4. Konzept zur analytischen Rekonstruktion und zur Beurteilung von ...

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Kapitel 4: Zur Rekonstruktion und Beurteilung von Lernprozessen Bezogen auf den uns interessierenden pädagogischen Gegenstandsbereich bleibt festzuhalten, daß die Konstitution des Erkenntnisgegenstandes keinesfalls sachimmanent gegeben, sondern Ausdruck unseres spezifischen Vorverständnisses ist. Entsprechend läßt sich sagen, daß unsere Wahrnehmung der Übungsfirma, durch unsere „Vorstellung“ von diesem Gegenstandsbereich bestimmt wird, die wiederum natürlich auch Ausfluß unserer spezifischen Erfahrungen mit Übungsfirmenarbeit, Schule und Lernen ist. Letztlich handelt es sich um ein Verhältnis von theoretischer Konzeptualisierung und Empirie, das in zeitlichlinearer Abfolge keinesfalls angemessen zu beschreiben ist. Wir können festhalten, daß empirische Wissenschaft - wie auch individuelle Erkenntnistätigkeit - als aktiver, theoriegeleiteter und umweltbezogener Aufbauprozeß zu verstehen ist, der den Gegenstand seiner Erkenntnis nicht vorfindet, sondern sich ihn durch aktive Wahrnehmungs- und Erkenntnistätigkeit und damit letztlich durch eigene, mehr oder weniger reflektierte Entscheidung herrichtet. HEYMANN (1984, S. 234) weist darauf hin, daß durch die Gesamtheit der mentalen Aktivitäten des Forschers „ein Modell des Untersuchungsgegenstandes geschaffen“ werde: „Reale Lebensfülle wird durch den Prozeß der Modellierung im Hinblick auf die jeweilige Fragestellung auf einige wenige Aspekte zurückgeschnitten, wodurch der Untersuchungsgegenstand begrifflich verfügbar gemacht und gleichzeitig interpretiert wird.“ Über diesen Prozeß wird vorbestimmt, welche Variablen oder Beziehungen zwischen Variablen als relevant angenommen werden, welche Schichten des Problemfeldes auf welchem Bestimmtheitsniveau beschrieben werden, welche Instrumente und wissenschaftsmethodischen Standards zur Anwendung kommen (vgl. hierzu auch GIGERENZER 1981; SEMBILL 1981; SEEL 1991). HEYMANN bezieht sich in seiner Darstellung auf das neopragmatische Modellkonzept STACHOWIAKs (1973), dessen zentrale These besagt, daß „alle Erkenntnis Erkenntnis in Modellen oder durch Modelle“ sei (ebenda, S. 56); entsprechend sei „ein begriffliches Fassen von Erfahrung ohne Modelle nicht möglich“ (HEYMANN 1984, S. 234). Der Modellbegriff wird nach STACHOWIAK (1980b, S. 29) durch drei Merkmale definiert: − „Modelle sind ... immer Modelle von etwas, Abbildungen, Repräsentationen natürlicher oder künstlicher Originale (die selbst wieder Modelle sein können).“ − Modelle „erfassen im allgemeinen nicht alle Originalattribute, sondern stets nur solche, die für den Modellbildner und/ oder Modellverwender relevant sind“. − Modelle „erfüllen ihre Ersetzungsfunktion stets a) für bestimmte Erkenntnis- und/oder Aktionssubjekte, b) innerhalb bestimmter Zeitintervalle der Originalrepräsentation und c) relativ zu bestimmten Zwecken und Zielen, denen die Modellbildung und die Modelloperationen unterliegen“. Die zentrale Funktion und Leistung dieser Modellbildung liegt in der Reduktion von Komplexität durch Weglassen, Hervorheben und durch die Erzeugung von Transparenz und Regelhaftigkeit. Modelle sind in dem Sinne forschungsleitend, als sie es erlauben, Fragen zu generieren und ihre Relevanz zu beurteilen, als sie das Spektrum möglicher Forschungsmethoden eingrenzen und strukturieren und es schließlich ermöglichen, 189

Kapitel 4: Zur Rekonstruktion und Beurteilung von Lernprozessen Analyseergebnisse in den systematischen Kontext rückzubinden und zu interpretieren. Im Wissenschaftsprozeß lassen sich mindestens vier Stufen der Reduktion im Zuge dieser Modellbildung identifizieren: − die implizite Reduktion im Zuge der vorwissenschaftlichen Wahrnehmung, deren Grundlage biologische Erkenntnisgrenzen (z. B. die „Unmöglichkeit“ der Wahrnehmung kognitiver Prozesse anderer Menschen), stammesgeschichtlich gewachsene Erkenntnishemmnisse (z. B. monokausale Denktradition) und sozial tradierte Erkenntnisgewohnheiten sind (z. B. lehrerzentriertes, kausalistisches Unterrichtsbild) (vgl. z. B. LORENZ 1973; RIEDL 1979; 1985; MATURANA/VARELA 1987; SCHMIDT 1987; ARNOLD/SIEBERT 1995). − die Reduktion im Zuge der Abgrenzung des Erkenntnisgegenstandes, die implizite wie explizite Entscheidungsanteile aufweist. Auf dieser Ebene wird der Modellierungsprozeß wohl i.d.R. am direktesten thematisiert. Allerdings erfolgt dies wiederum meist nur innerhalb der disziplinär tradierten Abgrenzung von Erkenntnisobjekt und Fragestellung (vgl. z. B. ALISCH/RÖSSNER 1978; TERHART 1978; GROEBEN et al. 1988). − die Reduktion im Zuge der instrumentellen Erfassung und Abbildung des Erkenntnisgegenstandes (vgl. GIGERENZER 1981; 1984; SEMBILL 1984; GROEBEN 1986). − schließlich die Reduktion bei der analytischen Auswertung der Daten und bei der interpretativen Rückbindung in den inhaltlich-systematischen Kontext. Bezogen auf jede dieser Reduktionsebenen ist mit der Chance der Komplexitätsreduktion zugleich die Gefahr verbunden, daß der Erkenntnisgegenstand durch die Modellierung verkürzt oder verzerrt erfaßt wird, daß wichtige Fragen und mögliche Erkenntniswege übersehen und vorliegende Daten einseitig interpretiert werden. Unter diesem Gesichtspunkt spricht RUMPF (1976a, S.55) kritisch von „eingeschliffenen Formen der Wahrnehmung, Zuordnung, Erklärung, Wertung, Akzentuierung sozialer oder natürlicher Gegebenheiten“, die den Erfahrungsund Handlungsspielraum ihrer Inhaber weitgehend festlegen. Als Kriterium für die Angemessenheit der Modellierung wäre hierbei letztlich - der pragmatischen Ausrichtung der Modelltheorie und ihrem erkenntnistheoretischen Liberalismus entsprechend - die Befriedigung des jeweiligen erkenntnisleitenden Interesses anzusehen. Auf den erziehungswissenschaftlichen Problemzusammenhang bezogen muß sich die Modellbildung entsprechend vor dem Hintergrund ihrer Eignung zur Erklärung und Gestaltung pädagogischer Prozesse beurteilen lassen. Eine direkter zugreifende Möglichkeit zur Beurteilung erziehungswissenschaftlicher Modellbildung ergibt sich aus der Tatsache, daß diese ja nicht voraussetzungslos erfolgt, sondern auf ein komplexes Gefüge normativer, theoretischer und methodologischer Annahmen und Standards zurückgreift (vgl. HEYMANN 1984, S. 235; NUTHALL/SNOOK 1977). Wo sich solche Annahmen als unhaltbar oder inkompatibel erwiesen haben, wo sie in ihrer Problematik und Interessengebundenheit erkannt sind, können auch die darauf beruhenden Modellierungen zurückgewiesen bzw. problematisiert werden. Und wo andererseits im Bereich relevanter Bezugstheorien Normen und Standards anerkannt sind, sollten diese ausdrücklich auch im Zuge der Modellbildung berücksichtigt werden. 190

Kapitel 4: Zur <strong>Rekonstruktion</strong> <strong>und</strong> <strong>Beurteilung</strong> <strong>von</strong> Lernprozessen<br />

Analyseergebnisse in den systematischen Kontext rückzubinden <strong>und</strong> zu interpretieren. Im<br />

Wissenschaftsprozeß lassen sich mindestens vier Stufen der Reduktion im Zuge dieser<br />

Modellbildung identifizieren:<br />

− die implizite Reduktion im Zuge der vorwissenschaftlichen Wahrnehmung, deren<br />

Gr<strong>und</strong>lage biologische Erkenntnisgrenzen (z. B. die „Unmöglichkeit“ der Wahrnehmung<br />

kognitiver Prozesse anderer Menschen), stammesgeschichtlich gewachsene<br />

Erkenntnishemmnisse (z. B. monokausale Denktradition) <strong>und</strong> sozial tradierte<br />

Erkenntnisgewohnheiten sind (z. B. lehrerzentriertes, kausalistisches Unterrichtsbild) (vgl.<br />

z. B. LORENZ 1973; RIEDL 1979; 1985; MATURANA/VARELA 1987; SCHMIDT 1987;<br />

ARNOLD/SIEBERT 1995).<br />

− die Reduktion im Zuge der Abgrenzung des Erkenntnisgegenstandes, die implizite wie<br />

explizite Entscheidungsanteile aufweist. Auf dieser Ebene wird der Modellierungsprozeß<br />

wohl i.d.R. am direktesten thematisiert. Allerdings erfolgt dies wiederum meist nur innerhalb<br />

der disziplinär tradierten Abgrenzung <strong>von</strong> Erkenntnisobjekt <strong>und</strong> Fragestellung (vgl.<br />

z. B. ALISCH/RÖSSNER 1978; TERHART 1978; GROEBEN et al. 1988).<br />

− die Reduktion im Zuge der instrumentellen Erfassung <strong>und</strong> Abbildung des Erkenntnisgegenstandes<br />

(vgl. GIGERENZER 1981; 1984; SEMBILL 1984; GROEBEN 1986).<br />

− schließlich die Reduktion bei der <strong>analytischen</strong> Auswertung der Daten <strong>und</strong> bei der interpretativen<br />

Rückbindung in den inhaltlich-systematischen Kontext.<br />

Bezogen auf jede dieser Reduktionsebenen ist mit der Chance der Komplexitätsreduktion zugleich<br />

die Gefahr verb<strong>und</strong>en, daß der Erkenntnisgegenstand durch die Modellierung verkürzt<br />

oder verzerrt erfaßt wird, daß wichtige Fragen <strong>und</strong> mögliche Erkenntniswege übersehen <strong>und</strong><br />

vorliegende Daten einseitig interpretiert werden. Unter diesem Gesichtspunkt spricht RUMPF<br />

(1976a, S.55) kritisch <strong>von</strong> „eingeschliffenen Formen der Wahrnehmung, Zuordnung, Erklärung,<br />

Wertung, Akzentuierung sozialer oder natürlicher Gegebenheiten“, die den Erfahrungs<strong>und</strong><br />

Handlungsspielraum ihrer Inhaber weitgehend festlegen.<br />

Als Kriterium für die Angemessenheit der Modellierung wäre hierbei letztlich - der pragmatischen<br />

Ausrichtung der Modelltheorie <strong>und</strong> ihrem erkenntnistheoretischen Liberalismus<br />

entsprechend - die Befriedigung des jeweiligen erkenntnisleitenden Interesses anzusehen. Auf<br />

den erziehungswissenschaftlichen Problemzusammenhang bezogen muß sich die<br />

Modellbildung entsprechend vor dem Hintergr<strong>und</strong> ihrer Eignung <strong>zur</strong> Erklärung <strong>und</strong><br />

Gestaltung pädagogischer Prozesse beurteilen lassen.<br />

Eine direkter zugreifende Möglichkeit <strong>zur</strong> <strong>Beurteilung</strong> erziehungswissenschaftlicher Modellbildung<br />

ergibt sich aus der Tatsache, daß diese ja nicht voraussetzungslos erfolgt, sondern auf<br />

ein komplexes Gefüge normativer, theoretischer <strong>und</strong> methodologischer Annahmen <strong>und</strong> Standards<br />

<strong>zur</strong>ückgreift (vgl. HEYMANN 1984, S. 235; NUTHALL/SNOOK 1977). Wo sich solche Annahmen<br />

als unhaltbar oder inkompatibel erwiesen haben, wo sie in ihrer Problematik <strong>und</strong> Interessengeb<strong>und</strong>enheit<br />

erkannt sind, können auch die darauf beruhenden Modellierungen <strong>zur</strong>ückgewiesen<br />

bzw. problematisiert werden. Und wo andererseits im Bereich relevanter Bezugstheorien<br />

Normen <strong>und</strong> Standards anerkannt sind, sollten diese ausdrücklich auch im Zuge der<br />

Modellbildung berücksichtigt werden.<br />

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