4. Konzept zur analytischen Rekonstruktion und zur Beurteilung von ...

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Kapitel 4: Zur Rekonstruktion und Beurteilung von Lernprozessen Beides jedoch setzt voraus, den Prozeß der Modellbildung sowohl bei der didaktischen Konstruktion als auch bei der analytischen Rekonstruktion von Lehr-Lern-Prozessen explizit zu machen. Wenn dies nicht geschieht, wenn derartige forschungsleitende „Unterrichtsbilder“ nicht mehr „reflektiert werden und als solche, d. h. als spezifische, von bestimmten Normen und Annahmen aus begründbare Zugriffe und Modellierungstypen, bewußt bleiben, dann droht Versteinerung und Dogmatisierung eines Bildes von Unterricht“ (RUMPF 1976a, S. 55). Im Zusammenhang der Lehr-Lern-Forschung wird die Problematik der angemessenen Modellierung seit geraumer Zeit diskutiert; erinnert sei hier nur an die Diskussion um „qualitative versus quantitative Verfahren“ (vgl. z. B. das entsprechende Themenheft der Zeitschrift „Unterrichtswissenschaft“, Heft 3/ 1984), an die Versuche, verschiedene Paradigmen der Lehr- Lern-Forschung kritisch gegeneinander abzuwägen (vgl. GAGE 1963; 1979; NUTHALL/SNOOK 1977; ULICH 1976; SHULMANN 1986; BORICH/KLINZING 1987) oder an die Forderungen im Gefolge des Paradigmenwechsels der Psychologie zum „Epistemologischen Subjektmodell“ (GROEBEN/SCHEELE 1977; HÄRLE 1980; HOFER 1981; 1986; TREIBER/WEINERT 1982; GROEBEN 1986; GROEBEN et al. 1988). Auf dem Wege zu einer forschungsleitenden Modellierung des Gegenstandsbereiches Übungsfirma wollen wir auf diese Diskussion nur insoweit Bezug nehmen, als es uns zur negativen Ausgrenzung sinnvoll scheint, Bestimmungselemente des in Unterrichtspraxis und -forschung wohl noch immer dominierenden „Instruktionsmodells des Lernens“ zu charakterisieren. Als Grundaxiom dieses tradierten Unterrichtsbildes sieht HÄRLE (1980, S. 251) die Annahme, daß das Lernen ein nicht näher aufzuschlüsselnder Vorgang sei, „der mit Sicherheit nur durch technisch-instrumentelle Akte der Instruktion in Gang gebracht, aufrecht erhalten und intensiviert werden kann.“ Lernen sei mithin definiert durch die Instruktionsbemühungen des (aktiven) Lehrenden, der den (passiven) Schüler anleitet, „in einem wohlabgegrenzten Terrain ... auf bestimmten wohlpräparierten Wegen fortzuschreiten“, deren Richtung festgelegt und vorgeschrieben ist (vgl. RUMPF 1976b, S. 171). Systematisierend nennt HÄRLE (1980, S. 257f.) u. a. folgende Annahmen, die in diesem „Instruktionsmodell des Lernens“ zum Ausdruck kommen: − „Instruktion und Lernhandeln werden quasi kausal aufeinander bezogen ... − Die Inhalte der Instruktion sind keiner Sinn-Interpretation bedürftig; sie sind vorher eindeutig definiert und repräsentieren die objektiv-logische Struktur des Gegenstandes ... − Instruktion heißt: ‘Implantieren präexistenter Richtigkeiten’ (MUTSCHLER/OTT 1975, S. 840) und Lernen: ‘Adaptive Übernahme einer vorfabrizierten Lernstruktur’... − Der Lernende wird als Träger von Merkmalsklassen bedeutsam, individuelle Erfahrungen zählen nur insoweit, als sie bereits auf der vorstrukturierten Instruktionslinie liegen. − Es wird nicht danach gefragt, ob Situationen und Aufgabenstellungen von den verschiedenen Lernbeteiligten ‘als identische aufgefaßt werden und ob ihre Reaktionen als identische gemeint waren’ (KRAPPMANN 1974, S. 19): wichtig wird einzig das Vermögen, ein der Instruktion komplementäres beobachtbares Verhalten produzieren zu können... 191

Kapitel 4: Zur Rekonstruktion und Beurteilung von Lernprozessen − Persönlichkeit bleibt dem Lernvorgang äußerlich: ‘der Lerner, seine Wirklichkeitsdefinition und seine privaten Theorien ... finden ... keine Berücksichtigung’ (LOSER/TERHART 1977, S. 39).“ Die paradigmatische Unterrichtsvorstellung, die diesem Instruktionsmodell entspricht, wird bei NUTHALL/SNOOK (1973, zit. nach der Übersetzung in LOSER/TERHART 1977, S. 58) folgendermaßen beschrieben: „Der Lehrer hält sich dabei an eine Reihe von Regeln, die festlegen, daß er am meisten reden sollte und zu jedem Zeitpunkt die spezifische Form und den spezifischen Inhalt des sprachlichen Spiels bestimmen sollte. Spielt er so, wie man es von ihm erwartet, so wird er die meiste Zeit damit verbringen, Fragen zu stellen und Schülerantworten zu kommentieren ... Die Regeln für die Schüler sind dagegen viel restriktiver. Die Hauptaufgaben des Schülers bestehen darin, Fragen zu beantworten, wann immer er dazu aufgefordert wird... Die meiste Zeit wird der Schüler damit verbringen, den Antworten anderer Schüler und den hieran anschließenden Lehrerkommentaren zuzuhören“. Diese Charakterisierung des tradierten „Unterrichtsspiels“ auf der Grundlage des Instruktionsmodells des Lernens zeigt unmittelbar, daß Lehren und Lernen in der Übungsfirma sich kaum in die herkömmlichen Wahrnehmungs- und Urteilsschemata werden einfügen lassen. Übungsfirmenarbeit fordert allen Beteiligten ein im Vergleich zum konventionellen Unterricht anderes Rollenverständnis, veränderte Wahrnehmungs- Handlungs- und Urteilsformen ab. Dies bedeutet nun zum einen die Gefährdung von Orientierungs- und Handlungssicherheit; es erfordert die Bereitschaft sich auf Situationen einzulassen, die sich als subjektiv neuartig und in ihrer Verlaufsstruktur als offen und schlecht beherrschbar darstellen. Zugleich jedoch liegt in diesem Assimilationsdefizit eine grundlegende Chance der Übungsfirmenarbeit, eine neue Leitvorstellung des Lern-Lehr-Prozesses paradigmatisch zu entwickeln und letzlich auch auf den konventionellen Klassenunterricht ausstrahlen zu lassen. Wenn nämlich die herkömmlichen Muster zur Erfassung von Lehr-Lern-Prozessen angesichts der Besonderheiten der Übungsfirmenarbeit versagen, so ist damit zugleich die Notwendigkeit gegeben, aktiv eine adäquate Gegenstandsauffassung, ein tragfähiges Orientierungs- und Handlungsmodell aufzubauen. Bevor wir diesen Gedanken weiterverfolgen und die theoretischen Grundlagen einer pädagogisch angemessenen, subjektorientierten Gegenstandsauffassung (Modellierung) entwickeln, gilt es zunächst zu zeigen, daß und wie dieses Orientierungsdefizit in der Übungsfirmenpraxis und in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand bislang „behoben“ wird. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Eine derartige - häufig implizite - Modellvorstellung vom Lernen und Lehren in der Übungsfirma hat sich längst herausgebildet. Dies ist im Grunde selbstverständlich, wenn man sich unsere Ausgangsaussage ins Gedächtnis zurückruft, daß alle Erkenntnis und alle Handlung theoriegeleitet erfolgen. Das traditionell verbreitete Leitmodell der Übungsfirmenarbeit ist die idealisierte betriebliche Praxis bzw. Ausbildungspraxis. Und in diesem Leitmodell lassen sich zentrale Grundannahmen hinsichtlich des menschlichen Lernens wiederfinden, die auch schon ins oben beschriebene traditionelle Instruktionsmodell des Lernens Eingang gefunden haben. 192

Kapitel 4: Zur <strong>Rekonstruktion</strong> <strong>und</strong> <strong>Beurteilung</strong> <strong>von</strong> Lernprozessen<br />

− Persönlichkeit bleibt dem Lernvorgang äußerlich: ‘der Lerner, seine<br />

Wirklichkeitsdefinition <strong>und</strong> seine privaten Theorien ... finden ... keine Berücksichtigung’<br />

(LOSER/TERHART 1977, S. 39).“<br />

Die paradigmatische Unterrichtsvorstellung, die diesem Instruktionsmodell entspricht, wird<br />

bei NUTHALL/SNOOK (1973, zit. nach der Übersetzung in LOSER/TERHART 1977, S. 58)<br />

folgendermaßen beschrieben:<br />

„Der Lehrer hält sich dabei an eine Reihe <strong>von</strong> Regeln, die festlegen, daß er am meisten<br />

reden sollte <strong>und</strong> zu jedem Zeitpunkt die spezifische Form <strong>und</strong> den spezifischen<br />

Inhalt des sprachlichen Spiels bestimmen sollte. Spielt er so, wie man es <strong>von</strong> ihm erwartet,<br />

so wird er die meiste Zeit damit verbringen, Fragen zu stellen <strong>und</strong> Schülerantworten<br />

zu kommentieren ... Die Regeln für die Schüler sind dagegen viel restriktiver.<br />

Die Hauptaufgaben des Schülers bestehen darin, Fragen zu beantworten, wann<br />

immer er dazu aufgefordert wird... Die meiste Zeit wird der Schüler damit verbringen,<br />

den Antworten anderer Schüler <strong>und</strong> den hieran anschließenden Lehrerkommentaren<br />

zuzuhören“.<br />

Diese Charakterisierung des tradierten „Unterrichtsspiels“ auf der Gr<strong>und</strong>lage des Instruktionsmodells<br />

des Lernens zeigt unmittelbar, daß Lehren <strong>und</strong> Lernen in der Übungsfirma sich kaum<br />

in die herkömmlichen Wahrnehmungs- <strong>und</strong> Urteilsschemata werden einfügen lassen. Übungsfirmenarbeit<br />

fordert allen Beteiligten ein im Vergleich zum konventionellen Unterricht<br />

anderes Rollenverständnis, veränderte Wahrnehmungs- Handlungs- <strong>und</strong> Urteilsformen ab.<br />

Dies bedeutet nun zum einen die Gefährdung <strong>von</strong> Orientierungs- <strong>und</strong> Handlungssicherheit; es<br />

erfordert die Bereitschaft sich auf Situationen einzulassen, die sich als subjektiv neuartig <strong>und</strong><br />

in ihrer Verlaufsstruktur als offen <strong>und</strong> schlecht beherrschbar darstellen. Zugleich jedoch liegt<br />

in diesem Assimilationsdefizit eine gr<strong>und</strong>legende Chance der Übungsfirmenarbeit, eine neue<br />

Leitvorstellung des Lern-Lehr-Prozesses paradigmatisch zu entwickeln <strong>und</strong> letzlich auch auf<br />

den konventionellen Klassenunterricht ausstrahlen zu lassen. Wenn nämlich die<br />

herkömmlichen Muster <strong>zur</strong> Erfassung <strong>von</strong> Lehr-Lern-Prozessen angesichts der<br />

Besonderheiten der Übungsfirmenarbeit versagen, so ist damit zugleich die Notwendigkeit<br />

gegeben, aktiv eine adäquate Gegenstandsauffassung, ein tragfähiges Orientierungs- <strong>und</strong><br />

Handlungsmodell aufzubauen.<br />

Bevor wir diesen Gedanken weiterverfolgen <strong>und</strong> die theoretischen Gr<strong>und</strong>lagen einer pädagogisch<br />

angemessenen, subjektorientierten Gegenstandsauffassung (Modellierung) entwickeln,<br />

gilt es zunächst zu zeigen, daß <strong>und</strong> wie dieses Orientierungsdefizit in der Übungsfirmenpraxis<br />

<strong>und</strong> in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand bislang „behoben“<br />

wird. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Eine derartige - häufig implizite -<br />

Modellvorstellung vom Lernen <strong>und</strong> Lehren in der Übungsfirma hat sich längst herausgebildet.<br />

Dies ist im Gr<strong>und</strong>e selbstverständlich, wenn man sich unsere Ausgangsaussage ins Gedächtnis<br />

<strong>zur</strong>ückruft, daß alle Erkenntnis <strong>und</strong> alle Handlung theoriegeleitet erfolgen. Das traditionell<br />

verbreitete Leitmodell der Übungsfirmenarbeit ist die idealisierte betriebliche Praxis bzw.<br />

Ausbildungspraxis. Und in diesem Leitmodell lassen sich zentrale Gr<strong>und</strong>annahmen<br />

hinsichtlich des menschlichen Lernens wiederfinden, die auch schon ins oben beschriebene<br />

traditionelle Instruktionsmodell des Lernens Eingang gef<strong>und</strong>en haben.<br />

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