4. Konzept zur analytischen Rekonstruktion und zur Beurteilung von ...

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Kapitel 4: Zur Rekonstruktion und Beurteilung von Lernprozessen Es scheint uns zweckmäßig, zur Klärung dieser Frage auf einen Gedanken des amerikanischen Öko-Psychologen Urie BRONFENBRENNER Bezug zu nehmen, wonach menschliche Handlungssysteme „topologisch als ein verschachteltes System von Strukturen“ konzeptualisiert werden können: „Diese umfassen Mikro-Systeme (unmittelbarer Handlungsraum), Meso-Systeme (die Interaktion zwischen solchen unmittelbaren Handlungsräumen), Exo-Systeme (soziale Strukturen, zu denen der Organismus nicht zählt, die aber die unmittelbaren Handlungsräume beeinflussen) und das Makro-System (die Kultur und die volkswirtschaftliche Szene, in die alle Systeme eingebettet sind).“ (GARBARINO 1979, S. 104). Im Zentrum dieser Betrachtung stehen die Mikro-Systeme, also konkrete Einheiten der Person-Umwelt-Interaktion, die in abstrakter Betrachtung, als „Settings“ konzeptualisiert werden können. Nach OERTER (1987, S. 91 unter Bezug auf BARKER 1968 und BARKER/WRIGHT 1954) sind derartige Settings geprägt durch a) kollektive, normierte Verhaltensmuster, „die an einem bestimmten Ort und zu einem festen Zeitpunkt auftreten und nicht an ein bestimmtes Individuum gebunden sind,“ und durch b) ein physikalisches und soziales Milieu, „das die Verhaltensmuster umgibt und an sie angepaßt ist.“ In Anlehnung an diese Sicht - nicht jedoch als strenge Anwendung des Konzepts - sehen wir den konkret stattfindenden Lehr-Lern-Prozeß im Klassenzimmer als zentrales Setting schulischen Unterrichts (der durchaus auch als Komplex kleiner konstruierter Settings gesehen werden kann, wie z. B. Lehrer-Schüler Dyade, Schüler-Mitschüler-Dyade etc.). Dieser Lehr-Lern- Prozeß ist eingebettet in ein Gefüge parallel stattfindender Lehr-Lern-Prozesse, die insofern eigene Settings bilden, als ihr Gegenstand (und oft auch der Lehrende sowie der Raum) variiert. Damit verbunden werden vermutlich zumindest graduell abweichende Verhaltensnormen gelten. Weiterhin scheint es uns möglich, aus der Sicht des Lernenden unterschiedliche Handlungsebenen zu identifizieren, denen zugleich unterscheidbare Sozial- und Normsysteme korrespondieren; Handlungsebenen, die die Rollendefinition und die Handlungsorientierung des Schüler in unterschiedlicher Weise akzentuieren und die sich damit auf den konkreten Lehr-Lern-Prozeß auswirken: − Das Handeln im sozial-normativen Rahmen des Klassenverbandes als Mitschüler bzw. Schüler. Die Ausführung konkreter Lernhandlungen ist Teil dieses Settings, wird jedoch ergänzt und überlagert durch ein relativ überdauerndes System sozial-kommunikativer Handlungsbeziehungen zwischen den Schülern und im Verhältnis der Schüler zum Lehrer. Ergänzend zum Lehr-Lern-Prozeß treten Handlungen zum Klassenmanagement, zur Lösung sozialer Konflikte oder schlicht zum Aufbau mitmenschlicher Beziehungen (durchaus im Sinne des pädagogischen Verhältnisses) hinzu; überlagert wird der Lehr- Lern-Prozeß durch parallel verfolgte Handlungsziele (im Sinne von Mehrfachhandlungen, vgl. FUHRER 1984) sowohl auf Seiten des Lehrers (z. B. Disziplinierung, Prüfung) als auch auf Seiten des Schülers (Verbergen von Lernschwierigkeiten, nicht-thematische Kommunikation mit Mitschülern, vgl. HEINZE 1980). 217

Kapitel 4: Zur Rekonstruktion und Beurteilung von Lernprozessen − Das Handeln im sozial-normativen Rahmen der Schule. Hiermit sind das die einzelnen Unterrichts-Settings verbindende „Meso-System“ angesprochen, ebenso jedoch Handlungen, die sich außerhalb des Unterrichts, jedoch im Rahmen der Schule abspielen (Pausen, Schülermitverwaltung etc.). Wesentlich ist dabei, daß den Schülern Rollendefinitionen und Handlungsnormen vermittelt werden, auf die hin sie ihr Handeln ausrichten (gleich ob anpassend oder sich widersetzend). Auf dieser Ebene der Betrachtung tritt der Aspekt der institutionellen Eingebundenheit des Lernhandelns deutlich zutage: die Handlungsmöglichkeiten der Schüler werden nicht allein in der je aktuellen Interaktion der Lehr-Lern-Situation definiert, sondern sie sind in hohem Maße vorherbestimmt, vorgeformt, der eigenen Gestaltung unzugänglich. Diese formal-bürokratische Vorformung des Lehr-Lern-Prozesses ergibt sich aus der Organisationsstruktur der Schule (Klassenprinzip, Fächerung, 45-Minuten-Stunde, Hierarchie der Ämter etc.), aber auch aus den expliziten Handlungsvorgaben (Lehrplan, Schulordnung) und den internalisierten Rollenvorschriften, wie sie von Lehrern und Schülern befolgt werden (vgl. hierzu bezogen auf das Lehrerhandeln Hofer 1986, S. 354ff.). RUMPF (1971, S.65) kennzeichnet schulisches Handeln von Lehrern und Schülern als bürokratisches oder zumindest bürokratisch überformtes Handeln: „Das System honoriert auf allen Stufen - vom Ministerialbeamten über den Direktor und den Lehrer bis zum Schüler - den, der keine Probleme und Schwierigkeiten bei der Ausführung der Vorschriften hat oder zu haben vorgibt, und den, der sich die Schulwelt nicht ganz anders denkt, als sie ist. Wer unauffällig seine Pflicht tut - und dazu gehört es auch, sich keine Scherereien mit Vorgesetzten zu machen -, der darf auf günstige Beurteilung bei den Oberen hoffen, er hat gewisse Aussichten, selbst einmal zu diesen Oberen zu gehören“. Der Frage nach den sozialisatorischen Konsequenzen dieser bürokratischen Überformung des Lernhandelns kann an dieser Stelle nicht nachgegangen werden (vgl. dazu z. B. FEND 1980). Für unseren Zusammenhang bleibt festzuhalten, daß das Lernhandeln - wie auch das Lehrhandeln - in ein Gefüge von Handlungsvorgaben und Rollenvorschriften eingebunden ist; es ist aber auch festzuhalten, daß dieses Gefüge immer noch erhebliche Handlungsspielräume für die Gestaltung des Lehr-Lern-Prozesses bereitstellt und daß selbst einschränkende Bedingungen dann zu sozialisatorisch wertvollen Erfahrungen führen können, wenn sie Gegenstand unterrichtlicher Reflexion werden (vgl. STEINHOFF 1981). - Das Handeln im sozial-normativen Rahmen des Schul- und Bildungssystems. Die soeben angesprochenen institutionellen Rahmenbedingungen schulisch organisierten Lernens sind letztlich Ausdruck dafür, daß Schule und Unterricht im gesellschaftlichen Auftrag und unter staatlicher Kontrolle stattfinden und daß damit für die gesellschaftliche Reproduktion bedeutsame Zwecke verfolgt werden. Der Beamtenstatus der Lehrerschaft, die Regelung der Bildungsorganisation über Schulgesetze, die staatlich Verordnung von Lehrplänen und nicht zuletzt die staatliche Schulaufsicht sind Ausdruck dieses Sachverhalts. Wenn hier nochmals gesondert auf den sozial-normativen Rahmen des Schul- und Bildungssystems für das Lernhandeln hingewiesen wird, dann deshalb, weil diese Ebene auch in der sinngebenden Handlungsorientierung des einzelnen Schülers existent ist. Am offensichtlichsten dürfte dieser Zusammenhang im Kontext des Berechtigungswesens 218

Kapitel 4: Zur <strong>Rekonstruktion</strong> <strong>und</strong> <strong>Beurteilung</strong> <strong>von</strong> Lernprozessen<br />

Es scheint uns zweckmäßig, <strong>zur</strong> Klärung dieser Frage auf einen Gedanken des amerikanischen<br />

Öko-Psychologen Urie BRONFENBRENNER Bezug zu nehmen, wonach menschliche Handlungssysteme<br />

„topologisch als ein verschachteltes System <strong>von</strong> Strukturen“ konzeptualisiert<br />

werden können:<br />

„Diese umfassen Mikro-Systeme (unmittelbarer Handlungsraum), Meso-Systeme (die<br />

Interaktion zwischen solchen unmittelbaren Handlungsräumen), Exo-Systeme<br />

(soziale Strukturen, zu denen der Organismus nicht zählt, die aber die unmittelbaren<br />

Handlungsräume beeinflussen) <strong>und</strong> das Makro-System (die Kultur <strong>und</strong> die volkswirtschaftliche<br />

Szene, in die alle Systeme eingebettet sind).“ (GARBARINO 1979, S. 104).<br />

Im Zentrum dieser Betrachtung stehen die Mikro-Systeme, also konkrete Einheiten der Person-Umwelt-Interaktion,<br />

die in abstrakter Betrachtung, als „Settings“ konzeptualisiert werden<br />

können. Nach OERTER (1987, S. 91 unter Bezug auf BARKER 1968 <strong>und</strong> BARKER/WRIGHT<br />

1954) sind derartige Settings geprägt durch<br />

a) kollektive, normierte Verhaltensmuster, „die an einem bestimmten Ort <strong>und</strong> zu einem<br />

festen Zeitpunkt auftreten <strong>und</strong> nicht an ein bestimmtes Individuum geb<strong>und</strong>en sind,“ <strong>und</strong><br />

durch<br />

b) ein physikalisches <strong>und</strong> soziales Milieu, „das die Verhaltensmuster umgibt <strong>und</strong> an sie<br />

angepaßt ist.“<br />

In Anlehnung an diese Sicht - nicht jedoch als strenge Anwendung des <strong>Konzept</strong>s - sehen wir<br />

den konkret stattfindenden Lehr-Lern-Prozeß im Klassenzimmer als zentrales Setting schulischen<br />

Unterrichts (der durchaus auch als Komplex kleiner konstruierter Settings gesehen werden<br />

kann, wie z. B. Lehrer-Schüler Dyade, Schüler-Mitschüler-Dyade etc.). Dieser Lehr-Lern-<br />

Prozeß ist eingebettet in ein Gefüge parallel stattfindender Lehr-Lern-Prozesse, die insofern<br />

eigene Settings bilden, als ihr Gegenstand (<strong>und</strong> oft auch der Lehrende sowie der Raum)<br />

variiert. Damit verb<strong>und</strong>en werden vermutlich zumindest graduell abweichende Verhaltensnormen<br />

gelten.<br />

Weiterhin scheint es uns möglich, aus der Sicht des Lernenden unterschiedliche Handlungsebenen<br />

zu identifizieren, denen zugleich unterscheidbare Sozial- <strong>und</strong> Normsysteme<br />

korrespondieren; Handlungsebenen, die die Rollendefinition <strong>und</strong> die Handlungsorientierung<br />

des Schüler in unterschiedlicher Weise akzentuieren <strong>und</strong> die sich damit auf den konkreten<br />

Lehr-Lern-Prozeß auswirken:<br />

− Das Handeln im sozial-normativen Rahmen des Klassenverbandes als Mitschüler bzw.<br />

Schüler. Die Ausführung konkreter Lernhandlungen ist Teil dieses Settings, wird jedoch<br />

ergänzt <strong>und</strong> überlagert durch ein relativ überdauerndes System sozial-kommunikativer<br />

Handlungsbeziehungen zwischen den Schülern <strong>und</strong> im Verhältnis der Schüler zum Lehrer.<br />

Ergänzend zum Lehr-Lern-Prozeß treten Handlungen zum Klassenmanagement, <strong>zur</strong><br />

Lösung sozialer Konflikte oder schlicht zum Aufbau mitmenschlicher Beziehungen<br />

(durchaus im Sinne des pädagogischen Verhältnisses) hinzu; überlagert wird der Lehr-<br />

Lern-Prozeß durch parallel verfolgte Handlungsziele (im Sinne <strong>von</strong> Mehrfachhandlungen,<br />

vgl. FUHRER 1984) sowohl auf Seiten des Lehrers (z. B. Disziplinierung, Prüfung) als auch<br />

auf Seiten des Schülers (Verbergen <strong>von</strong> Lernschwierigkeiten, nicht-thematische<br />

Kommunikation mit Mitschülern, vgl. HEINZE 1980).<br />

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