ICOM Deutschland Mitteilungen 2010
ICOM Deutschland Mitteilungen 2010 ICOM Deutschland Mitteilungen 2010
Rückblick Tourismus – Fluch oder Segen? Pilgerfahrt, Grand Tour oder Urlaubsreise – seit der Antike steuern Touristen die Kulturstätten an – und produzieren damit ein Problem. Denn Tourismus ist unberechenbar: Er kann Verständigung und Arbeitsplätze schaffen, Krisengebiete befrieden, Kulturinvestitionen anziehen, aber ebenso wirtschaftliche Entwicklung behindern, Landstriche „verrummeln“ und Kulturschätze vernichten. Während sich die einen weniger Tourismus wünschen, sehnen sich die anderen nach mehr. Die Konflikte zwischen Kultur und Ökonomie scheinen bisweilen unüberbrückbar. Aber die Akteure gehen aufeinander zu und suchen gemeinsam nach dem richtigen Maß. Stéphanie Wintzerith Foto: wikipedia, Sergey Meniailenko 18 | ICOM Deutschland – Mitteilungen 2010
RÜCKBLICK „Touristen zerstören wonach sie suchen, wenn sie es gefunden haben“. Dieser Satz von Hans Magnus Enzensberger ließ jeden Tagungsteilnehmer schaudern. Wir, die wir als Vertreter von Museen und Denkmälern für den Erhalt des historischen und kulturellen Erbes zuständig sind, wir müssen dieses wertvolle Gut vor den Horden der zerstörenden Barbaren schützen. Bloß keine Touristen hereinlassen! Andererseits ist dieses Erbe ein gemeinsames, das laut den Ethischen Richtlinien für Museen der Öffentlichkeit zugänglich sein muss – und zwar ohne Einschränkungen ob der geographischen Herkunft der Interessenten. Also sollten selbst Touristen willkommen sein. Woran erkennt man den Touristen eigentlich? Verhält er sich im Museum anders als der Ein heimische? Würden die Museen und Denkmäler ohne den Tourismus überhaupt überleben können? Wir reisten an den schönen Bodensee. Somit waren auch wir Kulturtouristen. Offensichtlich wurden wir aber nicht fündig, denn verwüstet haben wir meines Wissens nichts. Wir tagten friedlich zum Thema „Museen und Denkmäler – Historisches Erbe und Kulturtourismus“. Unter diesem Motto fand vom 18. bis 20. Juni 2009 das Internationale Bodensee-Symposium in Lindau statt, das von den nationalen ICOM-Komitees von Deutschland, der Schweiz und Österreich in Kooperation mit ihren ICOMOS-Pendants veranstaltet wurde. Es ging um Chancen und Risiken des Kulturtourismus, um Strategien und Möglichkeiten für Museen und Denkmäler. Aber braucht der Tourismus auch die Kultur? Aus der Sicht des ICOMOS-Präsidenten Michael Petzet ist die Waagschale der Gefahren schwerwiegend gefüllt. „Tourismus verbraucht Kultur. Kultur braucht keinen Tourismus“, so sein Credo. Tatsächlich stehen er und seine ICOMOS- Kollegen in erster Reihe, um die Schäden zu beurteilen. Massentourismus hat schon vor Jahrzehnten herausragende Stätten wie die Höhle von Lascaux in Frankreich so unwiderruflich beschädigt, dass sie nur noch aus gewählten Spezialisten zugänglich sind. Alle anderen besuchen eine Nachbildung. Wäre sie nie entdeckt worden, würde sie heute noch bestens erhalten im Verborgenen erstrahlen – nur wüssten nicht einmal die Wissenschaftler davon. Das wiederum wäre ebenfalls ein großer Verlust. Auch Pompeji ist heute ein Weltkulturerbe in erbärmlichem Zustand. Die Reste der römischen Stadt sind regelrecht von Touristen zertrampelt und von Souvenir-Steinchen-Jägern geplündert Die Kultur braucht den Tourismus Tourismus hat sich als wesentlicher Wirtschaftsfaktor etabliert. Kaum ein Land, eine Region oder eine Stadt, die sich nicht um den Besuch ferner Gäste bemüht. Er erweitert die Absatzmärkte und sichert Arbeitsplätze. Er ist der drittgrößte Wirtschaftssektor weltweit. Hans-Martin Hinz, promovierter Geograph und Vorsitzender der von ICOM und World Federation of Friends of Museums (WFFM) getra genen Arbeitsgruppe Kulturtourismus, schilderte zum Auftakt der Tagung eindrucksvoll, wie eng Tourismus und Kultur ineinander verflochten sind. Das weltweite Phänomen wird auf internationaler Ebene gehandhabt. 1998 wurde die erste ICOM-Resolution zum Umgang mit Tourismus verabschiedet, 1999 die ICOMOS-Charta zum internationalen Kulturtourismus und der Global Code of Ethics for Tourism der World Tourism Organisation (WTO). Im Jahr 2000 wird erneut bekräftigt, dass das kulturelle Erbe kein Konsumprodukt ist oder werden darf, 2003 verfasst die UNESCO ihre Universal Declaration on Cultural Diversity and Tourism. Der Massentourismus und die damit einhergehende Vereinheitlichung bestimmte lange Zeit das Bild. Nun geht der Tourismus-Trend eher zu einem individuell gestalteten Freizeitverhalten. Reisende und Bereiste treten zunehmend intensiver in Kontakt und sollten die Gelegenheit zum Austausch nutzen. Museen stehen dabei an vorderster Front. Museen und Tourismus bieten sich gegenseitig Wachs tumschancen: Zum einen erhöhen Touristen die Besuchszahlen – die immer noch als ein Erfolgskriterium der Museen gelten –, zum anderen sind einige Häuser attraktive touris ti sche Argumente und fördern so den Tourismus. Auf einer tieferen Ebene ist die sinnstiftende Institution Museum ein Ort, in dem Identitäten erklärt und gefestigt werden (können), also auch inhaltlich zum Tourismuserlebnis beitragen. Hans-Martin Hinz Museen und Touristen – Enjoying Without Destroying Als Ergebnis von Urbanisierung, Produktivitätssteigerungen und Mo bilitätsentwicklung hat der Tourismus einen massenhaften Charak ter angenommen und ist inzwischen ein bedeutender Wirtschaftsbereich. In den „Gründerjahren“ kam es zu „frühindus triellen“ Aus wirkungen, die seit den 1970er Jahren weltweit Korrekturmaßnahmen nach sich zogen mit dem Ziel, Massentourismus in ökologisch und sozial verträgliche Bahnen zu lenken. In diesem Prozess gewannen Museen an Bedeutung und wurden ein wichtiges Marketingobjekt. Bekannte Museumsstandorte, Ausgrabungsstätten und historische Bauten erfahren aufgrund ihrer Architektur, historischen Bedeutung oder als sogenannte Leuchttürme inzwischen ein zu hohes Besucheraufkommen und somit eine Überlastung. Während Museen an weniger bekannten Standorten versuchen, stärker vom Kulturtourismus zu profitieren. Die Schnittstellen zwischen Tourismus und Museen vergrößerten sich durch die neue konzeptionelle Arbeit der Museen: Museumsbesucher entwickelten qualitätsvollere Ansprüche, auf die sich die Angebotsseite eingestellt hat. Die Kulturakteure haben in ihren For derungen nach größerer Nachhaltigkeit des Kulturtourismus nun stärker den Touristen als handelnde Person im Blick, der durch Auf klärung motiviert werden soll, ein umfassenderes Verständnis für Kultur und Natur aufzubringen. Museen wird dabei eine verantwortungs volle Rolle zugebilligt. Nachhaltigkeitseffekte durch Museumsarbeit zu erzielen, wäre daher ein bedeutender Dienst der Museen an der Gesellschaft. ICOM Deutschland – Mitteilungen 2010 | 19
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„Touristen zerstören wonach sie suchen, wenn sie es gefunden<br />
haben“. Dieser Satz von Hans Magnus Enzensberger<br />
ließ jeden Tagungsteilnehmer schaudern. Wir, die wir<br />
als Vertreter von Museen und Denkmälern für den Erhalt<br />
des historischen und kulturellen Erbes zuständig sind, wir<br />
müssen dieses wertvolle Gut vor den Horden der zerstörenden<br />
Barbaren schützen. Bloß keine Touristen hereinlassen!<br />
Andererseits ist dieses Erbe ein gemeinsames, das laut<br />
den Ethischen Richtlinien für Museen der Öffentlichkeit<br />
zugänglich sein muss – und zwar ohne Einschränkungen<br />
ob der geographischen Herkunft der Interessenten. Also sollten<br />
selbst Touristen willkommen sein. Woran erkennt man<br />
den Touristen eigentlich? Verhält er sich im Museum anders<br />
als der Ein heimische? Würden die Museen und Denkmäler<br />
ohne den Tourismus überhaupt überleben können?<br />
Wir reisten an den schönen Bodensee. Somit waren auch<br />
wir Kulturtouristen. Offensichtlich wurden wir aber nicht<br />
fündig, denn verwüstet haben wir meines Wissens nichts.<br />
Wir tagten friedlich zum Thema „Museen und Denkmäler<br />
– Historisches Erbe und Kulturtourismus“. Unter diesem<br />
Motto fand vom 18. bis 20. Juni 2009 das Internationale<br />
Bodensee-Symposium in Lindau statt, das von den<br />
nationalen <strong>ICOM</strong>-Komitees von <strong>Deutschland</strong>, der Schweiz<br />
und Österreich in Kooperation mit ihren <strong>ICOM</strong>OS-Pendants<br />
veranstaltet wurde. Es ging um Chancen und Risiken<br />
des Kulturtourismus, um Strategien und Möglichkeiten<br />
für Museen und Denkmäler.<br />
Aber braucht der Tourismus auch die Kultur?<br />
Aus der Sicht des <strong>ICOM</strong>OS-Präsidenten Michael Petzet ist<br />
die Waagschale der Gefahren schwerwiegend gefüllt. „Tourismus<br />
verbraucht Kultur. Kultur braucht keinen Tourismus“,<br />
so sein Credo. Tatsächlich stehen er und seine <strong>ICOM</strong>OS-<br />
Kollegen in erster Reihe, um die Schäden zu beurteilen.<br />
Massentourismus hat schon vor Jahrzehnten herausragende<br />
Stätten wie die Höhle von Lascaux in Frankreich so<br />
unwiderruflich beschädigt, dass sie nur noch aus gewählten<br />
Spezialisten zugänglich sind. Alle anderen besuchen eine<br />
Nachbildung. Wäre sie nie entdeckt worden, würde sie heute<br />
noch bestens erhalten im Verborgenen erstrahlen – nur<br />
wüssten nicht einmal die Wissenschaftler davon. Das wiederum<br />
wäre ebenfalls ein großer Verlust. Auch Pompeji ist<br />
heute ein Weltkulturerbe in erbärmlichem Zustand. Die<br />
Reste der römischen Stadt sind regelrecht von Touristen<br />
zertrampelt und von Souvenir-Steinchen-Jägern geplündert<br />
Die Kultur braucht den Tourismus<br />
Tourismus hat sich als wesentlicher Wirtschaftsfaktor etabliert.<br />
Kaum ein Land, eine Region oder eine Stadt, die<br />
sich nicht um den Besuch ferner Gäste bemüht. Er erweitert<br />
die Absatzmärkte und sichert Arbeitsplätze. Er ist der<br />
drittgrößte Wirtschaftssektor weltweit. Hans-Martin Hinz,<br />
promovierter Geograph und Vorsitzender der von <strong>ICOM</strong><br />
und World Federation of Friends of Museums (WFFM) getra<br />
genen Arbeitsgruppe Kulturtourismus, schilderte zum<br />
Auftakt der Tagung eindrucksvoll, wie eng Tourismus und<br />
Kultur ineinander verflochten sind. Das weltweite Phänomen<br />
wird auf internationaler Ebene gehandhabt. 1998<br />
wurde die erste <strong>ICOM</strong>-Resolution zum Umgang mit Tourismus<br />
verabschiedet, 1999 die <strong>ICOM</strong>OS-Charta zum internationalen<br />
Kulturtourismus und der Global Code of<br />
Ethics for Tourism der World Tourism Organisation (WTO).<br />
Im Jahr 2000 wird erneut bekräftigt, dass das kulturelle<br />
Erbe kein Konsumprodukt ist oder werden darf, 2003 verfasst<br />
die UNESCO ihre Universal Declaration on Cultural<br />
Diversity and Tourism.<br />
Der Massentourismus und die damit einhergehende Vereinheitlichung<br />
bestimmte lange Zeit das Bild. Nun geht der<br />
Tourismus-Trend eher zu einem individuell gestalteten<br />
Freizeitverhalten. Reisende und Bereiste treten zunehmend<br />
intensiver in Kontakt und sollten die Gelegenheit zum Austausch<br />
nutzen. Museen stehen dabei an vorderster Front.<br />
Museen und Tourismus bieten sich gegenseitig Wachs tumschancen:<br />
Zum einen erhöhen Touristen die Besuchszahlen<br />
– die immer noch als ein Erfolgskriterium der Museen gelten<br />
–, zum anderen sind einige Häuser attraktive touris ti sche<br />
Argumente und fördern so den Tourismus. Auf einer tieferen<br />
Ebene ist die sinnstiftende Institution Museum ein Ort,<br />
in dem Identitäten erklärt und gefestigt werden (können),<br />
also auch inhaltlich zum Tourismuserlebnis beitragen.<br />
Hans-Martin Hinz<br />
Museen und Touristen – Enjoying Without Destroying<br />
Als Ergebnis von Urbanisierung, Produktivitätssteigerungen und Mo <br />
bilitätsentwicklung hat der Tourismus einen massenhaften Charak ter<br />
angenommen und ist inzwischen ein bedeutender Wirtschaftsbereich.<br />
In den „Gründerjahren“ kam es zu „frühindus triellen“ Aus wirkungen,<br />
die seit den 1970er Jahren weltweit Korrekturmaßnahmen<br />
nach sich zogen mit dem Ziel, Massentourismus in ökologisch und<br />
sozial verträgliche Bahnen zu lenken.<br />
In diesem Prozess gewannen Museen an Bedeutung und wurden ein<br />
wichtiges Marketingobjekt. Bekannte Museumsstandorte, Ausgrabungsstätten<br />
und historische Bauten erfahren aufgrund ihrer Architektur,<br />
historischen Bedeutung oder als sogenannte Leuchttürme<br />
inzwischen ein zu hohes Besucheraufkommen und somit eine Überlastung.<br />
Während Museen an weniger bekannten Standorten versuchen,<br />
stärker vom Kulturtourismus zu profitieren.<br />
Die Schnittstellen zwischen Tourismus und Museen vergrößerten<br />
sich durch die neue konzeptionelle Arbeit der Museen: Museumsbesucher<br />
entwickelten qualitätsvollere Ansprüche, auf die sich die Angebotsseite<br />
eingestellt hat. Die Kulturakteure haben in ihren For derungen<br />
nach größerer Nachhaltigkeit des Kulturtourismus nun stärker<br />
den Touristen als handelnde Person im Blick, der durch Auf klärung<br />
motiviert werden soll, ein umfassenderes Verständnis für Kultur und<br />
Natur aufzubringen. Museen wird dabei eine verantwortungs volle<br />
Rolle zugebilligt. Nachhaltigkeitseffekte durch Museumsarbeit zu<br />
erzielen, wäre daher ein bedeutender Dienst der Museen an der Gesellschaft.<br />
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