4. Konzept zur analytischen Rekonstruktion und zur Beurteilung von ...

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Kapitel 4: Zur Rekonstruktion und Beurteilung von Lernprozessen In seiner deutlichen Frontstellung gegen den Platonischen Idealismus hebt DEWEY die Bedeutung hervor, die der Auseinandersetzung mit der Außenwelt zukommt - sei sie materiell, sozial oder der Welt der Ideen und der Kultur zuzurechnen. Erfahrung ist nur möglich, wo geantwortet wird, und diese Antwort, die der Erfahrene antizipiert, verkörpert auch den Zwang zur Anpassung an die Gegebenheiten. Zugleich jedoch eröffnet der Prozeß der Erfahrungsbildung dem Lernenden die Chance, diese objektiven Begrenzungen selbst handelnd und denkend zu erkunden. Und dies heißt dann auch, sie immer wieder in Frage zu stellen und - wo möglich - auch gestaltend zu verändern. Es heißt schließlich, den Erfahrungen anderer nicht blindlings zu vertrauen, gleich ob sie einem als Rat, als Vorurteil, als Lehrstoff oder als wissenschaftliche Theorie begegnen. All dies kennzeichnet die Chance des Lernenden, seinen Freiheitsraum selbst zu erkunden und im Laufe weiterer Erfahrungen auszudehnen. Vor diesem Hintergrund und im Kontext seiner ausdrücklichen Begründung verliert dann auch einer der bekanntesten Sätze DEWEYs (1915/1964, S. 193) seinen weltfremdpolemischen Beiklang : „Ein Gramm Erfahrung ist besser als eine Tonne Theorie, einfach deswegen, weil jede Theorie nur in der Erfahrung lebendige und der Nachprüfung zugängliche Bedeutung hat. Eine Erfahrung, selbst eine sehr bescheidene Erfahrung kann Theorie in jedem Umfange erzeugen und tragen, aber eine Theorie ohne Bezugnahme auf irgendwelche Erfahrung kann nicht einmal als Theorie bestimmt und klar erfaßt werden. Sie wird leicht zu einer bloßen sprachlichen Formel, zu einem Schlagwort, das verwendet wird, um das Denken, das rechte ‘Theoretisieren’ unnötig und unmöglich zu machen.“ Der Prozeß der Erfahrungsbildung, den DEWEY als Voraussetzung einer Erziehung zur Demokratie verstand, zielt deutlich auf die Mündigkeit des einzelnen Schülers. Mündigkeit, im Sinne ADORNOs (1970, S. 114) verstanden, als Befreiung des Menschen von Bevormundung und als Befähigung zur selbständigen, bewußten Entscheidung, vereint in sich dialektisch rationale Anpassung an Bestehendes und Widerstand gegen bloß Gesetztes. Es bedarf keiner besonderen Erläuterung, daß diese Kennzeichnung eines erfahrungsbezogenen und erfahrungsbildenden Lernhandelns ein pädagogisches Programm darstellt und wohl tatsächlich nur selten bzw. nur in Ansätzen verwirklicht worden ist. Mit diesem Programm verbindet sich durchaus noch eine Reihe ungelöster Fragen; auf einige werden wir noch zu sprechen kommen. Wir meinen dennoch, daß die hier diskutierte Kategorie der Erfahrungsqualität geeignet ist, auch deskriptiv-analytisch zur Erfassung und zur Beurteilung eines jeden Unterrichts beizutragen. DEWEY selbst weist darauf hin, daß es ein großer Fehler wäre zu glauben, die Schüler hätten im traditionellen Klassenzimmer keine Erfahrungen gemacht. Es seien jedoch wohl mangelhafte und falsche Erfahrungen gewesen (1974, S. 254). Mit dieser Feststellung ist die Frage nach den „Kriterien der Erfahrung“ verbunden. DEWEY führt hier zunächst das Prinzip der „Kontinuität der Erfahrung“ ein, d. h. er formuliert als Ziel, „diejenige Art von Erfahrungen auszuwählen, die fruchtbar und schöpferisch in nachfolgenden Erfahrungen fortleben“ (ebenda, S. 255). Im Sinne der modernen Entwicklungs- 213

Kapitel 4: Zur Rekonstruktion und Beurteilung von Lernprozessen psychologie (vgl. z. B. die Beiträge in WALTER/OERTER 1979 oder OERTER/MONTADA 1987) würde man von Erfahrungen sprechen, die den Entwicklungsprozeß fördern, von entwicklungsangemessenen Erfahrungen. Während hiermit primär die zeitliche Abfolge und der innere Zusammenhang spezifischer Erfahrungsangebote angesprochen sind, betrifft ein zweiter Bereich von Kriterien die Qualität der erfahrungsbildenden Interaktion selbst. Ohne daß dies bei DEWEY in dieser Form zusammengestellt wäre, lassen sich drei Gesichtspunkte unterscheiden: 1. Die Qualität der Lernumwelt; DEWEY (1974, S. 266) spricht von der Verpflichtung des Erziehers „eine pädagogische Umwelt anzubieten, die mit den vorhandenen Fähigkeiten und Bedürfnissen der Zöglinge so in Wechselwirkung kommt, daß wertvolle Erfahrungen möglich werden“. Qualitätskriterien mögen hier (neben der zeitlichen und thematischen Angemessenheit im Sinne des Kriteriums der Kontinuität) die Zugänglichkeit, die Deutungsoffenheit, die Transparenz, die Komplexität der Lernumwelt sowie die Qualität ihrer rückmeldenden „Antworten“ auf die Eingriffe der Lernenden sein. 2. Die Qualität der geforderten oder ermöglichten Lernhandlungen, d. h. die Klarheit und Verbindlichkeit der Zielvorgaben, die Bekanntheit der Bedingungen, der Anteil praktischoperativer Elemente, die sozialen Handlungsbedingungen (Kooperation, Konkurrenz, Kontrolle), das subjektive Interesse am Erreichen des Ziels, die Problemhaltigkeit u. a. m. In der Sprache der Handlungstheorie wäre primär nach den Regulationserfordernissen im Zuge des Lernhandelns zu fragen. 3. Die Qualität der verbindenden Denkleistungen, d. h. das Ausmaß „des absichtlichen Bemühens, zwischen unserem Handeln und seinen Folgen die Beziehungen im einzelnen aufzudecken, so daß die beiden zu einem Zusammenhange verschmelzen“ (DEWEY 1964, S. 194). DEWEY unterscheidet hier „mit Rücksicht auf den Anteil des Denkens“ (ebenda, S. 193f.) zwei Arten der Erfahrung: − „Wir sehen, daß eine gewisse Form des Handelns zu einem gewissen Ergebnis führt, aber wir sehen nicht, in welcher Weise im einzelnen beide miteinander verknüpft sind - es fehlen uns die Kenntnisse der Zwischenglieder. Unsere Unterscheidungsfähigkeit ist sehr gering.“ (ebenda, S. 194). − „Wir zergliedern das Geschehen, um zu erkennen, welche Glieder zwischen unserem Handeln und dem erzielten Ergebnis liegen, wodurch Ursache und Wirkung, Handlung und Erfolg aneinandergeknüpft sind.“ (ebenda) Diese Unterscheidung entspricht ihrem Wesen nach der Differenzierung von sinnlich-empirischer und theoretisch-abstrakter Erkenntnistätigkeit, wie sie im Bereich der materialistischen Tätigkeitstheorie etwa von RUBINSTEIN (1974, S. 126f.) vorgenommen wurde. Mit dieser Unterscheidung verbindet sich die Frage nach dem Ausmaß begrifflich-systematischer Reflexion, die Frage also, inwieweit über den klar definierten Erfahrungsfall hinausgehend die Suche nach Gesetzmäßigkeiten bzw. Regelhaftigkeiten betrieben wird. Auf diese Aspekte wird bei der Diskussion der Ergebnis- und Qualitätskriterien des Lernhandelns zurückzukommen sein. 214

Kapitel 4: Zur <strong>Rekonstruktion</strong> <strong>und</strong> <strong>Beurteilung</strong> <strong>von</strong> Lernprozessen<br />

In seiner deutlichen Frontstellung gegen den Platonischen Idealismus hebt DEWEY die Bedeutung<br />

hervor, die der Auseinandersetzung mit der Außenwelt zukommt - sei sie materiell, sozial<br />

oder der Welt der Ideen <strong>und</strong> der Kultur zu<strong>zur</strong>echnen. Erfahrung ist nur möglich, wo<br />

geantwortet wird, <strong>und</strong> diese Antwort, die der Erfahrene antizipiert, verkörpert auch den<br />

Zwang <strong>zur</strong> Anpassung an die Gegebenheiten.<br />

Zugleich jedoch eröffnet der Prozeß der Erfahrungsbildung dem Lernenden die Chance, diese<br />

objektiven Begrenzungen selbst handelnd <strong>und</strong> denkend zu erk<strong>und</strong>en. Und dies heißt dann<br />

auch, sie immer wieder in Frage zu stellen <strong>und</strong> - wo möglich - auch gestaltend zu verändern.<br />

Es heißt schließlich, den Erfahrungen anderer nicht blindlings zu vertrauen, gleich ob sie<br />

einem als Rat, als Vorurteil, als Lehrstoff oder als wissenschaftliche Theorie begegnen. All<br />

dies kennzeichnet die Chance des Lernenden, seinen Freiheitsraum selbst zu erk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> im<br />

Laufe weiterer Erfahrungen auszudehnen.<br />

Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> im Kontext seiner ausdrücklichen Begründung verliert dann<br />

auch einer der bekanntesten Sätze DEWEYs (1915/1964, S. 193) seinen weltfremdpolemischen<br />

Beiklang :<br />

„Ein Gramm Erfahrung ist besser als eine Tonne Theorie, einfach deswegen, weil<br />

jede Theorie nur in der Erfahrung lebendige <strong>und</strong> der Nachprüfung zugängliche<br />

Bedeutung hat. Eine Erfahrung, selbst eine sehr bescheidene Erfahrung kann Theorie<br />

in jedem Umfange erzeugen <strong>und</strong> tragen, aber eine Theorie ohne Bezugnahme auf<br />

irgendwelche Erfahrung kann nicht einmal als Theorie bestimmt <strong>und</strong> klar erfaßt<br />

werden. Sie wird leicht zu einer bloßen sprachlichen Formel, zu einem Schlagwort,<br />

das verwendet wird, um das Denken, das rechte ‘Theoretisieren’ unnötig <strong>und</strong><br />

unmöglich zu machen.“<br />

Der Prozeß der Erfahrungsbildung, den DEWEY als Voraussetzung einer Erziehung <strong>zur</strong> Demokratie<br />

verstand, zielt deutlich auf die Mündigkeit des einzelnen Schülers. Mündigkeit, im<br />

Sinne ADORNOs (1970, S. 114) verstanden, als Befreiung des Menschen <strong>von</strong> Bevorm<strong>und</strong>ung<br />

<strong>und</strong> als Befähigung <strong>zur</strong> selbständigen, bewußten Entscheidung, vereint in sich dialektisch<br />

rationale Anpassung an Bestehendes <strong>und</strong> Widerstand gegen bloß Gesetztes.<br />

Es bedarf keiner besonderen Erläuterung, daß diese Kennzeichnung eines erfahrungsbezogenen<br />

<strong>und</strong> erfahrungsbildenden Lernhandelns ein pädagogisches Programm darstellt <strong>und</strong><br />

wohl tatsächlich nur selten bzw. nur in Ansätzen verwirklicht worden ist. Mit diesem<br />

Programm verbindet sich durchaus noch eine Reihe ungelöster Fragen; auf einige werden wir<br />

noch zu sprechen kommen. Wir meinen dennoch, daß die hier diskutierte Kategorie der<br />

Erfahrungsqualität geeignet ist, auch deskriptiv-analytisch <strong>zur</strong> Erfassung <strong>und</strong> <strong>zur</strong> <strong>Beurteilung</strong><br />

eines jeden Unterrichts beizutragen.<br />

DEWEY selbst weist darauf hin, daß es ein großer Fehler wäre zu glauben, die Schüler hätten<br />

im traditionellen Klassenzimmer keine Erfahrungen gemacht. Es seien jedoch wohl<br />

mangelhafte <strong>und</strong> falsche Erfahrungen gewesen (1974, S. 254). Mit dieser Feststellung ist die<br />

Frage nach den „Kriterien der Erfahrung“ verb<strong>und</strong>en.<br />

DEWEY führt hier zunächst das Prinzip der „Kontinuität der Erfahrung“ ein, d. h. er formuliert<br />

als Ziel, „diejenige Art <strong>von</strong> Erfahrungen auszuwählen, die fruchtbar <strong>und</strong> schöpferisch in nachfolgenden<br />

Erfahrungen fortleben“ (ebenda, S. 255). Im Sinne der modernen Entwicklungs-<br />

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