4. Konzept zur analytischen Rekonstruktion und zur Beurteilung von ...

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Kapitel 4: Zur Rekonstruktion und Beurteilung von Lernprozessen Analytisch lassen sich folgende Merkmale des Situationsbegriffs unterscheiden: (1) Situationen sind „interne Modelle“, d. h. − sie sind psychische Entitäten, die weitgehend bewußt und in diesem Umfang auch kommunizierbar sind; − sie werden in Korrespondenz zu bestimmten objektiven Gegebenheiten vom Subjekt konstruiert; − sie sind aktuelle Entwürfe im „Weltbild“ der sie definierenden Personen, d. h. (a) sie basieren auf den Erfahrungen, d. h. auf dem Wissen und den Definitionsgewohnheiten der Person, (b) sie integrieren bestimmte Teile dieses „Weltbildes“ zur Abbildung und Deutung der aktuell wahrgenommenen „objektiven“ Gegebenheiten; − sie reduzieren und akzentuieren dabei in bewußter Weise, d. h. sie lassen irrelevante Aspekte außer acht und heben zentrale Gegebenheiten hervor; − sie sind pragmatische Entitäten, d. h. sie werden vom Subjekt zu bestimmten (Orientierungs- und Handlungs-)Zwecken erzeugt und haben entsprechend in der darauf bezogenen „Zweckmäßigkeit“ ihr Geltungskriterium. (2) Situationen modellieren die Gesamtheit der äußeren und inneren Determinanten für einen bestimmten Orientierungs- oder Handlungszusammenhang, soweit diese subjektiv zugänglich und relevant sind. Zu unterscheiden sind dabei insbesondere − aktuelle oder latente Umweltgegebenheiten, also solche Phänomene, die außerhalb der handelnden Person existent sind (auch wenn sie natürlich erst über die subjektive Widerspiegelung handlungswirksam werden). Hierzu zählen Objekte der physikalischen Umwelt, andere Menschen, Menschengruppen oder Institutionen, aber auch Normen, Traditionen, Verhaltenserwartungen; kurz: alles, was aus der Sicht des Handelnden von außen kommende „Barrieren, Erleichterungen, Aufforderungen, Begrenzungen“ seines Handelns darstellt (vgl. LANTERMANN 1980, S.136); − aktuelle oder latente Merkmale der Person selbst, wobei die Selbstwahrnehmung bzw. das „interne Selbstmodell“ (vgl. SCHNEEWIND 1979, HÄRLE 1980) ausschlaggebend ist. Zu nennen sind hier insbesondere erfahrungsgestützte Annahmen über die eigene Kompetenz („Kompetenzmeinung“, vgl. OESTERREICH 1981, S. 249ff.) im intellektuellen, praktisch-operativen, kommunikativen und sozialen Bereich, Annahmen über motivational-affektive Faktoren, wie z. B. Ausdauer, Erregbarkeit, Frustrationstoleranz u. a. m.; − schließlich Informationen über erreichbare Zustände im Handlungsfeld und über spezifische Handlungsmöglichkeiten bzw. Handlungswege, die zur Erreichung dieser Zustände realisiert werden müssen. Diese Merkmale führen zur charakteristischen Zukunftsgerichtetheit von Situationsdefinitionen. Sie enthalten neben der kognitiven Dimension in hohem Maße auch emotionale und valutative Konnotationen. Mit diesen Präzisierungen ist die zentrale Stoßrichtung des Interaktionismus, in dessen Mittelpunkt der Situationsbegriff steht, deutlich hervorgetreten. In Abgrenzung vom Situationismus 207

Kapitel 4: Zur Rekonstruktion und Beurteilung von Lernprozessen - von der Vorstellung vom Menschen unter der Kontrolle seiner Umwelt - wird die zentrale Bedeutung der subjektiven Situationsdefinition für die Erklärung individuellen Handelns in den Vordergrund gestellt. Zugleich jedoch gilt es zu zeigen, daß aus dieser konsequent subjektbezogenen Sicht kein grenzenloser Relativismus folgt; daß ihr vielmehr ein Moment der Umweltanpassung durchaus inhärent ist. So weist ULICH (1976, S.179) unter Berufung auf GRAUMANN (1972) darauf hin, daß es „eine dem Individuum gegenüberstehende Umwelt“ tatsächlich natürlich gebe, die insofern „objektiv“ sei, „als sie eine Geschichte hat und als sich in ihr Interessen, Entscheidungen und Regelsysteme manifestieren, die dem einzelnen Individuum unabhängig von seinen Motiven und Fähigkeiten und häufig unbeeinflußbar als geschaffene Sachverhalte und Anforderungen entgegentreten“. Plastischer noch lassen sich Tendenzen zu einem „psychologisierenden Idealismus“ durch die Abwandlung eines Arguments widerlegen, daß Konrad LORENZ gegen den erkenntnistheoretischen Idealismus ins Feld führt: Spätestens in dem Moment, in dem wir gegen ein Hindernis laufen, daß in unserer subjektiven Situationsdefinition nicht angemessen berücksichtigt war, wird die Existenz objektiver Situationselemente auch dem „Idealisten“ sinnfällig. Ein zweiter wichtiger Hinweis zur Abwehr eines überzogenen Subjektivismus findet sich bei LANTERMANN (1980, S. 139f.), der unter Bezug auf die Grundannahmen des „Symbolischen Interaktionismus“ folgendes ausführt: „Die Situations-Definition einer Person ist zwar idiosynkratischer Natur und kennzeichnet die Umweltinterpretation und -orientierung des Einzelnen, sie wird aber mitdeterminiert durch ein Netzwerk von gruppen-, kultur- und gesellschaftsspezifischen Typisierungen, d. h. normativen und kognitiven Schemata. Individuelle Situations-Definitionen sind ‘zumindest teilweise erklärbar ... auf der Grundlage einer Annahme sozialer Interpretationsschemata und sozialer Muster der Handlungsorientierung (...)“ (vgl. dazu auch BLUMER 1973, S. 81; VON CRANACH u. a. 1980, S. 64ff.). Wenn wir in diesem Sinne davon ausgehen, daß individuelle Situationsdefinitionen durch objektive Faktoren und soziale Definitionsgewohnheiten stark beeinflußt werden, so dürfte es erforderlich sein, „Situationen“ auch als Phänomene anzusehen, die auf einer sozial-kommunikativen Ebene existent sind: Menschen können sich über Situationen verständigen; sie tun dies auch fortlaufend, und dieser Prozeß wie auch dessen Manifestationen (Texte, Institutionen, Normen, Regeln etc.) wirken auf die individuelle Situationsdefinition zurück. Um den „eigentlichen“ Situationsbegriff weiterhin dem einzelnen handelnden Subjekt zuzuordnen, bezeichnen wir solche sozial-kommunikativ in bestimmter Weise (vor)definierten Situationen (einschließlich jener unabhängig von der Wahrnehmung des Subjekts wirksamen Faktoren) als „objektive Situationen“ und stellen diese den „subjektiven Situationen“ gegenüber. Wenn wir ohne nähere Kennzeichnung von Situationen sprechen, so sind im Zweifel die subjektiven gemeint. Auch die objektive Situation ist als Modell zur reduzierten, akzentuierten und integrierten Abbildung handlungsrelevanter Gegebenheiten zu verstehen. Auch sie wird ein handelndes Subjekt, eine handlungsrelevante Umwelt und einen abgegrenzten Handlungsraum umfassen. 208

Kapitel 4: Zur <strong>Rekonstruktion</strong> <strong>und</strong> <strong>Beurteilung</strong> <strong>von</strong> Lernprozessen<br />

- <strong>von</strong> der Vorstellung vom Menschen unter der Kontrolle seiner Umwelt - wird die zentrale<br />

Bedeutung der subjektiven Situationsdefinition für die Erklärung individuellen Handelns in<br />

den Vordergr<strong>und</strong> gestellt.<br />

Zugleich jedoch gilt es zu zeigen, daß aus dieser konsequent subjektbezogenen Sicht kein<br />

grenzenloser Relativismus folgt; daß ihr vielmehr ein Moment der Umweltanpassung<br />

durchaus inhärent ist. So weist ULICH (1976, S.179) unter Berufung auf GRAUMANN (1972)<br />

darauf hin, daß es „eine dem Individuum gegenüberstehende Umwelt“ tatsächlich natürlich<br />

gebe, die insofern „objektiv“ sei, „als sie eine Geschichte hat <strong>und</strong> als sich in ihr Interessen,<br />

Entscheidungen <strong>und</strong> Regelsysteme manifestieren, die dem einzelnen Individuum unabhängig<br />

<strong>von</strong> seinen Motiven <strong>und</strong> Fähigkeiten <strong>und</strong> häufig unbeeinflußbar als geschaffene Sachverhalte<br />

<strong>und</strong> Anforderungen entgegentreten“. Plastischer noch lassen sich Tendenzen zu einem<br />

„psychologisierenden Idealismus“ durch die Abwandlung eines Arguments widerlegen, daß<br />

Konrad LORENZ gegen den erkenntnistheoretischen Idealismus ins Feld führt: Spätestens in<br />

dem Moment, in dem wir gegen ein Hindernis laufen, daß in unserer subjektiven<br />

Situationsdefinition nicht angemessen berücksichtigt war, wird die Existenz objektiver<br />

Situationselemente auch dem „Idealisten“ sinnfällig.<br />

Ein zweiter wichtiger Hinweis <strong>zur</strong> Abwehr eines überzogenen Subjektivismus findet sich bei<br />

LANTERMANN (1980, S. 139f.), der unter Bezug auf die Gr<strong>und</strong>annahmen des „Symbolischen<br />

Interaktionismus“ folgendes ausführt:<br />

„Die Situations-Definition einer Person ist zwar idiosynkratischer Natur <strong>und</strong> kennzeichnet<br />

die Umweltinterpretation <strong>und</strong> -orientierung des Einzelnen, sie wird aber<br />

mitdeterminiert durch ein Netzwerk <strong>von</strong> gruppen-, kultur- <strong>und</strong><br />

gesellschaftsspezifischen Typisierungen, d. h. normativen <strong>und</strong> kognitiven Schemata.<br />

Individuelle Situations-Definitionen sind ‘zumindest teilweise erklärbar ... auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage einer Annahme sozialer Interpretationsschemata <strong>und</strong> sozialer Muster der<br />

Handlungsorientierung (...)“ (vgl. dazu auch BLUMER 1973, S. 81; VON CRANACH<br />

u. a. 1980, S. 64ff.).<br />

Wenn wir in diesem Sinne da<strong>von</strong> ausgehen, daß individuelle Situationsdefinitionen durch<br />

objektive Faktoren <strong>und</strong> soziale Definitionsgewohnheiten stark beeinflußt werden, so dürfte es<br />

erforderlich sein, „Situationen“ auch als Phänomene anzusehen, die auf einer sozial-kommunikativen<br />

Ebene existent sind: Menschen können sich über Situationen verständigen; sie tun<br />

dies auch fortlaufend, <strong>und</strong> dieser Prozeß wie auch dessen Manifestationen (Texte,<br />

Institutionen, Normen, Regeln etc.) wirken auf die individuelle Situationsdefinition <strong>zur</strong>ück.<br />

Um den „eigentlichen“ Situationsbegriff weiterhin dem einzelnen handelnden Subjekt zuzuordnen,<br />

bezeichnen wir solche sozial-kommunikativ in bestimmter Weise (vor)definierten<br />

Situationen (einschließlich jener unabhängig <strong>von</strong> der Wahrnehmung des Subjekts wirksamen<br />

Faktoren) als „objektive Situationen“ <strong>und</strong> stellen diese den „subjektiven Situationen“ gegenüber.<br />

Wenn wir ohne nähere Kennzeichnung <strong>von</strong> Situationen sprechen, so sind im Zweifel die<br />

subjektiven gemeint.<br />

Auch die objektive Situation ist als Modell <strong>zur</strong> reduzierten, akzentuierten <strong>und</strong> integrierten<br />

Abbildung handlungsrelevanter Gegebenheiten zu verstehen. Auch sie wird ein handelndes<br />

Subjekt, eine handlungsrelevante Umwelt <strong>und</strong> einen abgegrenzten Handlungsraum umfassen.<br />

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