

dass auf den über 4000 Seiten der Anklageschrift<br />

so gut wie jede in der Türkei bekannte<br />

illegale Organisation genannt<br />

wird. Folge man der Anklage, unterhalte<br />

Ergenekon Verbindungen zur kurdischen<br />

PKK, zur marxistischen DHKP-C sowie<br />

zur türkischen Hizbullah. Eine seltsame<br />

Allianz, meint Jenkins.<br />

Adnan Türkkan jedenfalls ist überz<strong>eu</strong>gt,<br />

dass die Ergenekon-Urteile am<br />

Ende immerhin eine positive Sache zur<br />

Folge hätten: Sie zeigten das wahre, autoritäre<br />

Gesicht der Regierung und würden<br />

damit n<strong>eu</strong>e Protestaktionen nach sich<br />

ziehen. Er erwartet einen heißen Herbst.<br />

Seinen Widerstand gegen Erdogan will<br />

er aber zur Sicherheit vorerst von<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> aus fortführen. „Es gibt hier<br />

ein großes oppositionelles Potential“,<br />

sagt er. „Viele junge D<strong>eu</strong>tschtürken haben<br />

ein Problem mit der Erdogan-Regierung.“<br />

DANIEL STEINVORTH<br />

DER SPIEGEL 33/2013 95


Ausland<br />

NEW YORK<br />

In den Straßen von Babylon<br />

GLOBAL VILLAGE: Ein Linguist will aussterbende Sprachen retten –<br />

und fährt dafür nicht um die Welt, sondern quer durch New York.<br />

Vor einigen Jahren reiste Daniel<br />

Kaufman nach Indonesien, auf der<br />

Suche nach einem Menschen, der<br />

Mamuju spricht. Er fand Dutzende verwandte<br />

Sprachen, nicht aber Mamuju.<br />

Unverrichteter Dinge flog der amerika -<br />

nische Linguist zurück nach New York.<br />

Zwei Jahre später besuchte er im Stadtteil<br />

Queens eine Hochzeit, neben ihm saß ein<br />

Mann namens Husni Husain, Ende sechzig,<br />

gebürtiger Indonesier – und<br />

er sprach Mamuju. Kaufman<br />

konnte sein Glück kaum fassen,<br />

er hatte den vermutlich einzigen<br />

Mamuju-Sprecher von New York<br />

gefunden. Und mit ihm eine fast<br />

verlorene Sprache.<br />

Kaufman ist 37 Jahre alt und<br />

Professor für Linguistik an der<br />

Columbia University in New<br />

York, sein Spezialgebiet sind die<br />

Sprachen Indonesiens und der<br />

Philippinen. Vor drei Jahren hat<br />

er die Endangered Language<br />

Alliance mitgegründet, die „Allianz<br />

für gefährdete Sprachen“. Ihr<br />

Ziel ist es, seltene Sprachen ausfindig<br />

zu machen, zu beschreiben<br />

und zu erforschen.<br />

„Für meine Arbeit ist New<br />

York der beste Platz auf der<br />

Welt“, sagt Daniel Kaufman in<br />

seinem Büro in Manhattan. Die<br />

Flipflops hat er abgestreift, das<br />

bunte Hemd sitzt locker. Nirgendwo<br />

werden so viele verschiedene<br />

Sprachen gesprochen wie in der<br />

größten Stadt der USA: 800 haben<br />

die Einwanderer in die fünf<br />

Bezirke am Hudson River mitgebracht,<br />

schätzt Kaufman; mehr als 6000 existieren<br />

laut Uno weltweit. Die Hälfte von ihnen<br />

könnte bis Ende dieses Jahrhunderts<br />

ausgestorben sein.<br />

Kaufman sammelt seltene Sprachen,<br />

weil ihn die große Frage der Linguistik<br />

umtreibt: Gibt es eine universelle Grammatik?<br />

Also Muster und Strukturen, die<br />

sich im Rätoromanischen oder Jiddischen<br />

genauso wie im Englischen oder Chinesischen<br />

finden? „Was wir wissen, ist stark<br />

beeinflusst von den wenigen großen Sprachen,<br />

die gut erforscht sind“, sagt Kaufman.<br />

„Aber viele der Sprachen, die wir<br />

hier untersuchen, brechen diese Regeln<br />

in irgendeiner Weise.“<br />

Dass Sprachen zu seinem Lebensinhalt<br />

wurden, ist vielleicht kein Zufall. Auch<br />

96<br />

die Eltern des Wissenschaftlers sind Einwanderer,<br />

sie zogen von Israel in die<br />

USA, sie redeten Hebräisch miteinander.<br />

Als Jugendlichem war ihm das peinlich,<br />

vor allem, wenn andere L<strong>eu</strong>te zuhörten,<br />

bis er begriff, dass er damit einen Teil seiner<br />

Identität verl<strong>eu</strong>gnete. Seitdem spricht<br />

er mit seinen Eltern Hebräisch. „Es hat<br />

einen anderen Menschen aus mir gemacht“,<br />

erzählt er. „Erst wenn man die<br />

Wissenschaftler Kaufman<br />

Gibt es eine universelle Grammatik?<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

Muttersprache eines Menschen versteht,<br />

versteht man, wie er wirklich denkt.“<br />

Wenn der Professor auf der Suche nach<br />

einer seltenen Sprache ist, reist er nicht,<br />

er geht nicht ins Mus<strong>eu</strong>m oder in die Bibliothek.<br />

Er läuft durch die Straßen, setzt<br />

sich in ein Restaurant, unterhält sich mit<br />

einem Kellner oder Taxifahrer. „Ich kann<br />

einfach loslaufen und Sprachen finden,<br />

die vielleicht nur noch von ein paar hundert<br />

Menschen gesprochen werden“, sagt<br />

er. „Das ist der perfekte Grund, mit Fremden<br />

zu reden und alle Ecken dieser Stadt<br />

kennenzulernen.“<br />

Bei seinen Streifzügen durch die Bronx,<br />

Brooklyn und Queens hat Kaufman mehr<br />

seltene Sprachen gefunden, als er in sein<br />

Rettungsprogramm aufnehmen kann. Er<br />

muss daher entscheiden: Wie viele Menschen<br />

sprechen die Sprache? Wie gut ist<br />

sie bereits dokumentiert?<br />

Je gefährdeter die Sprache, desto eher<br />

nimmt Kaufman sich ihrer an. Dann treffen<br />

sich am Projekt beteiligte Wissenschaftler,<br />

Studenten und Ehrenamtliche<br />

mit den Muttersprachlern. Vor laufender<br />

Kamera erzählen diese Geschichten aus<br />

ihrer Heimat, rezitieren Gedichte und<br />

reden über ihr Leben in New York. Das<br />

gesammelte Filmmaterial stellen<br />

die Forscher mit Untertiteln versehen<br />

auf YouTube – ein erster<br />

Schritt, um die Sprache zurück<br />

ins Leben und in die Gemeinschaft<br />

zu bringen. Zusätzlich<br />

zeichnen sie Alphabet, Grammatik<br />

und Wortschatz auf. Kaufmans<br />

Ziel: eine Art Spracharchiv.<br />

Das nutzt er dann, um nach<br />

Besonderheiten bei den Zeitformen<br />

oder in der Grammatik zu<br />

suchen.<br />

Doch Kaufman ist nicht nur<br />

Forscher, er will auch den Menschen<br />

helfen, ihre Mundart und<br />

damit ihre Kultur zu bewahren.<br />

Denn Sprache ist Identität – doch<br />

Einwanderer geben sie nur selten<br />

an ihre Kinder weiter. Sie halten<br />

es für wichtiger, dass diese in<br />

Amerika Englisch lernen statt<br />

SARAH GIRNER / DER SPIEGEL<br />

Aramäisch oder Kaschubisch.<br />

Er ermuntert sie daher dazu,<br />

wieder ihre Muttersprache zu<br />

sprechen, er gibt ihr einen Wert<br />

zurück. Einige Gemeinschaften<br />

haben seither begonnen, gegen<br />

das Sprachsterben zu kämpfen.<br />

Es gibt in New York inzwischen Chöre,<br />

die auf Garifuna singen, während es in<br />

Mittelamerika inzwischen von Englisch<br />

und Spanisch weitgehend verdrängt worden<br />

ist.<br />

Solche Erfolge fr<strong>eu</strong>en Kaufman, doch<br />

in der Mehrzahl der Fälle kommen seine<br />

Wiederbelebungsversuche zu spät.<br />

Für die Sprache Yahgan etwa, die nur<br />

noch von einer alten Frau auf F<strong>eu</strong>erland<br />

gesprochen wird – und in der Kaufman<br />

sein Lieblingswort gefunden hat. Um dessen<br />

Bed<strong>eu</strong>tung zu beschreiben, braucht<br />

er einen ganzen Satz: „Der Blick zwischen<br />

zwei Menschen, die wollen, dass<br />

der andere etwas in Gang setzt, was beide<br />

begehren, aber keiner bereit ist zu tun.“<br />

Auf Yahgan sagt man einfach: mamihlapinatapai.<br />

FRITZ HABEKUSS


Szene<br />

AUSSTELLUNGEN<br />

Goldstaub über<br />

Niedersachsen<br />

Hannover, die eher unauffällige Landeshauptstadt,<br />

will mit Hilfe von viel<br />

Gold endlich strahlen. Am 23. August<br />

eröffnet im Landesmus<strong>eu</strong>m die Schau<br />

„Im Goldenen Schnitt“. In ihr l<strong>eu</strong>chten<br />

archäologische Funde, die beim Bau<br />

der Trasse für die transnationale Erdgasleitung<br />

NEL gehoben wurden, etwa<br />

der 3300 Jahre alte „Goldschatz von<br />

Gessel“. In der Kestnergesellschaft eröffnet<br />

zeitgleich die Ausstellung<br />

„Der Schein. Glanz, Glamour, Illusion“.<br />

Zeitgenössische Werke sollen ver -<br />

anschaulichen, was Künstler so anstellen,<br />

wenn sie Gold in die Hände bekommen.<br />

Die<br />

Schweizerin Sylvie<br />

Fl<strong>eu</strong>ry überzog<br />

damit einen<br />

Einkaufswagen,<br />

der D<strong>eu</strong>tsche<br />

Thomas Demand<br />

fotografierte<br />

Barren,<br />

die wie Gold<br />

aussehen, aber<br />

keines sind.<br />

Niedersachsen<br />

Fl<strong>eu</strong>ry-Werk, 2000<br />

wird den Goldstaub<br />

nicht<br />

mehr los: 2014<br />

erinnern meh -<br />

rere Museen daran, dass englische Könige<br />

einst aus Hannover kamen. Zu<br />

den präsentierten Kostbarkeiten gehört<br />

ein Brief von 1756, den der birmanische<br />

König an Georg II. schickte, verfasst<br />

auf einem Blatt aus purem – Gold.<br />

COURTESY DIE KÜNSTLERIN UND ALMINE RECH GALLERY<br />

Polanski 1955<br />

REGISSEURE<br />

Der Überlebenskünstler<br />

Die Schauspielschule in Krakau lehnte<br />

ihn einst mit der Begründung ab, er<br />

sei, mit 1,65 Metern, zu klein. Also studierte<br />

Roman Polanski in Lodz an der<br />

Filmhochschule und wurde Regiss<strong>eu</strong>r,<br />

eines der größten Genies in der Geschichte<br />

des Kinos. Er drehte Meisterwerke<br />

wie „Rosemary’s Baby“ und<br />

„Chinatown“, für das Holocaust-Drama<br />

„Der Pianist“ wurde er 2003 mit einem<br />

Oscar ausgezeichnet. Am 18. August<br />

wird Roman Polanski 80 Jahre alt.<br />

Jetzt erscheinen gleich drei n<strong>eu</strong>e Biografien:<br />

Der Filmwissenschaftler<br />

Thomas Koebner analysiert in „Roman<br />

Polanski – Der Blick der Verfolgten“<br />

(Reclam Verlag) vor allem das Werk<br />

des Regiss<strong>eu</strong>rs, der Autor Paul Werner<br />

erzählt in „Polanski“ (Verlag Langen<br />

Müller) dessen Lebensgeschichte nach.<br />

Das eindrucksvollste Buch ist jedoch<br />

der Bildband „Roman Polanski – Seine<br />

Filme, sein Leben“ (Knesebeck Verlag)<br />

mit Texten von James Greenberg;<br />

Polanski hat das Vorwort verfasst.<br />

„Wahrscheinlich kann man seinen<br />

Lebens unterhalt auf leichtere Weise<br />

verdienen“, schreibt er, aber „meine<br />

schönsten Momente“ sind „diejenigen,<br />

die ich am Set verbringe“. Das sieht<br />

man: Dutzende Fotos zeigen Polanski<br />

bei Dreharbeiten, von den fünfziger<br />

Jahren bis zur Gegenwart – ein kleiner<br />

großer Mann, der auch mit 80 nicht an<br />

den Ruhestand denkt. Sein n<strong>eu</strong>er<br />

Film „Venus im Pelz“ kommt im Herbst<br />

in die d<strong>eu</strong>tschen Kinos.<br />

FILMMUSEUM IN LODZ (PANSTWOWA WYZSZA SZKOLA FILMOWA)/KNESEBECK VERLAG<br />

LITERATUR<br />

Die mageren Mädchen<br />

98<br />

Es beginnt, jedenfalls für einen Krimi,<br />

recht harmlos: In einem Videoverleih<br />

in der Stockholmer Altstadt raubt ein<br />

drogenabhängiger Mann die Kasse aus<br />

und verletzt eine Kundin. Dieser Vorfall<br />

setzt eine Ermittlung in Gang,<br />

die einem der schlimmsten Verbrechen<br />

auf die Spur kommt, mit dem es die<br />

A-Gruppe je zu tun hatte. Es ist der<br />

zehnte Fall für das Team und, wie es<br />

vom Verlag heißt, auch sein letzter.<br />

Der Schwede Arne Dahl, 50, der sich<br />

die A-Gruppe der Stockholmer Polizei<br />

ausgedacht hat, gibt sich in „Bußestunde“<br />

noch einmal seiner Vorliebe<br />

für bizarre Szenarien hin.<br />

Der Chef des schwedischen Geheimdienstes<br />

ist verschwunden,<br />

und niemand weiß, wo er<br />

steckt. Ein Zuhälterring lässt<br />

auf Bestellung Prostituierte auf<br />

dem OP-Tisch so verändern,<br />

dass sie wie die Traumfrauen<br />

der reichen Freier aussehen.<br />

Lauren Bacall? Angelina Jolie?<br />

Alles wird geliefert. Gleichzeitig<br />

werden in Schweden einige<br />

junge Frauen ermordet, die an<br />

Anorexie leiden. Andere<br />

scheinen entführt worden zu<br />

sein. Es stellt sich heraus, dass<br />

die Frauen eine Gemeinsamkeit<br />

haben: Die Magersüchtigen<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

Arne Dahl<br />

Bußestunde<br />

Aus dem Schwe -<br />

dischen von Wolfgang<br />

Butt. Piper<br />

Verlag, München;<br />

464 Seiten;<br />

19,99 Euro.<br />

wollten über eine dubiose<br />

Website ein illegales Medikament<br />

erwerben, das an geblich<br />

rasch eine weitere Gewichts -<br />

abnahme ermöglicht. Best -<br />

sellerautor Arne Dahl ist ein<br />

geschickter Erzähler. Was er<br />

seinen Fans an Grausam keiten<br />

zumutet, ist wohlkalkuliert.<br />

Seine düsteren und abgefeimten<br />

Plots verfolgen seine Leser,<br />

auch wenn die das Buch<br />

längst aus der Hand gelegt haben.<br />

Sicher, es ist surreal und<br />

unwahrscheinlich, was Dahl<br />

da fabuliert, aber Alpträume –<br />

jeder, der sie einmal hatte,<br />

weiß das – sind ein Stück unauslöschliche<br />

Wirklichkeit.


Kultur<br />

POP<br />

Fun, Fun, Fun<br />

Das dürften die Brüder Brian, Carl und Dennis<br />

Wilson, ihr Cousin Mike Love und der Fr<strong>eu</strong>nd<br />

Alan Jardine kaum erwartet haben, als sie 1961<br />

die Beach Boys gründeten, um Lieder über<br />

das Surfen und das Autofahren zu singen: dass<br />

sie eines Tages Kulturgut werden sollten und<br />

eine dicke CD-Box mit unveröffentlichten<br />

Songs und beigefügter Materialsammlung erscheinen<br />

würde. Tatsächlich ist kaum eine andere<br />

Band so einflussreich gewesen wie die<br />

Beach Boys. Sie haben mit ihren Songs den<br />

Mythos Kalifornien erfunden, die Illusion ewigen<br />

Sommers und ewiger Jugend. Sie haben<br />

aber auch die dunkle Seite erlebt. Dennis ertrank elend,<br />

als er mit Alkohol, Kokain und Valium im Blut tauchen<br />

ging, und Brian, das Genie der Band, der das Surfen nie gemocht<br />

hatte, hörte irgendwann auf, Musik zu machen, und<br />

verbrach te Jahre in Therapie. „Made in California“ heißt<br />

die Box, mit der die Band nun die vergangenen 50 Jahre<br />

bei der Plattenfirma Capitol Records feiert, sechs<br />

CDs mit ihren größten Hits, einigen unbekannten<br />

Songs und Live-Aufnahmen. Im Booklet findet sich<br />

ein Schul essay von Brian aus dem Jahr 1959, da<br />

war er 17 Jahre alt. „My Philosophy“ heißt er, in<br />

ihm schreibt der Schüler: „Ich möchte mich<br />

nicht mit einem durchschnittlichen Leben<br />

zufrie dengeben.“ Das ist ihm gelungen.<br />

Beach Boys um 1962<br />

MICHAEL OCHS ARCHIVES / GETTY IMAGES<br />

KINO IN KÜRZE<br />

„Kick-Ass 2“ handelt von Teenagern,<br />

die sich für Superhelden halten und mit<br />

aller Gewalt gegen Verbrecher vorgehen.<br />

Jim Carrey, der in dem Film einen<br />

fanatischen Rächer spielt, hat sich inzwischen<br />

von dem Werk distanziert –<br />

ein in Hollywood seltener Vorgang. Nach<br />

dem Massaker an der Sandy Hook<br />

Elemen tary School, bei dem im vergangenen<br />

Dezember im US-Bundesstaat<br />

Connecticut 26 Menschen ums Leben<br />

kamen, könne er „das Maß an Gewalt“<br />

in dem Film nicht mehr gutheißen, so<br />

Carrey. Regiss<strong>eu</strong>r Jeff Wadlow zeigt ein<br />

15-jähriges Mädchen (gespielt von<br />

Chloë Grace Moretz), das einem Mann<br />

die Hand abhackt und einer<br />

Frau Glasscherben in den<br />

Leib stößt, bis sie daran<br />

stirbt. Das Ganze wird als<br />

ein großer Spaß inszeniert,<br />

als Kostümparty, bei der das Blut<br />

in Strömen fließt. Ein widerwärtiger,<br />

per fider Film, der ständig über die<br />

Schlechtigkeit der Welt jammert, um<br />

seine Schlächtereien zu rechtfertigen.<br />

„Gold“ erzählt von der Gier und dem<br />

Scheitern d<strong>eu</strong>tscher Abent<strong>eu</strong>rer. Angelockt<br />

von legendären<br />

Goldfunden in Kanada,<br />

quälen sich einige Auswanderer<br />

Ende des 19.<br />

Jahrhunderts durch die<br />

Wildnis, doch unzuläng -<br />

liches Kartenmaterial,<br />

eine überforderte Reiseleitung<br />

und konsequentes<br />

Ignorieren indianischer<br />

Ratschläge führen sie<br />

schnurstracks ins Verderben.<br />

Gern würde der Zuschauer<br />

mit den Figuren<br />

bangen, die sich der Ber -<br />

Nina Hoss in „Gold“<br />

liner Regiss<strong>eu</strong>r Thomas Arslan aus -<br />

gedacht hat. Doch leider wecken sie in<br />

ihrer miesepetrigen Einfältigkeit so<br />

gut wie keine Empathie. Nachdem der<br />

Film auf der Berlinale schlecht auf -<br />

genommen worden war, hat Arslan ihn<br />

noch einmal umgeschnitten. Es bleibt<br />

ein sehr harter Ritt.<br />

PIFFL MEDIEN<br />

DER SPIEGEL 33/2013 99


Schauspielerin Juri als Romanfigur Helen<br />

KINO<br />

Der Körper als Schlachtfeld<br />

Kann man Charlotte Roches Skandalroman „F<strong>eu</strong>chtgebiete“<br />

verfilmen? Man kann. Man kann ihn sich sogar anschauen, ohne vor<br />

lauter Ekel aus dem Kino zu rennen. Von Georg Diez


Kultur<br />

Was war gleich noch mal „F<strong>eu</strong>chtgebiete“?<br />

Ach ja, die Befreiung<br />

des Körpers aus der Diktatur<br />

der Schönheit und der Sauberkeit, natürlich<br />

ein feministisches Fanal und, das sagt<br />

sich halt so leicht, eine Generalabrechnung<br />

mit einem Kapitalismus, der uns<br />

von uns selbst entfremdet und zu Sexualobjekten<br />

degradiert.<br />

Ein Erbeben. Ein Erschaudern. Mehr<br />

als zwei Millionen verkaufte Bücher.<br />

Die Geschichte der jungen Helen Memel,<br />

deren Hobby das Ficken ist und die<br />

sich sonst gern mit dem Duschkopf befriedigt,<br />

die von der „Muschiflora“ redet,<br />

den „Hahnenkämmen“ und ihrem „Perlen-<br />

rüssel“ – die aber irgendwann mit einer<br />

hässlichen Wucherung am Hintern im<br />

Krankenhaus landet und schließlich, nachdem<br />

reichlich Blut, Sperma und Scheiße<br />

vergossen wurden, mit ihrem Pfleger Robin<br />

glücklich wird.<br />

Wie konnte es sein, dass ausgerechnet<br />

eine Frau aus dem Fernsehen eine Art<br />

Fuck-you-Feminismus erfand?<br />

Die D<strong>eu</strong>tungsmaschine lief heiß damals,<br />

wie es immer ist, wenn etwas größer ist<br />

als der Schreibtisch der F<strong>eu</strong>ille tonisten.<br />

„Sexualität ist Wahrheit“, das war der Titel<br />

eines der klügeren Texte – und trotzdem:<br />

Butter ist doch auch Wahrheit und Schlafen<br />

und die Wolken über dem Wald.<br />

Die einen sahen in der Hygieneverweigerung<br />

von Charlotte Roches Romanfigur<br />

eine Forderung nach mehr Natur, Natürlichkeit,<br />

Haar unter den Achseln; die anderen<br />

erklärten, es sei gerade der Irrtum<br />

des alten Feminismus gewesen, dass er<br />

Hässlichkeit mit Selbständigkeit verwechselt<br />

habe.<br />

Es war, als wäre Simone de Beauvoir<br />

ins Dschungelcamp geraten, und die Kritikerinnen<br />

und Kritiker konnten sich nicht<br />

entscheiden, ob sie sie rausholen sollten.<br />

Fünf Jahre ist das alles her, und wenn<br />

nun die Verfilmung von „F<strong>eu</strong>chtgebiete“<br />

in die Kinos kommt, dann kann man ermessen,<br />

wie sich das Land und das Reden<br />

über Feminismus in dieser Zeit verändert<br />

haben: von der Analfissur und Avocadokernen<br />

als Masturbationshilfe zu Kita-<br />

Plätzen und der Quote. Von der Freiheit<br />

des Sex zu den Folgen des Sex. Von der<br />

anarchischen Lust zur Logik der Angestelltenkultur.<br />

Anders gesagt: Die Wirkung von<br />

„F<strong>eu</strong>chtgebiete“ war gleich null. Der Spaß<br />

des Buches war dafür umso größer.<br />

Das wurde schon in den Erklärungsversuchen<br />

2008 übersehen, als alle Welt rätselte,<br />

was das bed<strong>eu</strong>ten könnte, Analsex,<br />

Spermabonbons, die Hämorrhoiden der<br />

Heldin Helen: „Die D<strong>eu</strong>tschen“, schrieb<br />

die „New York Times“ damals, „neigen<br />

zur Überanalyse. Manchmal ist ein lustiges,<br />

schmutziges Buch genau das, ein lustiges,<br />

schmutziges Buch.“<br />

Auch wenn es schwer zu akzeptieren<br />

ist in diesem Land, das gute Laune gern<br />

mit Kulturverfall verwechselt, in dem<br />

Erfolg erklärungsbedürftig ist und auch<br />

das mehr oder weniger Banale eine Bed<strong>eu</strong>tung<br />

haben muss. „F<strong>eu</strong>chtgebiete“ war<br />

keine Streitschrift für eine selbstbestimmte<br />

Körperlichkeit, sondern ein satirischer<br />

Roman, mit Stärken und Schwächen.<br />

Hatte denn auch im Ernst jemand geglaubt,<br />

dass man Millionen Bücher mit<br />

Feminismus verkauft?<br />

Es ging bei „F<strong>eu</strong>chtgebiete“ um etwas<br />

anderes, und der Abstand der fünf Jahre<br />

lässt das besser erkennen, fünf Jahre, in<br />

denen sich erst mit der Banken- und Finanzkrise<br />

und dann mit dem Euro-Debakel<br />

das Ökonomische wieder vor das Ästhetische<br />

geschoben hat: Die Figur der<br />

Helen war immer das Symbol einer Suche<br />

nach Identität. Und Sex, Lust, Schmutz,<br />

oder was man eben dafür hält, waren nur<br />

die Mittel, diese Suche voranzutreiben.<br />

Bestsellerautorin Roche: „Voll auf die Klobrille“<br />

Eine klassische, sehr h<strong>eu</strong>tige Comingof-age-Story,<br />

die Selbstbeschreibung einer<br />

selbstbewussten, suchenden Frau – darin<br />

lagen die Schönheit und die Stärke des<br />

Buches: Und hier setzt auch der Film an,<br />

der am 11. August bei den Filmfestspielen<br />

in Locarno seine Weltpremiere feiert und<br />

am 22. August in die Kinos kommt.<br />

Jugend, weiß Regiss<strong>eu</strong>r David Wnendt,<br />

ist ein Drama, Sex ist Selbsterforschung,<br />

und Lust ist ein Weg zur Freiheit.<br />

Es ist ein existentielles Delirium, in das<br />

er den Zuschauer in der ersten Hälfte seines<br />

Films stößt, mit Bildern, die sich ins<br />

Hirn bohren wollen, mit Musik, die einen<br />

durchschießt, mit einer Hauptdarstellerin,<br />

die jede Frage danach, ob diese Helen<br />

etwa mit Charlotte Roche zu verwechseln<br />

sei, souverän beantwortet: Helen ist Carla<br />

Juri, eine Frau wie ein Junge, ein Gesicht<br />

wie eine Heilige, ein zerschlissenes<br />

T-Shirt der Band Bad Religion um den<br />

dünnen Körper – diese so gut wie unbekannte<br />

28-jährige Schauspielerin aus der<br />

Schweiz trägt in der Rolle der 18-jährigen<br />

Helen den Film mit einer fast philoso -<br />

phischen Naivität, die es ihr erlaubt, auch<br />

die abstrusesten Sätze zu sagen.<br />

„Mir macht es Riesenspaß, mich nicht<br />

nur immer und überall bräsig voll auf die<br />

dreckige Klobrille zu setzen“, schreibt<br />

Charlotte Roche in dem surreal-heiteren<br />

Ton, der das ganze Buch durchzieht und<br />

den auch der Film trifft.<br />

„Wenn ich mit der Muschi auf der Klobrille<br />

ansetze, gibt es ein schönes schmatzendes<br />

Geräusch, und alle fremden<br />

Schamhaare, Tropfen, Flecken und Pfützen<br />

jeder Farbe und Konsistenz werden<br />

von meiner Muschi aufgesogen. Das mache<br />

ich jetzt schon seit vier Jahren auf<br />

jeder Toilette. Am liebsten an Raststätten,<br />

wo es für Männer und Frauen nur eine<br />

Toilette gibt. Und ich habe noch nie einen<br />

einzigen Pilz gehabt.“<br />

Das ist die Komik, die Charlotte Roche<br />

sucht und die auch David Wnendt sucht –<br />

eine Komik, die sich aus Ekel, Scham und<br />

Demütigungen zusammensetzt, so wie<br />

die Kindheit ja auch, mit einer Heldin,<br />

die vom Schwanzlutschen und der eigenen<br />

Sterilisation redet und zu sehr in ihrer<br />

eigenen Welt lebt, um ins Tragische<br />

abzugleiten.<br />

Carla Juri nun gleitet und lächelt und<br />

nuschelt sich durch diesen Film, sie kurvt<br />

wild auf dem Skateboard und wild durch<br />

ihr Leben, sie ist eine Figur an der Grenze<br />

von Aufklärung und Wohlstandsverwahrlosung,<br />

sie ist Freiheitsheldin und Verlorene<br />

zugleich – und damit einer anderen<br />

Figur sehr ähnlich, die Wnendt 2011 in<br />

seinem ersten, furiosen Spielfilm „Kriegerin“<br />

beschrieben hat: dem rechtsradikalen<br />

ostd<strong>eu</strong>tschen Mädchen Marisa, das<br />

prügelt und säuft und ihren wüst tätowierten,<br />

dünnen Leib durch eine Welt<br />

ohne Sinn und Schönheit schiebt.<br />

Wnendt, 35, ist, so scheint es, ein Experte<br />

für antibürgerliche Extremistinnen,<br />

und so wird Helen bei ihm eine Kriegerin<br />

der ganz anderen Art: Auch sie kämpft<br />

mit dem Körper und um den Körper, auch<br />

MAJESTIC FILM (L.); HERMANN BREDEHORST / POLARIS / LAIF (R.)<br />

DER SPIEGEL 33/2013 101


Filmszene aus „F<strong>eu</strong>chtgebiete“: Symbol einer Suche nach Identität<br />

MAJESTIC FILM<br />

sie sucht den Schmerz und findet sich im<br />

Schmerz, der Rausch ist auch für sie eine<br />

Gegenwelt zum Alltag der Eltern – aber<br />

Helen will nicht zerstören, sie will Genuss,<br />

sie ist auf einem existentiellen Trip,<br />

eine heilige Johanna des Sex, ein Wesen<br />

ohne nachvollziehbare Motive, aber mit<br />

einer höheren Mission. Ein Rätsel.<br />

Das ist eigentlich der Stoff für einen<br />

Film, der sich ganz auf diese fast spiri -<br />

tuelle Suche einlässt, der beschreibt, wie<br />

jede Generation n<strong>eu</strong> die Schichten von<br />

Schmutz und Sucht um sich legt, um sich<br />

von der Welt und den Erwachsenen abzugrenzen,<br />

die Popkultur der vergangenen<br />

60 Jahre ist so entstanden – man<br />

könnte nun sagen, dass zum Beispiel Larry<br />

Clark 1995 mit „Kids“ das schon mal<br />

gemacht hat oder Danny Boyle 1996 mit<br />

„Trainspotting“: Aber warum soll man<br />

das nicht für das <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> des Jahres<br />

2013 n<strong>eu</strong> erzählen?<br />

Tatsächlich scheinen Wnendt und seine<br />

faszinierende Hauptdarstellerin lange<br />

Zeit in dieser existentiellen Richtung unterwegs<br />

zu sein – bis der Film ins Stocken<br />

gerät, weil er die anderen Ebenen aufnimmt,<br />

die auch schon das Buch beschwert<br />

haben: die Scheidung der Eltern,<br />

den ichbesoffenen Vater, die krankhaft<br />

religiöse Mutter, das gebrochene Ur -<br />

vertrauen, den Selbstmordversuch der<br />

Mutter, eine Sehnsucht nach dem Heilen,<br />

die das Kaputte relativiert und die Radikalität<br />

nimmt.<br />

Amerikaner nennen das dann die<br />

„Rubber Duck“-Theorie: Weil dem Helden<br />

einer Geschichte als Kind die Quietscheente<br />

geklaut wurde, so die Erklärung,<br />

102<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

ist er ein Killer, Soziopath, Drogenabhängiger,<br />

Sexsüchtiger, Präsident geworden,<br />

you name it.<br />

Es ist, als ob die Familienpsychologie<br />

den Tabubruch erst erträglich machen<br />

würde – und je länger die Verfilmung von<br />

„F<strong>eu</strong>chtgebiete“ dauert, desto d<strong>eu</strong>tlicher<br />

wird, dass Wnendt da einen Kompromiss<br />

eingegangen ist, der seinem Werk die unmittelbare<br />

Wucht nimmt: Der Sog der Bilder<br />

erlahmt, die Schablonen der Dialoge<br />

werden sichtbar, die Stärke, die in der<br />

Autonomie von Helen gelegen hat, wird<br />

einem Klischee von Familie geopfert, das<br />

so banal ist, dass es fast obszön ist.<br />

Dabei war der Charme von Charlotte<br />

Roches Buch ja gerade, dass sie die Kategorien<br />

„banal“, „obszön“, „normal“ auflöste<br />

oder umdrehte – und dabei so spielerisch<br />

und geschickt vorging, dass die<br />

Klischees zerrieben wurden: Sie selbst<br />

zum Beispiel ist kein verzotteltes und stinkendes<br />

Wesen, keine Recycle-Feministin,<br />

sondern eine schöne Frau mit Tattoos an<br />

den richtigen Stellen. Und auch die begeisterten<br />

Leserinnen von „F<strong>eu</strong>chtgebiete“<br />

werden nicht schreiend aus dem Zimmer<br />

gelaufen sein, wenn sich im Fern -<br />

sehen Heidi Klums Mädchen gerade mal<br />

wieder von der blonden Megäre züchtigen<br />

ließen.<br />

Das ist die Ambivalenz, mit der das<br />

Buch hantiert, das ist auch die Ambivalenz,<br />

die in den guten Momenten den<br />

Film sehenswert macht: Wie selbstverständlich<br />

und zart Intimität gefilmt wird,<br />

etwa in der Szene, in der sich Helen von<br />

einem nackten Mann, den sie kaum<br />

kennt, an sexuell relevanten Stellen rasieren<br />

lässt, ohne dass der Mann dann<br />

mit ihr schläft – da liegt ein Film versteckt,<br />

der über die 20-Uhr-15-Dramaturgie und<br />

die Krankenhaus-Erotik des tr<strong>eu</strong>äugigen,<br />

hübsch verstrubbelten Pflegers Robin<br />

hinausweist.<br />

Oder wie zärtlich und brutal Helen mit<br />

ihren Eltern über deren Alter redet, und<br />

wie ratlos die beiden sind, Meret Becker<br />

als Mutter und Axel Milberg als Vater,<br />

was sie nun anfangen sollen mit dieser<br />

Tochter, die beschreibt, wie sie ihnen den<br />

Popo waschen wird, später mal, „im Kreise<br />

der Familie“. Der Körper ist hier das<br />

Schlachtfeld eines viel härteren Kampfs,<br />

als ihn der Feminismus je schlagen wird –<br />

es ist das Leben selbst, das sich gegen<br />

sich wendet, und auch diesen Film lässt<br />

Regiss<strong>eu</strong>r Wnendt einfach liegen.<br />

Diese Helen ist eine Romantikerin, die<br />

an sich selbst zu verbrennen droht, eine<br />

Erotomanin, die ihre Familie verloren hat<br />

und auf ihrem Skateboard mit nacktem<br />

Arsch im Krankenhauskittel durch die<br />

Gänge gleitet, sie stellt sich vor, wie fünf<br />

Männer gleichzeitig auf eine Pizza wichsen<br />

– das alles sind Facetten einer Figur,<br />

die nur im Extrem zu sich findet.<br />

Fünf Jahre später wirken die Aufregung<br />

und der Skandal sehr weit weg. Der<br />

Kapitalismus hat sich andere Opfer gesucht<br />

als junge Frauen mit einer Vorliebe<br />

für Analrasur. „F<strong>eu</strong>chtgebiete“ ist einsortiert<br />

ins Archiv der d<strong>eu</strong>tschen Lüste.<br />

Video: Ausschnitte aus<br />

„F<strong>eu</strong>chtgebiete“<br />

spiegel.de/app332013f<strong>eu</strong>chtgebiete<br />

oder in der App DER SPIEGEL


Kultur<br />

SUHRKAMP<br />

Pleite ohne Pleite<br />

Der berühmteste d<strong>eu</strong>tsche<br />

Literaturverlag ist zahlungsunfähig,<br />

aber nicht am Ende. Der Insolvenz -<br />

plan macht den Minderheitseigner<br />

Hans Barlach zum Statisten.<br />

Auf Seite fünf des Insolvenzplans<br />

ist die Erschöpfung und Ermüdung<br />

fast spürbar. Die Rede ist<br />

dort von den Streitereien der vergangenen<br />

Jahre. Von unterschiedlichen Auffassungen<br />

über die Ausrichtung des Verlags,<br />

über die Geschäftspolitik, über Führung<br />

des operativen Geschäfts und auch über<br />

den Umgang mit den Gewinnen. Und<br />

schließlich: „Diese Streitigkeiten haben<br />

die Kräfte der Geschäftsführung zunehmend<br />

gebunden, mehr und mehr die<br />

Führung der Geschäfte beeinträchtigt und<br />

deren Fortentwicklung gelähmt.“<br />

Uff. Aber jetzt ist es vorbei. Vergangenen<br />

Dienstag hat das Amtsgericht in<br />

Berlin-Charlottenburg das Insolvenzverfahren<br />

eröffnet. Im Oktober wird die sogenannte<br />

Gläubigerversammlung den<br />

Insolvenzplan verabschieden. Die Suhrkamp<br />

GmbH & Co. KG ist tot, es lebe<br />

die Suhrkamp Aktiengesellschaft.<br />

Es ist vermutlich auch eine Art Abschied<br />

von Hans Barlach, der 2006 bei<br />

Suhrkamp einstieg, gefürchtet und gehasst,<br />

der jetzt seine Macht verliert, mit der er<br />

den Verlag und dessen Geschäftsführung<br />

zu besserem Wirtschaften und vor allem<br />

zu vernünftigen Renditen zwingen wollte.<br />

Der Insolvenzplan sieht vor, umstrittene<br />

Forderungen der Gesellschafter nach<br />

Ausschüttungen von Gewinnen, die in<br />

den Jahren 2010 und 2011 durch den Verkauf<br />

des Archivs und des Frankfurter Verlagsgebäudes<br />

entstanden waren und zur<br />

Eröffnung des Verfahrens führten, zu erlassen.<br />

Gleichzeitig soll die Umwandlung<br />

in eine Aktiengesellschaft sicherstellen,<br />

„dass der insolvenzauslösende Gesellschafterstreit<br />

nicht länger das operative<br />

Geschäft beeinflussen kann“. Zwar werden<br />

die bisherigen Gesellschafter auch zu<br />

Aktionären des n<strong>eu</strong>en Unternehmens,<br />

aber im Vergleich zu früher hat Barlach<br />

kaum Einfluss. Er ist nur noch Statist.<br />

Er wird nicht einmal verhindern können,<br />

dass der Vorstand mit Zustimmung<br />

des Aufsichtsrats den Kreis der Aktionäre<br />

erweitert und das Kapital erhöht, was<br />

wohl dazu führen würde, dass sich Barlachs<br />

Anteil am Verlag verringert. In vielen<br />

Aktiengesellschaften sind für solche<br />

drastischen Einschnitte qualifizierte Mehrheiten<br />

nötig, also 75 Prozent. Bei der<br />

Suhrkamp Verlag AG reicht die einfache<br />

Mehrheit, was bei Aktionären, bei denen<br />

AXEL SEIDEMANN / DAPD<br />

Geschäftsführerin Unseld-Berkéwicz: „Mehr und mehr gelähmt“<br />

der eine – die Familienstiftung um Ulla<br />

Unseld-Berkéwicz – 61 Prozent der Aktien<br />

besitzt und der andere nur 39 Prozent,<br />

jede Abstimmung auf einer Hauptversammlung<br />

eigentlich überflüssig macht.<br />

Es ist sogar vorstellbar, dass Barlach nicht<br />

einmal im Aufsichtsrat vertreten sein<br />

wird.<br />

Für den Fall, dass einem der Aktionäre<br />

diese Lösung nicht behagt, sieht der Plan<br />

ein Abfindungsangebot von 50 Euro pro<br />

Aktie vor. Im Falle Barlachs wäre das<br />

knapp eine Million Euro. Investiert haben<br />

dürfte er mehr als 12 Millionen.<br />

Stattdessen, auch das wird im Insolvenzplan<br />

erwähnt, bestätigt das Ehepaar<br />

Sylvia und Ulrich Ströher in einem Schreiben,<br />

dass es sich an der AG beteiligen<br />

will. Die Ströhers, seit Wochen schon als<br />

mögliche Investoren gehandelt (SPIEGEL<br />

23/2013), gehörten zu den Besitzern des<br />

Wella-Konzerns, der 2003 für 6,5 Milliarden<br />

Euro an Procter & Gamble verkauft<br />

wurde. Das Ehepaar selbst soll dabei<br />

1,6 Milliarden Euro bekommen haben.<br />

„Wir wären bereit“, heißt es in dem<br />

Schreiben, „uns im Rahmen einer Kapital -<br />

Gesellschafter Barlach<br />

Katastrophale Niederlage<br />

VALESKA ACHENBACH<br />

erhöhung zu beteiligen oder Aktien bisheriger<br />

Gesellschafter zu erwerben.“<br />

Barlach selbst bestätigt ein Angebot<br />

der Ströhers schon aus dem Mai. Es belief<br />

sich damals auf 10 Millionen Euro. Barlach<br />

hat abgelehnt. Das war vor der Eröffnung<br />

des Schutzschirmverfahrens: Barlach<br />

sah da den Wert des Unternehmens<br />

bei 75 Millionen Euro und seinen Anteil<br />

somit bei rund 30 Millionen. Das war es<br />

wahrscheinlich nie wert, h<strong>eu</strong>te ist es das<br />

ganz sicher nicht.<br />

Die Eröffnung des Verfahrens bed<strong>eu</strong>tet<br />

für ihn eine katastrophale Niederlage.<br />

Trotzdem sagt er: „Ich werde meine Anteile<br />

vorerst nicht verkaufen.“ Bald wird<br />

er dies nur noch mit Zustimmung des Aufsichtsrats<br />

tun können, auch das sieht die<br />

Satzung der n<strong>eu</strong>en Suhrkamp AG vor.<br />

Im September werden vor dem Frankfurter<br />

Landgericht die Klagen der Familien -<br />

stiftung und der Medienholding auf gegenseitigen<br />

Ausschluss verhandelt. Ob<br />

allerdings ein Landgericht in ein laufendes<br />

Insolvenzverfahren eingreifen wird,<br />

erscheint fraglich. Alle weiteren juristischen<br />

Schritte wären langwierig und würden<br />

hohe Kosten verursachen, weil eine<br />

außerordentliche Beschwerde wegen<br />

Rechtsmissbrauchs oder eine Klage auf<br />

Schadens ersatz gegen die Geschäftsführung<br />

und deren Berater wegen der Entwertung<br />

der Suhrkamp-Anteile auf juristisch<br />

schwieriges Terrain führt.<br />

Ein Fall mit Seltenheitswert: eine Pleite<br />

ohne Pleite. Aus dem Insolvenzplan geht<br />

auch hervor, dass der Verlag nicht überschuldet<br />

gewesen wäre, wenn die Familien -<br />

stiftung die Ausschüttung ihrer Gewinne<br />

in Höhe von fast 5 Millionen Euro zurückgestellt<br />

hätte. Ohne die Insolvenz, so<br />

die Prognose des Verlags, stünde am<br />

Ende des Jahres ein operatives Minus von<br />

610000 Euro. Nicht das größte Minus in<br />

der Ära Unseld-Berkéwicz.<br />

LOTHAR GORRIS, CLAUDIA VOIGT<br />

DER SPIEGEL 33/2013 103


Kultur<br />

AUTOREN<br />

Sex im Konjunktiv<br />

Der Schriftsteller Uwe Timm hat eine tr<strong>eu</strong>e<br />

Lesergemeinde. Mit seinem Roman<br />

„Vogelweide“ stellt er sie jetzt auf eine harte Probe.<br />

104<br />

Uwe Timm<br />

Vogelweide<br />

Kiepenh<strong>eu</strong>er &<br />

Witsch, Köln; 336<br />

Seiten; 19,99 Euro.<br />

Das Schönste an diesem Roman ist<br />

sein Schauplatz. Scharhörn: eine<br />

Miniaturinsel vor der Elbmündung<br />

mit einer Fläche von rund 20 Hektar,<br />

entstanden auf einer Sandbank. Ein einsames<br />

Haus steht drauf. In den Sommermonaten<br />

logiert ein Vogelwart auf der<br />

Insel. Besuch nur nach vorheriger An -<br />

meldung und Genehmigung.<br />

Ideal also für einen Romanhelden, der<br />

über sich und sein Leben nachdenken<br />

möchte. Gleich nebenan liegen die unbewohnte<br />

Schwesterinsel mit dem klingenden<br />

Namen Nigehörn und, sechs Kilometer<br />

entfernt, die größere Insel N<strong>eu</strong>werk,<br />

alles inmitten des Nationalparks Hamburgisches<br />

Wattenmeer.<br />

Die Inselgruppe gehört nicht nur zu<br />

Hamburg, sie ist sogar, obgleich 100 Kilometer<br />

von der Hansestadt entfernt, ein<br />

eigener Stadtteil. Fast 30 Jahre lang gab<br />

es den Plan, dort einen Tiefwasserhafen<br />

zu errichten, doch daraus ist bis<br />

h<strong>eu</strong>te nichts geworden.<br />

Der in Hamburg geborene<br />

Schriftsteller Uwe Timm hat<br />

Scharhörn jetzt zum Schauplatz<br />

seines n<strong>eu</strong>en Romans „Vogelweide“<br />

gemacht. Auf der Insel<br />

spielt sich die Rahmenhandlung<br />

ab. Eschenbach heißt der als Unternehmer<br />

und Liebhaber gescheiterte<br />

Mann, der sich hierhin<br />

zurückgezogen hat. Statt für<br />

einige Zeit ins Kloster zu gehen<br />

oder sich auf den Pilgerpfad zu<br />

begeben, übernimmt er das Amt<br />

des Vogelwarts.<br />

Was ihn dafür qualifiziert?<br />

Zur Erklärung wird im Roman<br />

angeführt, dass er früher einmal einem<br />

befr<strong>eu</strong>ndeten Ornithologen bei dessen<br />

Arbeit half. Von dem ist er nun gefragt<br />

worden, ob er kurzfristig auf Scharhörn<br />

eine Schwangerschaftsvertretung übernehmen<br />

könne. Eschenbach zögert nicht<br />

lange und erfüllt mit Vergnügen die Aufgaben,<br />

die er als Herr der Insel zu er -<br />

ledigen hat: Aufzeichnungen über die<br />

nistenden Vögel zu machen, die vorbeiziehenden<br />

Schwärme zu beobachten<br />

und deren Größe abzuschätzen, den Müll<br />

aufzusammeln, den das Meer anschwemmt.<br />

Begeistert rühmt er den einsamen Ort,<br />

freilich so, als müsste er den Text für einen<br />

Reiseführer schreiben: „Die Sterne<br />

sind so überraschend nah. Du siehst die<br />

ferne Lichterkette der Küste. Das Licht<br />

des L<strong>eu</strong>chtturms von Helgoland und von<br />

der Insel N<strong>eu</strong>werk, so als schneide der<br />

Strahl Bahnen in die Dunkelheit, eine<br />

Verbindung zum Großen Wagen dort<br />

oben, zum Nordstern. Und du siehst in<br />

der Ferne die Lichter der Schiffe.“<br />

Uwe Timm, 73, hat in vier Jahrzehnten<br />

gut zwei Dutzend Bücher publiziert, dar -<br />

unter bekannte und anerkannte Werke<br />

wie „Morenga“, „Kopfjäger“, „Rot“. Der<br />

n<strong>eu</strong>e Roman hält leider nicht, was der<br />

Schauplatz verspricht. Der Autor hat sich<br />

offenbar zu sehr auf seine Fertigkeiten<br />

und sein Handwerk verlassen.<br />

Die Karrieren von Schriftstellern sind –<br />

wie schon ein kurzer Blick in die Gegenwartsliteratur<br />

zeigt – voll von Unwägbarkeiten.<br />

Es gibt die Autoren, die gleich mit<br />

ihrem ersten Roman einen Bestseller<br />

schreiben, danach aber mehr<br />

oder weniger in Schweigen verfallen<br />

(wie Patrick Süskind nach<br />

seinem Millionenerfolg „Das<br />

Parfum“). Es gibt solche, die mit<br />

mehreren Büchern zu guter Auflage<br />

und großem Ansehen gekommen<br />

sind, bevor ihre Erfolgskurve<br />

jäh abbricht (wie im<br />

Fall des h<strong>eu</strong>te fast vergessenen<br />

Schweizers Gerold Späth). Auch<br />

solche, die in größeren Abständen<br />

Romane publizieren, souverän<br />

und ohne um die Lesergunst<br />

zu bangen (Christoph Ransmayr).<br />

Es gibt die Autoren, deren<br />

Erfolg sich an der Kritik vorbei<br />

entwickelt (Daniel Glattauer mit „Gut gegen<br />

Nordwind“). Und dann sind da umgekehrt<br />

die jenigen, die bei emsiger Pro -<br />

duktion kaum ein Publikum finden, aber<br />

von Teilen der Kritik unerbittlich gelobt<br />

und hochgehalten werden (bestes Beispiel:<br />

Reinhard Jirgl). Andere schreiben<br />

ihr Leben lang Buch um Buch und landen<br />

erst spät einen Überraschungserfolg (wie<br />

Dieter Wellershoff mit seinem Roman<br />

„Der Liebeswunsch“). Und gelegentlich<br />

gibt es ein Glückskind wie Eugen Ruge,<br />

der im Alter von 57 seinen Debütroman<br />

publizierte und damit auf Anhieb den<br />

D<strong>eu</strong>tschen Buchpreis und ein großes Publikum<br />

gewann.<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

Literat Timm: Wo bleibt das Begehren?<br />

Romanschauplatz Scharhörn: „Die Sterne sind


so überraschend nah“<br />

ISOLDE OHLBAUM / LAIF<br />

RALF ROLETSCHEK<br />

Solche Extreme kennt Uwe Timms Autorenlaufbahn<br />

nicht. Sie hat sich stetig<br />

entwickelt. Und obgleich die große Leser -<br />

schaft etwas auf sich warten ließ, so darf<br />

man ihn h<strong>eu</strong>te doch einen erfolgsverwöhnten<br />

Autor nennen. Er begann als<br />

Lyriker, promovierte 1971 über Camus<br />

und veröffentlichte mit Mitte dreißig den<br />

immer noch lesenswerten Roman der<br />

68er-Revolte: „Heißer Sommer“.<br />

Vier weitere Höhepunkte gibt es. Dazu<br />

zählt sogar ein Kinderbuch, 1989 publiziert,<br />

das sich – auch als Film – anhal -<br />

tender Beliebtheit erfr<strong>eu</strong>t: „Rennschwein<br />

Rudi Rüssel“. Dann die 1993 veröffentlichte<br />

und ebenfalls verfilmte Novelle<br />

„Die Entdeckung der Currywurst“, die<br />

Geschichte eines untergetauchten Desert<strong>eu</strong>rs<br />

aus den letzten Kriegstagen in<br />

Hamburg. Schließlich zwei autobiografisch<br />

geprägte Bücher: 2003 das fragmentarische<br />

Porträt seines im Krieg gefallenen<br />

Bruders Karl-Heinz, eines SS-Soldaten<br />

(„Am Beispiel meines Bruders“), und<br />

2005 die private Spurensuche im Fall von<br />

Benno Ohnesorg, des 1967 in Berlin<br />

getöteten Studenten, mit dem Timm<br />

befr<strong>eu</strong>ndet war („Der Fr<strong>eu</strong>nd und der<br />

Fremde“).<br />

Der n<strong>eu</strong>e Roman nun ist ein Beleg<br />

dafür, dass Schreibroutine auch in die<br />

Sackgasse führen kann. Und er zeigt<br />

zugleich beispielhaft, was an der d<strong>eu</strong>tschen<br />

Gegenwartsliteratur mitunter so<br />

quälend ist.<br />

Dazu gehört zum Beispiel, dass Dialoge<br />

in wörtlicher Rede eher gemieden werden.<br />

Es mag die Furcht davor sein, dass<br />

es zu stark an Unterhaltungsliteratur erinnert,<br />

wenn die Gespräche der Figuren<br />

gar zu lebhaft und mitreißend ausfallen<br />

(und womöglich noch durch Anführungszeichen<br />

kenntlich sind), also werden ganze<br />

Abendunterhaltungen und selbst Bettgeflüster<br />

in indirekter Rede wiedergegeben:<br />

Referat und Zusammenfassung statt<br />

Vergegenwärtigung – bei Timm immerhin<br />

in korrektem Konjunktiv.<br />

Aber wenn es nur das wäre. Es soll in<br />

„Vogelweide“ ja auch um Liebe und Leidenschaft<br />

gehen, um Verletzungen, Verzweiflung,<br />

Lust und Qual. Nichts davon<br />

wird lebendig. Es bleibt in diesem Roman<br />

pure, sprachlich lustlose Behauptung.<br />

Da ist man „zusammen gewesen“, oder<br />

es gibt ein „tastend staunendes, von Zweifeln<br />

begleitetes Zusammensein“. Nichts<br />

gegen Diskretion, And<strong>eu</strong>tung, Auslassung<br />

in literarischen Werken, zumal das<br />

vulgär Direkte inzwischen ausreichend<br />

erprobt ist (und selten so gelungen wie<br />

bei John Updike) – aber das Begehren<br />

sollte doch zumindest spürbar werden.<br />

Hier ist nur viel davon die Rede.<br />

Und wenn dann mal eine D<strong>eu</strong>tlichkeit<br />

gewagt wird, endet das nicht gut. Anna,<br />

die Geliebte von Eschenbach, ruft im<br />

Liebesrausch „das zuvor Unvorstellbare“,<br />

nämlich: „Ja, fick mich, fick mich“ – was<br />

gleich mit dem Satz „sie hatten getrunken“<br />

entschuldigt wird. Ganz und gar<br />

bizarr dann der Kommentar Eschenbachs:<br />

„Es war, als wären sie mit Benzin<br />

übergossen worden.“ Es bleibt Timms<br />

Geheimnis, wie das zu verstehen sein<br />

soll.<br />

Es gibt vier Hauptpersonen, zwei Paare,<br />

die Timm in seinem Roman nach Art<br />

der „Wahlverwandtschaften“ zusammenführt<br />

und einem Wechselbad der Gefühle<br />

aussetzt. Anders als bei Goethe kommt<br />

es wirklich zum Partnerwechsel, wenn<br />

auch zeitversetzt. Das desolate Ergebnis<br />

wird dem Leser schon früh im Buch mitgeteilt.<br />

Eschenbach verliert alles. Er ist es, der<br />

die mit dem Architekten Ewald verheiratete<br />

Anna, Mutter von zwei Kindern, unbedingt<br />

erobern will. Und sie, der die Ehe<br />

eigentlich heilig ist, da nur durch sie die<br />

„Beliebigkeit des Begehrens“ unterbrochen<br />

werde, zahlt am Ende mit der Trennung<br />

von Ehemann und Geliebtem. Sie<br />

zieht mit ihren Kindern in die USA.<br />

Ewald dagegen findet bei Selma Trost,<br />

der Silberschmiedin, die vorher mit<br />

Eschenbach zusammen war.<br />

Dieser, so viel Strafe muss sein, verliert<br />

am selben Tag wie Anna auch noch seine<br />

Firma. Das Software-Unternehmen geht<br />

in Konkurs, 40 Mitarbeiter stehen auf der<br />

Straße. Doch nachdem er sich ein paar<br />

Tage lang verkrochen hat, weder ans Telefon<br />

noch an die Tür gegangen ist,<br />

kommt Eschenbach zumindest mit diesem<br />

Verlust, auch mit dem seines gepfändeten<br />

Eigentums inklusive Luxuswohnung,<br />

überraschend gut klar.<br />

Sechs Jahre ist das alles her, nun sitzt<br />

der Held auf seiner Vogelinsel – und erwartet<br />

eine Besucherin: jene Anna, mit<br />

der ihn damals die unglückselige Liebesaffäre<br />

verband.<br />

Angekündigt wird dieser Besuch gleich<br />

auf den ersten Seiten des Romans. Doch<br />

es dauert rund 280 weitere Seiten, bis die<br />

Ex-Geliebte endlich dort ankommt. Kein<br />

Wunder: Der Weg vom Festland ist nur<br />

zu bestimmten Tageszeiten möglich, abhängig<br />

von Flut und Ebbe, und auch nur<br />

mit einem Pferdefuhrwerk, falls man<br />

nicht kilometerweit durchs Watt laufen<br />

möchte. Bleibt also Zeit genug, dem Leser<br />

brav und betulich, wenn auch in überflüssig<br />

verschachtelten Rückblenden, die<br />

ganze Vorgeschichte zu erzählen.<br />

H<strong>eu</strong>te kann jeder per Google Earth aus<br />

der Vogelperspektive einen Blick auf<br />

Scharhörn werfen, sogar das kleine Haus<br />

auf Stelzen ist zu erkennen. Derzeit<br />

hü tet ein angehender Tiermediziner dort<br />

ein.<br />

Der Besucherandrang dürfte dank der<br />

ansehnlichen Lesergemeinde von Uwe<br />

Timm bald kräftig anwachsen. Denn wie<br />

immer der Roman „Vogelweide“ gefallen<br />

mag, eines weckt die Lektüre gewiss: N<strong>eu</strong>gier<br />

auf die Insel.<br />

VOLKER HAGE<br />

DER SPIEGEL 33/2013 105


Kultur<br />

KAPITAL<br />

Popstar aus Stahl<br />

Wenn man eine Milliarde verdient hat, was macht man mit dem Geld? Einen Fußballverein<br />

kaufen? Der Kiewer Oligarch Mohammad Zahoor hat ein<br />

anderes Projekt: Seine Frau Kamaliya soll Lady Gaga ablösen. Von Philipp Oehmke<br />

Er würde sich eigentlich nicht als<br />

Olig archen bezeichnen, sagt Mohammad<br />

Zahoor, allerdings ist die<br />

Art und Weise, in der er sich gerade über<br />

die Stadtautobahn von Kiew bewegt,<br />

ziemlicher Oligarchen-Style. Sein blauer<br />

Bentley schneidet durch den Verkehr mit<br />

140 Stundenkilometern, wo 80 erlaubt<br />

sind, gefolgt, Stoßstange an Stoßstange,<br />

von einem Mercedes-Geländewagen. Die<br />

beiden Wagen teilen den ukrainischen<br />

Verkehr wie das Meer, draußen fliegen<br />

Sozialismus-Wohnblöcke vorbei.<br />

Mohammad Zahoor sinkt in den Rücksitz,<br />

neben ihm seine Frau Kamaliya,<br />

wunderschön, wie er findet, in einem weißen,<br />

diamantbesetzten Kleid. Vorn neben<br />

dem Fahrer sitzt Igor, der Leibwächter.<br />

Früher gehörte Igor zum Bewacherteam<br />

von Boris Jelzin, er blickt finster auf jene<br />

Verkehrsteilnehmer, die nicht schnell genug<br />

aus dem Weg gehen.<br />

Kamaliya hat in zehn Minuten einen<br />

Auftritt im Nationalpalast von Kiew, eine<br />

Gala zu Ehren eines verstorbenen ukrainischen<br />

Modeschöpfers namens Voronin,<br />

der in der Ukraine eine so bewunderte<br />

Ikone war, dass 4000 Menschen zu der<br />

Gala kommen werden. Kamaliya wird<br />

dort einen ihrer Songs singen, sie hat sich<br />

für eine Ballade entschieden.<br />

Die Sängerin Kamaliya ist nicht nur<br />

Zahoors Frau, sie ist auch sein Projekt.<br />

In der Ukraine ist sie ein ziemlich bekannter<br />

Popstar, sie verbindet klassischen<br />

Operngesang mit Dancepop, was für west<strong>eu</strong>ropäische<br />

Ohren gewöhnungsbedürftig<br />

klingen kann, sie war Mrs. World im Jahr<br />

2008 und hat auch in einem Film mit Sharon<br />

Stone mitgespielt, der allerdings noch<br />

nicht in die Kinos gekommen ist. Zahoor<br />

sieht da viel Potential. Er hat endlich eine<br />

Bestimmung für sein Geld gefunden.<br />

Mohammad Zahoor, Ende fünfzig, hat<br />

einmal fünf Stahlwerke in der Ukraine besessen,<br />

und als er sie 2008 verkaufte, brachte<br />

ihm das ungefähr eine Milliarde Dollar,<br />

genau will er es nicht sagen. Was macht<br />

man mit einer Milliarde auf dem Konto<br />

mitten in der Finanzkrise? Zahoor investierte<br />

in zwei Hotels in Kiew und in ein<br />

paar Bürogebäude, er kaufte die liberale<br />

englischsprachige „Kyiv Post“ sowie ein<br />

Fernsehstudio, ein Flugz<strong>eu</strong>g, eine Yacht,<br />

106<br />

Unternehmer Zahoor: Blöd, dass das h<strong>eu</strong>te mit dem roten Teppich nicht geklappt hat …<br />

DER SPIEGEL 33/2013


zwei Bentleys, zwei Mercedes, einen Audi<br />

S8, einen Range Rover. Und jetzt?<br />

Seine Oligarchen-Kollegen haben Fußballvereine<br />

gekauft, das wäre eine Idee.<br />

Dem ukrainischen Oberoligarchen Rinat<br />

Achmetow zum Beispiel gehört Schachtjor<br />

Donezk. Achmetow holte einen Haufen<br />

Brasilianer und führte den Verein in die<br />

<strong>eu</strong>ropäische Fußballspitze. Nichts für Zahoor,<br />

aber was wäre, wenn er keine Brasilianer,<br />

sondern die besten Produzenten,<br />

Tänzer, PR-L<strong>eu</strong>te holte und seine Frau in<br />

die <strong>eu</strong>ropäische Popspitze brächte? Und<br />

so formuliert Zahoor an diesem Abend<br />

auf dem Weg zur Gala folgendes Ziel: „Wir<br />

wollen Lady Gaga in Rente schicken.“<br />

Das klingt ordentlich verrückt, andererseits<br />

kam ja auch Zahoor mit 19 ganz<br />

mittellos aus Karatschi in die Sowjet -<br />

union. Er wollte nur eine Ausbildung als<br />

Stahlingeni<strong>eu</strong>r machen. Dass er h<strong>eu</strong>te einer<br />

der reichsten Männer der Ukraine ist,<br />

war mindestens genauso unwahrscheinlich.<br />

Kamaliya hat Talent, sie singt professionell,<br />

seit sie elf ist, den Rest kann<br />

man kaufen.<br />

Möglicherweise ist das, was Zahoor<br />

macht, nur folgerichtig oder gar visionär<br />

… denn sie hat h<strong>eu</strong>te vier Stunden gebraucht, um sich zu schminken: Ehefrau Kamaliya<br />

FOTOS: MAXIM SERGIENKO / AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL<br />

in der Post-Finanzkrisenzeit, in der immer<br />

mehr klassische Kultur- und Unterhaltungsmodelle<br />

des Nachkriegskapitalismus<br />

auf Mäzene angewiesen sind. Von<br />

den in diesem Jahr für den Oscar nominierten<br />

Filmen wurden die meisten von<br />

Milliardären oder Erben maßgeblich mitfinanziert,<br />

darunter „Argo“ oder „Zero<br />

Dark Thirty“; große Kunstausstellungen<br />

würde es sowieso nicht mehr geben ohne<br />

private Geldgeber, etliche Fußballvereine,<br />

die in der Champions League spielen,<br />

hängen am Tropf von Milliardären. Der<br />

Moskauer Unternehmer Wladislaw Doronin<br />

hat eine russische und eine d<strong>eu</strong>tsche<br />

Version der Andy-Warhol-Zeitschrift<br />

„Interview“ auf den Markt gebracht, wohl<br />

vor allem als Spielz<strong>eu</strong>g für seine damalige<br />

Fr<strong>eu</strong>ndin Naomi Campbell. In Zeiten, in<br />

denen Yachten und Flugz<strong>eu</strong>ge selbst reichen<br />

Russen nur noch gestrig vorkommen,<br />

ist der Pakt, den die Scheichs und<br />

Oligarchen schließen, stets derselbe: Geld<br />

gegen Anerkennung. Geld gegen Lebenssinn.<br />

Zahoor sagt, als Stahlmanager habe seine<br />

Freizeit früher aus Abendessen mit<br />

anderen Stahlmanagern bestanden. H<strong>eu</strong>te<br />

genießt er es, zwei Stunden lang zu<br />

warten, bis seine Frau fertig angekleidet<br />

ist, um dann mit ihr und dem Bodyguard<br />

Igor über einen roten Teppich zu gehen.<br />

Igor muss dabei mit breiter russischer<br />

Geste so tun, als wollte er die Fotografen<br />

und Kameramänner versch<strong>eu</strong>chen, obwohl<br />

sie ja eigentlich zum Spiel gehören<br />

und unverzichtbar sind.<br />

Blöd, dass das h<strong>eu</strong>te mit dem roten<br />

Teppich nicht geklappt hat. Trotz der 140<br />

auf der Stadtautobahn kamen sie zu spät.<br />

Kamaliya hat diesmal vier Stunden gebraucht,<br />

um sich zu schminken.<br />

Kamaliya, 36 Jahre alt, hat mit elf ihren<br />

ersten Gesangswettbewerb gewonnen,<br />

das war noch zu Sowjetzeiten. Danach<br />

hat sie sich klassisch ausbilden lassen,<br />

Gesang und Violine, sie kann über drei<br />

Oktaven singen. 1997 veröffentlichte sie<br />

ihr erstes Album, das sie „Techno Style“<br />

nannte und sie in der Ukraine bekannt<br />

machte. Ihre Mutter übernahm das Management,<br />

sie sang Duette mit dem russischen<br />

Schnulzenstar Filipp Kirkorow,<br />

aber ihre Karriere stagnierte. 2008 wurde<br />

sie immerhin Mrs. World, doch eigentlich<br />

ist sie wie eine von Zahoors Stahlwerken:<br />

Irgendwo müssen sich da Schätze verbergen,<br />

doch zunächst muss man sanieren.<br />

Zurück auf Zahoors Anwesen etwas<br />

außerhalb von Kiew möchte Kamaliya<br />

von ihrem d<strong>eu</strong>tschen Manager sogleich<br />

die n<strong>eu</strong>esten Zahlen wissen. Obwohl sie<br />

auf Englisch singt, ist ihre englische Artikulation<br />

ausbaufähig.<br />

„In Spanien bist du diese Woche das<br />

meistgeklickte Video auf YouTube, in<br />

Polen auch. <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> immer noch<br />

15000 Klicks pro Woche, das ist viel“, sagt<br />

der Manager, doch später stellt sich her -<br />

DER SPIEGEL 33/2013 107


Falke Layla im Wohnzimmer, Popdiva Kamaliya mit Kolleginnen: Sie singt professionell, seit sie elf ist, den Rest kann man kaufen<br />

FOTOS: MAXIM SERGIENKO / AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL<br />

110<br />

aus, dass all diese Zahlen etwas schwierig<br />

zu überprüfen sind. Es ist diese n<strong>eu</strong>e<br />

Schattenwelt des Pop mit seinen Klick -<br />

zahlen und YouTube-Hits, die Zahoor erst<br />

mal verstehen musste. Diese n<strong>eu</strong>en Maßeinheiten<br />

werden immer wichtiger, nur<br />

leider verdient man mit Klicks kaum Geld.<br />

Aber das ist hier ja zum Glück zweitrangig.<br />

Außerdem, in England, immerhin das<br />

sogenannte Mutterland des Pop, hat<br />

Kamaliya es schon in die richtige Hit -<br />

parade geschafft, bis auf Platz sechs der<br />

DJ-Charts, das war vergangenes Jahr.<br />

Zahoor hatte dafür die Londoner Produzenten<br />

Digital Dog angeh<strong>eu</strong>ert, die<br />

schon für Cyndi Lauper, Britney Spears<br />

oder Miley Cyrus gearbeitet haben. Für<br />

ihr aktuelles Album „Club Opera“, das<br />

vor ein paar Wochen erschienen ist und<br />

mit dem vor allem in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> und<br />

West<strong>eu</strong>ropa angegriffen werden soll, hat<br />

Zahoor den alten Nena-Produzenten<br />

Uwe Fahrenkrog-Petersen engagiert; er<br />

hat Thomas Anders, den man in der<br />

Ukraine für riesig hält, für ein Duett eingekauft,<br />

genauso den Tenor José Carreras,<br />

mit dem Kamaliya jetzt zwei Stücke<br />

einsingen wird; Zahoor lässt zu ihren<br />

Liedern aufwendige Videos in Miami<br />

oder Mumbai drehen; Zahoor hat sich an<br />

der Finanzierung des Hollywood-Films<br />

„What About Love“ mit Sharon Stone beteiligt,<br />

seine Bedingung für die Beteiligung:<br />

Kamaliya bekommt eine Rolle.<br />

„Es geht doch“, sagt Zahoor. So schwierig<br />

ist das Popgeschäft nicht. Fünf Mil -<br />

lionen Dollar hat er bisher investiert, aber<br />

das ist erst der Anfang.<br />

Er traf die Sängerin im Jahr 2003, da<br />

war er noch Stahlhändler, auch schon<br />

schwerreich, aber uninteressant für eine<br />

ukrainische Popdiva. Er schickte ihr täglich<br />

so lange Blumen, bis sie ihn heiratete.<br />

Am Tag vor der Gala ist Zahoor mit<br />

Kamaliya aus England zurückgekommen.<br />

Dreharbeiten für eine Dokumentation<br />

über das Leben der Superreichen, Zahoor<br />

weiß, dass sein Reichtum seine Frau zusätzlich<br />

interessant macht.<br />

Auch an diesem Abend in Kiew ist ein<br />

Fernsehteam da. Rossija 1, das putintr<strong>eu</strong>e<br />

Fernsehen, ist für ein paar Tage aus Moskau<br />

gekommen. Das liegt vor allem dar -<br />

an, dass Zahoor eine Produzentin des<br />

Senders als Kamaliyas PR-Beraterin angeh<strong>eu</strong>ert<br />

hat. So etwas geht in Russland,<br />

und weil der Sender staatsnah ist, hat<br />

Kamaliya auch schon für den Ministerpräsidenten<br />

Dmitrij Medwedew gesungen.<br />

In der Wohnzimmerhalle der Zahoors<br />

hat sich Kamaliya einen roten Lederhandschuh<br />

über ihren Unterarm gezogen, dar -<br />

auf nimmt nun ein Falke Platz, der bei<br />

den Zahoors im Wohnzimmer lebt. Das<br />

Tier heißt Layla und sitzt normalerweise<br />

auf einem thronartigen Holzpflock mitten<br />

in der Wohnzimmerhalle. Kamaliya füttert<br />

den Vogel mit rohem Hühnerfleisch.<br />

Der Falke reißt blutige Brocken aus dem<br />

Huhn und schlingt sie hinunter, Kamaliya<br />

schaut ihn dabei verliebt an.<br />

Soll sie denn mit Carreras nun in ihrer<br />

Opernstimme singen oder in ihrer Popvoice?<br />

Carreras, heißt es, wolle die Opernstimme.<br />

Kamaliya würde lieber im Popstil<br />

Sie ließ das Haus für<br />

ihn arabisch schmücken,<br />

bis er ihr erklärte,<br />

er sei doch Pakistaner.<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

singen. Sie macht sich Sorgen, dass die<br />

Songs sonst zu bieder werden.<br />

Als der Falke genug gefressen hat, reißt<br />

er weiterhin Stücke aus dem Huhn und<br />

wirft sie aus dem Schnabel abwechselnd<br />

den sechs Pekinesen vor die Füße. Die<br />

Hunde sollen auch etwas bekommen. Aus<br />

ihren Käfigen schauen ein Hase und ein<br />

Chinchilla zu, hinten am Fenster schreit<br />

ein Kakadu. Möglicherweise ist die Idee,<br />

eine ukrainische Mrs. World zum Weltstar<br />

zu machen, noch nicht einmal das<br />

Verrückteste hier im Hause Zahoor.<br />

Das Haus, das Zahoor vor ein paar Jahren<br />

bauen ließ, hat Kamaliya dekoriert.<br />

Sie mochte das Dubaier Hotel Burj al-<br />

Arab, also ließ sie das Haus arabisch<br />

schmücken, mit echten Goldtapeten, viel<br />

Ornament, Marmor und bunten Farben.<br />

Sie dachte, dass sich ihr Mann darin vielleicht<br />

ein bisschen heimisch fühlen könne,<br />

bis Zahoor ihr erklärte, dass er kein Araber<br />

sei, sondern Pakistaner.<br />

Jeden Morgen kommt ein Inder in<br />

einem gelben Gewand ins Haus und legt<br />

im Garten in der Nähe des Bootsanlegers<br />

zwei Yogamatten aus. Er macht dem<br />

Hausherrn dann 90 Minuten lang Yogaübungen<br />

vor, aber Zahoor telefoniert<br />

dabei die meiste Zeit oder schmust mit<br />

den Pekinesen, die beim Yoga stets dabei<br />

sind. Vom Bootsanleger in seinem Garten<br />

kann Zahoor mit seiner Yacht bis<br />

nach Venedig fahren. Leider liegt das<br />

Schiff gerade in Sewastopol, aber Zahoor<br />

will es bald durch den Bosporus ins Mittelmeer<br />

verlegen lassen. Er hat Carreras<br />

auf das Schiff eingeladen, er soll mit<br />

Kamaliya auf der Yacht an den Duetten<br />

arbeiten.<br />

Mohammad Zahoor heißt eigentlich<br />

Zahoor mit Vornamen, aber sein Nachname,<br />

sagt er, sei so unaussprechlich, dass<br />

er einfach Zahoor zum Nachnamen gemacht<br />

habe. Er hatte als junger Mann keine<br />

Vorstellung, was die Sowjetunion war,<br />

aber er wollte weg aus Pakistan. 1974 kam<br />

er in Moskau an, er war 19, es war Winter,<br />

Zahoor verstand kein Wort Russisch. Er<br />

lernte es in drei Monaten, und er lernte an<br />

einer technischen Hochschule in Donezk,<br />

wie man rohen Stahl glättet. Nach seiner<br />

Ausbildung in der Sowjetunion ging er<br />

noch einmal nach Pakistan zurück, stieg<br />

schnell auf bei einem staatlichen pakistanischen<br />

Stahlproduzenten. Doch er hatte<br />

inzwischen seine erste Frau geheiratet,<br />

eine Russin, und nachdem die So wjets<br />

Ende der Siebziger in Afghanistan einmarschiert<br />

waren, wurden die Russen<br />

auch zu den Feinden der Pakistaner. Ein<br />

Manager in einem staatlichen Betrieb, der<br />

mit einer Russin verheiratet war, das ging<br />

nicht mehr, und Zahoor musste weg.<br />

Er zog zurück in die Sowjetunion, begann<br />

selbst mit Stahl zu handeln, kaufte<br />

sein erstes Stahlwerk, man bekam die<br />

damals günstig. Bald hatte er fünf davon<br />

sowie Büros in New York und Hongkong.<br />

Er wurde britischer Staatsbürger und<br />

legte sich ein viktorianisches Haus in<br />

London zu.


Kultur<br />

Die anderen ukrainischen Oligarchen<br />

hätten ihn gewähren lassen, sagt Zahoor.<br />

„Stahl hat die nicht interessiert damals.<br />

Galt als eine sterbende Industrie, in die<br />

man erst mal viel Geld stecken musste,<br />

um zu was zu kommen. Das war kein<br />

schnelles Geld. Was meine Kollegen wollten,<br />

waren Casinos, Wodka oder Öl.“<br />

Zahoor sagt, er versuche, sich von der<br />

Oligarchengesellschaft in Kiew ein bisschen<br />

fernzuhalten, ohne auf zu offensichtliche<br />

Distanz zu gehen. Er hat seine Rolle<br />

darin gefunden, der gute Oligarch zu sein,<br />

dem ein angesehenes regierungskritisches<br />

Politikmagazin gehört und der dem Land<br />

die Ukrainian Music Awards geschenkt<br />

hat. Er sagt öffentlich, er werde sein Geld<br />

nicht außerhalb der Ukraine anlegen.<br />

Trotzdem heißt es in Kiew, es sei eigentlich<br />

nicht denkbar, dass jemand eine Milliarde<br />

macht und nicht zumindest über<br />

eine gewisse Durchsetzungskraft verfügt<br />

und sich juristisch ab und zu ambivalent<br />

verhalten hat. Auch Zahoor hat sich mit<br />

ehemaligen Geschäftspartnern überworfen,<br />

es gab Prozesse.<br />

Als es Nacht wird in Kiew, um Viertel<br />

vor zwei, legt Zahoor eine Konzert-DVD<br />

seiner Frau ein. Er hat sich eine Zigarre<br />

angezündet und setzt sich mit Kamaliya<br />

vor sein Heimkino. Er besteht darauf,<br />

dass der Gast aus <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> mitguckt.<br />

Man soll sich bitte jetzt noch nicht in das<br />

Gästehaus zurückziehen. Das Ehepaar<br />

geht nie vor dem Morgengrauen ins Bett,<br />

und das, obwohl Kamaliya jetzt im siebten<br />

Monat schwanger ist. Zahoor ist sich<br />

noch unschlüssig, wie die Schwangerschaft<br />

in den Karriereplan passt. Eigentlich<br />

wollten sie sie auf der Gala in einem<br />

Interview feierlich bekanntgeben, aber<br />

im letzten Moment hat Zahoor sich umentschieden.<br />

Es war dann die Aufgabe<br />

des Leibwächters Igor, die Kamerateams,<br />

die Fragen zu dem unübersehbaren Baby -<br />

bauch stellten, abzuwimmeln.<br />

Zahoor hat den Dolby-Surround-<br />

Sound voll aufgedreht. Er liegt tief im<br />

Sofa und sieht seiner Frau, die neben ihm<br />

wippt, auf dem Bildschirm verträumt<br />

beim Singen und Tanzen zu. Für die Konzert-DVD<br />

haben sie sich eine kleine<br />

Handlung ausgedacht. Kamaliya steht in<br />

den Trümmern der Kiewer Oper. Mit<br />

jedem Song, den sie singt, errichtet sich<br />

nach und nach ein n<strong>eu</strong>es Gebäude. Als<br />

Kamaliya den letzten Song beendet hat,<br />

sieht die n<strong>eu</strong>e Oper schöner und moderner<br />

aus als die alte. Für Zahoor ist das<br />

die perfekte Parabel. Er ist die Oper.<br />

Kamaliya hat auch ihn schöner und<br />

moderner gemacht. Vielleicht muss man<br />

an so etwas nur glauben. Den Rest kann<br />

man kaufen.<br />

Video:<br />

Kamaliya in Aktion<br />

spiegel.de/app332013kamaliya<br />

oder in der App DER SPIEGEL<br />

DER SPIEGEL 33/2013 111


Autorin Cahalan<br />

SACHBÜCHER<br />

Irre<br />

Eine amerikanische Reporterin<br />

wird plötzlich psychotisch und<br />

nur mit Glück geheilt. In einem<br />

Buch erzählt sie von ihrer<br />

Exkursion in den Wahnsinn.<br />

Die Frau in dem Video sieht aus wie<br />

sie, wie Susannah Cahalan. Sie<br />

liegt in einem Krankenhausbett<br />

und trägt ein Krankenhausnachthemd.<br />

Ihre Stimme klingt verzweifelt und hyste -<br />

risch. „Ich bin in den Nachrichten!“, wimmert<br />

die Frau und zeigt panisch auf den<br />

Fernseher. Sie glaubt, dass draußen vor<br />

der Klinik Übertragungs wagen stehen,<br />

ein Heer von Paparazzi und Reportern,<br />

die über sie berichten. Die Frau klammert<br />

die Hände vors Gesicht, wirft sich zur<br />

Seite: Alle sind hinter ihr her.<br />

Doch es gibt keinen Übertragungs -<br />

wagen vor dem Krankenhaus, keine Paparazzi,<br />

es gibt keine Nachrichten über<br />

sie. All das existiert nur in ihrer Einbildung.<br />

Sie glaubt, die anderen machten ihr<br />

das Leben zur Hölle. Doch der T<strong>eu</strong>fel<br />

steckt in ihr. Es gibt nur dieses Video der<br />

Patientin im Bett. Die Ärzte im Krankenhaus<br />

haben die Wahnvorstellungen von<br />

Susannah Cahalan per Kamera dokumentiert.<br />

Erst nach ihrer Heilung hat sich<br />

Cahalan diese Aufnahmen immer wieder<br />

angesehen.<br />

Noch h<strong>eu</strong>te findet sie das Material gruselig.<br />

Diese Frau ist sie – und sie ist es<br />

auch nicht. Cahalan erinnert sich nicht,<br />

diese Frau dort im Video gewesen zu sein,<br />

sie erinnert sich aber an ihre Halluzina -<br />

tion. Sie nennt die Frau in dem Video ein<br />

Monster. Sie sagt „sie“, wenn sie über die<br />

Frau spricht, nicht „ich“. Sie sagt: „Das<br />

ist der elektronische Beweis für meinen<br />

Monat im Wahn.“<br />

Was sie damals erlebte, wie sie zum<br />

Monster wurde und wie sie geheilt wurde,<br />

das hat die 28-jährige Reporterin der<br />

„New York Post“, der das alles zustieß,<br />

zu einem Buch verarbeitet: „Brain on<br />

Fire – My Month of Madness“ war in den<br />

USA auf der Bestsellerliste der „New<br />

York Times“, nun erscheint es auf D<strong>eu</strong>tsch<br />

112<br />

unter dem Titel „F<strong>eu</strong>er im Kopf – Meine<br />

Zeit des Wahnsinns“*.<br />

Der T<strong>eu</strong>fel kam vor vier Jahren in ihren<br />

Körper. Er fühlte sich an wie eine<br />

Grippe. Sie spürte einen scharfen<br />

Schmerz im Kopf, ihre Beine wurden<br />

schwach. Sie konnte nicht schlafen, nichts<br />

essen. Sie schwankte zwischen Betrübtheit<br />

und Begeisterung. Ihre linke Hand<br />

fing an zu kribbeln, wurde taub, dann<br />

der linke Fuß.<br />

Ein Arzt tippte auf Pfeiffersches Drüsen -<br />

fieber. Sie wurde vergesslich, unruhig, aggressiv.<br />

Sie sah die Wände ihres Büros auf<br />

sich zukommen. Sie bekam Krampfanfälle.<br />

Ein Arzt sagte, sie feiere zu viel, typische<br />

Symptome eines Alkoholentzugs.<br />

Sie zweifelte an sich, vielleicht war alles<br />

zu viel: das Leben in Manhattan, die<br />

Arbeit beim Boulevardblatt, der n<strong>eu</strong>e<br />

Fr<strong>eu</strong>nd. Sie diagnostizierte sich selbst: bipolare<br />

Störung. Die Ärzte im Krankenhaus<br />

glaubten an eine Psychose. Sie analysierten<br />

Urin und Blut, schauten mit<br />

Magnet resonanztomografen ins Gehirn,<br />

untersuchten Nerven wasser aus dem<br />

Patientin Cahalan im Krankenhaus<br />

„Ich habe Macht“<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

MIKE MCGREGOR / CONTOUR BY GETTY IMAGES<br />

Rückenmarks kanal. Alle Tests: negativ.<br />

Sie sprach nur noch verworren, ihre<br />

Zunge verdrehte sich, sie faselte, sabberte,<br />

gab meist nur noch Silben von sich,<br />

manchmal auch nur ein Grunzen. Sie lag<br />

nur da, stumm und starr. Sie schien verloren,<br />

die Ärzte zweifelten, ob sie sie jemals<br />

retten könnten. Die Liste der Krankheiten,<br />

an denen sie nicht litt, wurde länger. Nach<br />

drei Wochen in der Klinik zeigte eine<br />

Unter suchung: Das Gehirn ist entzündet.<br />

An der New Yorker Uni-Klinik war<br />

Susannah Cahalan die erste Patientin, bei<br />

der eine spezielle Autoimmunerkrankung<br />

festgestellt wurde. Die 217. weltweit. Erst<br />

2007 ist die Krankheit entdeckt worden.<br />

Cahalan konnte geheilt werden.<br />

Cahalan hat während der Recherche<br />

über ihr Leben mit der Krankheit Hunderte<br />

Gespräche mit Ärzten, Pflegern,<br />

mit ihrer Familie und ihren Fr<strong>eu</strong>nden geführt,<br />

hat das Klinik-Notizbuch gelesen,<br />

das ihre geschiedenen Eltern führten, um<br />

sich auszutauschen. Sie hat über ihr aufgelöstes<br />

Selbst geforscht, um das aufzuarbeiten,<br />

was sie verpasst hat, zum Beispiel<br />

diesen Abend im März 2009:<br />

Mit ihrem Fr<strong>eu</strong>nd Stephen liegt sie auf<br />

der Couch, sie schauen eine Reality-Show.<br />

Cahalan versucht zu entspannen, sie hat<br />

beim Essen keinen Bissen Nudeln herunterbekommen,<br />

sie raucht eine Zigarette<br />

nach der anderen und sieht auf dem Bildschirm,<br />

wie Gwyneth Paltrow in einem<br />

dünnflüssigen Ziegenmilchjoghurt herumstochert.<br />

Plötzlich wird es dunkel.<br />

Als Stephen mir vorschlug, ich solle versuchen,<br />

mich zu entspannen, wandte ich<br />

ihm mein Gesicht zu, wobei ich wie besessen<br />

durch ihn hindurchstarrte. Plötzlich<br />

schlugen meine Arme gestreckt nach vorne<br />

aus, mein Körper versteifte sich, ich<br />

schnappte nach Luft. Mein Körper versteifte<br />

sich weiter, als ich wiederholt einatmete,<br />

ohne jedoch auszuatmen. Durch<br />

die zusammengebissenen Zähne quollen<br />

Blut und Schaum aus meinem Mund.<br />

Es ist der erste schwere Blackout, Beginn<br />

ihrer verlorenen Zeit. Cahalan hat<br />

sie recherchiert und rekonstruiert, als handelte<br />

es sich nicht um ihr Ich, sondern<br />

um eine dritte Person.<br />

Eine schwierige Recherche. Sie erinnert<br />

sich an ein orangefarbenes Bändchen<br />

mit der Aufschrift „Fluchtgefahr“,<br />

das sie um ihr Handgelenk trug. Die<br />

Schwestern und Ärzte erzählten ihr, dass<br />

es solche Bändchen nicht gibt. Während<br />

Cahalan versucht, Tatsachen von Fiktion<br />

zu unterscheiden, merkt sie, wie viel sie<br />

sich eingebildet hat. Sie entfernt sich immer<br />

mehr von dieser kranken Susannah,<br />

aber die Wahngedanken, die die kranke<br />

Susannah hatte, sind immer noch da, so<br />

als ob dieses zweite Ich ihr sagte: Ich bin<br />

gegangen, aber nicht vergessen.<br />

* Susannah Cahalan: „F<strong>eu</strong>er im Kopf – Meine Zeit des<br />

Wahnsinns“. MVG Verlag; 272 Seiten; 17,99 Euro.


Kultur<br />

Die Schilderungen ihrer Halluzina -<br />

tionen, ihrer Paranoia sind die stärksten<br />

Abschnitte im Buch:<br />

Ich muss pinkeln. Ich schnappe meinen<br />

rosa Rucksack, ziehe die Schnur heraus<br />

und gehe zur Gemeinschaftstoilette. Als<br />

ich meine schwarzen Leggins und meinen<br />

Slip bis zu den Knien hinunterschiebe,<br />

werde ich das Gefühl nicht los, beobachtet<br />

zu werden. Ich schaue nach rechts –<br />

ein großes braunes Auge starrt mich<br />

durch einen Schlitz in der Tür an. „Hau<br />

ab, verdammt noch mal!“ Ich bedecke<br />

meine Blöße, ziehe meine Hosen wieder<br />

hoch und renne zurück ins Bett, ziehe<br />

mir die Decke bis über die Augen. (…)<br />

Alle wollen mich kriegen. Ich bin hier<br />

nicht sicher.<br />

Sie glaubt, dass ihre Zimmernachbarin<br />

sie ausspioniert und Informationen an<br />

die Medien weitergibt. Sie glaubt, dass<br />

ihr Vater ein Betrüger und Entführer ist,<br />

dass er ihre Stiefmutter umgebracht hat.<br />

Sie glaubt, dass sie eine besondere<br />

Gabe hat.<br />

Ich starre auf die Wangenknochen der<br />

Ärztin und ihre hübsche olivfarbene<br />

Haut. Ich starre fester, fester und noch<br />

fester. Ihr Gesicht wirbelt vor mir herum.<br />

Strähne für Strähne ergraut ihr Haar. Falten,<br />

zuerst nur um die Augen, dann um<br />

ihren Mund und über ihre Wangen durchziehen<br />

jetzt ihr ganzes Gesicht (…) Ich<br />

habe eine Gabe. Ich kann L<strong>eu</strong>te mit meinem<br />

Geist altern lassen. Das bin ich. Das<br />

können sie mir nicht nehmen. Ich habe<br />

Macht.<br />

Vielleicht wäre Cahalan h<strong>eu</strong>te tot, zumindest<br />

aber wäre sie wohl in einer geschlossenen<br />

Anstalt, wäre nicht ein N<strong>eu</strong>rologe<br />

zu dem Fall n<strong>eu</strong> hinzugezogen<br />

worden. Als er zu ihr kommt, macht er<br />

einen simplen Test: Er bittet sie, eine Uhr<br />

auf ein Blatt Papier zu zeichnen. Sie<br />

quetscht alle Zahlen auf die rechte Hälfte:<br />

Da, wo eine Sechs stehen müsste, steht<br />

die Zwölf. Das ist es. Testergebnis: positiv.<br />

Die rechte Gehirnhälfte, zuständig für<br />

das linke Gesichtsfeld, ist entzündet. „Ihr<br />

Gehirn steht in Flammen“, sagt der Doktor.<br />

„Ihr Gehirn wird von Ihrem eigenen<br />

Körper angegriffen.“<br />

Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis. Der<br />

T<strong>eu</strong>fel hat jetzt einen Namen. Wie er in<br />

ihren Körper gekommen ist, bleibt ein<br />

Rätsel: Das Immunsystem, das eigentlich<br />

schützen soll, hat die Nervenzellen im<br />

Gehirn attackiert. Wahrscheinlich war es<br />

eine genetische Veranlagung zusammen<br />

mit einem äußeren Auslöser.<br />

Sie bekommt Medikamente und fängt<br />

ein halbes Jahr später an zu arbeiten. Sie<br />

sieht sich ein erstes Mal die Videos aus<br />

dem Krankenhaus an. Sie schämt sich.<br />

H<strong>eu</strong>te hält Cahalan Vorträge in Universitäten<br />

und Krankenhäusern, immer wieder<br />

zeigt sie die Aufnahmen. Ihre Krankheit,<br />

sagt sie, sei auch ein Geschenk gewesen.<br />

SONJA HARTWIG<br />

Bestseller<br />

Belletristik<br />

1 (1) Dan Brown<br />

Inferno<br />

Lübbe; 26 Euro<br />

2 (2) Kerstin Gier<br />

Silber – Das erste Buch der Träume<br />

Fischer JB; 18,99 Euro<br />

3 (3) Timur Vermes<br />

Er ist wieder da<br />

Eichborn; 19,33 Euro<br />

4 (4) Nina George<br />

Das Lavendelzimmer<br />

Knaur; 14,99 Euro<br />

5 (5) Martin Suter<br />

Allmen und die Dahlien<br />

Diogenes; 18,90 Euro<br />

6 (15) Alex Capus<br />

Der Fälscher,<br />

die Spionin und<br />

der Bombenbauer<br />

Hanser; 19,90 Euro<br />

Ein Pazifist, eine<br />

Musikantentochter und<br />

ein Kunststudent:<br />

drei Schweizer Biografien<br />

in einem Roman<br />

7 (9) Dora Heldt<br />

Herzlichen Glückwunsch, Sie haben<br />

gewonnen! dtv; 17,90 Euro<br />

8 (8) Stephen King<br />

Joyland<br />

Heyne; 19,99 Euro<br />

9 (10) John Green<br />

Das Schicksal ist ein mieser Verräter<br />

Hanser; 16,90 Euro<br />

10 (6) Donna Leon<br />

Tierische Profite<br />

Diogenes; 22,90 Euro<br />

11 (16) Suzanne Collins<br />

Die Tribute von Panem –<br />

Gefährliche Liebe Oetinger; 18,95 Euro<br />

12 (11) Eugen Ruge<br />

Cabo de Gata<br />

Rowohlt; 19,95 Euro<br />

13 (17) Hans Pleschinski<br />

Königsallee<br />

C. H. Beck; 19,95 Euro<br />

14 (14) Suzanne Collins<br />

Die Tribute von Panem –<br />

Flammender Zorn Oetinger; 18,95 Euro<br />

15 (7) Joachim Meyerhoff<br />

Wann wird es endlich wieder so,<br />

wie es nie war<br />

Kiepenh<strong>eu</strong>er & Witsch; 19,99 Euro<br />

16 (12) Anne Gesthuysen<br />

Wir sind doch Schwestern<br />

Kiepenh<strong>eu</strong>er & Witsch; 19,99 Euro<br />

17 (13) Volker Klüpfel/Michael Kobr<br />

Herzblut Droemer; 19,99 Euro<br />

18 (–) Kerstin Gier<br />

Saphirblau – Liebe geht durch<br />

alle Zeiten Arena; 16,99 Euro<br />

19 (–) Kerstin Gier<br />

Smaragdgrün – Liebe geht durch<br />

alle Zeiten Arena; 18,99 Euro<br />

20 (18) Martin Walker<br />

Femme fatale<br />

Diogenes; 22,90 Euro<br />

Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom<br />

Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl -<br />

kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller<br />

Sachbücher<br />

1 (1) Florian Illies<br />

1913 – Der Sommer des<br />

Jahrhunderts S. Fischer; 19,99 Euro<br />

2 (4) Rolf Dobelli<br />

Die Kunst des klaren Denkens<br />

Hanser; 14,90 Euro<br />

3 (3) Meike Winnemuth<br />

Das große Los<br />

Knaus; 19,99 Euro<br />

4 (5) Hannes Jaenicke<br />

Die große Volksverarsche<br />

Gütersloher Verlagshaus; 17,99 Euro<br />

5 (2) Bronnie Ware<br />

5 Dinge, die Sterbende am meisten<br />

ber<strong>eu</strong>en Arkana; 19,99 Euro<br />

6 (6) Markus Gabriel<br />

Warum es die Welt nicht gibt<br />

Ullstein; 18 Euro<br />

7 (8) Eben Alexander<br />

Blick in die Ewigkeit<br />

Ansata; 19,99 Euro<br />

8 (7) Dieter Nuhr<br />

Das Geheimnis des perfekten Tages<br />

Bastei Lübbe; 14,99 Euro<br />

9 (10) Dirk Müller<br />

Showdown Droemer; 19,99 Euro<br />

10 (–) Ruth Maria Kubitschek<br />

Anmutig älter<br />

werden<br />

Nymphenburger;<br />

19,99 Euro<br />

Wenn Gelassenheit<br />

auf Weisheit trifft:<br />

Schönheitstipps der<br />

82-jährigen<br />

Schauspielerin<br />

11 (12) Rolf Dobelli<br />

Die Kunst des klugen Handelns<br />

Hanser; 14,90 Euro<br />

12 (9) Hans-Olaf Henkel<br />

Die Euro-Lügner<br />

Heyne; 19,99 Euro<br />

13 (–) Gerd Ruge<br />

Unterwegs – Politische Erinnerungen<br />

Hanser; 21,90 Euro<br />

14 (11) Richard David Precht<br />

Anna, die Schule und der liebe Gott<br />

Goldmann; 19,99 Euro<br />

15 (14) Guillem Balagué<br />

Pep Guardiola<br />

C. Bertelsmann; 19,99 Euro<br />

16 (17) Frank Schirrmacher<br />

Ego – Das Spiel des Lebens<br />

Blessing; 19,99 Euro<br />

17 (13) Wilhelm Schlötterer<br />

Wahn und Willkür<br />

Heyne; 19,99 Euro<br />

18 (–) Ronald Reng<br />

Spieltage<br />

Piper; 19,99 Euro<br />

19 (–) Hubert Wolf<br />

Die Nonnen von Sant’Ambrogio<br />

C. H. Beck; 24,95 Euro<br />

20 (19) Andreas Platthaus<br />

1813 – Die Völkerschlacht und<br />

das Ende der alten Welt<br />

Rowohlt Berlin; 24,95 Euro<br />

DER SPIEGEL 33/2013 113


Kultur<br />

Vom anderen Stern<br />

FILMKRITIK: „Elysium“ erzählt von der Welt im Jahr 2154 – in Wahrheit<br />

geht es um die politischen Konflikte von h<strong>eu</strong>te.<br />

Der klügste Blockbuster der Saison<br />

beginnt so stereotyp wie fast jeder<br />

Weltuntergangsfilm. Staubig geht<br />

die Sonne über den Straßen von Los Angeles<br />

im Jahr 2154 auf, Slums ziehen sich<br />

bis zum Horizont, vernachlässigte Kinder<br />

spielen zwischen Wellblechhütten. Der<br />

Ex-Kriminelle Max (gespielt von einem<br />

glatzköpfigen Matt Damon, den man vor<br />

lauter Muskeln, Narben und Tätowie -<br />

rungen kaum erkennt) steht auf, wäscht<br />

sich und macht sich auf den Weg zu seinem<br />

Job in einer Kampfroboterfabrik –<br />

schwerstens entfremdete<br />

Arbeit. An der Bushaltestelle<br />

wird er von zwei<br />

dieser Maschinen zusammengeschlagen.<br />

Über der ehemaligen<br />

Stadt der Engel klebt derweil<br />

das n<strong>eu</strong>e Paradies<br />

wie ein künstlicher Mond<br />

am Himmel. Es ist eine<br />

riesige Raumstation, so<br />

groß wie ein kleiner Erdtrabant.<br />

Hierhin haben<br />

sich die Superreichen geflüchtet,<br />

um das schöne<br />

Leben zu leben. Sie brauchen<br />

die Roboter, um ihren<br />

Wohlstand zu schützen<br />

und ihre Hecken zu<br />

trimmen.<br />

Man ahnt, wie es ausgehen<br />

wird.<br />

Tatsächlich ist es nicht<br />

der Plot, der „Elysium“,<br />

das n<strong>eu</strong>e Werk des südafrikanischen<br />

Hollywood-Regiss<strong>eu</strong>rs und<br />

Drehbuchautors Neill Blomkamp, 33, zu<br />

einem so großartigen und überraschenden<br />

Film über das Auseinanderdriften von<br />

Arm und Reich macht. Es sind seine Ideen.<br />

Natürlich beherrscht Blomkamp die<br />

Konventionen des Actionkinos. Auch bei<br />

ihm kommt die Energie aus der Bewegung,<br />

dem Ballett der fliegenden Körper, den<br />

Verfolgungsjagden und Schießereien, der<br />

kinetischen Kraft der rasenden Kamerafahrt.<br />

Seine Kunst geht aber darüber hin -<br />

aus. Kaum ein anderer webt derzeit mit<br />

ähnlicher Lässigkeit politische Ideen in das<br />

Genre-Gerüst wie Blomkamp.<br />

Das war schon in seinem gefeierten<br />

„District 9“ von 2009 so. Es war ein Film,<br />

in dem Außerirdische auf die Erde kom-<br />

Kinostart: 15. August.<br />

114<br />

men und in Lagern landen. Blomkamp<br />

nutzte das Alien-Genre, um von den<br />

Mechanismen der Apartheid zu erzählen.<br />

Und so geht er auch in „Elysium“ vor.<br />

Nur in Groß.<br />

Der Film hat viele Themen: die Tragödie<br />

von Wirtschaftsflüchtlingen, die ihrem<br />

Traum von einem besseren Leben<br />

folgen und an den Grenzanlagen sterben,<br />

die Privatisierung der Sicherheit und das<br />

weltweite Söldnerunwesen, das den<br />

Wohlstand der Reichen sichert. Der Film<br />

erzählt von Gated Communities, die sich<br />

„Elysium“-Star Damon: Von Robotern zusammengeschlagen<br />

als Wohlstandsinseln vom Rest der Städte<br />

abspalten. Vom Drohnenkrieg und der<br />

Angst, sich vor dem allmächtigen Auge<br />

der Macht nicht mehr verstecken zu<br />

können. „Elysium“ thematisiert die profi -<br />

table Verbindung von Privatfirmen und<br />

militärischen Geheimdiensten und die<br />

Ungerechtigkeit eines Gesundheitssystems,<br />

das viele Leben retten könnte, diesen<br />

Service aber nur denen erlaubt, die<br />

ihn sich leisten können.<br />

Die ganz großen politischen Probleme<br />

unserer Tage also. Und all das, ohne dass<br />

eine Person je mehr als einen zusammenhängenden<br />

Satz sagt.<br />

Das funktioniert, weil Blomkamps Bildsprache<br />

subversiven Witz hat. Elysium,<br />

diese rotierende Raumstation, die die<br />

Slumbewohner ständig daran erinnert,<br />

dass ein anderes Leben möglich ist und<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

sie davon ausgeschlossen sind, sieht aus,<br />

als hätte man aus Miami Beach eine<br />

ganze Welt gebaut, für N<strong>eu</strong>reiche und<br />

Oligarchen: weiße Fake-Toskana-Villen<br />

mit riesigen Terrassen für Cocktailpartys.<br />

Der Raumgleiter eines menschenverachtenden<br />

Managers, den Max und seine<br />

Kumpane in einer Szene zum Absturz<br />

bringen, ist von Bugatti (von der echten<br />

Bugatti-Designabteilung entworfen, da<br />

wird an Zukunftsmärkte gedacht).<br />

Als kurz darauf eine Söldnergruppe<br />

Max und seine L<strong>eu</strong>te aufspürt und aus<br />

einem Raumschiff auf sie<br />

f<strong>eu</strong>ert, erinnern die Bilder<br />

der Fliehenden im<br />

Display des Schützen<br />

stark an die Aufnahmen<br />

der U. S. Army aus dem<br />

Irak, die der Whistle -<br />

blower Bradley Manning<br />

der Enthüllungsplattform<br />

SONY PICTURES<br />

WikiLeaks zugespielt<br />

hat te. Sie zeigten irakische<br />

Zivilisten, die aus<br />

einem Kampfhubschrauber<br />

heraus beschossen<br />

wurden.<br />

Nur eines ist in die -<br />

sem ansonsten erstaunlich<br />

klarsichtigen Film<br />

grundlegend falsch – wie<br />

überhaupt im amerika -<br />

nischen Actionkino der<br />

vergangenen Jahre. Hollywood<br />

überschätzt die<br />

Macht des Computer -<br />

codes.<br />

Die alte Herrschaft in Elysium fällt, als<br />

die Rebellen die Software des Paradieses<br />

in die Finger bekommen.<br />

Aber so funktioniert das Soziale nicht,<br />

und auch keine Revolution. Niemand gibt<br />

seine Privilegien auf, bloß weil jemand einen<br />

Code umschreibt. Die Gesellschaft ist<br />

kein Programm, das sich hacken und dann<br />

von „Böse“ in „Gut“ umschalten lässt –<br />

auch wenn es ein gutes Filmende ergibt.<br />

Aber vielleicht ist das auch etwas viel<br />

verlangt von einem Actionfilm, der immer<br />

noch mehr politische Phantasie hat<br />

als ein paar Jahrgänge des <strong>eu</strong>ropäischen<br />

Autorenfilms zusammen. TOBIAS RAPP<br />

Video: Ausschnitte<br />

aus „Elysium“<br />

spiegel.de/app332013elysium<br />

oder in der App DER SPIEGEL


Prisma<br />

MEDIZIN<br />

Mückenspucke<br />

gegen Malaria<br />

Gibt es bald eine Impfung gegen Malaria?<br />

Diese Hoffnung scheint ein Artikel<br />

in der Zeitschrift „Science“ zu nähren:<br />

Zuerst machten die Forscher<br />

den Malaria-Erreger, einen Einzeller<br />

der Gattung Plasmodium, mit Gammastrahlen<br />

vermehrungsunfähig. Dann<br />

spritzten sie ihn ins Blut von sechs<br />

Testpersonen, die daraufhin tatsächlich<br />

gegen die Krankheit geschützt waren.<br />

Nach fünfmaliger Gabe waren<br />

die Probanden immun: Testweise verabreichten<br />

Malaria-Erregern gelang es<br />

nun nicht mehr, sich einzunisten und<br />

die roten Blutkörperchen anzugreifen,<br />

ellen: Roll Back Malaria<br />

rtnership, WHO<br />

219<br />

Millionen<br />

Malaria-Fälle<br />

660 000<br />

Malaria-Tote<br />

2010, geschätzt<br />

Verbreitung<br />

von Malaria<br />

um 1850<br />

bis 1946<br />

1967<br />

2010<br />

Plasmodium (Mikroskopaufnahme)<br />

CNRI / SPL / AGENTUR FOCUS<br />

was sonst zu Schüttelfrost und Fieber<br />

führt. Die Arbeit zeige erstmals, dass<br />

„durch die Injektion eines Impfstoffs<br />

Malaria im Prinzip verhindert werden<br />

kann“, sagt Rolf Horstmann, 63, Leiter<br />

des Bernhard-Nocht-Instituts für<br />

Tropenmedizin in Hamburg. Doch ein<br />

praxistauglicher Impfstoff gegen das<br />

Leiden, das jedes Jahr rund 660 000<br />

Menschen dahinrafft, sei dies nicht.<br />

Der Impfstoff sei bislang nur gegen<br />

eine Sorte Plasmodium getestet worden<br />

– in der Natur dagegen gibt es viele<br />

Varianten. Überdies benötigt man<br />

für eine einzige Impfspritze rund<br />

135000 bestrahlte Erreger. Und die<br />

müssen bisher mühselig per Hand gewonnen<br />

werden: aus den winzigen<br />

Speicheldrüsen der Anopheles-Stechmücken,<br />

in denen sie leben.<br />

CHEMIE<br />

Billiger Wassertest<br />

Ist da Koffein drin? Das soll sich nun<br />

einfach und schnell messen lassen: mit<br />

einer Koffein-Ampel. Schon lange gibt<br />

es verschiedene Verfahren zur Koffein-<br />

Messung, doch die sind meist t<strong>eu</strong>er,<br />

kompliziert oder beruhen auf der Verwendung<br />

toxischer Substanzen. Die<br />

n<strong>eu</strong>e Methode, für die eine Gruppe um<br />

den Chemiker Young-Tae Chang von<br />

der Universität Singapur Patente angemeldet<br />

hat, beruht auf einem ungiftigen<br />

Molekül namens Caffeine Orange.<br />

Wenn es einer koffeinhaltigen Flüssigkeit<br />

beigemischt und unter einen grünen<br />

Laser gehalten wird, l<strong>eu</strong>chtet es<br />

orange auf; ohne Koffein l<strong>eu</strong>chtet es<br />

grün. Diese schnelle, billige Methode<br />

soll weniger dazu dienen, die Koffein-<br />

Freiheit von Cappuccini oder die Dosis<br />

in n<strong>eu</strong>en Wachmacher-Drinks zu testen.<br />

Vielmehr ließe sich so die Wasserqualität<br />

überwachen. Denn wenn sich<br />

Koffein in einem Fluss findet, ist das<br />

oft ein Indiz dafür, dass ungeklärtes<br />

Schmutzwasser eingeleitet wurde: Urin<br />

von Kaffeetrinkern.<br />

116<br />

NASA<br />

ASTRONOMIE<br />

Stürmisches Weltraumwetter<br />

Alle elf Jahre tut sich Großes auf der<br />

Sonne: Das Magnetfeld des Sterns<br />

dreht sich zwischen Nord- und Südpol<br />

einmal um, auch „magnetic flip“ genannt.<br />

„Anscheinend sind wir nur<br />

noch drei bis vier Monate vom kompletten<br />

Umkippen des Magnetfelds<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

Sonne mit Plasma-<br />

Eruptionen<br />

entfernt“, sagt der<br />

Sonnenphysiker<br />

Todd Hoeksema von<br />

der kalifornischen<br />

Stanford University.<br />

„Das wird Auswirkungen<br />

im ganzen<br />

Sonnensystem haben.“<br />

Die Umpolung<br />

in der Mitte eines<br />

Sonnenzyklus wird<br />

begleitet von intensiver<br />

Sonnenaktivität<br />

und stürmischem<br />

Weltraumwetter –<br />

und das kann sogar<br />

Auswirkungen auf<br />

Erdlinge haben. Heftige<br />

Partikelströme<br />

treffen während des<br />

sogenannten solaren<br />

Maximums auf die oberen Schichten<br />

der Erdatmosphäre, möglicherweise<br />

werden dadurch sogar einzelne Satelliten<br />

gestört. Vor allem aber: Die prächtig-bunten<br />

Polarlichter könnten in<br />

diesem Winter auf der Erde besonders<br />

intensiv l<strong>eu</strong>chten.


Wissenschaft · Technik<br />

CATERS NEWS AGENCY<br />

Der italienische Fotograf Roberto Guidici traute seinen<br />

Augen nicht, als er von der Yacht zur griechischen Insel<br />

Orthoni blickte. Wer eine einzige Wasserhose sieht, kann sich<br />

schon beglückwünschen – aber gleich vier davon? Wasser -<br />

hosen sind kleine Verwandte der Tornados. Wenn das Meer<br />

wärmer ist als die Luft und Gewitterwolken darüberziehen,<br />

können sich Tiefdruckrüssel gen Himmel schrauben. Das Bild<br />

entstand 1999; nun wurde es bei der Nasa wiederentdeckt.<br />

BIOLOGIE<br />

Wehrlose Bienen<br />

Seit Jahren geht in Europa und Nordamerika<br />

ein geheimnisvolles Bienensterben<br />

um, in einigen Regionen rafft<br />

es rund 90 Prozent der Völker dahin.<br />

Oft sind die Tiere unfähig, sich gegen<br />

Infektionen zur Wehr zu setzen, die<br />

durch Varroa-Milben verbreitet werden.<br />

Ein Risikofaktor liegt möglicherweise<br />

in ihrem eigenen Immunsystem.<br />

Bei der Untersuchung dieses Problems<br />

stieß eine Forschergruppe auf eine<br />

Überraschung: „Je nach Stadium haben<br />

die Bienen eines Volkes extrem<br />

unterschiedliche Immunsysteme“, sagt<br />

Jürgen Tautz, Bienenforscher an der<br />

Bienenpuppen mit Varroa-Milben<br />

HELGA R. HEILMANN<br />

Universität Würzburg. Die Ergebnisse,<br />

die im Wissenschaftsjournal „Plos<br />

One“ veröffentlicht worden sind, belegen<br />

unterschiedliche Abwehrreaktionen<br />

bei den Sommerbienen, die nicht<br />

mehr als sechs Wochen leben, und<br />

den Winterbienen, die bis zu n<strong>eu</strong>n<br />

Monate überdauern. Der erstaunlichste<br />

Fund: Die Puppen von Arbeiterinnen<br />

und Drohnen sind selbst harmlosen<br />

Erregern wie Kolibakterien<br />

schutzlos ausgeliefert. Normalerweise<br />

sind die Puppen in ihren verdeckelten<br />

Brutwaben gut geschützt vor Erregern.<br />

Möglicher weise wäre daher ein<br />

Immunsystem reine „Energieverschwendung“,<br />

spekulieren die Autoren.<br />

Dieser Energiesparmodus<br />

allerdings erweist sich angesichts des<br />

Varroa-Befalls nun als fatal.<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

117


Titel<br />

Kampfauftrag Kind<br />

Aus Angst, der Nachwuchs könnte im Leben scheitern, überwachen<br />

Eltern ihre Kinder. Aus nächster Nähe kontrollieren sie,<br />

natürlich voller Liebe, Schullaufbahn, Studium und Karriere. Ob aus den<br />

behüteten Geschöpfen glückliche Erwachsene werden, ist fraglich.<br />

ILLUSTRATIONEN: ANDREAS KLAMMT<br />

Seit ein paar Jahren unterteilt<br />

der Gymnasial -<br />

direktor Josef Kraus, 64,<br />

seine Arbeitstage in zwei Hälften.<br />

Die erste, die Schülerhälfte,<br />

beginnt mit dem ersten Schulgong,<br />

in der Regel verläuft sie<br />

problemlos. Was Kraus neben<br />

seiner normalen Arbeit vormittags<br />

über den Weg läuft, ist<br />

meist nicht der Rede wert: Mal<br />

raufen zwei Jungs auf dem<br />

Gang, mal nimmt ein Lehrer<br />

einem Schüler im Unterricht<br />

das Handy ab. Aber das war’s<br />

dann auch schon.<br />

Die zweite, die Elternhälfte,<br />

beginnt gegen 14.15 Uhr, mit<br />

dem Telefonläuten im Sekretariat.<br />

Dann sind Mama oder<br />

Papa am Apparat. Sie b<strong>eu</strong>rteilen<br />

das, was am Vormittag geschehen<br />

ist, meist anders als<br />

Josef Kraus. Das Raufen? War<br />

eine Körperverletzung. Das<br />

Abnehmen des Handys im Unterricht?<br />

Diebstahl.<br />

Diebstahl? Klar, was sonst.<br />

Josef Kraus ist seit über 30<br />

Jahren im Schuldienst, als Lehrer,<br />

als Psychologe und seit 18<br />

Jahren als Direktor. Kraus ist außerdem<br />

Präsident des D<strong>eu</strong>tschen Lehrerverbands,<br />

er spricht für rund 160 000 Pädagogen in<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong>. Seine Lehrer kennen die<br />

Beschwerden der Eltern. Man kann klagen<br />

über die Sitzordnung in der Klasse,<br />

die Zahl der Englischvokabeln, das Gewicht<br />

des Schulranzens, das Fehlen eines<br />

Salatblatts auf dem in der Pause gekauften<br />

Wurstbrötchen und, natürlich, den<br />

Klassiker: unfaire Noten.<br />

Gibt es irgendetwas, worüber sich Eltern<br />

nicht beschweren?<br />

„Sicher“, sagt Kraus, „die eigenen Kinder.“<br />

Stimmt. Die sind ja heilig.<br />

Über dieses Schimpfen, Drohen, Meckern<br />

im Dienste der Kinder will Josef<br />

Kraus endlich sprechen. Kraus sieht, dass<br />

die Eltern in den vergangenen Jahren<br />

Wie können Eltern erkennen, wann sie<br />

mit ihrer Fürsorge übertreiben?<br />

massiv aufgerüstet haben im Kampf um<br />

Vorteile für ihren Nachwuchs. Aber er<br />

befürchtet, dass das für die Kinder nicht<br />

von Vorteil ist.<br />

Er hat ein Buch geschrieben, es heißt:<br />

„Helikopter-Eltern“*.<br />

Der Ausdruck kommt aus dem Amerikanischen<br />

und bezeichnet Eltern, die vor<br />

lauter Sorge wie Hubschrauber ständig<br />

um ihre Kinder kreisen. „Ich bin schon so<br />

weit“, sagt Kraus, „ich kann verschiedene<br />

Typen identifizieren.“ Mit der rechten<br />

Hand neben dem Kopf simuliert er Flugbewegungen:<br />

„Ich kenne die Transport-,<br />

Kampf- und Rettungshubschrauber.“<br />

* Josef Kraus: „Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn<br />

und Verwöhnung“. Rowohlt Verlag, Reinbek; 224<br />

Seiten; 18,95 Euro.<br />

Diese Helikopter-Eltern<br />

sind ein eigenartiges Phä -<br />

nomen. Einerseits kann man<br />

sich herrlich lustig machen<br />

über sie.<br />

Über die Mutter in Paris<br />

zum Beispiel, die vor kurzem<br />

in knapp über der Pofalte abschließender<br />

Hose und stark<br />

geschminkt versuchte, für ihre<br />

Tochter eine Englischprüfung<br />

im Baccalauréat zu schreiben.<br />

Erst bei der Ausweiskontrolle<br />

flog sie auf: Sie war nicht 19,<br />

sondern 52. Der Direktor rief<br />

die Polizei.<br />

Oder über die Eltern in Colorado<br />

Springs, die vor einer<br />

Weile bei der Ostereiersuche<br />

in einem Park in den Büschen<br />

herumsprangen, um sicherzustellen,<br />

dass der eigene Nachwuchs<br />

genügend Süßes ab -<br />

bekomme. Die Suche musste<br />

abgebrochen werden.<br />

Dann gibt es auch die d<strong>eu</strong>tsche<br />

Helikopter-Mama, die<br />

das Baby und dann Kleinkind<br />

über Jahre hinweg abends<br />

nicht einmal ihrem Mann anvertraut<br />

(„Dann weint die<br />

Kleine so, weil sie ihn nicht so<br />

gut kennt wie mich“), die schluchzend<br />

den Mann als Wächter hinterherschickt,<br />

wenn der achtjährige Sohn beim Verwandtenbesuch<br />

in der fremden Stadt mit<br />

seinem Vetter zum Bäcker losgezogen ist.<br />

Auch wenn der Laden in unmittelbarer<br />

Nachbarschaft liegt – das Kind könnte ja<br />

überfahren oder von Pädophilen entführt<br />

werden.<br />

Andererseits: Sind wir nicht alle irgendwie<br />

auch Helikopter-Eltern?<br />

Wann hat man sich getraut, das eigene<br />

Kind allein in die Schule zu schicken?<br />

Wann ihm das erste Mal ein Obstmesser<br />

in die Hand gedrückt? Und telefoniert<br />

man nicht doch immer wieder hinterher,<br />

wenn der Teenager beim besten Fr<strong>eu</strong>nd<br />

übernachtet? Warum nicht gleich mit dem<br />

Direktor sprechen, wenn klar ist, dass der<br />

DER SPIEGEL 33/2013 119


Mathelehrer die Tochter auf<br />

dem Kieker hat?<br />

In der Elternbrust schlagen<br />

zwei Herzen. Das eine befiehlt:<br />

Locker bleiben! Das<br />

andere, sofort zum Telefon<br />

zu rennen.<br />

Aber was ist für die Kinder<br />

gut? Und vor allem: Wie viel<br />

davon?<br />

Bei den Kindern machen<br />

sich Mama und Papa jedenfalls<br />

nicht unbeliebt: Eltern<br />

und Kinder in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong><br />

kamen wohl noch nie so gut<br />

miteinander aus wie h<strong>eu</strong>te.<br />

In der Shell-Jugendstudie<br />

von 2010 gaben drei Viertel<br />

der Jugendlichen an, ihren<br />

Nachwuchs einmal so erziehen<br />

zu wollen, wie sie es von<br />

ihren eigenen Eltern kennen.<br />

Ein größeres Lob für Mutter<br />

und Vater geht nicht.<br />

Doch sind die Eltern für<br />

dieses Lob womöglich ein<br />

bisschen zu weit gegangen?<br />

Schaden sie den Kindern?<br />

Im Jahr 2010 lebte über die<br />

Hälfte der jungen Frauen von<br />

18 bis 24 Jahren noch bei<br />

Mama und Papa. Bei den<br />

jungen Männern waren es<br />

mehr als 70 Prozent. Der<br />

Nesthocker wird zum Massenphänomen.<br />

Das hat viele<br />

Gründe: Die Ausbildung dauert länger,<br />

die Mieten sind gestiegen, der Weg in den<br />

Beruf beginnt später. Aber auch: Daheim<br />

ist alles so angenehm.<br />

Und, ist das jetzt schlimm? Nein. Nicht<br />

an sich. Die Frage ist, wie es weitergeht<br />

im Leben so wohlbehüteter Geschöpfe.<br />

Die Frage ist: Werden die Kinder h<strong>eu</strong>te<br />

noch erwachsen?<br />

Die Psychologieprofessorin Inge Seiffge-Krenke<br />

von der Universität Mainz<br />

warnt davor, dass Eltern h<strong>eu</strong>te die Autonomie<br />

ihrer Kinder zu sehr blockieren.<br />

„Man hat in Studien an Eltern junger Erwachsener<br />

gefunden, dass Vater und Mutter<br />

regelrecht Trennungsangst erleben.“<br />

Durch Manipulationen, zu viel Unterstützung<br />

und psychischen Druck versuchten<br />

sie, das erwachsene Kind weiterhin stark<br />

ans Elternhaus zu binden.<br />

In der Wirtschaft wird regelmäßig bemängelt,<br />

dass viele Schulabgänger kaum<br />

den Anforderungen einer Berufsausbildung<br />

gewachsen sind. Das D<strong>eu</strong>tsche Studentenwerk<br />

bietet Hilfe für Studenten,<br />

die Schwierigkeiten haben, sich von ihren<br />

Eltern abzunabeln.<br />

Es ist ein soziales Experiment riesigen<br />

Ausmaßes: Was wird aus einer Gene -<br />

ration von Kindern, denen die eigenen<br />

Eltern so viel Förderung und Rückhalt<br />

geben wie möglich? Und die dabei<br />

womöglich versäumen, sie fit fürs Leben<br />

120<br />

„Die Mutter geht ans Telefon. Sie sagt: ,Das<br />

stimmt nicht. Mein Sohn raucht nicht.‘“<br />

zu machen? Wie können Eltern erkennen,<br />

wann sie mit ihrer Fürsorge übertreiben?<br />

Und wann ihre Sorgen berech -<br />

tigt sind?<br />

Ein Hamburger Gymnasium, es liegt<br />

in einem wohlhabenden Viertel, die Eltern<br />

der Schüler sind in der Mehrzahl<br />

Akademiker. Ein Lehrer schildert folgende<br />

Situation: „Ich erwische einen 14-Jährigen<br />

beim Rauchen auf dem Schulgelände.<br />

Ich weiß, der Junge raucht regelmäßig,<br />

ich rieche es jeden Morgen. Der Junge<br />

darf es nicht, schon gar nicht in der Schule.<br />

Ich rufe die Eltern an.<br />

Die Mutter geht ans Telefon. Sie sagt:<br />

,Das stimmt nicht. Mein Sohn raucht<br />

nicht.‘<br />

Ich sage: ,Doch. Das ist leider so.‘<br />

Die Mutter sagt: ,Das müssen Sie mir<br />

erst einmal beweisen.‘ Das Gespräch ist<br />

damit beendet.“<br />

Der Lehrer ist jetzt angehalten, seine<br />

Beobachtungen zu dokumentieren, er<br />

wird für die Eltern einen Bericht schreiben<br />

müssen. Am Ende wird bei ihnen das<br />

Gefühl bleiben: Der Lehrer übertreibt,<br />

der rauchende Sohn ist das Opfer seiner<br />

Nachstellungen. Eine Strafe, das ist dem<br />

Pädagogen schnell klar, hat das Kind<br />

nicht zu erwarten.<br />

Man fragt sich, warum sagt die Mutter<br />

nicht einfach: „Danke für den Hinweis“?<br />

Und: „Ich kümmere mich drum“?<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

Mittagszeit in Niederbayern,<br />

die Sekretärin hat Pause,<br />

also muss Schulleiter Kraus<br />

übernehmen. Ein zartes<br />

Klopfen. Vor der Tür stehen<br />

zwei 12-Jährige, sie wollen<br />

eine DVD ausleihen. Sie sagen:<br />

„Bitte, Herr Kraus.“<br />

Und: „Mei, toll, danke.“<br />

Kraus zieht mit dem Schlüssel<br />

los: „Ja, ja, des mach ma<br />

gleich.“<br />

Mitte der n<strong>eu</strong>nziger Jahre<br />

saß Josef Kraus im Wahlkampfteam<br />

von CDU-Mann<br />

Manfred Kanther in Hessen.<br />

Er sollte Kultusminister werden,<br />

aber Kanther scheiterte<br />

bei der Wahl. Linke Zeitungen<br />

nannten Kraus damals<br />

die „Gefahr aus dem Süden“.<br />

Kraus lacht darüber. Die<br />

schlimmste Strafe, erzählt er,<br />

die er in drei Jahrzehnten<br />

Schuldienst verhängt habe,<br />

waren ein paar Tage Unterrichtsausschluss.<br />

Kraus hält<br />

sich nicht für sonderlich gefährlich.<br />

Er sagt, er wolle Eltern mit<br />

seinem Buch nicht an den<br />

Pranger stellen. Die meisten<br />

hätten sehr bodenständige<br />

Vorstellungen von Erziehung.<br />

„Siebzig, achtzig Prozent<br />

handeln mit Sinn und<br />

Verstand“, sagt er. Doch links und rechts<br />

dieser Normalität machten sich zwei Extreme<br />

breit: die, die ihre Kinder vernachlässigten<br />

– und die, die ihre Kinder mit<br />

zu viel Fürsorge überschütteten.<br />

„Auf diese beiden Extreme wenden die<br />

Kindergärten und die Schulen schon h<strong>eu</strong>te<br />

den Großteil ihrer Energie auf“, sagt<br />

Kraus. Und er sieht, dass die überbesorgten,<br />

die, wie er sie nennt, „hyperaktiven<br />

Eltern“ noch weiter auf dem Vormarsch<br />

sind.<br />

In seinem Direktorat säßen Eltern, die<br />

sagten: „Da haben wir mal wieder eine<br />

Fünf geschrieben, obwohl wir doch so<br />

viel gelernt haben.“ Mütter und Väter,<br />

die bis zur Unkenntlichkeit verschmelzen<br />

mit den Siegen und Niederlagen ihres<br />

Nachwuchses. Die unzählige Ratgeber lesen,<br />

in jeder Sprechstunde sind, die Lehrer<br />

zu Hause anrufen, sich mit dem Busfahrer,<br />

der das Kind mal kritisch beäugt<br />

hat, anlegen. Die im Grunde aber, so<br />

übersetzt es Kraus, ihren Kindern nichts<br />

zutrauen.<br />

Das ist das Hauptproblem.<br />

Zum Beispiel der Schulweg: 2012 machte<br />

sich laut Forsa-Umfrage nur jeder zweite<br />

d<strong>eu</strong>tsche Grundschüler allein auf den<br />

Schulweg. 1970 waren es noch 91 Prozent.<br />

Kraus sagt: „Kaum ein Kind kommt hier<br />

allein an. Bei Regen würden die Eltern<br />

am liebsten mit dem Auto bis in die Aula


fahren.“ Inzwischen gibt es Initiativen an<br />

Grundschulen wie „Zu Fuß ist cool“, mit<br />

denen Kinder, aber vor allem deren Erziehungsberechtigte<br />

angeregt werden sollen,<br />

mal darüber nachzudenken, warum<br />

500 Meter Schulweg, bitte schön, so gefährlich<br />

oder mühselig sein können, dass<br />

sie besser mit dem Range Rover zurückgelegt<br />

werden müssen.<br />

Zum Beispiel die Hausaufgaben: In einer<br />

Emnid-Umfrage von 2012 gaben 77<br />

Prozent der befragten Eltern an, sie würden<br />

gezielt vor Klassenarbeiten und Referaten<br />

helfen. Allensbach erhob 2011,<br />

dass 27 Prozent der Eltern der Meinung<br />

sind, in der Schule werde h<strong>eu</strong>te so viel<br />

verlangt, dass man die Kinder zusätzlich<br />

fördern müsse. Kraus sagt: „Die Mütter<br />

sitzen Tag für Tag neben ihren Kindern<br />

und kontrollieren die Hausaufgaben. Dabei<br />

sollten die selbständig erledigt werden.<br />

Das Kind muss auch mal mit einer<br />

falschen Hausaufgabe in die Schule kommen.“<br />

Sonst könne der Lehrer nicht einschätzen,<br />

wie gut der Stoff verstanden<br />

wurde.<br />

Titel<br />

Fragt man Eltern, was sie sich in ihrer<br />

Erziehung für ihre Kinder wünschen,<br />

dann sagen die meisten: dass sie selbständig<br />

werden, sich durchsetzen können. Lernen,<br />

sich eine eigene Meinung zu bilden.<br />

Für Kraus gehen diese Wünsche nicht mit<br />

dem Handeln der Helikopter-Eltern zusammen.<br />

Wie soll ein Kind, dessen Mutter bei<br />

jeder Rangelei die Schule anruft, lernen,<br />

sich durchzusetzen?<br />

Um Selbstvertrauen zu entwickeln,<br />

brauche es ein realistisch begründetes<br />

Selbstbewusstsein. „Es muss gelernt haben,<br />

mit Frustrationen umzugehen.“<br />

Die Entwicklungspsychologin Inge<br />

Seiffge-Krenke erforscht seit Jahren, wie<br />

sich die Beziehung von Kindern und ihren<br />

Eltern verändert. Will sie aber ein<br />

schnelles, eindrückliches Beispiel geben,<br />

wohin der Trend in den vergangenen Jahren<br />

geht, dann nennt sie zwei Namen:<br />

Angelina Jolie und Heidi Klum. Mütter,<br />

die ihr Muttersein ausstellen, als gäbe es<br />

einen Preis dafür, oder beweisen, dass es<br />

zumindest die Figur nicht ruiniert.<br />

„Kinder sind nicht mehr wichtig für<br />

die Altersvorsorge“, sagt Seiffge-Krenke.<br />

„Man bekommt sie freiwillig, und sie sind<br />

wichtig für den Selbstwert der Eltern geworden.“<br />

Das habe eine narzisstische<br />

Komponente angenommen. Die Eltern<br />

schmückten sich mit ihren Kindern, sie<br />

seien zum Faktor in der Repräsentation<br />

der Familie nach außen geworden. „Früher<br />

haben die Kinder in Haus und Hof<br />

geholfen, h<strong>eu</strong>te machen sie Ballett, Klavier,<br />

sollen viel lernen für gute Noten.“<br />

2006 befragten Seiffge-Krenke und ihre<br />

Kollegen in einer Studie 15 000 Kinder<br />

aus 25 Ländern. Die größte Not der Kinder:<br />

„Meine Eltern wollen gute Noten<br />

und machen deswegen Druck.“ Zum Teil<br />

seien das berechtigte Sorgen der Eltern<br />

in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit,<br />

gibt die Forscherin zu. Aber dahinter<br />

stecke auch pures Statusdenken: „Man<br />

möchte sich mit seinen klugen und tüchtigen<br />

Kindern schmücken.“<br />

Die 23-jährige Olivia Marschall studiert<br />

an der Universität Freiburg Geografie,<br />

Englisch und Italienisch auf Lehramt. Seit<br />

Man kann klagen über die Sitzordnung in der Klasse, die Zahl der Englischvokabeln,<br />

das Gewicht des Schulranzens und, natürlich, den Klassiker: unfaire Noten.<br />

DER SPIEGEL 33/2013 121


122<br />

Titel<br />

drei Jahren jobbt sie in der Telefon-Hotline<br />

der Uni, erklärt den Anrufern Bewerbungsfristen,<br />

Fach- und Uni-Wechsel.<br />

Als sie begann, sagt Marschall, hätten<br />

sich hin und wieder auch mal Eltern gemeldet.<br />

Doch in diesem Jahr sei bei jedem<br />

zweiten Telefonat eine Mutter oder<br />

ein Vater am Apparat gewesen. Meist<br />

wüssten die Eltern über die Studiengänge<br />

bestens Bescheid. Ihre Fragen sind anderer<br />

Natur.<br />

Es sind Kontrollanrufe. „Sie wollen<br />

wissen, ob die Bewerbungsfrist, die ihr<br />

Kind ihnen genannt hat, auch stimmt“,<br />

sagt Marschall. Mitunter bekommt sie<br />

mit, dass die Familie wegen des Studienplatzes<br />

des Kindes beschlossen hat, mit<br />

in die Stadt zu ziehen. „Ich finde es gut,<br />

wenn die Eltern einen in der Ausbildung<br />

unterstützen“, sagt sie. „Aber man sollte<br />

sein Studium schon auch selbst organisieren.“<br />

Jeden Herbst begrüßt die Universität<br />

Freiburg ihre Erstsemester und deren Eltern<br />

mit einer kleinen Feier, dem „Erstsemestertag“.<br />

Universitätssprecher Rudolf-Werner<br />

Dreier hatte die Veranstaltung<br />

1997 initiiert. Seine Kollegen lachten<br />

damals über den Vorschlag. Welcher Student<br />

würde schon freiwillig seine Eltern<br />

an die Uni mitbringen? „Schultüten-Tag“<br />

nannten sie Dreiers Idee. Doch schon<br />

„Wir sehen den Erstsemestertag als eine Übergabeveranstaltung.<br />

Aber danach sollten die Eltern bitte auch loslassen.“<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

beim ersten Mal zählte man über 400<br />

Gäste.<br />

15 Jahre später musste der Brandschutzbeauftragte<br />

einschreiten. Nachdem<br />

2011 bereits 4300 Eltern und Studenten<br />

gekommen waren, verlegte die Uni den<br />

Erstsemestertag ins Stadion an der Dreisam,<br />

sonst Heimat des Fußball-Bundes -<br />

ligisten SC Freiburg. Die Gäste füllten<br />

die Osttribüne.<br />

„Die Eltern unserer Studierenden sind<br />

für uns eine feste Zielgruppe geworden“,<br />

sagt Dreier. Sie bestimmten maßgeblich<br />

mit, wo und was ihre Kinder studieren.<br />

Über Alumni-Netzwerke versucht Dreier<br />

außerdem, die Ehemaligen, die eines Tages<br />

als Eltern ihre Kinder zum<br />

Studium entlassen, mit ihrer<br />

Alma Mater in Verbindung zu<br />

halten. Die Verbindung hält. Die<br />

Eltern kommen.<br />

„Wir sehen diesen Tag als eine<br />

Übergabeveranstaltung, einen<br />

Initiationsritus. Aber danach<br />

sollten die Eltern bitte auch loslassen“,<br />

sagt Dreier.<br />

Die Uni biete ihren Studenten<br />

viel: Beratung, soziale Betr<strong>eu</strong>ung,<br />

man kann Studienfächer im<br />

Internet testen. „Wir machen<br />

fast alles“, sagt Dreier, „aber<br />

Windeln wechseln wir nicht.“<br />

Nehme die Uni die Kinder weiterhin<br />

an die Hand und ließen<br />

die Eltern auf der anderen Seite<br />

nicht los, bleibe den jungen Erwachsenen<br />

zu wenig Freiraum,<br />

um ihre eigene Persönlichkeit zu<br />

finden.<br />

Deswegen gibt Dreier den<br />

n<strong>eu</strong>en Studenten gern einen Rat:<br />

„Nehmt <strong>eu</strong>ch ein kleines WG-<br />

Zimmer. Dann kommen die Eltern<br />

nicht jedes Wochenende zu<br />

Besuch.“<br />

2004 traf die amerikanische<br />

Anthropologin Carolina Izquierdo<br />

in Peru auf das Mädchen Yanira.<br />

Die Wissenschaftlerin wollte<br />

herausfinden, wie viel Verantwortung<br />

verschiedene Kulturen<br />

ihren Kindern geben und welche<br />

Folgen das für deren Entwicklung<br />

hat. Die Forscherin verbrachte<br />

mehrere Monate bei den<br />

Matsigenka im peruanischen Regenwald,<br />

einem Fischervolk, das<br />

in großen Familienverbänden<br />

lebt.<br />

Eines Tages stand die kleine<br />

Yanira da, in der Hand einen<br />

Kochtopf, zwei Kleidchen und<br />

n<strong>eu</strong>e Unterwäsche. Ihr Plan:<br />

eine Familie des Stammes auf<br />

Angeltour begleiten.<br />

In den folgenden Tagen fing<br />

Yanira Krebse, die sie für die<br />

Gruppe kochte, sammelte Blätter<br />

für den Hüttenbau und fegte


„Haare kämmen, Zähne putzen,<br />

duschen, Sachen zusammenräumen –<br />

alles Dinge, die Schulkinder<br />

schon selbst erledigen können.“<br />

morgens und nachmittags<br />

Sand von den Schlafmatten.<br />

Yanira half, wo sie konnte,<br />

und bemühte sich, niemandem<br />

zur Last zu fallen. Das<br />

Mädchen war damals sechs<br />

Jahre alt.<br />

In Los Angeles beobachteten<br />

Izquierdo und eine Kollegin<br />

das Leben amerikanischer<br />

Mittelklassefamilien. Beispielsweise<br />

das morgendliche Aufstehritual:<br />

Um 6.30 Uhr weckt<br />

die Mutter den 11-jährigen<br />

Mikey, den 12-jährigen Mark<br />

und die 15-jährige Stephanie.<br />

Sie ruft so etwas wie: „Aufstehen<br />

Kinder, aufstehen! Raus<br />

aus den Federn!“<br />

Die Kinder weigern sich<br />

zunächst, die Mutter muss<br />

mehrere Weckrunden drehen.<br />

Unten in der Küche fragt sie<br />

jeden, was er frühstücken<br />

möchte. Sie bietet mehrere Alternativen<br />

an, fragt auch nach<br />

den Wünschen für die Lunchbox<br />

und bereitet die Pausenbrote<br />

zu. Dann erinnert sie<br />

alle daran, sich die Zähne zu<br />

putzen, Haare zu kämmen<br />

und Schuhe anzuziehen.<br />

Während des gesamten<br />

Frühstücks hat die Mutter die<br />

Uhr im Blick. Sie ruft: „Noch<br />

zehn Minuten! Noch fünf Minuten!“<br />

Schließlich bittet sie<br />

den zwölfjährigen Mark, auf<br />

dem Weg nach draußen den<br />

Müll mitzunehmen. Mark schreit: „Nein!“<br />

Nur widerwillig tut er es später doch.<br />

In 30 amerikanischen Familien, die für<br />

die Studie beobachtet wurden, übernahm<br />

kein einziges Kind routinemäßig und eigenständig<br />

Aufgaben im Haushalt. Alle<br />

wurden zum Bettmachen, Tischabräumen,<br />

sogar zum Anziehen ermahnt und<br />

folgten nur zögerlich.<br />

Anweisungen wurden von den Eltern<br />

dabei häufig als Vorschläge formuliert.<br />

Etwa so: „Weißt du, was du machen<br />

kannst? Du kannst dir bitte die Haare im<br />

Badezimmer waschen! Willst du das machen?“<br />

In einer typischen Szene bat ein<br />

Vater seinen achtjährigen Sohn fünfmal,<br />

zum Duschen ins Bad zu gehen. Schließlich<br />

trug er ihn dorthin. Kurz darauf kehrte<br />

der Junge ungewaschen zurück und<br />

spielte ein Videospiel.<br />

Hört sich das sehr fremd, sehr amerikanisch<br />

an? Eher nicht.<br />

In ihrer Studie berücksichtigten die<br />

Wissenschaftlerinnen, welchen Stellenwert<br />

die Schulbildung und die Entwicklung<br />

von Individualität in den verschiedenen<br />

Kulturen haben. Doch dass die<br />

Schule im Leben amerikanischer Mittelklassekinder<br />

eine größere Rolle spielt als<br />

bei den Matsigenka, erklärt für die Forscherinnen<br />

nicht, weshalb so wenige<br />

Schulkinder in L.A. bei einfachen, schnellen<br />

Hausarbeiten helfen.<br />

Selbst beim Haarekämmen, Zähne -<br />

putzen, Duschen, Sachenzusammenräumen<br />

– alles Dinge, die kleine Schulkinder<br />

von ihrer Entwicklung her schon selbst<br />

erledigen können müssten – erhielten sie<br />

Hilfe von ihren Eltern.<br />

Wohin die übertriebene Unterstützung<br />

führen kann, sieht die Mannheimer Diplompädagogin<br />

Gabriele Pohl, 60, täglich<br />

in ihrer Praxis. Pohl therapiert seit zwölf<br />

Jahren Kinder mit Angststörungen. Sie<br />

sagt, den Kindern fehle h<strong>eu</strong>te der Mut<br />

für alles Mögliche. „Die können oft schon<br />

nicht mehr hüpfen oder auf einem Bein<br />

stehen. Die trauen sich nirgends runterzuspringen.“<br />

So viel Entfremdung vom<br />

eigenen Körper wirke sich auch auf die<br />

Seele aus.<br />

Sie erzählt von dem zwölfjährigen<br />

Mädchen, das kein Streichholz anzünden<br />

kann, das durfte es noch nie. Von dem<br />

Zehnjährigen, der sich den Reißverschluss<br />

seiner Jacke noch immer von der<br />

Mutter schließen lässt.<br />

Bei ihren Beratungsgesprächen hat sie<br />

häufig den Eindruck, da komme kein<br />

Kind, sondern ein Kopf durch die Tür.<br />

Zum Beispiel der Fünfjährige,<br />

der all ihre Puppen<br />

durchzählt, aus Stoffschlangen<br />

Buchstaben legt. Und es<br />

dann nicht schafft, auf den<br />

Stuhl zu klettern.<br />

„Es wird nur auf den Intellekt<br />

geguckt, aber nicht<br />

darauf, was die Kinder sonst<br />

noch brauchen. An körperlichen<br />

Erfahrungen, an Sozialerfahrungen,<br />

an emotionaler<br />

Intelligenz“, sagt Pohl.<br />

„Kinder wollen Mutproben,<br />

sie wollen wissen, wer von<br />

ihnen stärker ist, sie wollen<br />

Abent<strong>eu</strong>er.“ Vor allem<br />

brauchten sie die Freiheit,<br />

Dinge zu tun, bei denen sie<br />

nicht unter Aufsicht stehen.<br />

„Losziehen, etwas machen<br />

können. Ohne dass immer<br />

jemand hinter einem her<br />

ist.“<br />

Gewähren Eltern ihnen<br />

diese Freiheiten nicht, dann,<br />

meint Pohl, werden die Kinder<br />

sie sich irgendwann nehmen.<br />

„Dann machen sie<br />

irgendeinen Kokolores.“ Sie<br />

weiß da von Sachen wie<br />

S-Bahn-Surfen, Drogennehmen,<br />

Komasaufen.<br />

Kinder, die sich selbst<br />

nicht ausprobieren können,<br />

sind ihrer Meinung nach<br />

stärker gefährdet. „Ein Jugendlicher<br />

mit einem gesunden<br />

Selbstvertrauen, der<br />

kennt seine Grenzen. Der kann sagen:<br />

,So, jetzt hör ich auf mit dem Trinken,<br />

mir reicht es jetzt.‘“<br />

Bei ihrem ersten Kind war Erika Kochel*<br />

36 Jahre alt, und dann bekam sie<br />

noch ein zweites. Sie sagt: „Ich war eine<br />

späte, ängstliche Mutter.“ Ihre Kinder<br />

sind h<strong>eu</strong>te 17 und 19, ihr großer Sohn hat<br />

gerade Abitur gemacht.<br />

Hat alles gut geklappt?<br />

Sie s<strong>eu</strong>fzt. „Ja, schon. Weil ich vor<br />

zehn Jahren die Notbremse gezogen<br />

habe.“<br />

Die ersten Jahre war Kochel mit den<br />

kleinen Kindern daheimgeblieben, sie<br />

und ihr Mann hatten sich für eine klassische<br />

Rollenaufteilung entschieden. Ihre<br />

Welt bestand aus Wohnung, Spielplatz,<br />

Wohnung. „Es war eine wahnsinnig enge<br />

Geschichte.“<br />

Damals hatte sie ständig Angst, dass<br />

die Kinder entführt oder auf der Straße<br />

überfahren werden. Sogar das Nachrichtengucken<br />

fiel ihr schwer, all das Schlechte<br />

erschütterte sie maßlos.<br />

Sie sagt: „Es passiert sehr leicht, dass<br />

man mit seinen Sorgen übertreibt. Wenn<br />

man allein ist mit den Kindern, ver-<br />

* Name von der Redaktion geändert.<br />

DER SPIEGEL 33/2013 123


„Die Noten sind gut, Klavier kann er schon, Tennis spielt er auch. Was soll denn<br />

schwimmt die Grenze. Was ist zu viel,<br />

was gerade richtig?“<br />

Gleichzeitig hatte sie Bilder einer perfekten<br />

Familie im Kopf. Von Kindern, lustig<br />

und gesellig, so wie sie selbst auch<br />

mal war. Doch statt auf den Bolzplatz zu<br />

gehen, blieb der Große lieber für sich.<br />

Sie fragte sich: Was hab ich falsch gemacht?<br />

Wie kann man das ändern?<br />

Ständig bedrängte sie ihn, mehr aus sich<br />

herauszugehen.<br />

Als der Sohn in die Schule kam, begann<br />

er, sich zu fürchten. Morgens,<br />

abends, nachts. Irgendwann begriff sie,<br />

dass er sich mehr als andere Kinder fürchtete,<br />

und bat einen Psychologen um Rat.<br />

Sie ging auch selbst zu einer Therap<strong>eu</strong>tin.<br />

Erst als diese ihr viele Male glaubhaft<br />

versicherte: „Es ist alles gut. Sie haben<br />

tolle Kinder. Vertrauen Sie darauf, das<br />

wird schon“, war Erika Kochel allmählich<br />

bereit zu glauben, dass nicht alles im Leben<br />

ihrer Kontrolle bedurfte. H<strong>eu</strong>te sagt<br />

sie: „Ich habe mühsam gelernt, die Dinge<br />

auch mal laufen zu lassen.“<br />

Klaus Hurrelmann ist Professor für<br />

Public Health and Education an der<br />

Hertie School of Governance in Berlin.<br />

Er leitet seit über zehn Jahren die Shell-<br />

Jugendstudie, er untersucht, wie Kinder<br />

in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> leben.<br />

Er sagt, wer wissen wolle, wie Eltern<br />

und Kinder h<strong>eu</strong>te miteinander zurechtkommen,<br />

müsse auch betrachten, wie<br />

sich die Paarbeziehungen der Erwachsenen<br />

im Laufe der Zeit verändert haben.<br />

„Kaum jemand muss h<strong>eu</strong>te noch einen<br />

Hof oder ein Geschäft zusammen betreiben“,<br />

sagt Hurrelmann.<br />

Ein Paar zu sein, das sei h<strong>eu</strong>te kaum<br />

mehr eine pragmatische Entscheidung,<br />

sondern fast ausschließlich emotional<br />

gest<strong>eu</strong>ert, eine Liebesbeziehung. „Man<br />

schaut, ob man in seinem Charakter zueinanderpasst.<br />

In seinen Interessen, seinen<br />

Anschauungen.“<br />

Eine solche Beziehung ist geprägt von<br />

starkem Einfühlen, hoher Empathie, intensivem<br />

Mitdenken für den Partner.<br />

124<br />

Hurrelmann glaubt, dass nicht wenige Eltern<br />

diese Art von Beziehung auch auf<br />

ihr Kind übertragen. „Das sind alles sehr<br />

hohe Werte“, sagt Hurrelmann. Aber das<br />

Kind müsse erzogen werden. „Das muss<br />

der Partner nicht.“ In manchen Fällen<br />

werde die Erziehung sogar komplett<br />

durch die Beziehung ersetzt.<br />

Was Hurrelmann von den Eltern verlangt,<br />

ist eine stärkere erzieherische Haltung,<br />

eine gesunde Distanz zum Kind.<br />

Eine solcher Abstand schütze das Kind<br />

auch, denn es gehöre einer anderen Generation<br />

an, sei ein anderer Mensch. „Es<br />

ist sein eigener Mensch. Das zu akzeptieren<br />

fällt vielen Eltern schwer.“<br />

Vor ein paar Jahren wurde die amerikanische<br />

Journalistin Lenore Skenazy<br />

über Nacht berühmt: In ihrer Kolumne<br />

für die „New York Sun“ bekannte sie,<br />

dass sie ihren n<strong>eu</strong>njährigen Sohn allein<br />

mit der New Yorker U-Bahn fahren lasse.<br />

Binnen kurzem hatte Skenazy den Beinamen<br />

„America’s Worst Mom“ – die<br />

schlechteste Mutter Amerikas. Aufgebrachte<br />

Eltern ließen sich über sie aus.<br />

Tenor: „Was, wenn da etwas passiert?“<br />

Skenazy ging in die Offensive. Sie<br />

schrieb ein Blog und ein Buch mit dem<br />

Titel „Free-Range Kids“, freilaufende<br />

Kinder, in dem sie das Recht ihres Sohnes<br />

verteidigte, die Welt auch für sich allein<br />

zu entdecken. Das Buch war ein Erfolg,<br />

Skenazy bekam eine eigene TV-Sendung.<br />

In einer Folge von „World’s Worst<br />

Mom“ blickt ein Zehnjähriger traurig in<br />

die Kamera. Er sagt: „Ich kann nicht Rad<br />

fahren und nicht mit einem Messer schneiden.<br />

Meine Mutter hat Angst, ich falle hin<br />

oder schneide mir die Finger ab.“<br />

Skenazy kommt, setzt den Jungen aufs<br />

Rad, lässt ihn in der Küche Tomaten<br />

schneiden. Am Ende sind alle vor Glück<br />

den Tränen nahe. Skenazy sagt: „Ich denke,<br />

das Leben dieser Familie hat sich für<br />

immer verändert.“<br />

Wird die Hamburger Psychologin Katrin<br />

Hagemeyer, 35, bei Schwierigkeiten<br />

von Eltern um Rat gebeten, besucht auch<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

sie die Familie zu Hause. Sie beobachtet<br />

einige Stunden das Miteinander von Eltern<br />

und Kindern. Häufig sieht sie dabei,<br />

wie die Eltern die Kinder mit ihren gutgemeinten<br />

Sorgen erdrücken. Und selbst<br />

nichts davon merken.<br />

„Ich spreche mit Eltern, die sich über<br />

den grassierenden Förderwahnsinn mokieren,<br />

aber mir gleichzeitig erklären,<br />

weshalb ihr Kind an vier Nachmittagen<br />

die Woche irgendwelche Kurse besucht.“<br />

Sie spricht mit einer Mutter, die über<br />

die übertriebene Sorge räsoniert, ihrer<br />

Tochter dabei aber am Klettergerüst die<br />

ganze Zeit das Händchen hält.<br />

Inzwischen geht es auch in vielen Sachbüchern<br />

darum, dass die Kleinen ihre<br />

Kindheit einbüßen. Man solle die Kinder,<br />

heißt es meist darin, doch wieder einfach<br />

Kinder sein lassen, sie in den Wald schicken,<br />

sie toben lassen.<br />

Aber die Eltern, mit denen Hagemeyer<br />

zu tun hat, behandeln auch das wieder<br />

nur als eine Aufgabe. Im Hinterkopf, sagt<br />

Hagemeyer, ticke weiter der Wecker.<br />

„Nach dem Motto: Ich habe dem Jungen<br />

jetzt drei Stunden lang seine Ruhe gelassen,<br />

jetzt muss er doch mal um die Ecke<br />

kommen und ein tiefsinniges Gespräch<br />

führen wollen.“<br />

„Theoretisch“, sagt Hagemeyer, „ist<br />

diesen Eltern klar, dass es ein Zuviel geben<br />

kann.“ Aber praktisch sähen sie es<br />

nicht. Sie führten Methoden aus, sähen<br />

das Kind nicht als Person.<br />

„Die Eltern kommen aus der Denkfalle<br />

gar nicht mehr heraus“, sagt Hagemeyer.<br />

Alles in ihrem Leben sei messbar. Größe,<br />

Gewicht, die Leistungen in der Schule.<br />

„So werden die Kinder zu Mathematikaufgaben.“<br />

Die Rechnung der Eltern sehe meist so<br />

aus: Ich habe dich gestillt, dir Nähe und<br />

Zuneigung gegeben, dich bestmöglich gefördert<br />

– jetzt werde bitte zu dem Menschen,<br />

zu dem ich dich erzogen habe.<br />

Immer wenn die Eltern eine solche<br />

Rechnung aufmachten, sagt Hagemeyer,<br />

werde es gruselig.


noch alles in dieses Kind rein, damit es auf dem Arbeitsmarkt reüssiert?“<br />

Wie soll man es denn besser machen?<br />

So schwer sei das gar nicht, sagt Hagemeyer.<br />

Man müsse nur mit ein paar Dingen<br />

ins Reine kommen.<br />

Zum einen sei da die weitverbreitete<br />

Annahme, Kinder kämen wie weiße<br />

Püppchen auf die Welt, die man beliebig<br />

anmalen kann. „Aber Kinder“, sagt Hagemeyer,<br />

„die sind, wie sie sind.“<br />

Wenn sie einem in den eigenen Inter -<br />

essen und Fähigkeiten ähnlich sind, werde<br />

das familiäre Miteinander wahrscheinlich<br />

reibungsloser verlaufen. „Wenn sie<br />

aber ganz anders sind, dann muss man<br />

sich damit eben anfr<strong>eu</strong>nden. Dann muss<br />

man das füreinander organisieren.“<br />

Hagemeyers These: Es ist nicht die Aufgabe<br />

der Eltern, ihre Kinder glücklich zu<br />

machen. „Eltern sind dazu da, die Kinder<br />

auf ihrem Weg zu begleiten und ihnen<br />

die Informationen und Fertigkeiten zu<br />

vermitteln, die sie brauchen, um sich in<br />

der Welt zurechtzufinden“, sagt die Psychologin.<br />

Das Projekt „Glückliches Kind“ berge<br />

die Gefahr in sich, dass das Kind nicht<br />

mehr die Möglichkeit habe, unbeschwert<br />

traurig zu sein. „Alle Emotionen, die wir<br />

Menschen mit auf die Welt bringen, sind<br />

wichtig und wertvoll für unsere Persönlichkeit.<br />

Wirklich hilfreiche Eltern sind<br />

diejenigen, die das Kind anerkennen, so<br />

wie es ist.“<br />

An der Universität Freiburg versucht<br />

die Studienberaterin Eva Welsch bei dieser<br />

Art von Anerkennung zu helfen. Vor<br />

ein paar Jahren hat sie begonnen, nicht<br />

nur Studenten, sondern auch Eltern<br />

Sprechstunden anzubieten.<br />

Welsch, 62, bittet in ihr Büro. An der<br />

Wand hängt ein Druck von Mark Rothko,<br />

beruhigendes Rot, die Couch ist hell und<br />

weich. Fast jeden Satz beendet Welsch<br />

mit einem Lächeln.<br />

Sie sagt, dass sie das Miteinander von<br />

Studenten und Eltern als fr<strong>eu</strong>ndschaftlich<br />

erlebe. „Entscheidungen treffen sie häufig<br />

gemeinsam, nicht wie früher, als Eltern<br />

noch sagten, ,Medizin oder gar nichts!‘“<br />

Doch Welsch ist nicht sicher, ob die<br />

jungen Erwachsenen sich nicht manchmal<br />

allzu willfährig den Ratschlägen der Eltern<br />

b<strong>eu</strong>gten. „Das sind alles empathische,<br />

reizende Eltern, wirklich“, sagt sie.<br />

„Aber es sind Eltern, die kurzatmig werden,<br />

weil sie sich so große Sorgen um<br />

ihre Kinder machen.“<br />

Zugleich sitzen in der Studienberatung<br />

häufig Studenten, Mitte, Ende zwanzig,<br />

die nach ihrem Abschluss kommen und<br />

sagen: „Jetzt habe ich studiert, wozu mir<br />

meine Eltern geraten haben. Aber glücklich<br />

werde ich damit nicht. Kann ich noch<br />

einmal von vorn beginnen?“<br />

Welsch fragt sich dann stets: Hätte man<br />

das nicht vorher merken können? Doch<br />

es sei schwer geworden, die Kinder zu<br />

ihrer eigenen Wahl zu ermuntern, die Eltern<br />

davon abzuhalten, allzu fürsorglich<br />

einzugreifen. Sie spürt, dass eine andere<br />

Art von Spannung zwischen Eltern und<br />

Kindern entstanden ist. Keine, die aus<br />

autoritärem Zwang entsteht. Sondern aus<br />

Angst.<br />

Manchmal wird es Eva Welsch in diesen<br />

Situationen eng ums Herz. Was nutzt<br />

ein VWL-Studium, wenn der Junge<br />

schlecht in Mathe ist? Was bringt Jura,<br />

nur weil der Vater als Rechtsanwalt gut<br />

ist? Sie sagt: „Fragt doch mal nach dem<br />

Glück der Kinder! Das tut keiner mehr.“<br />

Die Leichtigkeit sei weg.<br />

Sie versuche den Eltern zu sagen:<br />

„Lehnen Sie sich zurück, kommen Sie<br />

raus aus Ihrer Verkrampfung. Die Noten<br />

sind gut, Klavier kann er schon, Tennis<br />

spielt er auch. Was soll denn noch alles<br />

in dieses Kind rein, damit es auf dem Arbeitsmarkt<br />

reüssiert?“<br />

Die Studienberaterin will, dass bei den<br />

Heranwachsenden wieder die N<strong>eu</strong>gierde<br />

geweckt wird. Sie sagt: „Wir haben hier<br />

eine Universität, die hat Säcke voll Wissen.“<br />

Sie will den Eltern klarmachen, dass<br />

ihr Kind nur dann einmal gut im Beruf<br />

sein wird, wenn es etwas studiert, das es<br />

interessiert. „Nicht, was gerade opportun<br />

auf dem Arbeitsmarkt ist.“<br />

Häufig, sagt Welsch, habe sie in einer<br />

solchen Beratung Erfolg. Sie spüre dann<br />

ein tiefes Durchatmen – bei Kindern und<br />

Eltern.<br />

In Niederbayern bereitet sich Josef<br />

Kraus auf den nächsten Tag vor. Der Abschied<br />

von den diesjährigen Abiturienten<br />

steht an, für Kraus wird es der 20. Abiturjahrgang<br />

sein, den er ins Leben entlässt.<br />

Der Pädagoge muss noch seine Rede<br />

fertigschreiben.<br />

Kraus sagt: „Ich könnte jedes Jahr die<br />

gleiche halten, keiner würde es merken.“<br />

Aber er will das nicht. Er will, dass die<br />

Rede jedes Jahr n<strong>eu</strong> ist, dass sie etwas<br />

mit dem Leben seiner Schüler zu tun hat.<br />

Was will er dieses Mal sagen?<br />

„Ich möchte über Humor sprechen.“<br />

Über Humor als Chance, mit dem Leben<br />

fertig zu werden.<br />

Die letzte Schulglocke läutet, der Gymnasialdirektor<br />

trinkt Kaffee und erklärt:<br />

„Humor macht es leichter, mit den Unzulänglichkeiten<br />

des eigenen Lebens zurechtzukommen.“<br />

Humor mache es leichter,<br />

versöhnlich auf die Schwächen der<br />

Mitmenschen zu sehen. „Und Humor ist<br />

ein großes Stück innere Freiheit. In Situationen,<br />

in denen man sich ohnmächtig<br />

fühlt.“<br />

Warum will er ausgerechnet das seinen<br />

Schülern mit auf den Weg geben?<br />

„Damit sie Abstand gewinnen. Vom<br />

Perfektionismus, vom Verwertungsdenken.<br />

Von dieser sturen Ellbogenmentalität.“<br />

Denn seine Schüler, sagt Kraus, das<br />

seien mehr als nur Menschen, die man<br />

benote. „Das sind auch Töchter, Söhne,<br />

Brüder, Schwestern oder Fr<strong>eu</strong>nde.“ In<br />

jeder dieser Rollen sollen sie glücklich<br />

werden.<br />

Vor allem, sagt Kraus, möchte er das<br />

aber den Eltern sagen. „Denn die sitzen<br />

morgen ja auch da.“ KERSTIN KULLMANN<br />

Animation: Was für ein<br />

Elterntyp sind Sie?<br />

spiegel.de/app332013eltern<br />

oder in der App DER SPIEGEL<br />

DER SPIEGEL 33/2013 125


Wissenschaft<br />

UMWELT<br />

Die Rettung der Maronen<br />

Ein Pilz hat die Amerikanische Kastanie dahingerafft, nur noch kärgliche<br />

Triebe kümmern im Forst. Genforscher lassen den<br />

prächtigen Baum jetzt auferstehen: mit eingebautem Schädlingsschutz.<br />

Willkommen auf dem Mond“, sagt<br />

Fred Hebard und zeigt in die<br />

Grube, die sich vor ihm auftut.<br />

Über graubraunes Geröll quälen sich vollbeladene<br />

40-Tonner den Berg empor,<br />

Staub wirbelt, weiter unten kratzen Schaufelbagger<br />

schwarze Halden zusammen.<br />

„Erstaunlich? Aufrüttelnd? Bestürzend?“<br />

Hebard sucht nach dem richtigen<br />

Wort. Am Ende findet er, dass „schockierend“<br />

die Sache am besten trifft. Hier, inmitten<br />

der nordamerikanischen Appalachen,<br />

sprengen Konzerne ganze Berge<br />

weg, um an die reichen Steinkohlevorkommen<br />

der Region heranzukommen.<br />

Doch Hebards Expertise gilt nicht der<br />

Zerstörung, sein Fachgebiet ist die Wiedergeburt.<br />

Sein Werk lässt sich auf einem<br />

kleinen Versuchsfeld bewundern. Dort<br />

wuchert, gehegt von Forstwirten, Bodenkundlern<br />

und Botanikern, junge Wildnis.<br />

Ahorne, Eichen und Platanen recken<br />

sich vier, fünf Meter hoch aus den Ritzen<br />

im Geröll, dazwischen ranken Dornen -<br />

büsche: Der Wald erobert sich das Terrain<br />

zurück. Und auch die Tierwelt kehrt allmählich<br />

heim. „Da, ein d<strong>eu</strong>tliches Zeichen,<br />

dass hier wieder Säugetiere leben“,<br />

sagt Hebard und zerquetscht eine Zecke<br />

zwischen den Fingernägeln.<br />

Dann bahnt er sich den Weg zum<br />

eigentlichen Symbol der Wiederauferstehung:<br />

einem wackeren Bäumchen, das<br />

die anderen überragt. „Sieht gesund aus“,<br />

sagt Hebard zufrieden, während er den<br />

fast armdicken Stamm inspiziert. Dass<br />

dieser Baum hier so gut gedeiht, ist in<br />

den USA von geradezu nationaler Bed<strong>eu</strong>tung.<br />

Denn vor dem Pflanzenpathologen<br />

Fred Hebard wächst eine fünfjährige<br />

Amerikanische Kastanie.<br />

Kaum zu glauben, dass dieser Baum,<br />

der h<strong>eu</strong>te so gut wie ausgestorben ist,<br />

einst die Wälder im Osten Nordamerikas<br />

beherrschte. Gut 30 Meter hoch, galt Castanea<br />

dentata als „Redwood des Ostens“.<br />

Jeder vierte Baum in den Appalachen<br />

war eine Kastanie, ihre Früchte nährten<br />

Hirsche, Waschbären und Truthühner.<br />

Ein Eichhörnchen hätte im Castanea-Kronendach<br />

von Georgia bis nach Maine gelangen<br />

können. Mehr als tausend Orte<br />

mit „Chestnut“ (englisch für „Kastanie“)<br />

im Namen hätten am Weg gelegen.<br />

126<br />

Im Herbst zogen die Bewohner ganzer<br />

Ortschaften morgens in den Wald, um<br />

abends mit Säcken voller Maronen zurückzukehren.<br />

In Eisenbahnwaggons wurde<br />

die Ernte dann nach Baltimore, Philadelphia<br />

oder New York verfrachtet, um<br />

dort geröstet auf den Straßen feilgeboten<br />

zu werden.<br />

Aus dem wetterfesten Holz der Kastanienbäume<br />

fertigte man mit Vorliebe Telefonmasten,<br />

Schindeln, Zäune oder Eisenbahnschwellen.<br />

Gerber nutzten die<br />

Tannine aus Holz und Rinde. Und die<br />

Hausfrauen kochten aus den Blättern Brühe<br />

gegen Husten oder Tee zur Stärkung<br />

des Herzens.<br />

Kastanienbäume in den Appalachen 1910<br />

Die Lebensader abgeschnitten<br />

H<strong>eu</strong>te ist all das Vergangenheit. Nur<br />

noch kärgliche Triebe der ehedem so riesigen<br />

Bäume kümmern im Unterholz.<br />

Wie einst Menschen die Kastanien, so<br />

sammeln jetzt Volkskundler die alten Geschichten<br />

über diese Bäume. Und der<br />

Truthahn zu Thanksgiving wird nun mit<br />

Austern statt mit Maronen gefüllt.<br />

Kaum dass ein Stämmchen auf Daumendicke<br />

herangereift ist, z<strong>eu</strong>gen schorfige<br />

Geschwülste an der Rinde davon,<br />

dass sich Cryphonectria parasitica hier<br />

eingenistet hat. Zwischen Holz und Borke<br />

breitet sich dieser Pilz aus, bis er den ganzen<br />

Stamm umschlossen und damit dem<br />

Baum die Lebensader abgeschnitten hat.<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

THE AMERICAN CHESTNUT FOUNDATION / COURTESY OF THE FOREST HISTORY SOCIETY<br />

Im Jahr 1904 wurde der aus Asien eingeschleppte<br />

Pilz erstmals in Amerika gesichtet,<br />

als Kastanienbäume im Zoo der<br />

New Yorker Bronx ein rätselhaftes Siechtum<br />

befiel. Gut zehn Jahre später waren<br />

ganze Landstriche von den toten Gerippen<br />

der Kastanienbäume geprägt.<br />

Verzweifelt suchten die Förster dem<br />

Sterben Einhalt zu gebieten – und verschlimmerten<br />

damit nur den Schaden. Um<br />

dem Schädling seine Nahrung zu nehmen,<br />

fällten sie auch gesunde Kastanien. Manch<br />

ein mit natürlicher Resistenz ausgestatteter<br />

Baum dürfte dabei den Tod durch die<br />

Axt gefunden haben. Zudem trugen die<br />

Waldarbeiter in ihrem Eifer wahrscheinlich<br />

an den Stiefeln haftende Pilzsporen<br />

auch in den letzten noch nicht befallenen<br />

Winkel des Landes.<br />

Schließlich war es so weit: „Good bye,<br />

Chestnuts“ überschrieb die Zeitschrift<br />

„American Forests“ einen Nachruf auf<br />

Castanea dentata. Die Zahl der Bäume,<br />

die der Epidemie zum Opfer fielen, wird<br />

auf drei bis vier Milliarden geschätzt.<br />

Der Niedergang der Amerikanischen<br />

Kastanie ist damit zum Paradefall einer<br />

Baums<strong>eu</strong>che geworden, von der immer<br />

wieder ganze Weltregionen heimgesucht<br />

werden. So rafften in Europa eingeschleppte<br />

Pilze Millionen Ulmen dahin.<br />

Ein Pilz war es auch, der in der ersten<br />

Hälfte des 20. Jahrhunderts dem süd -<br />

amerikanischen Kautschukboom ein<br />

Ende setzte.<br />

In <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> ist das Siechtum der<br />

Rosskastanien zum Inbegriff eines Baumleidens<br />

geworden. Die Larven bestimmter<br />

Kleinschmetterlinge, sogenannter Miniermotten,<br />

fressen („minieren“) winzige<br />

Gänge in die Blätter, was diese schon im<br />

Hochsommer verwelken lässt. Weil diese<br />

Motten in Mittel<strong>eu</strong>ropa keine effektiven<br />

natürlichen Feinde haben, ist es schwer,<br />

ihnen Einhalt zu gebieten.<br />

Der Befall durch Mottenlarven ist für<br />

die Bäume allerdings nicht tödlich. In<br />

manchen Teilen Nordrhein-Westfalens jedoch<br />

ist ein zweiter Feind hinzugekommen,<br />

der die Rosskastanien (die im Übrigen<br />

mit der Amerikanischen Kastanie<br />

nicht mehr als den Namen und die Ähnlichkeit<br />

der Frucht gemein haben) ernsthaft<br />

schädigt: Ein stäbchenförmiges Bak-


Pflanzenpathologe Hebard<br />

Versuchsfeld in Meadowview<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

THE AMERICAN CHESTNUT FOUNDATION<br />

terium, vermutlich ein Zuwanderer aus<br />

Indien, lässt die Rosskastanien regelrecht<br />

verfaulen. Erstmals 2002 in den Niederlanden<br />

beobachtet, breitete sich die S<strong>eu</strong>che<br />

ostwärts aus.<br />

In den USA ist Castanea dentata mit<br />

der Zeit zum Symbol bedrohter Natur,<br />

ihre Wiederauferstehung zum nationalen<br />

Anliegen geworden. Das ganze Arsenal<br />

der Biotechnik wird in den Dienst dieses<br />

Ziels gestellt.<br />

„Sehr vielversprechend“ nennt William<br />

Powell die Ergebnisse seiner Experimente,<br />

die er an der State University of New York<br />

in Syracuse durchführt. Der Genforscher<br />

wappnet die Kastanie mit gentechnischer<br />

Hilfe gegen den Pilzbefall.<br />

Powell entschied sich dabei für ein Gen<br />

des Weizens, das die vom Pilz produzierte<br />

Oxalsäure n<strong>eu</strong>tralisiert und auf diese<br />

Weise den Schädling entwaffnet. 15 Jahre<br />

lang mühten sich Powell und sein Kollege<br />

Charles Maynard vergebens, das fremde<br />

Gen in Kastanienembryonen einzuschl<strong>eu</strong>sen.<br />

„Es war vertrackt“, erklärt Maynard.<br />

„Fast schien es, als hätte es die Kastanie<br />

darauf angelegt auszusterben.“<br />

Am Ende aber wurden die Forscher<br />

doch mit Erfolg belohnt. Inzwischen<br />

wachsen in Syracuse Bäumchen heran,<br />

die sich als weitgehend pilzresistent erweisen.<br />

Bis diese allerdings die Hänge<br />

der Appalachen zieren, wird noch mindestens<br />

ein Jahrzehnt vergehen. Zuvor<br />

stehen dem Forscherduo zähe Verhandlungen<br />

mit Umwelt-, Lebensmittel- und<br />

Forstbehörden bevor.<br />

Immerhin dürfte Powell und Maynard<br />

zugutekommen, dass sie für eine Sache<br />

kämpfen, die unter Umweltbewegten als<br />

eine gute gilt: „Selbst eingefleischte Gentech-Gegner<br />

zeigen sich meist milde,<br />

wenn sie hören, dass es um die Amerikanische<br />

Kastanie geht“, erzählt Powell.<br />

Andere Forscher setzen darauf, nicht<br />

den Baum zu stärken, sondern den Pilz<br />

zu schwächen – eine Strategie, dank der<br />

in Europa bei der Edelkastanie die Epidemie<br />

eingedämmt werden konnte. Dort<br />

gelang es, den Pilz seinerseits mit Viren<br />

zu infizieren, „Hypovirulenz“ nennen<br />

Forscher das Prinzip. Tatsächlich erholten<br />

sich die Bäume zusehends, am Ende<br />

erinnerten nur noch hässliche Schwielen<br />

in der Rinde an den überstandenen Pilzbefall.<br />

In Amerika allerdings ist der Pilz hartnäckiger.<br />

Alle Versuche, die Viren wirksam<br />

zu verbreiten, schlugen bisher fehl.<br />

Für das Überleben von Castanea dentata<br />

könnte die Schwächung des Pilzes trotzdem<br />

wichtig werden. „Wir erhoffen uns<br />

Unterstützung durch die verminderte<br />

Virulenz“, erklärt Pflanzenpathologe<br />

Hebard.<br />

Als Forschungschef der American<br />

Chestnut Foundation ist Hebard so etwas<br />

wie der Feldherr im Krieg gegen den Kastanienpilz.<br />

Niemand kennt die Launen<br />

127


Technik<br />

des Baums so gut wie er, keiner ist so vertraut<br />

mit den Tücken des Pilzes.<br />

Hebards wichtigster Verbündeter ist<br />

Castanea mollissima, die Chinesische Kastanie.<br />

Zwar ist sie zu klein, um im amerikanischen<br />

Forst langfristig bestehen zu<br />

können, doch ist sie mit natürlicher Resistenz<br />

gegen den Pilz ausgestattet. Hebards<br />

Ziel ist es, eine Mischform zu erschaffen,<br />

die chinesisch genug ist, um dem Pilz zu<br />

trotzen, aber so amerikanisch, dass sie im<br />

Bergwald der Appalachen gut gedeiht.<br />

Auf dem Weg dorthin ist der Forscher<br />

weit gekommen. Inzwischen wachsen auf<br />

den Versuchsfeldern der Foundation in<br />

Meadowview, US-Bundesstaat Virginia,<br />

Bäume der sechsten Zucht-Generation her -<br />

an. Die charakteristisch gezähnten Blattränder<br />

und die leicht rötliche Färbung weisen<br />

auf einen hohen Anteil amerikanischen<br />

Erbguts hin. Mit der Lupe überprüft<br />

Hebard, dass die Blätter nur wenige der<br />

für die Chinesische Kastanie so typischen<br />

Härchen an der Unterseite tragen.<br />

Von ihren chinesischen Ahnen haben<br />

Hebards Schützlinge dagegen Widerstandskraft<br />

gegen den Schädling geerbt.<br />

Regelmäßig impft der Forscher seine Versuchsbäume<br />

mit dem orangefarbenen<br />

Pilzgewebe. Im Jahr darauf vergibt er Noten:<br />

„3“ bed<strong>eu</strong>tet, dass eine tödliche Geschwulst<br />

am Stamm wuchert; „2“ steht<br />

für eine schwelende Infektion mit unklarem<br />

Ausgang; mit einer „1“ wird ein<br />

Baum belohnt, wenn nur noch eine verheilte<br />

Narbe an den Pilzbefall erinnert.<br />

Von Generation zu Generation sind die<br />

Noten „1“ und „2“ häufiger geworden.<br />

Ob das ausreicht für ein langfristiges<br />

Überleben? Hebard hält sich mit Versprechen<br />

zurück. Er will abwarten, ob seine<br />

Kreationen nun den Härtetest in den großen<br />

Tagebauen bestehen.<br />

Dass manch ein Umweltschützer ihm<br />

Kumpanei mit den Bergbaukonzernen<br />

vorwirft, nimmt der Forscher dabei in<br />

Kauf. „Das hier ist Kastanien-, aber auch<br />

Kohleland“, sagt er. An der Verwüstung<br />

durch Dynamit und Bagger könne er ohnehin<br />

nichts ändern. Aber zumindest trage<br />

er seinen Teil dazu bei, dass der Wald<br />

nach dem Raubbau wieder zurückkehre.<br />

Patrick Angel jedenfalls sieht in Hebard<br />

einen strategischen Verbündeten.<br />

Als Forstwissenschaftler entwickelt Angel<br />

Methoden, wie sich der Tagebau wieder<br />

aufforsten lässt. Auf lockerem, verwittertem<br />

Sandsteingeröll, so der wichtigste Befund,<br />

wuchert die Wildnis besonders gut.<br />

„Die Kohlekonzerne wollen davon aber<br />

oft nichts wissen“, sagt er. „Den Boden<br />

plattzuwalzen und dann Gras zu säen ist<br />

einfach billiger.“ Deshalb ist Angel dankbar,<br />

dass Hebard ihm ein Argument liefert,<br />

mit dem sich auch hartgesottene Kohlemanager<br />

überz<strong>eu</strong>gen lassen: „Wenn ich<br />

denen sage, dass wir auch Amerikanische<br />

Kastanien pflanzen, dann l<strong>eu</strong>chten ihre<br />

Augen.“<br />

JOHANN GROLLE<br />

128<br />

Passagierschiff „Queen Mary 2“ in Hamburg<br />

VERKEHR<br />

Rauch verboten<br />

In Nord- und Ostsee werden Schiffe zukünftig nicht mehr<br />

einfach mit Schweröl fahren dürfen. Doch saubere<br />

Alternativen sind t<strong>eu</strong>er. Flüssiges Erdgas könnte die Rettung sein.<br />

Die Wohngebiete am Hamburger<br />

Elbufer zählen zu den begehr -<br />

testen der Stadt. Ehrbare Kaufmannsfamilien<br />

residieren hier. Das Panorama<br />

ist herrlich, die Luft zuweilen getrübt.<br />

Schwarzer, fettiger Niederschlag legt<br />

sich regelmäßig auf Gartenmöbel und<br />

Fenstersimse. Die Betroffenen können<br />

sich allenfalls damit trösten, dass ihnen<br />

die Ausscheidungen einer Branche um<br />

die Ohren fliegen, die Hamburg reich gemacht<br />

hat.<br />

Schiffe sind die Dreckfresser der mobilen<br />

Gesellschaft, als globale Verschmutzer<br />

zwar kaum bed<strong>eu</strong>tend (siehe Grafik), lokal<br />

aber ein Ärgernis. Ihre Dieselmotoren<br />

verbrennen Schweröl, den Bodensatz der<br />

Raffinerien. „Das ist eher dicke Pampe<br />

als eine Flüssigkeit“, sagt Christoph<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

Brockmann, Vizepräsident des Bundesamts<br />

für Seeschifffahrt und Hydrographie<br />

in Hamburg. Die Pampe muss auf über<br />

50 Grad angewärmt werden, damit sie<br />

überhaupt durch die Leitungen in den<br />

Motor gepresst werden kann.<br />

Aus dem Schlot quillt dann der<br />

Schmutz. Brockmann hat einige Fotos auf<br />

seinem Handy; sie zeigen Schiffsschornsteine,<br />

denen Schwaden von schwarzem<br />

und gelbem Rauch entweichen. Schwarz<br />

ist Ruß, gelb Schwefel. „Diese Bilder sind<br />

hässlich“, sagt Brockmann, „die wollen<br />

wir nicht mehr.“<br />

Der studierte Ozeanograf zählt zu den<br />

Treibern einer epochalen Umstellung der<br />

Schiffskraftstoffe von Schweröl auf Erdgas.<br />

Es ist der größtmögliche Sprung, den<br />

der Katalog der Kohlenwasserstoffe hergibt<br />

– vom schmutzigsten zum saubersten


Brennstoff fossiler Natur. Dieselmotoren,<br />

das fügt sich bestens, vertragen beides.<br />

Auch Bundesverkehrsminister Peter<br />

Ramsauer will diesen Wandel. Am Freitag<br />

besuchte er in Rostock-Warnemünde<br />

die Vorführung eines Caterpillar-Schiffsmotors<br />

auf dem Abgasprüfstand. Das Aggregat<br />

hat sechs Zylinder, leistet etwa<br />

fünf Megawatt und kann im laufenden<br />

Betrieb von Schweröl auf Gas umschalten.<br />

Die Leistung bleibt gleich, doch die<br />

Schadstoffe verschwinden fast komplett:<br />

Schwefeldioxid und Ruß sinken nahezu<br />

auf null, Stickoxide auf etwa 20 Prozent.<br />

Rückgrat der Wirtschaft<br />

90 Prozent des Welthandels werden per<br />

Schiff abgewickelt. Der Anteil des Schiffsverkehrs<br />

an den von Menschen verursachten<br />

Emissionen beträgt für ...<br />

... Kohlendioxid<br />

ca. 3%<br />

... Schwefeloxide<br />

ca. 6%<br />

... Stickoxide<br />

ca. 15 %<br />

IMAGO<br />

In seiner dichtesten Speicherform namens<br />

LNG (liquefied natural gas), auf unter<br />

minus 160 Grad abgekühlt und verflüssigt,<br />

ist Erdgas auf Schiffen tatsächlich<br />

nutzbar. In Skandinavien laufen bereits<br />

vereinzelt Fähren im LNG-Betrieb. Und<br />

auch die im Ostseeraum üblichen Frachtschiffe,<br />

schätzt Brockmann, ließen sich<br />

unter geringen Laderaumeinbußen mit<br />

LNG betreiben.<br />

Ramsauer spricht bereits von einem<br />

„Nationalen Aktionsplan LNG“, und der<br />

d<strong>eu</strong>tsche Gaskonzern Linde hat mit dem<br />

Hamburger Schiffstreibstoffanbieter Bomin<br />

im vergangenen Jahr ein Joint Venture<br />

gegründet, um in den großen Häfen<br />

des Nord- und Ostseeraums eine LNG-<br />

Infrastruktur aufzubauen. Erste Standorte<br />

sind in Hamburg, Bremerhaven und Rotterdam<br />

geplant.<br />

Die Terminals dürften jedoch eine Weile<br />

eher verwaist in den Häfen liegen.<br />

Nicht so glücklich über die Initiative zeigt<br />

sich nämlich der Verband D<strong>eu</strong>tscher Reeder.<br />

Eine Expertise nennt den LNG-Einsatz<br />

zwar, ganz brav, „wünschenswert im<br />

Sinne der Umwelt“ und auch „technisch<br />

machbar“, jedoch „wirtschaftlich (noch)<br />

unattraktiv“. Übersetzt heißt das: Spinnt<br />

ihr eigentlich?<br />

Die N<strong>eu</strong>baukosten für ein Schiff würden<br />

sich nach Berechnung des Reederverbands<br />

um 15 bis 20 Prozent, also durchaus<br />

um einen hohen einstelligen Millionenbetrag<br />

vert<strong>eu</strong>ern, vor allem wegen der<br />

aufwendigen Tankanlage.<br />

Die Rechnung der Reeder könnte jedoch<br />

schon im Januar 2015 zu anderen<br />

Ergebnissen führen. Dann treten nautische<br />

Abgasvorschriften in Kraft, die das<br />

Gasschiff zwar nicht direkt fördern, die<br />

Fahrt mit ölbasiertem Kraftstoff aber drastisch<br />

vert<strong>eu</strong>ern werden.<br />

Die Internationale Seeschifffahrts-Organisation<br />

IMO (International Maritime<br />

Organization) hat Nord- und Ostsee zu<br />

einer „Emissions-Kontrollzone“ erklärt.<br />

Zwischen Ärmelkanal und Baltikum darf<br />

der Schwefelgehalt im Kraftstoff ab dem<br />

Jahr 2015 nicht mehr ein, sondern nur<br />

noch 0,1 Prozent betragen, höchstens.<br />

Schweröl ist damit praktisch aus dem<br />

Spiel; es bedarf eines wesentlich edleren<br />

Raffinats: Marinegasöl, chemisch vergleichbar<br />

mit dem Diesel für Autos und<br />

entsprechend t<strong>eu</strong>er.<br />

Das dreckige Schweröl kostet derzeit<br />

in den meisten Häfen etwa 600 US-Dollar<br />

pro Tonne, Marinegasöl über 900. Große<br />

Frachtschiffe verbrauchen in der Stunde<br />

bis zu zehn Tonnen, Fährschiffe etwa<br />

zwei. Für die Reeder, die seit 2008 in der<br />

Dauerkrise wirtschaften, ist der Schwerölbann<br />

ein Tiefschlag.<br />

„Da hätte mal einer auf die Preislisten<br />

schauen müssen“, sagt Hanns Conzen,<br />

Geschäftsführer der TT-Line, die sechs<br />

Fähren zwischen <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> und Skandinavien<br />

betreibt. Das IMO-Verdikt, das<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

auf Wunsch der Nord- und Ostseeanrainer,<br />

unter anderem <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong>s, zustande<br />

kam, sei „existenzbedrohend“, findet<br />

Conzen.<br />

Bei Fähren macht der Kraftstoff je nach<br />

Streckenlänge bis zur Hälfte der Betriebskosten<br />

aus, bei Frachtschiffen mehr als<br />

drei Viertel. Conzen rechnet mit Mehrkosten<br />

von 2,5 Millionen Euro pro Jahr<br />

und Schiff. Die muss er letztlich auf die<br />

Fahrpreise schlagen. Und seine wichtigste<br />

Fracht sind Lkw von Spedit<strong>eu</strong>ren, die sich<br />

auf der Stelle für den Landweg entscheiden,<br />

wenn der billiger ist.<br />

Das Rauchverbot im Fahrwasser könnte<br />

also eine höchst unerwünschte Nebenwirkung<br />

haben: die Rückverlagerung von<br />

Lkw-Verkehr vom Wasser auf die Straße.<br />

Ökologisch ist das nicht.<br />

Conzen sieht sich von der Verkehrs -<br />

politik im Stich gelassen. Seine Flotte ist<br />

noch relativ jung, und Fähren werden auf<br />

eine Lebenserwartung von gut 40 Jahren<br />

kalkuliert. Eine Nachrüstung von Gastechnik<br />

ist hier praktisch nicht möglich:<br />

kein Platz im Maschinenraum – Fährschiffe<br />

leben von größtmöglicher Ladefläche.<br />

Eine nachträgliche Tankinstallation wäre<br />

schier unbezahlbar.<br />

Für N<strong>eu</strong>bauschiffe, das bezweifelt<br />

auch Conzen nicht, wäre LNG die Lösung.<br />

Erdgas wird im Vergleich zu Rohöl<br />

seit langem billiger, und diese Entwicklung<br />

wird sich nach Einschätzung von<br />

Rohstoffexperten auch weiter fortsetzen.<br />

Der Preis für Flüssiggas liegt h<strong>eu</strong>te schon<br />

d<strong>eu</strong>tlich unter dem für das t<strong>eu</strong>re Marine -<br />

gasöl und nähert sich in manchen Regionen,<br />

beispielsweise in den USA, dem<br />

von Schweröl an.<br />

Zudem muss der Reeder, hat er einmal<br />

in LNG investiert, keine weiteren Aktionspläne<br />

oder sonstige Umweltinitiativen gegen<br />

ungewollte Stoffe im Abgas fürchten.<br />

Marinegasöl jedoch rußt. Emittiert Stickoxide.<br />

Dagegen wird die Internationale<br />

Seeschifffahrts-Organisation in Zukunft<br />

gewiss auch noch vorzugehen wissen.<br />

Vor allem die Passagierschifffahrt würde<br />

profitieren vom Rußausstieg, da sie<br />

mit ihrem Abgas unmittelbar die Kunden<br />

schädigt. Der Naturschutzbund <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong><br />

untersuchte kürzlich 20 Kr<strong>eu</strong>zfahrtschiffe,<br />

die in den kommenden Jahren<br />

vom Stapel laufen. Das Expertenurteil:<br />

„Aus gesundheitlichen Gründen ist zurzeit<br />

auf keinem einzigen Kr<strong>eu</strong>zfahrtschiff<br />

Urlaub ratsam.“<br />

Die am schlechtesten bewertete Aida<br />

Cruises setzte kürzlich immerhin ein Zeichen<br />

guten Willens und legte eine n<strong>eu</strong>e<br />

Schiffsgeneration auf Kiel: Die Touri-Kähne<br />

können auch mit Flüssiggas fahren.<br />

CHRISTIAN WÜST<br />

Video: So funktionieren die<br />

Erdgas-Motoren<br />

spiegel.de/app332013schiffe<br />

oder in der App DER SPIEGEL<br />

129


Technik<br />

Eigenbau-Objekte Akkuschrauberantrieb, Luftkissensessel, Roboter-Bassist: Überall ruckelt, flackert und brummt es<br />

Ostereier von Hand bemalen? Das<br />

ist altes Denken. Tüftler bauen<br />

h<strong>eu</strong>te Roboter, die das besser können:<br />

Das Ei kommt in ein Gestell, dann<br />

senken sich maschinengelenkte Stifte auf<br />

die Schale und verzieren sie rundum akkurat<br />

mit Sprüchen oder Tierfigürchen.<br />

Vorbei auch die Zeiten, da Kinder ihr<br />

Bobbycar mit den Füßen voranschubsen<br />

mussten. Moderne Gefährte sind mit<br />

Akku schraubern motorisiert; wagemutige<br />

Piloten montieren auch schon mal ein<br />

kleines Düsentriebwerk unter den roten<br />

Plastikrenner.<br />

Solche Kreationen sind Bastlern n<strong>eu</strong>en<br />

Typs zu verdanken. Sie nennen sich Maker,<br />

zu d<strong>eu</strong>tsch: Macher, und sie zeigen<br />

ihre Werke gern auf eigenen Messen, die<br />

sie meist „Maker Faire“ nennen. Darin<br />

steckt, in altertümlicher Schreibung, das<br />

englische Wort für Jahrmarkt. Und so<br />

geht es auch zu: bunt, wuselig – und oft<br />

sogar ein wenig spektakulär, wenn etwa<br />

eine tragbare Blitzeschl<strong>eu</strong>der vorgeführt<br />

wird, gefertigt aus billigen Kondensatoren<br />

und dem Trafo eines alten Fernsehers.<br />

Beim Publikum findet der Bastler -<br />

rummel wachsenden Zuspruch. Zur Schau<br />

130<br />

ERFINDER<br />

Jahrmarkt der Schrauber<br />

Rockende Roboter, tragbare Blitzeschl<strong>eu</strong>dern und Bobbycars<br />

mit Düsenantrieb – dank Internet und billiger<br />

Elektronik wagen sich Bastler an ausgefallene Projekte.<br />

im kalifornischen San Mateo kamen im<br />

Mai mehr als 120000 Besucher. Nördlich<br />

davon, im Städtchen Sebastopol, sitzt das<br />

Zentralorgan der Bewegung, die Zeitschrift<br />

„Make“, die den Anstoß zum<br />

Boom gab. Maker Faires gibt es bereits<br />

in New York, in Rom, in Singapur – insgesamt<br />

rund hundert in diesem Jahr, annähernd<br />

doppelt so viele wie 2012.<br />

Und jetzt treten die Macher auch in<br />

<strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> auf den Plan.<br />

Das Kongresszentrum in Hannover<br />

erlebte kürzlich die erste d<strong>eu</strong>tsche Maker-Messe.<br />

In der schwülheißen Glashalle<br />

fertigten 3-D-Drucker unentwegt Schüsselchen<br />

und Zahnräder, und computer -<br />

gest<strong>eu</strong>erte Kochtöpfe ließen Risotto anbrennen.<br />

Draußen auf dem Freigelände<br />

schwirrten Selbstbau-Drohnen, bekannt<br />

als Quadrocopter, durch die Luft. Und<br />

auf der Bühne zupfte ein rostiger Roboter -<br />

koloss mit wildem Gebaren die Bass -<br />

gitarre – eine ingeniös zusammengeschweißte<br />

Ausgeburt des Schrotthandels.<br />

Die Zahlen sind noch vergleichsweise<br />

bescheiden – 80 Stände, gut 4000 Besucher.<br />

Doch zeigt sich schon ein typisches<br />

Muster: Familien mit Kindern sind auf<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

solchen Messen auffallend stark vertreten.<br />

Denn überall ruckelt, flackert und<br />

brummt es. Wer hätte gedacht, dass die<br />

braven Bastler mit ihrem Gefrickel das<br />

Z<strong>eu</strong>g zur Volksbelustigung haben?<br />

Schrauber und Heimwerker alten<br />

Schlags könnten hier freilich nicht mithalten.<br />

Wer einfach nur seine Wohnung<br />

tapeziert oder einen Gartenteich anlegt,<br />

ist kein echter Maker – es sei denn, in<br />

der Tapete steckten blinkende Lämpchen<br />

und im Teich zögen Roboterfische mit<br />

Internet anschluss ihre Kreise.<br />

Gefragt sind n<strong>eu</strong>erdings Dinge, in denen<br />

elektronischer Witz steckt. Die nötige<br />

Hardware wird zum Glück immer billiger.<br />

Für kaum 30 Euro ist der beliebte<br />

Schaltbaustein Arduino zu haben. Er ist<br />

leicht zu programmieren, und er bietet<br />

Anschlüsse für Sensoren aller Art. Das<br />

genügt etwa für eine Alarmanlage, die<br />

anschlägt, wenn die Topfpflanzen zu verdorren<br />

drohen.<br />

Fürs gleiche Geld gibt es auch schon<br />

einen kompletten Minicomputer, den<br />

Raspberry Pi. Er ist ziemlich vielseitig<br />

und nicht größer als eine Kreditkarte. Der<br />

Brite Dave Akerman zum Beispiel fotografiert<br />

damit den Heimatplaneten aus<br />

40 Kilometer Höhe. Er stöpselt eine billige<br />

Kamera an den Rechenzwerg, hängt<br />

die Gerätschaften an einen Wetterballon,<br />

und dann geht es hinauf in die Stratosphäre.<br />

Die magische Universalmaschine der<br />

Maker aber ist der 3-D-Drucker, der entfernt<br />

einer schnöden Mikrowelle ähnelt.<br />

In seinem Innern wächst Schicht für<br />

Schicht aus hauchdünn geschmolzenem<br />

Plastik fast jede wünschbare Form heran.


Schlichte Drucker aus Hongkong gibt es<br />

bereits für weniger als 400 Euro.<br />

Andreas Wand von der hannoverschen<br />

3D Printergroup hat sich für seinen selbstkonstruierten<br />

Quadrocopter fast alle Teile<br />

ausgedruckt, die Füße gleich 20fach auf<br />

Vorrat, weil es mit den weichen Landungen<br />

nicht so klappt. „Wer will“, sagt er,<br />

„kann sich auch einfach fertige Fliegermodelle<br />

aus dem Internet herunterladen.“<br />

Nur die Elektronik fehlt dann noch.<br />

Das Internet ist die Plattform, auf der<br />

das Basteln eine n<strong>eu</strong>e Stufe erreicht. Der<br />

Maker werkt nicht mehr abgeschieden im<br />

Keller, er steht jetzt im globalen Austausch<br />

mit seinesgleichen.<br />

Das bef<strong>eu</strong>ert nicht zuletzt den Ehrgeiz.<br />

Quadrocopter baut ja h<strong>eu</strong>te schon jeder –<br />

warum also nicht mal ein echtes Flugz<strong>eu</strong>g?<br />

Und siehe da, ein „Maker Plane“<br />

ist bereits in Arbeit. Ein Team um den<br />

kanadischen Piloten und Ingeni<strong>eu</strong>r John<br />

Nicol entwickelt eine zweisitzige Sportmaschine,<br />

einschließlich aller Instru -<br />

mente, der St<strong>eu</strong>erelektronik und der nötigen<br />

Software. Freiwillige in aller Welt<br />

sind aufgerufen, Geld und Werkstücke<br />

beizutragen. Baupläne und Vorlagen stehen<br />

hinterher, wie üblich, jedem Bastler<br />

offen. Der Jungfernflug ist für das Jahr<br />

2015 geplant.<br />

Das Netz ermöglicht Projekte, die das<br />

Pensum des einzelnen Tüftlers bei weitem<br />

übersteigen. Aber auch im echten Leben<br />

schreitet die Vergesellschaftung des Bastelns<br />

voran: In etlichen Städten gibt es<br />

bereits offene Werkstätten, die sich „Maker<br />

Spaces“ oder „FabLabs“ nennen.<br />

Hier kommen Hacker und Tüftler zusammen,<br />

um gemeinsam Schmuckschatullen<br />

zu fräsen oder einen Kurs in Platinen -<br />

löten zu absolvieren.<br />

Legendär ist die weitläufige Werkstatt<br />

Noisebridge in San Francisco, früher eine<br />

Näherei, jetzt ein gerümpeliges Paradies<br />

für Bastler. Es gibt eine Bandsäge und<br />

mächtige Laserschneidemaschinen, dazu<br />

Oszilloskope und ein gestrandetes EEG-<br />

Messgerät, falls mal wer eine Idee dafür<br />

hätte. Jeder kann hier sein Ding machen.<br />

In <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> zeigen sich erste Blüten<br />

der Subkultur: ein „Eigenbaukombinat“<br />

in Halle an der Saale, eine „Dingfabrik“<br />

in Köln, eine Handvoll „FabLabs“ in<br />

München, Erlangen oder Aachen. Auch<br />

das hergebrachte Heimwerken findet hier<br />

seinen Platz – sofern es technischen Pfiff<br />

hat (Weihnachtssterne aus dem Laser-Cutter)<br />

oder originelle Materialien nutzt<br />

(Schmuck aus Elektronikabfall).<br />

Die verbreitete Vorliebe der Maker für<br />

Billiges, für Ausschuss und Recycling ist<br />

auch eine Antwort auf das Diktat der Warenwelt.<br />

Was andere wegwerfen, erweckt<br />

der Maker zu überraschendem Leben.<br />

Was für eine Funktion bestimmt ist, funktioniert<br />

er um.<br />

Eine gewisse Respektlosigkeit gegenüber<br />

dem Ding ist sein stärkster Antrieb.<br />

Der Konsument zum Beispiel sieht nur<br />

einen Sessel und ein Laubgebläse; vorm<br />

inneren Auge des Makers aber hebt sich<br />

ein Luftkissenfahrz<strong>eu</strong>g vom Boden.<br />

Auf der Maker Faire in Hannover<br />

schwebte so ein Sessel mit Getöse übers<br />

Gelände. Sieben Schüler haben das famose<br />

Gefährt in den Ferien zusammengebaut<br />

– eine abent<strong>eu</strong>erliche Art des Lernens,<br />

die auch dem regulären Unterricht<br />

guttäte, findet der Pädagoge Berthold<br />

FOTOS: STEFAN THOMAS KROEGER / DER SPIEGEL<br />

Sommer vom Berufskolleg Rheine. In der<br />

Werkstatt dieser rührigen Berufsschule<br />

ist der Sessel entstanden – so wie zuvor<br />

schon ein Liegedreirad mit frei aufgehängtem<br />

Sitz, das die Piloten durch Gewichtsverlagerung<br />

st<strong>eu</strong>ern. Als Nächstes wollten<br />

die Schüler eine Art motorisiertes Skateboard<br />

bauen, sagt Sommer, „faltbar auf<br />

Aktentaschenformat“.<br />

In den USA hat die Bewegung ihren<br />

ersten Kinderstar hervorgebracht: Die<br />

zwölfjährige Sylvia Todd macht Bastelfilme<br />

für YouTube. Ihre Serie „Sylvia’s Super-Awesome<br />

Maker Show“ verzeichnet<br />

mehr als anderthalb Millionen Klicks. Das<br />

Mädchen führt da mit großem Elan vor,<br />

wie man giftig l<strong>eu</strong>chtende Glibbermasse<br />

aus Polymeren anrührt oder einen Kettenanhänger<br />

lötet, der dank eines Pulssensors<br />

im Takt des Herzschlags blinkt.<br />

Als Sylvia fünf war, nahm ihr Vater sie<br />

mit auf eine der ersten Maker Faires. Seither<br />

ist das Kind dem Werken verfallen.<br />

Für eine n<strong>eu</strong>e Produktidee sucht Sylvia<br />

Todd gerade Investoren auf dem Web -<br />

portal Kickstarter. Sie will einen Bausatz<br />

für einen Roboter vertreiben, der Vor -<br />

lagen aus dem Computer mit Wasser -<br />

farben auf Papier pinselt. US-Präsident<br />

Barack Obama höchstselbst ließ sich einen<br />

Prototyp von ihr vorführen. Der<br />

Roboter malte ihm ein Aquarell des Weißen<br />

Hauses.<br />

Bei all der Bastelfr<strong>eu</strong>de gilt: Der Gebrauchswert<br />

ist ein schöner Nebeneffekt,<br />

aber es kommt nicht darauf an. Umso<br />

wunderlicher, was manche Visionäre in<br />

der Schrauberbewegung zu erkennen<br />

glauben. Von der „n<strong>eu</strong>en industriellen<br />

Revolution“ spricht der amerikanische<br />

Bestsellerautor Chris Anderson in seinem<br />

Buch „Makers“: Bald würden die L<strong>eu</strong>te<br />

nahezu alles, was sie brauchen, im heimischen<br />

3-D-Drucker herstellen.<br />

Bislang sieht es noch nicht danach aus.<br />

Auch die Maker von der 3D Printergroup<br />

in Hannover sind eher skeptisch. „Da werden<br />

überhöhte Erwartungen geweckt“,<br />

sagt Hobbydrucker Uwe Schmidt.<br />

Wer auf Online-Plattformen wie etwa<br />

Thingiverse.com nach digitalen Druckvorlagen<br />

stöbert, findet keine Bürolocher<br />

oder Ersatztrommeln für die Waschmaschine.<br />

So etwas können 3-D-Drucker<br />

noch lange nicht; das Material hält den<br />

Anforderungen nicht stand. Stattdessen:<br />

Drachenköpfe, Handyschalen, Armreife.<br />

Die Maker sind schon froh, wenn gelegentlich<br />

der Batteriedeckel der Fernbedienung<br />

kaputtgeht oder die Tochter sich<br />

einen Hockeyschläger für die Barbie-Puppe<br />

wünscht – das sind dann mal seriöse<br />

Aufträge.<br />

Aber sonst? Vasen, Teelichthalter,<br />

Zahnräder. Macht Spaß, braucht keiner.<br />

Die Bastler selbst, sagt Uwe Schmidt, hätten<br />

für ihre Werke einen Gattungsbegriff:<br />

„Sachen, die herumstehen“.<br />

MANFRED DWORSCHAK<br />

DER SPIEGEL 33/2013 131


Jungmediziner in Hannover: Das Kind verdreht die Augen, schreit vor Schmerzen<br />

PICTURE-ALLIANCE / DPA<br />

KRANKENHÄUSER<br />

Todesspritze<br />

vom Azubi<br />

Ein Medizinstudent bringt<br />

versehentlich einen<br />

Säugling um. Trifft seine<br />

Ausbilder in der<br />

Klinik eine Mitschuld?<br />

Am Morgen des 22. August 2011 bekommt<br />

der kleine Skerdilaid eine<br />

Spritze, die er nicht verträgt. Der<br />

zehn Monate alte Säugling, der im Evangelischen<br />

Krankenhaus in Bielefeld wegen<br />

L<strong>eu</strong>kämie behandelt wird, verdreht<br />

um 8.47 Uhr die Augen, schreit vor<br />

Schmerzen und hat plötzlich blaue Flecken<br />

an den Beinen.<br />

Die Ärzte versuchen, den Jungen zu<br />

retten. Doch gegen 11.15 Uhr sind Skerdilaids<br />

Pupillen laut Arztbericht „weit und<br />

lichtstarr“, etwas später werden die Eltern<br />

dazugebeten, um Abschied zu nehmen.<br />

Um 12.28 Uhr stirbt ihr Sohn an<br />

den Folgen eines allergischen Schocks.<br />

Der Schuldige scheint schnell gefunden:<br />

ein Student aus Münster, der gerade sein<br />

Praktisches Jahr (PJ) – den letzten Stu -<br />

dienabschnitt – an der Klinik absolviert.<br />

Der damals 29 Jahre alte Mediziner hatte<br />

die verhängnisvolle Spritze verabreicht.<br />

Er hätte das milchige Medikament nicht<br />

in Skerdilaids Venenkatheter injizieren<br />

dürfen, sondern es ihm nach und nach in<br />

den Mund träufeln müssen. „Ein Blackout“,<br />

sagt Chefarzt Johannes Otte, „ein<br />

Fehler, der nicht hätte passieren dürfen.“<br />

Doch trifft den Studenten wirklich die<br />

alleinige Schuld? Er wurde zwar in erster<br />

Instanz wegen fahrlässiger Tötung zu ei-<br />

132<br />

ner Geldstrafe von 120 Tagessätzen verurteilt.<br />

Doch im derzeit laufenden Berufungsprozess<br />

am Landgericht Bielefeld,<br />

der in dieser Woche mit einer milderen<br />

Strafe für den Jungmediziner zu Ende gehen<br />

dürfte, wird eines immer d<strong>eu</strong>tlicher:<br />

wie schlecht manche PJler hierzulande<br />

angeleitet und kontrolliert werden.<br />

„Viele Ärzte haben unter einem zunehmenden<br />

Kosten- und Effizienzdruck nicht<br />

mehr die Zeit, sich intensiv um die PJler<br />

zu kümmern“, sagt Bernhard Marschall.<br />

Der Studiendekan der medizinischen Fakultät<br />

Münster, der im Prozess als Sachverständiger<br />

auftrat, wirft dem Bielefelder<br />

Krankenhaus Organisationsmängel<br />

vor. Der Student aus Münster sei am<br />

22. August erst seit wenigen Tagen auf<br />

dieser Station gewesen und wohl unzureichend<br />

instruiert worden.<br />

„Es wurde uns während der Aus -<br />

bildung sehr viel Verantwortung über -<br />

tragen“, bilanzierte ein Ex-Kommilitone<br />

und ehemaliger PJler, der ebenfalls als<br />

Z<strong>eu</strong>ge gehört wurde. Nachfragen seien<br />

eher unerwünscht gewesen, außerdem<br />

habe bei der Arbeit oft die Maxime gegolten:<br />

learning by doing.<br />

Klar ist, dass der münstersche Medizinstudent<br />

falsche Schlüsse zog, als er dem<br />

krebskranken Skerdilaid Blut abnahm<br />

und eine Schwester die verhängnisvolle<br />

Spritze auf den Nachttisch legte. Ihm kam<br />

nicht in den Sinn, das Medikament oral<br />

zu verabreichen. Stattdessen reimte er<br />

sich zurecht, dass der Inhalt durch den<br />

Venenkatheter zu injizieren sei. Schließlich<br />

hatte die Spritze keine Nadel und<br />

passte genau in die Öffnung des Katheters.<br />

In Fachkreisen sei diese Verwechslungsgefahr<br />

schon lange gefürchtet, schreibt<br />

der Münchner Kinderarzt Reinhard Roos,<br />

ein von der Verteidigung bestellter Gutachter.<br />

Gerade in einem Lehrkrankenhaus<br />

müsse auf Risiken aufmerksam gemacht<br />

werden.<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

Zu den Hauptaufgaben der PJler zählt<br />

es in manchen Häusern, Medikamente zu<br />

geben. Offenbar fühlen sich aber längst<br />

nicht alle sicher dabei: Laut einer Umfrage<br />

der Universität Magdeburg würden<br />

Medizinstudenten gern mehr darüber<br />

wissen, wie sich Behandlungsfehler vermeiden<br />

lassen.<br />

Eine Befragung von etwa 300 Medizinstudenten<br />

in Münster ergab, dass viele<br />

von ihnen Medikamente ohne das nötige<br />

Wissen um Nebenwirkungen und Risiken<br />

verabreichen. Etwa 80 Prozent der befragten<br />

PJler handelten nach eigenen Angaben<br />

ohne Aufsicht, wenn sie Arzneien<br />

verabreichten. Werden bestimmte Mittel<br />

jedoch zu schnell mit einer Spritze injiziert,<br />

kann der Patient einen Herzstillstand<br />

erleiden.<br />

Die Ausbilder scheinen den jungen<br />

Mitarbeitern noch weit mehr zuzutrauen,<br />

als Spritzen zu setzen und Blut abzu -<br />

nehmen. Etwa 50 Prozent der in Münster<br />

befragten Studenten berichteten, dass<br />

ihre Befunde während der Trainings -<br />

phasen im Krankenhaus nur selten überprüft<br />

würden.<br />

Selbst Eingangsbefragungen, sogenannte<br />

Anamnesen, würden regelmäßig vollständig<br />

von den PJlern übernommen, berichtet<br />

Studiendekan Marschall. Dabei<br />

handle es sich hier um „originäre ärztliche<br />

Aufgaben“ – schließlich würden auf ihrer<br />

Grundlage auch Therapien beschlossen.<br />

Wie viele schwerwiegende Pannen den<br />

Nachwuchsärzten passieren, weist die Behandlungsfehlerstatistik<br />

der Bundesärztekammer<br />

nicht gesondert aus. Der Fall des<br />

kleinen Skerdilaid wurde durch einen an -<br />

onymen Brief bekannt, der nach dem tödlichen<br />

Vorfall an verschiedene Medien geschickt<br />

wurde. Die Eltern des Jungen sind<br />

bis h<strong>eu</strong>te in psychotherap<strong>eu</strong>tischer Behandlung.<br />

Gegenüber Ermittlern sagte die<br />

Mutter, sie verstehe nicht, dass ein krebskrankes<br />

Kind einem Praktikanten anvertraut<br />

worden sei. GUIDO KLEINHUBBERT


Trends<br />

Medien<br />

ZDF<br />

Flucht als Event<br />

Die ZDF-Sendung „Auf der Flucht“, in<br />

der Prominente Flüchtlingsschicksale<br />

simulieren, stößt auf Kritik bei Hilfsverbänden.<br />

In der Doku-Soap reisen<br />

unter anderem das Model Mirja du<br />

Mont und der ehemalige Böhse-Onkelz-<br />

Sänger Stephan Weidner in Teams<br />

nach Eritrea oder in den Irak. Sie sollen,<br />

so die Sendereigenwerbung, „am<br />

eigenen Leib“ erfahren, „was es heißt,<br />

auf der Flucht zu sein“. Pro Asyl kritisiert<br />

nun das am vergangenen Donnerstag<br />

auf ZDFneo zum ersten Mal ausgestrahlte<br />

Format. Es sei „in erster Linie<br />

darauf ausgerichtet, aus der Flucht ein<br />

Event zu machen“. Es stehe „ganz klar<br />

das Abent<strong>eu</strong>er im Vordergrund und<br />

nicht die Information“, so eine Vereinssprecherin. Den Teilnehmern<br />

sei zudem „gar nicht wirklich bewusst, auf was sie<br />

sich da eingelassen haben“, heißt es weiter. „Es wird als ein<br />

Erlebnis wahrgenommen und auch als solches verkauft.“<br />

Auch das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen<br />

UNHCR, das die Macher vor der Sendung beraten hat, findet<br />

Du Mont (l.)<br />

das Format und die Umsetzung „fragwürdig“. Inhaltlich<br />

sei jedoch alles korrekt, so ein UNHCR-Sprecher. Zudem<br />

hat sich nach der Ausstrahlung im Internet eine Protest -<br />

bewegung gebildet. Sie fordert die „sofortige Absetzung“,<br />

eine entsprechende Online-Petition fand bereits mehrere<br />

tausend Unterstützer.<br />

JONAS DRESS / ZDF<br />

PARLAMENTSFERNSEHEN<br />

Bundestag<br />

sendet schwarz<br />

Der D<strong>eu</strong>tsche Bundestag verstößt mit<br />

seinem Parlamentsfernsehen gegen medienrechtliche<br />

Vorgaben. Zwei Kanäle<br />

werden von der Volksvertretung verbreitet:<br />

Kanal 1 wird über Satellit und<br />

das Berliner Kabelnetz ausgestrahlt,<br />

der zweite Sender kann ausschließlich<br />

über das Internet empfangen werden –<br />

und enthält auch redaktionelles Programm.<br />

Deshalb braucht der Bundestag<br />

hierfür eine Fernsehlizenz. Die würde<br />

er allerdings nicht bekommen, denn<br />

st<strong>eu</strong>erfinanzierte Sender sind<br />

in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> nicht vorgesehen.<br />

Den D<strong>eu</strong>tschen Bundestag<br />

kümmern solche gesetz -<br />

lichen Vorgaben bisher wenig.<br />

Der Kanal 2 sei nicht im TV<br />

verfügbar, heißt es in einer<br />

Stellungnahme. Wenn keine<br />

Ausschusssitzungen über -<br />

tragen würden, liefen zudem<br />

„in einem Loop Videos aus<br />

der Internet-Mediathek“.<br />

Doch ob die Filme nun aus<br />

einer Mediathek oder anderswoher<br />

kommen, spielt bei<br />

der Bewertung der Rechtmäßigkeit<br />

keine Rolle, sie dürfen nicht im Rahmen<br />

von Livestreams gesendet werden.<br />

„Wir haben mit dem Bundestag Gespräche<br />

aufgenommen“, sagt Jürgen<br />

Brautmeier, derzeit Vorsitzender der<br />

Direktorenkonferenz der Landes -<br />

medienanstalten. Nun sollen redaktionelle<br />

Elemente wie etwa Magazin -<br />

beiträge auf Abrufangebote umgestellt<br />

werden. „Dann ist es medienrechtlich<br />

unbedenklich“, sagt Brautmeier. Im<br />

Jahr 2012 produzierte der Bundestag<br />

768 Stunden Programm, 505 Stunden<br />

waren Übertragungen von Plenarsitzungen.<br />

Wie viele L<strong>eu</strong>te das Programm<br />

wirklich verfolgen, kann der Bundestag<br />

nicht sagen: Die Zuschauerzahl über<br />

Kabel und Satellit wird nicht gemessen.<br />

Bundestagsdebatte<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

MICHAEL KAPPELER / DPA<br />

ARD<br />

Foodwatch will<br />

Kanzler-Talk stoppen<br />

Die Verbraucherschutzorganisation<br />

Foodwatch versucht per Anzeige beim<br />

Rundfunkrat, die Ausstrahlung zweier<br />

Talkshows mit Kanzlerin Angela<br />

Merkel und deren Herausforderer Peer<br />

Steinbrück bei Phoenix und im <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong>funk<br />

zu verhindern. Die Gespräche<br />

in der Reihe „Forum Politik“ werden<br />

aus der Hauptstadt repräsentanz<br />

der D<strong>eu</strong>tschen Bank gesendet. Foodwatch<br />

sieht darin ein Sponsoring<br />

von Sendungen zur politischen Information,<br />

das der Rundfunkstaatsvertrag<br />

verbietet. „Wir wollen ein Zeichen<br />

setzen gegen demokratieschädliches<br />

Lobbying“, sagt Foodwatch-Chef<br />

Thilo Bode. Eine Phoenix-Sprecherin<br />

wies die Kritik zurück. Ein Sendungssponsoring<br />

im Sinne des Rundfunkstaatsvertrags<br />

liege nicht vor. Um dem<br />

„Anschein unzulässiger Unterstützung<br />

durch Dritte entgegenzuwirken“,<br />

werden die Sender jedoch sicherstellen,<br />

dass das Logo der Bank nicht gezeigt<br />

wird. Zudem lassen sie sich die<br />

Bewirtung nun nicht mehr wie geplant<br />

von der D<strong>eu</strong>tschen Bank bezahlen.<br />

133


Präsident Putin, Chefredakt<strong>eu</strong>rin Simonjan im Studio von Russia Today in Moskau: „Monopol der angelsächsischen Medien brechen“<br />

AFP<br />

TV-KANÄLE<br />

Krieg der Bilder<br />

Mit dem Auslandssender Russia Today hat Kreml-Chef Wladimir Putin<br />

fürs westliche Publikum ein Anti-CNN geschaffen.<br />

Das Rezept: Stimmungsmache, Sex-Appeal und viel Geld.<br />

134<br />

Das politische Abendprogramm<br />

startet gern mit einer Mischung<br />

aus Amoklauf und Boulevard.<br />

Abby Martin, amerikanische Moderatorin<br />

im Dienste des Kreml, hat den Mund<br />

leicht geöffnet und trägt erst einmal roten<br />

Lippenstift auf, der zu ihrem schwarzen<br />

Top, den High Heels und dem Tattoo am<br />

Fußgelenk passt. Dann holt sie mit einem<br />

Vorschlaghammer aus und zertrümmert<br />

einen Fernseher, auf dem gerade CNN<br />

läuft, das amerikanische Vor- und Feindbild<br />

ihres Arbeitgebers, des russischen<br />

Auslandsfernsehsenders Russia Today.<br />

Dieser Vorspann der Sendung soll wohl<br />

vor allem illustrieren: Russland ist offensiv,<br />

aufklärerisch und sieht auch noch gut<br />

aus dabei.<br />

Die Regie wirft ein Foto von Edward<br />

Snowden an die Studiowand, dem<br />

Whistle blower, den die USA jagen. Es<br />

folgt ein Bericht über das Lager Guantanamo,<br />

das Amerika in Verruf gebracht<br />

hat. Die Vorlagen, die Amerika seinen<br />

Gegnern liefert, verwertet Russia Today<br />

gern und ausdauernd. Auch Washingtons<br />

kleinere Sünden bleiben nicht unbemerkt.<br />

So schafft es auch ein Mann<br />

namens Ali Bongo Ondimba in die<br />

Sendung, Gabuns Diktator, der von Barack<br />

Obama unterstützt wird.<br />

Kritik an der selbst -<br />

ernannten Weltmacht<br />

Nummer eins, das wollen<br />

auch im Westen viele<br />

Menschen sehen. In US-<br />

Großstädten wie San Francisco,<br />

Chicago und New<br />

York ist Russia Today<br />

mittlerweile erfolgreicher<br />

als jeder andere Auslandssender.<br />

In Washington<br />

schauen 13-mal so<br />

viele Menschen das Programm<br />

der Russen wie<br />

das der D<strong>eu</strong>tschen Welle.<br />

Zwei Millionen Briten<br />

gucken regelmäßig den<br />

Kreml-Kanal. Vor allem<br />

im Netz ist kein Konkurrent<br />

erfolgreicher. Im<br />

Juni durchbrach Russia<br />

DER SPIEGEL 33/2013<br />

Talkmaster King<br />

In illustrer Gesellschaft<br />

Today bei YouTube die Schallmauer von<br />

einer Milliarde Video-Abrufen – als erste<br />

TV-Station überhaupt.<br />

Noch größer ist der Triumph, den eine<br />

Legende des amerikanischen TV-Jour -<br />

nalismus dem Sender bescherte.<br />

Seit diesem Sommer<br />

arbeitet auch Larry<br />

King für Russia Today.<br />

King war vorher 25 Jahre<br />

lang das Gesicht von<br />

CNN. Seine Hosenträger<br />

sind noch markanter als<br />

Abby Martins Lippen-Bekenntnisse.<br />

„Der Doyen<br />

der amerikanischen Talkshows<br />

läuft zu den Russen<br />

über“, schrieb die<br />

Londoner „Times“.<br />

Der Auftrag an King<br />

und seine n<strong>eu</strong>en Kollegen<br />

ist schlicht: Sie sollen<br />

GETTY IMAGES<br />

„das Monopol der angelsächsischen<br />

Massenmedien<br />

brechen“, sagte Präsident<br />

Wladimir Putin


Medien<br />

Nachrichtenmoderatorin Martin: Smarter war Propaganda selten<br />

vor einigen Wochen bei einem Studio -<br />

besuch. Das Erfolgsrezept der Russen hat<br />

drei Zutaten: der für einen Nachrichtenkanal<br />

bisher untypische Einsatz von Sex-<br />

Appeal, ein stramm antiamerikanischer<br />

Kurs und ein nie versiegender Geldstrom<br />

aus dem Kreml.<br />

Seit 2005 hat Russlands Regierung das<br />

jährliche Budget des Kanals von 30 Millionen<br />

auf über 300 Millionen Dollar verzehnfacht.<br />

Damit bezahlt Russia Today<br />

2500 Mitarbeiter und Helfer weltweit, 100<br />

davon allein in Washington. Etatkürzungen<br />

muss der Kanal nicht fürchten: Putin<br />

hat sie seinem Finanzminister per Dekret<br />

verboten.<br />

Die Moskauer Führung sieht ihr Geld<br />

„gut investiert“, sagt Natalja Timakowa,<br />

die Sprecherin von Premierminister Dmitrij<br />

Medwedew. „Russia Today ist überdies<br />

– die D<strong>eu</strong>tschen mögen mir diese Bemerkung<br />

verzeihen – um einiges moderner<br />

als beispielsweise die D<strong>eu</strong>tsche Welle,<br />

hat aber auch mehr Geld.“<br />

Viel Geld hat die Regierung auch in<br />

die n<strong>eu</strong>e Sendezentrale im Nordosten der<br />

Hauptstadt gesteckt, die Russia Today im<br />

Mai bezogen hat. Wie viele Millionen genau,<br />

das mag der Sender nicht sagen, man<br />

habe sich zu Vertraulichkeit verpflichtet.<br />

Auf dem Areal einer ehemaligen sowje -<br />

tischen Teefabrik entstehen neben dem<br />

englischen Dienst nun Sendungen auf<br />

Arabisch und Spanisch. Die Abendnachrichten<br />

drehen sich um die Krise des Euro,<br />

Sozialproteste in Portugal und den NSA-<br />

Überwachungsskandal. Der Sender versteht<br />

sich als Vorkämpfer einer westkritischen,<br />

globalen Gegenöffentlichkeit.<br />

Russia Today soll wie ein Verstärker für<br />

die Selbstzweifel von Europäern und Ame -<br />

rikanern wirken, die sich derzeit fragen<br />

müssen, ob ihre Staaten womöglich ähnlich<br />

korrupt und von Geheimdiensten unterwandert<br />

sind wie Russland und China.<br />

Smarter war Propaganda jedenfalls selten.<br />

Der Altersdurchschnitt der russischen<br />

Redakt<strong>eu</strong>re liegt unter 30 Jahren, fast jeder<br />

spricht fließend Englisch. Nachrichtensendungen<br />

motzt die Regie schon mal<br />

auf mit Spezialeffekten wie aus Hollywood.<br />

Dem Moderator scheint dann ein<br />

vom Computer animierter Panzer fast<br />

über die Füße zu rollen. Israelische Kampfflugz<strong>eu</strong>ge<br />

drehen virtuell eine Runde<br />

durchs Studio, bevor sie ihre Bomben<br />

über einer syrischen Landkarte abwerfen.<br />

Die optische Aufrüstung hat Methode.<br />

Der Sender sieht sich als mediales Verteidigungsministerium<br />

des Kreml.<br />

Die Frau, die Russia Today zur schärfsten<br />

Waffe Russlands im Kampf um die<br />

Meinung der Weltöffentlichkeit geformt<br />

hat, sitzt im siebten Stock der Moskauer<br />

Zentrale. Im Büro von Chefredakt<strong>eu</strong>rin<br />

Margarita Simonjan flimmert ein Dutzend<br />

Bildschirme. Auf ihrem Schreibtisch<br />

stehen orthodoxe Ikonen. Putin hat Simonjan<br />

2005 zur Chefin des n<strong>eu</strong>en Senders<br />

gemacht. Damals war sie 25 Jahre<br />

alt und wurde belächelt als unbekannte<br />

Reporterin aus dem Journalistentross, der<br />

den Kreml-Herrn bei Terminen begleitet.<br />

Simonjan soll verhindern, dass Russland<br />

noch einmal einen Krieg der Bilder<br />

verliert wie im August 2008. Damals rückten<br />

Moskaus Panzer in den Südkaukasus<br />

vor, bis kurz vor Tiflis, die Hauptstadt<br />

des kleinen Georgien. Auf allen Kanälen<br />

verdammte der junge Staatschef Micheil<br />

Saakaschwili – eloquent und in Amerika<br />

ausgebildet – Russland als Aggressor. Dabei<br />

hatte er selbst den Krieg provoziert<br />

und als Erster den Befehl zum Sturm auf<br />

die mit Russland verbündete Separatisten -<br />

republik Südossetien gegeben.<br />

CNN zeigte Bilder zerstörter Häuser,<br />

angeblich aufgenommen nach einem russischen<br />

Bombenangriff auf die georgische<br />

Provinzstadt Gori. In Wahrheit, so Russia<br />

Today, seien es Aufnahmen der Separatistenhauptstadt<br />

Zchinwali nach einem<br />

Angriff der Georgier gewesen. „Objektivität<br />

gibt es nicht“, sagt Simonjan h<strong>eu</strong>te<br />

nüchtern, „nur Annäherungen an die<br />

Wahrheit durch möglichst viele unterschiedliche<br />

Stimmen.“<br />

Auch in den USA ist das Misstrauen in<br />

die eigenen Medien so groß wie nie zuvor.<br />

CNN kämpft gegen einen massiven Zuschauerschwund.<br />

Und manchmal macht die<br />

US-Politik den Russen ihre Angriffe auch<br />

einfach: Als Boliviens Präsident Evo Morales<br />

in Wien zur Landung gezwungen wurde,<br />

weil US-Geheimdienste Snowden an<br />

Bord seiner Maschine vermuteten, sprach<br />

Abby Martin aus, was viele denken: „Wer,<br />

zum T<strong>eu</strong>fel, glaubt Obama, dass er ist?“<br />

Doch zugleich setzt Russia Today auf<br />

ein wüstes Gemisch von Verschwörungstheorien<br />

und plumper Stimmungsmache.<br />

In der Sendung „The Truthseeker“ mutiert<br />

das Attentat auf den Boston-Marathon,<br />

bei dem im April zwei Tschetschenen<br />

drei Menschen mit Bomben töteten,<br />

zu einem Komplott der US-Behörden.<br />

Berlin-Korrespondent Peter Oliver bezichtigt<br />

absurderweise das ZDF der Bestechung.<br />

Der Sender habe Intellektuellen<br />

Geld gezahlt, damit sie fr<strong>eu</strong>ndliche<br />

Worte für die Anti-Putin-Gruppe Pussy<br />

Riot fänden. Als Kronz<strong>eu</strong>gen befragt er<br />

den Chefredakt<strong>eu</strong>r von „Zuerst!“, einem<br />

Blättchen d<strong>eu</strong>tscher Rechtsextremer.<br />

Das ist die Gesellschaft, in die sich auch<br />

die Talk-Legende Larry King begeben hat.<br />

Im Jahr 2000 hat er das erste große Gespräch<br />

im westlichen Fernsehen mit Wladimir<br />

Putin geführt. Seitdem schwärmt<br />

der Talkmaster vom Charisma des Russen:<br />

Putin habe Qualitäten, „die einen<br />

Raum ändern, einen Magnetismus“.<br />

Kings n<strong>eu</strong>e Show läuft seit Juni bei Russia<br />

Today. New Yorks ehemaliger Bürgermeister<br />

Rudy Giuliani war schon zu Gast<br />

und Ex-Senator Joe Lieberman, beides<br />

Männer, die sonst nie einen Fuß in ein<br />

russisches Studio setzen würden.<br />

Abby Martin, die Frau mit dem Hammer,<br />

hatte ihren n<strong>eu</strong>en Kollegen King<br />

kürzlich in ihrer eigenen Show zu Gast.<br />

Ob er CNN nicht auch für hoffnungslos<br />

parteiisch halte, wollte sie wissen. Nein,<br />

sagte King, das sehe er nicht so. Dann<br />

regte er sich über Journalisten wie Martin<br />

auf, die Gäste benutzten als „Requisite<br />

für die eigene Meinung“. Dass er genau<br />

das in Putins Sender nun selbst ist, eine<br />

Requisite und eine Trophäe, das hat der<br />

große Larry King möglicherweise noch<br />

nicht begriffen.<br />

BENJAMIN BIDDER<br />

DER SPIEGEL 33/2013 135


Szene<br />

Sport<br />

SURFEN<br />

Exot aus Germany<br />

Die Atlantikküste Frankreichs ist das beliebteste<br />

Reiseziel für d<strong>eu</strong>tsche Surftouristen.<br />

Vor allem in den Monaten Juli und August<br />

zieht es sie zu Tausenden an die Strände von<br />

Biarritz, Hossegor oder Lacanau. Den Traum<br />

vom perfekten Brecher können sich die<br />

Pilger in der Regel aber abschminken. Im<br />

Sommer herrschen an den <strong>eu</strong>ropäischen Küsten<br />

wegen des vergleichbar ruhigen Wetters<br />

auf der Nordhalbkugel die schlechtesten Wellenbedingungen.<br />

Surfer, die sich auskennen,<br />

reisen in dieser Zeit nach Indonesien oder<br />

Südafrika. Oder, wie der d<strong>eu</strong>tsche Profi<br />

Nicolau von Rupp, der in der Nähe von Lissabon<br />

lebt, an die Pazifikküste Mexikos. In<br />

Pascuales, einem Revier in der Nähe der<br />

Stadt Manzanillo, startete der 23-Jährige<br />

beim Pawa Tube Festival. Einige der besten<br />

Hardcore-Surfer der Welt hatten sich zu dem<br />

Wettkampf versammelt. Am Ende gewann<br />

der Exot aus Germany, der die Jury mit atemberaubenden<br />

Ritten überz<strong>eu</strong>gte. 7000 Dollar<br />

kassierte Rupp für den Sieg, von Experten<br />

wird er nun als Surfer einer „n<strong>eu</strong>en Gene -<br />

ration“ gefeiert. Ab September wird Rupp<br />

sein Können wieder an den Küsten Portugals<br />

zur Schau stellen. Dann beginnt in Europa<br />

die Wellensaison.<br />

Surfprofi Rupp in Mexiko<br />

Rupp bei der Siegerehrung<br />

PAWA<br />

PAWA<br />

RADSPORT<br />

Rasierte Waden<br />

Schwimmer gleiten schneller durchs<br />

Wasser, wenn sie am ganzen Körper<br />

rasiert sind, das hat eine Untersuchung<br />

der Ruhr-Universität Bochum erwiesen.<br />

Radprofis rasieren sich Arme und<br />

Beine, weil Massageöl leichter in glatte<br />

Haut einzieht und nach einem Sturz<br />

die Wunde besser zu reinigen ist. Bei<br />

den Jedermann-Rennen, wie etwa<br />

Ende August in Hamburg, eifern viele<br />

Hobbyfahrer ihren Vorbildern nach<br />

und starten mit haarlosen Waden und<br />

Schenkeln – offenbar weil sie meinen,<br />

so aerodynamischer zu sein. Diverse<br />

Internetforen befassen sich mit dem<br />

Thema. Beim Radfahren werden 60 bis<br />

70 Prozent des Luftwiderstands durch<br />

Radrennfahrer in Hamburg<br />

ROTH / AUGENKLICK / PICTURE ALLIANCE / DPA<br />

den eigenen Körper verursacht, da<br />

macht es auf den ersten Blick Sinn, die<br />

Windschnittigkeit durch eine Rasur zu<br />

verbessern. Sie bringt nur so gut wie<br />

nichts. Chester Kyle, ein amerikanischer<br />

Professor für Maschinenbau, hat<br />

errechnet, dass rasierte Beine bei einem<br />

Zeitfahren über 40 Kilometer mit<br />

Tempo 37 einen aerodynamischen<br />

Vorteil von 0,6 Prozent ausmachen.<br />

Bei einer Fahrzeit von einer Stunde<br />

und fünf Minuten entspricht das einem<br />

Zeitgewinn von fünf Sekunden.<br />

Wer auf die Trinkflasche inklusive<br />

Halterung verzichten würde, wäre<br />

26 Sekunden schneller im Ziel, wer<br />

sich vorn ein Scheibenrad leisten kann,<br />

macht immerhin 66 Sekunden gut.<br />

DER SPIEGEL 33/2013 137


PICTURE ALLIANCE / DPA<br />

Einmarsch der westd<strong>eu</strong>tschen Olympiamannschaft 1972 ins Münchner Stadion, Funktionär Bach: Ist die Republik noch immer vers<strong>eu</strong>cht?<br />

KAI-UWE WÄRNER / PICTURE ALLIANCE / DPA<br />

138<br />

DER SPIEGEL 33/2013


Sport<br />

SPORTPOLITIK<br />

Weggucken, wegducken<br />

Der Aufschrei über das Dopingsystem der alten Bundesrepublik zeigt:<br />

Vielen Politikern und Funktionären fehlt das Interesse daran, die<br />

Vergangenheit aufzuklären und den Betrug von h<strong>eu</strong>te konsequent zu bekämpfen.<br />

Ein einziger Tag im September 2011<br />

hätte genügt, um im d<strong>eu</strong>tschen<br />

Sport ein Beben auszulösen. Damals<br />

präsentierten Historiker aus Berlin<br />

und Münster der Presse, was sie über den<br />

Betrug im westd<strong>eu</strong>tschen Sport erforscht<br />

hatten. Zwei Jahre lang hatten sie Archive<br />

durchforstet und Zeitz<strong>eu</strong>gen befragt, das<br />

Ergebnis war ein Bild des Schreckens: Vor<br />

der Wende existierte in der Bundesre -<br />

publik ein umfassendes Dopingsystem,<br />

betrieben von Sportärzten, gedeckt von<br />

Funktionären, gefördert vom Staat.<br />

Am selben Tag, dem 26. September,<br />

beschrieb der SPIEGEL (39/2011) auf fünf<br />

Seiten, was der damalige Zwischenbericht<br />

der Forscher im Detail enthielt. Es<br />

ging um kriminelle Energie und<br />

Cliquenwirtschaft, um medaillenhungrige<br />

Politiker, die im Kalten<br />

Krieg mit der DDR mithalten<br />

wollten, um rücksichtslose<br />

Mediziner und missbrauchte<br />

St<strong>eu</strong>ermillionen, um eine ganze<br />

Menge also, was einen Aufschrei<br />

hätte auslösen können.<br />

Es passierte: fast nichts. Die<br />

Resonanz unter Politikern, Funktionären<br />

und in der Öffentlichkeit<br />

blieb verhalten. Es überraschte<br />

wohl niemanden mehr, dass auch<br />

im Westen gedopt worden war, anders<br />

organisiert als im Osten, klüngelhafter,<br />

aber ebenfalls systematisch.<br />

Nun, im zweiten Anlauf, kommt es<br />

doch noch zu dieser Empörung. Am<br />

Samstag vor einer Woche berichtete die<br />

„Südd<strong>eu</strong>tsche Zeitung“ über die Studie;<br />

inhaltlich N<strong>eu</strong>es war darin kaum zu finden,<br />

allerdings stellte sich nun heraus,<br />

dass seit März 2012 ein rund 800 Seiten<br />

dicker Abschlussbericht der Berliner Forschergruppe<br />

existiert – ohne veröffentlicht<br />

worden zu sein. Sollte das Konvolut<br />

im Keller verstauben?<br />

Der Verdacht liegt nahe, da solle etwas<br />

vertuscht werden, weil es einigen nicht<br />

in den Kram passt. Das hat die Aufregung<br />

ebenso entfacht wie die Tatsache, dass<br />

die Studie ältere Erkenntnisse bestätigt<br />

und das Bild erweitert, strukturiert und<br />

zusammenfügt. Schon 1991, kurz nach<br />

der Wende und während der Enthüllungen<br />

um den DDR-Sport, war zum Beispiel<br />

eine Untersuchungskommission des<br />

D<strong>eu</strong>tschen Sportbundes Hinweisen auf<br />

der Spur, die stark an der Saga vom sauberen<br />

Westen kratzten.<br />

N<strong>eu</strong>e Fragen werden nun gestellt:<br />

Wenn damals so systematisch gedopt wurde,<br />

ist die Bundesrepublik immer noch<br />

vers<strong>eu</strong>cht? Wird genug dagegen unternommen?<br />

Manche bezweifeln das. So<br />

melden sich Befürworter eines d<strong>eu</strong>tschen<br />

Anti-Doping-Gesetzes wieder zu Wort,<br />

um die Gunst des Moments zu nutzen.<br />

Sie hoffen auf Gehör, denn ihr Unterfangen<br />

hat sich als mühsam erwiesen.<br />

Erkennbar ist, wie sehr es vielen Sportfunktionären<br />

und Politikern an Interesse<br />

SPIEGEL-Artikel 2011 über Doping im Westen: Kriminelle Energie<br />

fehlt, sich mit der Vergangenheit aus -<br />

einanderzusetzen. Auf die plötzliche<br />

Wucht, mit der debattiert wird, reagieren<br />

sie beschwichtigend.<br />

Das Bundesinnenministerium versucht,<br />

die Studie zu einem „bestenfalls stark<br />

überarbeitungsbedürftigen Zwischenprodukt“<br />

kleinzureden. Ähnlich bremst das<br />

Bundesinstitut für Sportwissenschaft, immerhin<br />

Auftraggeber der Historiker: Methodisch<br />

sei unsauber gearbeitet worden,<br />

so der Vorwurf. Der Sportausschuss des<br />

Bundestags fordert jetzt, näher aufgeklärt<br />

zu werden – nachdem sich seine Mitglieder<br />

lange vertrösten ließen, wenn sie<br />

mehr über die Inhalte des Berichts erfahren<br />

wollten.<br />

Und Thomas Bach, 59, Präsident des<br />

D<strong>eu</strong>tschen Olympischen Sportbundes<br />

(DOSB)? Hält sich zugute, schon als Athletensprecher<br />

gegen das Doping eingetreten<br />

zu sein, hatte einst als Fechter allerdings<br />

nie etwas davon mitbekommen.<br />

Sagt der oberste Sportwart der Nation,<br />

der doch sonst bestens vernetzt ist.<br />

Mit geringer Auskunftsfr<strong>eu</strong>de haben<br />

die Historiker bei ihrer dreijährigen Arbeit<br />

oft zu kämpfen gehabt, Archive waren<br />

schwer oder gar nicht zugänglich (siehe<br />

Interview Seite 140). Manchmal war<br />

der Widerstand grotesk. Als der SPIE-<br />

GEL (40/2011) meldete, die Forscher hätten<br />

einen Brief entdeckt, der belege, bei<br />

der Weltmeisterschaft 1966 seien bei drei<br />

Nationalspielern feine Spuren von Ephedrin<br />

gefunden worden, reagierte der<br />

D<strong>eu</strong>tsche Fußball-Bund. Doch während<br />

sich die englische Boulevardpresse über<br />

aufgeputschte d<strong>eu</strong>tsche WM-Verlierer<br />

amüsierte, verging dem DFB der Humor.<br />

Er ließ einen Juristen ein 16-seitiges<br />

Gutachten erstellen, das<br />

jeglichen Verdacht aus der Welt<br />

schaffen sollte, hierbei habe es<br />

sich um Doping gehandelt.<br />

In zwei bis drei Wochen will<br />

der Sportausschuss nun in einer<br />

Sondersitzung Fragen stellen.<br />

Innenminister Hans-Peter Friedrich<br />

hat sein Kommen zugesagt,<br />

auch Bach erhielt eine Einladung.<br />

Allerdings wird er keine Zeit<br />

haben – zu viele andere Termine.<br />

Er will am 10. September zum Präsidenten<br />

des Internationalen Olympischen Komitees<br />

(IOC) gewählt werden, es wäre der<br />

letzte Schritt auf seinem langen Weg zum<br />

mächtigsten Mann des Weltsports.<br />

Bach lässt sich zu allerlei Anlässen von<br />

der Politik hofieren, das gibt schöne Bilder.<br />

Rechenschaft gegenüber Volksvertretern<br />

mag er weniger gern ablegen. Kaum<br />

hatte die Aufregung um die Dopingstudie<br />

begonnen, da verkündete er, der DOSB<br />

werde zur Aufklärung eine unabhängige<br />

Kommission ins Leben rufen, geleitet<br />

vom ehemaligen Bundesverfassungsrichter<br />

Udo Steiner, 73. Er steht Bach nahe.<br />

Steiner hatte vor vier Jahren bereits geholfen,<br />

eine Debatte um Olympiapferde,<br />

die mit verbotenen Mitteln behandelt<br />

worden waren, geräuschlos zu beenden.<br />

Bachs Vorstoß klingt nach Tatkraft und<br />

d<strong>eu</strong>tscher Gründlichkeit, aber die Erfahrung<br />

mit solchen Kommissionen im Sport<br />

ist ernüchternd. Meist nützen sie nur je-<br />

DER SPIEGEL 33/2013 139


Sport<br />

CARSTEN SCHILKE/DER SPIEGEL<br />

„Sie blockierten unsere Arbeit“<br />

Der Historiker Erik Eggers über die Widerstände<br />

bei der Erforschung der westd<strong>eu</strong>tschen Dopingvergangenheit<br />

Eggers, 44, hat als einer von<br />

vier Wissenschaftlern an der<br />

Dopingstudie der Berliner<br />

Humboldt-Universität mitgearbeitet.<br />

Er schreibt auch<br />

als freier Journalist, unter<br />

anderem für den SPIEGEL.<br />

SPIEGEL: Herr Eggers, Sie haben für das<br />

Bundesinstitut für Sportwissenschaft<br />

(BISp) die bri sante Dopingstudie verfasst.<br />

Wie war die Zusammenarbeit mit<br />

dem Auftraggeber?<br />

Eggers: Mühsam. Wir durften nicht ohne<br />

weiteres Kopien aus den Akten ziehen,<br />

mussten alles abschreiben. Der Datenschutz,<br />

hieß es. Das hat unsere<br />

Arbeit sehr verzögert.<br />

SPIEGEL: Fühlten Sie sich<br />

schikaniert?<br />

Eggers: Uns wurde auch gesagt,<br />

wenn wir Kopien<br />

machten, sei alles in der<br />

Welt. Da kann ich nur sagen:<br />

Ja natürlich, das ist gerade<br />

das Ziel von Historikern,<br />

Transparenz zu schaffen.<br />

SPIEGEL: Damit gerieten Sie<br />

in Konflikt mit dem BISp?<br />

Eggers: Die großen Schwierigkeiten<br />

begannen, als wir<br />

2011 herausfanden und berichteten,<br />

dass das BISp<br />

eine Schaltzentrale der<br />

Dopingforschung war – und<br />

dass sich der damalige stellvertretende<br />

BISp-Direktor<br />

1977 für einen Einsatz von<br />

Anabolika eingesetzt hatte.<br />

Das hatte die h<strong>eu</strong>tige BISp-<br />

Führung wohl nicht erwartet.<br />

Die war regelrecht geschockt.<br />

SPIEGEL: Angeblich sollen wichtige BISp-<br />

Akten vernichtet worden sein.<br />

Eggers: Die Originalakten fast aller Forschungsvorhaben<br />

bis 1988 sind weg. Es<br />

gibt beim BISp auch keinen Hinweis,<br />

wo sie gelagert sein könnten. Uns wurde<br />

gesagt, sie seien ausgesondert. Für uns<br />

Historiker heißt das: Sie wurden geschreddert.<br />

Wir hatten Glück, dass wenigstens<br />

Kopien dopingrelevanter Akten<br />

aus 1991 vorhanden waren, die uns<br />

wichtige Einblicke in die Zeit vor 1989<br />

verschafften.<br />

SPIEGEL: Wollte das Institut etwas ver -<br />

tuschen? Das BISp behauptet, Sie hätten<br />

alle Unterlagen einsehen dürfen.<br />

Eggers: Es existiert dort noch eine Liste<br />

über alle Forschungsvorhaben der drei<br />

großen sportmedizinischen Zentren<br />

Freiburg, Köln und Saarbrücken. Ohne<br />

die Akten lässt sich aber nicht mehr<br />

nachvollziehen, ob unter diesen Arbeiten<br />

weitere Dopingstudien waren.<br />

SPIEGEL: Sie haben drei Jahre lang an Ihrem<br />

Bericht gearbeitet. Nahm das BISp<br />

auf Ihre Darstellung Einfluss?<br />

Eggers: Sie haben es zumindest versucht.<br />

Wir mussten um viele Formulierungen<br />

in unseren Berichten kämpfen.<br />

WM-Finale England– <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> 1966*: „Spuren von Ephedrin“<br />

SPIEGEL: Um was ging es?<br />

Eggers: Das BISp wollte anfangs tatsächlich<br />

durchsetzen, dass wir weder Namen<br />

noch Sportarten nennen. Dass dann ein<br />

solches Projekt sinnlos ist, wollte nicht<br />

in deren Köpfe. Sie blockierten unsere<br />

Arbeit. Und es wurden Fakten, die für<br />

das BISp bis h<strong>eu</strong>te unangenehm sind,<br />

angezweifelt. Zum Beispiel hatten wir<br />

herausgefunden, dass der Freiburger<br />

* Mit den Spielern Uwe Seeler und Bobby Moore<br />

sowie Schiedsrichter Gottfried Dienst (M.).<br />

Professor Joseph K<strong>eu</strong>l das Geld für Forschungsvorhaben<br />

vom BISp auf sein Privatkonto<br />

überwiesen bekam. Uns wurde<br />

erklärt, solche Überweisungen seien<br />

damals üblich gewesen. Als ich gebeten<br />

habe, dass sie mir dies schriftlich mitteilen<br />

sollten, damit wir es in den Bericht<br />

aufnehmen könnten, ist nichts<br />

mehr gekommen.<br />

SPIEGEL: Für ein mit St<strong>eu</strong>ergeldern bezahltes<br />

Projekt sollte es ausgeschlossen<br />

sein, dass der Auftraggeber sich einmischt.<br />

Eggers: Die Aktenlage war so, dass unser<br />

Auftraggeber zum Bad Guy wurde. Als<br />

Historiker kann ich aber darauf keine<br />

Rücksicht nehmen, meine<br />

Arbeit muss jederzeit überprüfbar<br />

sein. Und ich bin ja<br />

nicht der PR-Manager des<br />

BISp.<br />

SPIEGEL: Wo stießen Sie noch<br />

auf Widerstände?<br />

Eggers: Der D<strong>eu</strong>tsche Fußball-Bund<br />

hat uns gar nicht<br />

in sein Archiv gelassen. Wir<br />

hatten über andere Quellen<br />

herausgefunden, dass Dopingproben<br />

dreier Spieler<br />

der d<strong>eu</strong>tschen Mannschaft<br />

bei der WM 1966 Spuren<br />

von Ephedrin enthielten.<br />

Beim DFB hieß es auf Anfrage,<br />

es gebe keine doping -<br />

relevanten Akten für die<br />

sechziger Jahre. Später<br />

wollten wir gern erforschen,<br />

wie der DFB auf das Dopinggeständnis<br />

von Toni<br />

Schumacher 1987 reagiert<br />

hatte. Also gingen wir noch<br />

mal zum DFB.<br />

SPIEGEL: Was passierte dann?<br />

Eggers: Sie sagten, wir sollten besagte<br />

Quelle aus 1966 vorzeigen, bevor wir<br />

ins Archiv kämen. Und wir sollten unterschreiben,<br />

dass der DFB erst zustimmen<br />

muss, bevor wir etwas veröffent -<br />

lichen. Das ist Humbug, da haben wir<br />

uns die Reise nach Frankfurt erspart.<br />

SPIEGEL: Gab es weitere Verbände, die<br />

Ihre Arbeit erschwert haben?<br />

Eggers: Der D<strong>eu</strong>tsche Schwimm-Verband<br />

hat uns auch nicht ins Archiv gelassen.<br />

Dabei wissen wir aus anderen<br />

Quellen, dass es beim DSV durchaus<br />

LONDON EXPRESS / PICTURE-ALLIANCE / DPA<br />

140<br />

DER SPIEGEL 33/2013


Dopingvorgänge gab. Die Nationale<br />

Anti-Doping-Agentur, die Nada, war<br />

zunächst sehr kooperativ, aber dann<br />

verweigerte sie uns die zugesagten Kopien<br />

über wichtige Dopingvorgänge.<br />

SPIEGEL: Die Nada bestreitet das. Welche<br />

Dokumente meinen Sie?<br />

Eggers: Etwa Auseinandersetzungen der<br />

Anti-Doping-Kommission, also der Vorgänger-Institution<br />

der Nada, mit dem<br />

DFB, der sich zu Beginn der n<strong>eu</strong>nziger<br />

Jahre nicht dem zentralen Doping-Kontrollsystem<br />

unterwerfen wollte. Aber<br />

auch Kopien von Dokumenten aus dem<br />

Tennis, die wir dort nur eingesehen haben,<br />

hätten uns geholfen.<br />

SPIEGEL: Im März 2012 haben Sie Ihren<br />

Abschlussbericht abgegeben, er hat<br />

804 Seiten. Warum wurde die Studie damals<br />

nicht so veröffentlicht?<br />

Eggers: Das BISp wollte den wissenschaftlichen<br />

Wert der Arbeit nicht anerkennen.<br />

Forschungsleiter Giselher<br />

Spitzer hat den Bericht dann auf 117 Seiten<br />

gekürzt und diesen Ende März 2013<br />

abgegeben. Auch dann passierte erst<br />

mal nichts.<br />

SPIEGEL: Warum haben Sie die Arbeit<br />

nicht auf eigene Faust veröffentlicht?<br />

Eggers: Das war nicht möglich. Das BISp<br />

weigerte sich, uns für den Inhalt des<br />

Berichts Rechtssicherheit zu gewähren.<br />

Mögliche Klagen von Personen, die in<br />

dem Bericht vorkommen, wären an uns<br />

gegangen. Und wir wollen nicht zehn<br />

Jahre in Gerichtssälen verbringen. Hinzu<br />

kam, dass es immer hieß, es bestünden<br />

datenschutzrechtliche Bedenken. Tat -<br />

sache aber ist: Am 4. Juni hat das BISp<br />

Spitzers Kurzfassung dem Bundesdatenschutzbeauftragten<br />

vorgelegt. Einen Monat<br />

später sagte der: alles in Ordnung.<br />

Doch das wurde uns nicht mitgeteilt. Die<br />

gaben uns also das Gefühl, die Veröffentlichung<br />

sei allein unser Risiko. Vom<br />

positiven Bescheid der Datenschützer<br />

habe ich erst vorige Woche erfahren.<br />

SPIEGEL: Die Kurzfassung des Berichts<br />

wurde vorigen Montag ins Netz gestellt,<br />

die lange Version ging an den Bundestags-Sportausschuss.<br />

Ihre Ergebnisse haben<br />

eine erregte Debatte ausgelöst. Ist<br />

das für Sie eine Genugtuung?<br />

Eggers: Wir hätten lieber unsere Arbeit<br />

zu Ende geführt und auch den Zeitraum<br />

von 1990 bis 2007 erforscht.<br />

SPIEGEL: Das BISp behauptet, Sie hätten<br />

Ihre Untersuchungen fortführen können,<br />

das nötige Geld habe zur Verfügung gestanden.<br />

Warum kam es nicht dazu?<br />

Eggers: Eigentlich sollte unser Projekt<br />

bis März 2013 laufen. Aber das BISp hat<br />

uns mit der Finanzierung für das letzte<br />

Jahr so lange hingehalten, dass wir aufgeben<br />

mussten.<br />

nen, die Zeit gewinnen wollen, Zeit, in<br />

der die Affäre an Schwung verliert, die<br />

Empörung sich legt und Gras über die Sache<br />

wächst. Und Bach braucht Zeit, ein<br />

Skandal wäre das Letzte, was er gebrauchen<br />

kann, so kurz vor dem IOC-Thron.<br />

Als 2007 offenkundig geworden war,<br />

dass an der Freiburger Uni-Klinik die Radprofis<br />

vom Team T-Mobile im großen Stil<br />

gedopt wurden, begannen zwei Kommissionen,<br />

das Dopingsystem der badischen<br />

Sportmedizin zu durchl<strong>eu</strong>chten. Die größere<br />

der beiden ist mit ihrer Arbeit bis<br />

h<strong>eu</strong>te nicht fertig geworden.<br />

Nacheinander arbeiteten ein früherer<br />

Sozialgerichtspräsident und die Mafia-Expertin<br />

Letizia Paoli als Chefaufklärer.<br />

Mittlerweile haben sich Mitglieder wie<br />

der Anti-Doping-Experte Werner Franke<br />

frustriert aus der Kommission verabschiedet.<br />

Paoli kritisiert, wichtige Unterlagen<br />

seien vorenthalten worden, sie fühlt sich<br />

von der Uni-Leitung „getäuscht und hintergangen“.<br />

Man ist so zerstritten, dass<br />

nicht mehr viel Erhellendes aus Freiburg<br />

zu erwarten ist.<br />

Der Radsport ist in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> an seinen<br />

Dopingskandalen fast zugrunde gegangen,<br />

aber meistens hatten die Fälle<br />

ihren Ursprung im Ausland. Das Ende<br />

von Jan Ullrich und dem T-Mobile-Rennstall<br />

begann mit der spanischen Fuentes-<br />

Affäre und den Memoiren eines belgischen<br />

Betr<strong>eu</strong>ers. Den Gerolsteiner-Fahrern<br />

Stefan Schumacher und Bernhard<br />

Kohl waren positive Proben bei der Tour<br />

de France zum Verhängnis geworden, gerade<br />

erst wurde Erik Zabel durch eine<br />

nachträgliche Analyse in Frankreich als<br />

Lügner entlarvt. Spanien, Frankreich und<br />

Österreich haben Anti-Doping-Gesetze<br />

erlassen, sogar Italien hat das so gemacht,<br />

obwohl es nicht gerade für seine zackige<br />

Legislative berühmt ist. Staatsanwälte<br />

und Polizisten greifen ein, um Doper und<br />

ihre Hinterl<strong>eu</strong>te zu erwischen, Razzien<br />

werden angeordnet, um Beweismittel zu<br />

sichern, so läuft das, wenn Sportbetrug<br />

als Straftatbestand gilt.<br />

Die Lobby des d<strong>eu</strong>tschen Sports hat es<br />

bislang verhindert, dass die Politik etwas<br />

Strengeres als das Arzneimittelgesetz einführt.<br />

Stattdessen werden Niederlagen<br />

von Athleten gegen ausländische Konkurrenz<br />

gern als Beleg dafür hergenommen,<br />

wie sauber es hier im Hochleistungssport<br />

zugehe. Die Nationale Anti-Doping-<br />

Agentur wird in Festreden gelobt, leidet<br />

aber in der Praxis darunter, dass sie viel<br />

zu wenig Geld von Sport und Staat erhält,<br />

um mehr als ein paar kleinen Fischen auf<br />

die Schliche zu kommen. Im Vorjahr gingen<br />

bei 8567 Trainingskontrollen gerade<br />

einmal 8 Sportler ins Netz. Eine Erfolgsquote<br />

im Promillebereich.<br />

Kanzlerin Angela Merkel verspürt keinerlei<br />

Drang, etwas an der Rechtslage zu<br />

verändern. Ein Anti-Doping-Gesetz, hieß<br />

es vorige Woche aus Regierungskreisen,<br />

AUGENKLICK / ROTH-FOTO<br />

stehe auch jetzt nicht zur Debatte, das<br />

geltende Recht schrecke genügend ab.<br />

Eine Argumentation nach Bachs Geschmack.<br />

Er will staatliche Strafverfolger<br />

möglichst aus der Jagd auf Betrüger<br />

heraushalten, um autonom zu bleiben.<br />

Doch mit der Dopingstudie wird der<br />

Ruf nach einem eigenen Gesetz lauter.<br />

Der Sport scheint unfähig, mit seinem<br />

Radprofi Zabel 2002<br />

Als Lügner entlarvt<br />

größten Problem fertig zu werden. Athletenkontrollen<br />

allein, wie es die Verbände<br />

weismachen wollen, lösen es nicht. Damit<br />

lassen sich höchstens Sportler erwischen,<br />

die beim Betrug unvorsichtig vorgehen.<br />

Und Hintermänner noch seltener.<br />

Die Anhänger einer Gesetzesreform sehen<br />

sich nun bestätigt. Sie bekommen<br />

Aufwind. Er sei „sehr optimistisch“, dass<br />

auch in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong> die Widerstände gegen<br />

ein Anti-Doping-Gesetz schwänden,<br />

sagt der baden-württembergische Justizminister<br />

Rainer Stickelberger (SPD). Bislang<br />

stand ihm als Mitstreiterin auf höherer<br />

Ebene nur seine bayerische Amtskollegin<br />

Beate Merk (CSU) zu Seite.<br />

Mit Rückendeckung von Ministerpräsident<br />

Winfried Kretschmann (Grüne) hat<br />

Stickelberger vor einigen Monaten eine<br />

Bundesratsinitiative auf den Weg gebracht.<br />

Gestützt wird dieser Vorstoß durch einen<br />

Sinneswandel unter den Justizministern<br />

der Länder: Auf deren jüngster Sitzung<br />

Mitte Juni im saarländischen Perl sprach<br />

sich eine Zwei-Drittel-Mehrheit dafür aus,<br />

ein Anti-Doping-Gesetz einzuführen.<br />

Die Bundestagswahl am 22. September<br />

könnte weitere Risse in die bislang unverbrüchliche<br />

Allianz zwischen Sport,<br />

Kanzleramt und Bundesinnenministe -<br />

rium bringen. Sollten die Sozialdemokraten<br />

die Chance bekommen, an einer n<strong>eu</strong>en<br />

Regierung beteiligt zu werden, dann<br />

könnte in Koalitionsgesprächen über ein<br />

Anti-Doping-Gesetz verhandelt werden,<br />

sagt Stickelberger. Er könne sich das<br />

„sehr gut vorstellen, wenn das Thema Doping<br />

so weiterkocht wie derzeit“.<br />

DETLEF HACKE, UDO LUDWIG,<br />

MICHAEL WULZINGER<br />

DER SPIEGEL 33/2013 141


Impressum<br />

Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon (040) 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion)<br />

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NEW YORK Alexander Osang, 10 E 40th Street, Suite 3400, New York,<br />

NY 10016, Tel. (001212) 2217583, Fax 3026258<br />

PARIS Mathi<strong>eu</strong> von Rohr, 12, Rue de Castiglione, 75001 Paris, Tel.<br />

(00331) 58625120, Fax 42960822<br />

PEKING Bernhard Zand, P. O. Box 170, Peking 100101, Tel. (008610)<br />

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RIO DE JANEIRO Jens Glüsing, Caixa Postal 56071, AC Urca,<br />

22290-970 Rio de Janeiro-RJ, Tel. (005521) 2275-1204, Fax 2543-9011<br />

ROM Fiona Ehlers, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (003906) 6797522,<br />

Fax 6797768<br />

SAN FRANCISCO Thomas Schulz, P.O. Box 330119, San Francisco, CA<br />

94133, Tel. (001212) 2217583<br />

TEL AVIV Julia Amalia Heyer, P. O. Box 8387, Tel Aviv-Jaffa 61083,<br />

Tel. (009723) 6810998, Fax 6810999<br />

WARSCHAU P.O. Box 31, ul. Waszyngtona 26, PL- 03-912 Warschau,<br />

Tel. (004822) 6179295, Fax 6179365<br />

WASHINGTON Marc Hujer, Dr. Gregor Peter Schmitz, Holger Stark,<br />

1202 National Press Building, Washington, D.C. 20045, Tel. (001202)<br />

3475222, Fax 3473194<br />

DOKUMENTATION Dr. Hauke Janssen, Cordelia Freiwald (stellv.), Axel<br />

Pult (stellv.), Peter Wahle (stellv.); Jörg-Hinrich Ahrens, Dr. Susmita<br />

Arp, Dr. Anja Bednarz, Ulrich Booms, Dr. Helmut Bott, Viola Broecker,<br />

Dr. Heiko Buschke, Andrea Curtaz-Wilkens, Johannes Eltzschig, Johannes<br />

Erasmus, Klaus Falkenberg, Catrin Fandja, Anne-Sophie Fröhlich,<br />

Dr. André Geicke, Silke Geister, Thorsten Hapke, Susanne Heitker,<br />

Carsten Hellberg, Stephanie Hoffmann, Bertolt Hunger, Joachim Immisch,<br />

Kurt Jansson, Michael Jürgens, Tobias Kaiser, Renate Kemper-<br />

Gussek, Jessica Kensicki, Ulrich Klötzer, Ines Köster, Anna Kovac, Peter<br />

Lakemeier, Dr. Walter Lehmann-Wiesner, Michael Lindner, Dr.<br />

Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Sonja Maaß, Nadine Markwaldt-<br />

Buchhorn, Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard Minich, Cornelia Moormann,<br />

Tobias Mulot, Bernd Musa, Nicola Naber, Margret Nitsche, Malte<br />

Nohrn, Sandra Öfner, Thorsten Oltmer, Dr. Vassilios Papadopoulos,<br />

Axel Rentsch, Thomas Riedel, Andrea Sauerbier, Maximilian Schäfer,<br />

Marko Scharlow, Rolf G. Schierhorn, Mirjam Schlossarek, Dr. Regina<br />

Schlüter-Ahrens, Mario Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-<br />

Eckert, Ulla Siegenthaler, Jil Sörensen, Rainer Staudhammer, Tuisko<br />

Steinhoff, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Eckart<br />

Teichert, Nina Ulrich, Ursula Wamser, Peter Wetter, Kirsten Wiedner,<br />

Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt, Anika Zeller<br />

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Post, New York Times, R<strong>eu</strong>ters, sid<br />

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142<br />

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DER SPIEGEL 33/2013<br />

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SP13-001<br />

SD13-006<br />

SD13-008 (Upgrade)


Register<br />

GESTORBEN<br />

George Duke, 67. Der<br />

gebürtige Kalifornier<br />

hat mit Frank Zappa<br />

mehr als zehn Al ben<br />

aufgenommen, hat<br />

Mi chael Jackson beim<br />

Erwachsenwerden geholfen<br />

– auf dessen<br />

Album „Off the Wall“<br />

griff er in die Tasten<br />

des Keyboards und<br />

sorgte für den unverwechselbaren<br />

Jackson-Groove. Er produzierte<br />

Platten von Sängern wie Al Jarreau<br />

und Dianne Reeves, auch discotaugliche<br />

Songs wie „Let’s Hear It for the Boy“ für<br />

Deniece Williams – und doch wird er vor<br />

allem für seine Musik in Erinnerung bleiben,<br />

die er im beschaulichen Städtchen<br />

Villingen im Schwarzwald aufnahm. In<br />

den sechziger und siebziger Jahren gaben<br />

sich im Studio des Inhabers der Hi-Fi-<br />

Marke Saba, Hans Georg Brunner-Schwer,<br />

und dessen Label MPS (Musik Produktion<br />

Schwarzwald) US-Jazz-Größen die Klinke<br />

in die Hand, weil es nirgendwo perfektere<br />

Klangtechnik gab und nirgendwo künstlerisch<br />

so wenig reingeredet wurde wie<br />

dort. 496 Produktionen sind hier entstanden,<br />

an einem Großteil war Duke als Keyborder<br />

beteiligt. Sammler zahlen Unsummen<br />

für alte MPS-Platten. Noch Jahrzehnte<br />

später schwärmte Duke, wie toll die<br />

Fahrten vom Flughafen durch die Nebelschwaden<br />

des Hochschwarzwaldes hin<br />

zum Studio gewesen seien. „Bei MPS fand<br />

ich ein Zuhause.“ George Duke starb am<br />

5. August an L<strong>eu</strong>kämie in Los Angeles.<br />

JEAN-CHRISTOPHE BOTT / DPA<br />

RONALD WITTEK / DPA<br />

Robert Häusser, 88. Schon als Kind<br />

machte er seine ersten Fotos, und sehr<br />

bald wusste er, dass er damit seine<br />

Gefühle ausdrücken konnte. Nach einer<br />

Ausbildung und einem Studium an der<br />

Kunstschule in Weimar richtete sich der<br />

in Stuttgart geborene Häusser in Mannheim<br />

ein Studio ein, später wandte er sich<br />

von der kommerziellen Fotografie ab, um<br />

als freier Künstler zu wirken. Viele Bilder<br />

des Melancholikers – sein Fundus umfasst<br />

rund 64 000 Negative – lassen eine Ahnung<br />

von der stillen Bedrohung im<br />

scheinbar Normalen erkennen. Sie zeichnen<br />

sich durch harte Schwarzweiß -<br />

kontraste und durchkomponierte<br />

Linienführung<br />

aus. „Farbe<br />

ist zu geschwätzig<br />

und lenkt von der<br />

Beziehung zum Gegenstand<br />

nur ab“, be -<br />

fand der Fotokünstler.<br />

Konsequenz bewies<br />

Häusser auch,<br />

als er aufhörte zu fotografieren,<br />

weil es – als Folge der Di -<br />

gitaltechnik – das von ihm favorisierte<br />

Papier zum Entwickeln nicht mehr gab.<br />

1995 erhielt Häusser als erster D<strong>eu</strong>tscher<br />

den Hasselblad Award, der als Nobelpreis<br />

der Fotografie gilt. Robert Häusser starb<br />

am 5. August in Mannheim.<br />

Karen Black, 74. Sie wurde ein Star, als<br />

der Glamour des klassischen Hollywood<br />

abblätterte und auf der Leinwand der raue<br />

Alltag zum Vorschein kam. In den späten<br />

sechziger und frühen siebziger Jahren<br />

spielte Black in Filmen wie „Easy Rider“<br />

und „Five Easy Pieces“ Prostituierte oder<br />

Kellnerinnen, Frauen, die am Ende jedes<br />

Tages ihr Trinkgeld zählen. Von Emanzipation<br />

schienen sie noch nie gehört zu haben,<br />

sie waren es nicht gewohnt, über ihre<br />

eigene Rolle nachzudenken. Für ein paar<br />

Jahre war Black der n<strong>eu</strong>e Star zwischen<br />

allen Wunschbildern, den schillernden Diven<br />

der Vergangenheit und dem Ideal der<br />

selbstbestimmten modernen<br />

Frau. Black,<br />

die später mit Re -<br />

giss<strong>eu</strong>ren wie Alfred<br />

Hitchcock und Robert<br />

Altman drehte, gab<br />

der Einfachheit Würde,<br />

ihr leichter Sil -<br />

berblick, der oft etwas<br />

zu zaghaft nach<br />

einem besseren Leben<br />

Ausschau zu halten<br />

schien, verlieh ihr eine berührende<br />

Melancholie. Sie war die Ideal besetzung<br />

für die Nathanael-West-Adaption „Der<br />

Tag der H<strong>eu</strong>schrecke“ (1975). Darin verkörpert<br />

sie eine Schauspielerin, die gegen<br />

jede Chance davon träumt, in Hollywood<br />

ein Star zu werden. Karen Black starb am<br />

8. August in Los Angeles.<br />

SILVER SCREEN COLLECTION / GETTY IMAGES<br />

Guido Huonder, 71. Unter Intendant Peter<br />

Zadek wurde er in den Siebzigern in Bochum<br />

als Regiss<strong>eu</strong>r bekannt, in Dortmund<br />

fand er sein Theaterschicksal. Dort war<br />

der gebürtige Schweizer zunächst Spielleiter<br />

und von 1985 bis 1991 Schauspielchef,<br />

dort machte er Furore unter anderem<br />

mit einer Gedenkaktion für das ermor -<br />

de te schwule Genie Pier Paolo Pasolini.<br />

Huonder war ein ruhiger, ein bisschen<br />

braver, stets um ernsthafte künstlerische<br />

Arbeit bemühter Theatermann, wurde<br />

aber als Chef des Potsdamer Hans Otto<br />

Theaters (1991 bis 1993) Opfer politischer<br />

Streitereien. Als man ihm den Etat kürzte,<br />

schmiss er den Job zornig hin. Fortan inszenierte<br />

er mal in Heidelberg, mal in<br />

Salzburg; in seiner letzten Regiearbeit<br />

zeigte er in einem Dortmunder Mus<strong>eu</strong>m<br />

das Theaterstück „Himmel und Erde“, das<br />

unter Todkranken spielt, und sprach freimütig<br />

über seine Krebserkrankung. Guido<br />

Huonder starb am 6. August in Wien.<br />

SONNTAG, 18. 8., 22.05 – 23.05 UHR | RTL<br />

SPIEGEL TV MAGAZIN<br />

Der n<strong>eu</strong>e Treck nach Westen – Wie<br />

die Freizügigkeit die EU verändert<br />

Flüchtlingslager in Berlin<br />

Hunderttausende haben sich innerhalb<br />

Europas auf den Weg gemacht. Sie<br />

fliehen vor Arbeitslosigkeit, Armut<br />

und Diskriminierung. Und hoffen auf<br />

ein besseres Leben – auch in <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong>.<br />

Eine Schwerpunktsendung über<br />

die n<strong>eu</strong>en Migrationsströme, die<br />

Gewinner und die Verlierer und die<br />

offensichtlich machtlose Politik.<br />

MONTAG, 12. 8., 21.45 – 22.40 UHR | PAY TV<br />

BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN<br />

SPIEGEL TV WISSEN<br />

Autowäsche am Tigris<br />

Bagdad Taxi – Eine ungewöhnliche<br />

Reise durch den Irak<br />

Wenige Monate nach dem Abzug der<br />

amerikanischen Truppen aus dem<br />

Irak macht sich Regiss<strong>eu</strong>r Frédéric<br />

Tonolli in einem Taxi auf eine Fahrt<br />

quer durch das Land. Unterwegs sammelt<br />

er Mitreisende aus verschiedenen<br />

Gesellschaftsschichten und unterschiedlichen<br />

Religionszugehörigkeiten<br />

ein, die ihn ein Stück des Weges begleiten<br />

und von ihrem Alltag, ihren<br />

Hoffnungen und Ängsten erzählen.<br />

Der Filmemacher und sein Taxifahrer<br />

passieren auf ihrer ungewöhnlichen<br />

Tour die Städte Kirkuk, Mossul, Tikrit,<br />

Falludscha, Bagdad, Babylon und<br />

Basra. Ein spannendes Roadmovie<br />

über eine gefährliche Reise durch ein<br />

vom Krieg gezeichnetes Land.<br />

SPIEGEL TV<br />

SPIEGEL TV<br />

DER SPIEGEL 33/2013 143


Personalien<br />

Ein Diplomat im Netz<br />

Der ehemalige US-Außenminister Colin<br />

Powell, 76, ist Opfer eines Internet -<br />

spions geworden. Ein Hacker mit dem<br />

Ps<strong>eu</strong>donym „Guccifer“ veröffentlichte<br />

im Netz Powells E-Mail-Korrespondenz<br />

mit der rumänischen Politikerin<br />

Corina Cretu, 46, die er 2003 auf einer<br />

inter nationalen Konferenz kennengelernt<br />

hatte. In der elektronischen Post<br />

aus den Jahren 2010 und 2011 geht es<br />

vor allem um Cretus Leidenschaft für<br />

den einstigen General. Diese dokumentierte<br />

sie auch mit Bildern von<br />

sich und Powell, die sie auf ihrer Website<br />

zeigte; inzwischen wurden diese<br />

Fotos wieder entfernt. Cretu, h<strong>eu</strong>te<br />

Abgeordnete im Europäischen Parlament,<br />

bet<strong>eu</strong>erte in ihren Mails, Powell<br />

sei die Liebe ihres Lebens, und beklagte<br />

sich immer<br />

wieder über seine<br />

mangelnde<br />

Zuwendung.<br />

2011 verkündete<br />

sie dann, sich einer<br />

„realistischeren<br />

Liebe“ zuzuwenden<br />

und zu<br />

heiraten. Powell,<br />

seit über 50 Jahren<br />

mit seiner<br />

Frau Alma verheiratet,<br />

bestreitet eine Affäre mit Cretu<br />

nachdrücklich, auch wenn die E-<br />

Mails im Ton „sehr persönlich“ gewesen<br />

seien. Dabei übte er sich in seinen<br />

Zeilen grundsätzlich in diplomatischer<br />

Zurückhaltung. Nur einmal schrieb er<br />

etwas, das man vielleicht als Flirt interpretieren<br />

könnte. Nachdem Cretu ihn<br />

um ein Treffen gebeten hatte, mit der<br />

An merkung, das Wetter sei sehr gut,<br />

ant wortete Powell, vielleicht werde er<br />

kommen: „Du und das Wetter, ihr<br />

könntet dafür sorgen.“<br />

QUELLE: HTTP:/ /CORINACRETU.WORDPRESS.COM<br />

Aus dem Schwimmerleben<br />

Schleierkampf<br />

Dem reichen Angebot an Büchern über Selbst -<br />

optimierung fügt Michael Groß, 49, <strong>D<strong>eu</strong>tschland</strong>s<br />

erfolgreichster Schwimmer, ein Werk hinzu: „Selbstcoaching“.<br />

Seine Tipps zur Eigenmotivation veranschaulicht<br />

Groß mit Episoden aus seinen aktiven<br />

Sportlertagen. So berichtet er etwa aus dem Jahr<br />

1985, als er nach zwei Weltrekorden bei den D<strong>eu</strong>tschen<br />

Meisterschaften auf vier Strecken die Weltbestzeit<br />

hielt, „als erster Mensch seit Mark Spitz<br />

1972“. Das sei jener Erfolg, auf den er bis h<strong>eu</strong>te am<br />

stolzesten sei – der aber von der Öffentlichkeit kaum<br />

beachtet wurde. „Wenn ich bei Veranstaltungen vorgestellt<br />

werde, bekomme ich meist zu hören: dreimal<br />

Olympiasieger, vier mal Sportler des Jahres, fünfmal<br />

Weltmeister.“ Groß rät seinen Lesern: „Niemand<br />

sollte sich davon abhän gig machen, ob der eigene Erfolg<br />

auch die Resonanz erfährt, die er verdient hat.“<br />

ALL ACTION / ACTION PRESS<br />

Anfang vergangener Woche war vorübergehend<br />

ein noch nicht veröffentlichtes Lied von Lady<br />

Gaga, 28, im Internet zugänglich. Es ist Teil des<br />

Albums „Artpop“, das im November erscheinen<br />

soll, und trägt möglicherweise den Titel „Burqa“.<br />

Darin enthalten sind Textzeilen wie „Mein<br />

Schleier schützt meine Schönheit“ oder „Die<br />

Burka ist Mode für sie“. Dass Letzteres auf Lady<br />

Gaga zutrifft, hat sie schon bewiesen, als sie<br />

durchsichtig verhüllt eine Modenschau er -<br />

öffnete. Der Blogger „postmodernveil“ findet<br />

Gagas Haltung scheinheilig, ignorant und gefährlich.<br />

Sie sei ein Sprachrohr für die „imperialistische<br />

und kapitalistische Propagandaindustrie der<br />

USA“, sie wolle muslimische Frauen mit ihrer<br />

westlichen Ideologie bevormunden. Ihr Lied<br />

habe außerdem rassistische Äußerungen provoziert.<br />

Während Gagas L<strong>eu</strong>te eilig alle Zugänge<br />

zu dem Song zu blockieren versuchten, posteten<br />

immer mehr Gaga-Fans im Netz Fotos von sich<br />

mit improvisierten Verhüllungen ihres Gesichts.<br />

Der Internetaktivist sammelte diese Bilder dann<br />

auf seinem Blog „racistlittlemonsters“.<br />

BEVILACQUA,GIULIANO / ACTION PRESS<br />

144<br />

NEWS INTERNATIONAL / BULLS PRESS<br />

Die Kunst der Wahrheit<br />

Sie weine nur sehr selten, sagte Jewgenija Timoschenko, 33,<br />

nachdem sie das Bühnenstück „Wer will Julija Timoschenko<br />

töten?“ beim Theaterfestival in Edinburgh gesehen hatte. Aber<br />

die Darbietung, die die Geschichte ihrer Mutter erzählt, habe<br />

sie zu Tränen gerührt. Julija Timoschenko, die ehemalige Präsidentin<br />

der Ukraine, sitzt seit nunmehr zwei Jahren im Knast,<br />

ihre Untersuchungshaft wurde vom Europäischen Gerichtshof<br />

für Menschenrechte als willkürlich kritisiert, sie gilt als politisch<br />

motiviert. Timoschenko ging mehrere Male in den Hungerstreik,<br />

um auf ihre schlechten Haftbedingungen aufmerksam zu<br />

machen, ihr Gesundheitszustand ist schlecht. Die Timoschenko-<br />

Figur auf der Bühne wird geschlagen, sie bekommt vergiftetes<br />

Essen. „Wenn die Wahrheit mit Hilfe der Kunst ans Licht<br />

kommt“, so Tochter Jewgenija, „dann ist das eindrucksvoller<br />

als jede Nachrichtensendung.“<br />

DER SPIEGEL 33/2013


VISION MEDIA / BULLS PRESS<br />

No Porno für Papa<br />

Zur Premiere in New York lud die amerikanische Schauspielerin<br />

Amanda Seyfried, 27, ihren Vater ein, weil sie so „stolz“<br />

auf den Film sei, in dem sie die Titelrolle spielt. Doch sehen<br />

durfte Herr Seyfried nicht alles von „Lovelace“. Seine Tochter<br />

hielt ihm immer wieder die Augen zu, damit er sie nicht<br />

nackt erlebte. Dazu gibt es einige Gelegenheiten in dem Film<br />

über Linda Lovelace, bürgerlich Linda Boreman, der wohl<br />

berühmtesten Pornodarstellerin der Welt. Sie wurde Anfang<br />

der siebziger Jahre ein Star, weil sie in „Deep Throat“ die<br />

Hauptrolle hatte. Sharon Stone spielt nun die verklemmte<br />

Mutter von Lovelace, James Franco tritt als Hugh Hefner auf.<br />

Die Vorbereitung für die d<strong>eu</strong>tsche Synchronisation läuft<br />

auf Hochtouren, allerdings nicht fürs Kino – der Film hat hierzulande<br />

keinen Verleih gefunden.<br />

Norbert Walter-Borjans, 60, Finanz -<br />

minister von Nordrhein-Westfalen, versucht<br />

sich im Urlaub als Bildhauer.<br />

Frau und Kinder bleiben zu Hause in<br />

Köln, während der Sozialdemokrat<br />

in einem kleinen toskanischen Ort mit<br />

zwei Dutzend Gleichgesinnten unter<br />

Anleitung aus 20 bis 30 Kilogramm<br />

schweren Marmorblöcken Kunstwerke<br />

hämmert und meißelt. „Marmor“,<br />

sagt er, „ist ein ziemlich harter Stein,<br />

abends weiß man, was man getan<br />

hat.“ Im vergangenen Jahr hat Walter-<br />

Borjans eine abstrakte Skulptur geschaffen,<br />

die jetzt in seinem Ministerzimmer<br />

steht. Spätestens am 31. August<br />

wird er sein n<strong>eu</strong>es Werk im Auto<br />

verstauen – für den Flieger wird es zu<br />

schwer sein – und die Heimreise an -<br />

treten. In dem Bergdorf gibt es weder<br />

Fernsehen noch Internet, und er<br />

will das TV-Duell von Merkel und<br />

Steinbrück nicht verpassen.<br />

Volker Bouffier, 61, hessischer CDU-<br />

Ministerpräsident, outet sich im Landtagswahlkampf<br />

als Fr<strong>eu</strong>nd des angelsächsischen<br />

Genitiv-Apostrophs. In<br />

seinem Auftrag verschickte die Verlags-<br />

und Werbegesellschaft für politische<br />

Meinungsbildung GmbH pfandfreie<br />

Dosen mit Apfelschorle. Sie<br />

trugen den Aufdruck „Volker’s Aktiv<br />

Apfel“. Daneben prangen Bouffiers<br />

Konterfei und der Hinweis „Erfolg -<br />

reiche Erfrischung“. Jetzt können<br />

nicht mal mehr die Konservativen rich -<br />

tiges D<strong>eu</strong>tsch.<br />

Bill Clinton, 66, ehemaliger Präsident<br />

der Vereinigten Staaten, hält gesunde<br />

Ernährung für eine patriotische<br />

Pflicht. Die durch Fettleibigkeit entstehenden<br />

Kosten seien nämlich Gift<br />

für die wirtschaftliche Entwicklung<br />

der USA, findet der Politiker, der sich<br />

2004 einer Bypass-Operation unter -<br />

ziehen musste. Er ist seit mehr als drei<br />

Jahren Veganer und hat seither über<br />

zehn Kilo abgenommen. Die Diät<br />

ohne jegliche tierische Produkte habe<br />

er gewählt, weil er so lange wie möglich<br />

leben wolle und hoffe, seine<br />

Enkel kinder heranwachsen zu sehen,<br />

sagte Clinton. Auf Fleisch und Wurst<br />

zu verzichten sei ihm von Anfang an<br />

leichtgefallen, Käse hingegen würde er<br />

h<strong>eu</strong>te noch manchmal vermissen.<br />

DER SPIEGEL 33/2013 145


Hohlspiegel<br />

Aus dem „Ostholsteiner Anzeiger“<br />

Aus dem „Tagesspiegel“: „Wahrscheinlich<br />

ist gar nichts dran an der tröstlichen Vorstellung,<br />

dass Wagnerfan Merkel und Regiss<strong>eu</strong>r<br />

Castorf bei diesem Ost-Berliner Bühnentreiben<br />

zusammen in der Königsloge<br />

sitzen und fest in ihre Programmhefte beißen<br />

müssen, um das Festspielhaus nicht mit<br />

hemmungslosem Lachen zu erschüttern.“<br />

Aus der Programmzeitschrift „Gong“<br />

Aushang eines Geschäfts in Bremen<br />

Aus dem „Stormarner Tageblatt“: „Aus<br />

Mangel an Bewerbern sollen beim Wachbataillon<br />

der Bundeswehr künftig auch<br />

kleingewachsene und kurzsichtige Bartträger<br />

aufmarschieren dürfen.“<br />

Aus der „Hildesheimer Allgemeinen<br />

Zeitung“<br />

Aus dem „Wittlager Kreisblatt“<br />

Aus dem „Nordbayerischen Kurier“: „Ein<br />

paar Schüler haben Stroh und lebendige<br />

Hühner im Schulhaus laufen lassen.“<br />

Aus der Fernsehbeilage „tv mit Edeka“<br />

146<br />

Rückspiegel<br />

Zitate<br />

Die „tageszeitung“ zum SPIEGEL-Essay<br />

„Der Plurimi-Faktor“ von Botho Strauß<br />

(Nr. 31/2013):<br />

Nein, der jüngste Essay aus der Feder von<br />

Botho Strauß ist kein Tabubruch von der<br />

Qualität seines Bocksgesangs aus dem<br />

Jahre 1993 … Doch auch Strauß’ n<strong>eu</strong>er<br />

Artikel im letzten SPIEGEL hat es in sich.<br />

Unter der Überschrift „Der Plurimi-Faktor.<br />

Anmerkungen zum Außenseiter“<br />

spitzt er seine Kulturkritik weiter zu und<br />

rehabilitiert eine dramatisch unterschätzte<br />

Figur: den Idioten. Scharf wie kaum<br />

einer vor ihm kritisiert Strauß den „Markt<br />

des breitgetretenen Quarks“ und das<br />

Regime der Quote. Gegen die allgegenwärtige<br />

Feier der Vernetzung erinnert er<br />

daran, dass wirkliche Kunst stets aus Vereinzelung,<br />

ja Einsamkeit erwächst.<br />

Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“<br />

zum SPIEGEL-Bericht „First<br />

Class in die Slums“ über einen Luxusflug<br />

des Limburger Bischofs Tebartz-van Elst<br />

nach Indien (Nr. 34/2012):<br />

Der Bischof von Limburg hat Kummer<br />

mit der Justiz. Er wollte dem SPIEGEL<br />

anwaltlich verbieten lassen zu schreiben:<br />

„Herr Bischof Dr. Tebartz-van Elst ist erste<br />

Klasse mit dem Flugz<strong>eu</strong>g nach Indien<br />

geflogen.“ Doch der Bischof war erster<br />

Klasse geflogen, auf einem der acht Luxusplätze<br />

im Oberdeck des Jumbojets,<br />

hin und zurück … Ein Bischof, der sich<br />

gutem Rat geöffnet hätte, wäre wohl auch<br />

nicht darauf verfallen, dem SPIEGEL-<br />

Journalisten im zweiten Schritt gerichtlich<br />

verbieten zu wollen, darüber zu berichten,<br />

wie der Bischof ihn durch irreführende<br />

Stellungnahmen zunächst hereingelegt<br />

hatte. Dazu versicherte Tebartz-van Elst<br />

an Eides statt: „Es trifft auf keinen Fall<br />

zu, dass ich die Antwort gegeben hätte,<br />

dass ich nicht erster Klasse geflogen sei.“<br />

Der Reporter allerdings hatte das Gespräch<br />

aufgezeichnet. Jeder kann das<br />

Video im Netz betrachten („Bischof von<br />

Limburg: Ein Drama in fünf Akten“).<br />

Dort antwortet der Bischof auf den Vorhalt,<br />

er sei erster Klasse geflogen: „Nein.“<br />

Weiter nahm der Bischof auf seinen Eid:<br />

„Es gab auch keine ern<strong>eu</strong>te Rückfrage des<br />

Redakt<strong>eu</strong>rs mit dem Vorhalt ,Aber Sie<br />

sind doch erster Klasse geflogen‘. Ich<br />

habe auch nicht auf einen solchen Vorhalt<br />

die Antwort gegeben ,Businessklasse sind<br />

wir geflogen‘.“ Handschriftlich unterzeichnet<br />

mit Kr<strong>eu</strong>z-Signatur. Im Video<br />

hört man den Reporter sagen: „Aber<br />

erster Klasse sind Sie geflogen.“ Der<br />

Bischof antwortet: „Businessclass sind<br />

wir ge flogen.“ Das ist besonders für<br />

Gläubige schmerzlich, weil ein Bischof<br />

die Menschen zum Licht führen soll,<br />

nicht dahinter.<br />

DER SPIEGEL 33/2013

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