4. Konzept zur analytischen Rekonstruktion und zur Beurteilung von ...

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Kapitel 4: Zur Rekonstruktion und Beurteilung von Lernprozessen Antizipation sowohl individueller Lebens- und Berufswege wie auch gesellschaftlicher und beruflicher Veränderungen in hohem Maße voraus (vgl. z. B. RÜLCKER 1976; MEERTEN 1980). Demgegenüber ist die mangelhafte Prognostizierbarkeit dieser Entwicklungen gerade angesichts des schnellen technologischen Wandels und sich verändernder Arbeitsinhalte und Organisationsformen der Arbeit geradezu zu einem Allgemeinplatz geworden (vgl. z. B. SEITZ 1988; ACHTENHAGEN et al. 1992; DÖRIG 1994). (b) Eng verbunden mit diesem funktionalistischen Curriculumkonzept wird die kritisierte Leitvorstellung der Übungsfirmenarbeit durch Transferannahmen geprägt, die ihren Ursprung erkennbar im Bereich behavioristischer Lerntheorien haben. Wenn jede Abweichung der Übungsfirma von „der“ betrieblichen Realität als lernbehindernde Reduktion angesehen wird, so ist dies nur nachvollziehbar auf der Grundlage von THORNDIKES Transferhypothese der identischen Elemente. Der Grundgedanke dieser Theorie liegt darin, daß die Übertragung des Gelernten nur gelingt, wenn die Reize in der Lern- und in der Anwendungssituation weitgehend identisch sind. Denn nur identische Stimuli führen hiernach zu identischen Reaktionen. Dieses Transferkonzept, wie auch die Versuche seine konzeptionellen Unstimmigkeiten und seine mangelnde empirische Erklärungskraft durch elaboriertere Erklärungsmodelle auf der Grundlage behavioristischer Annahmen zu überwinden, sind angesichts der Fortschritte der kognitiven Psychologie und auch vor dem Hintergrund der gerade für die Pädagogik so relevanten Menschenbilddiskussion in der Psychologie nicht mehr haltbar (vgl. MESSNER 1978). Schon im Jahre 1964 hat BERGIUS darauf hingewiesen, daß eben „nicht spezifische S-R-Verbindungen von einer Situation in die andere übertragen [werden], sondern etwas viel Wichtigeres. Die strukturellen Züge der Situation sind dafür verantwortlich, daß über einen kognitiven Prozeß (Einsicht) das Lernen der einen Lösung für die Lösung strukturell ähnlicher Probleme einen Gewinn bedeutet“ (BERGIUS 1964, S. 315; vgl. MESSNER 1978). (c) Die Entscheidung, die betriebliche Ausbildung zum Gütemaßstab der Übungsfirmenarbeit zu bestimmen und jede Abweichung von den Bedingungen der betrieblichen Ausbildung (insbesondere am Arbeitsplatz) als Defizit der Übungsfirma zu interpretieren, muß als Ausdruck bemerkenswerter lernorttheoretischer Ignoranz und bildungspolitischer Naivität gesehen werden (vgl. dazu z.B. die Beiträge im Beiheft 8 [1989] der Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik zum Thema „Lernen und Arbeiten“). Tatsächlich wird es wohl kaum jemanden geben, der nicht konzediert, daß auch die Ausbildung im Betrieb mit Schwächen und Problemen behaftet ist (vgl. z. B. MÜNCH u. a. 1981; FRANKE/KLEINSCHMIDT 1987; GETSCH 1990; KECK 1995). So kann man gerade in der Existenz von Übungsfirmen im Rahmen der betrieblichen Ausbildung, aber auch in der Einrichtung von werksinternem Unterricht oder überbetrieblichen Ausbildungseinrichtungen ein Indiz dafür sehen, daß auch die ausbildenden Betriebe sich der strukturellen Grenzen und der Ergänzungsbedürftigkeit des Lernens am Arbeitsplatz bewußt sind (vgl. z. B. PHILLIPS 1986; REETZ 1986a; DEHNBOSTEL/HOLZ/NOVAK 1992). Daß es andererseits Lern- und Erfahrungschancen gibt, die wohl nur der Betrieb zu bieten hat, ist ebenso 197

Kapitel 4: Zur Rekonstruktion und Beurteilung von Lernprozessen unbestritten. Es käme nun jedoch darauf an, abzuklären, worin diese besonderen Leistungen und diese Defizite liegen - die Idealisierung des Lernortes Betrieb dürfte demgegenüber ebenso fruchtlos sein, wie dessen pauschale Abwertung. (d) Die Tendenz zur unkritischen Idealisierung des Lernortes Betrieb verweist darauf, daß und inwieweit der von uns kritisierte Modellierungsansatz der Übungsfirma Ausdruck einer bildungspolitischen Kampfposition ist. Systematisch betrachtet zeigt dies, daß in der Modellierung theoretische Vorannahmen und pragmatische Forschungsanliegen in wechselseitiger Bezogenheit zum Ausdruck kommen. Im Mittelpunkt des pragmatisch-bildungspolitischen Anliegens des Verfassers und der wirtschaftspädagogischen „Schule“, der er zuzurechnen ist, steht die Abwehr aller Tendenzen „einer Verschulung“ der Berufsausbildung sowie einer Verringerung des betrieblichen Anteils und des betrieblichen Einflusses auf die Berufsausbildung. Indem er die Übungsfirma aus diesem Blickwinkel betrachtet, gewinnt die Frage danach, weshalb die Übungsfirma den Lernort Betrieb im Dualen System nicht ersetzen kann, übermäßige Bedeutung, auch wenn diese Ersatzfunktion in Konkurrenz zum Lernort Betrieb im Rahmen des dualen Systems tatsächlich nie im Mittelpunkt der praktischen Übungsfirmenarbeit stand. Übrigens auch nicht bei der exemplarisch untersuchten Heidelberger Übungsfirma. Zugleich - und dies ist das Fatale - versperrt dieser Modellierungsansatz systematisch den Weg zur Beantwortung der Frage nach dem originären Leistungspotential der Übungsfirma als eigenständiger Lernort zur Ergänzung und Unterstützung von Lernprozessen an anderen Lernorten (vgl. hierzu REETZ 1977; 1984b; 1986a; TRAMM 1984; 1991; 1996; ACHTENHAGEN/TRAMM 1993). (3) Die Ausrichtung der analytischen Modellierung des Übungsfirmengeschehens am beabsichtigten „Vergleich zwischen den Anforderungen an den betrieblichen Arbeitsplätzen und den Arbeitsplätzen in der ÜF“ (SCHMIEG 1977, S. 56) führt zu einer systematischen Ausblendung des lernenden Subjekts und seines individuellen Handelns aus der Betrachtung. Analysiert und verglichen werden lediglich Anforderungsmerkmale der Arbeitsplätze im Betrieb und in der Übungsfirma. Diese werden ohne weitere Einbeziehung individueller Merkmale, intervenierender Umweltvariablen oder gar des konkreten Interaktionsprozesses als Determinanten des Lernpotentials gedeutet: „Es wird ... der Kausalzusammenhang unterstellt, daß wenn wesentliche Differenzen bei diesem Anforderungsvergleich auftreten, die Studenten dann die für die betriebliche Praxis notwendigen Qualifikationen nicht erwerben können“ (ebenda). Beachtenswert ist dabei, daß diese Anforderungen nicht etwa differenziert als Merkmale der Arbeitsaufgaben bzw. des Prozesses der Aufgabenerfüllung beschrieben werden, sondern als unmittelbar korrespondierende „Berufsfähigkeiten“ bzw. „Qualifikationen“. Es wird also unmittelbar vom Funktionskomplex Betrieb bzw. Übungsfirma auf die als relevant angenommenen psychischen Dispositionen bzw. Fähigkeiten geschlossen. Hierbei zeigt es sich dann allerdings, daß diese Dispositionen wiederum das Subjekt nur in seiner Dimension als sich verhaltenden Funktionsträger thematisieren; die kognitiven Prozesse und Strukturen, die diesen Leistungen zugrunde liegen, bleiben außerhalb der Betrachtung. 198

Kapitel 4: Zur <strong>Rekonstruktion</strong> <strong>und</strong> <strong>Beurteilung</strong> <strong>von</strong> Lernprozessen<br />

Antizipation sowohl individueller Lebens- <strong>und</strong> Berufswege wie auch<br />

gesellschaftlicher <strong>und</strong> beruflicher Veränderungen in hohem Maße voraus (vgl. z. B.<br />

RÜLCKER 1976; MEERTEN 1980). Demgegenüber ist die mangelhafte<br />

Prognostizierbarkeit dieser Entwicklungen gerade angesichts des schnellen<br />

technologischen Wandels <strong>und</strong> sich verändernder Arbeitsinhalte <strong>und</strong><br />

Organisationsformen der Arbeit geradezu zu einem Allgemeinplatz geworden (vgl.<br />

z. B. SEITZ 1988; ACHTENHAGEN et al. 1992; DÖRIG 1994).<br />

(b) Eng verb<strong>und</strong>en mit diesem funktionalistischen Curriculumkonzept wird die<br />

kritisierte Leitvorstellung der Übungsfirmenarbeit durch Transferannahmen<br />

geprägt, die ihren Ursprung erkennbar im Bereich behavioristischer Lerntheorien<br />

haben. Wenn jede Abweichung der Übungsfirma <strong>von</strong> „der“ betrieblichen Realität<br />

als lernbehindernde Reduktion angesehen wird, so ist dies nur nachvollziehbar auf<br />

der Gr<strong>und</strong>lage <strong>von</strong> THORNDIKES Transferhypothese der identischen Elemente. Der<br />

Gr<strong>und</strong>gedanke dieser Theorie liegt darin, daß die Übertragung des Gelernten nur<br />

gelingt, wenn die Reize in der Lern- <strong>und</strong> in der Anwendungssituation weitgehend<br />

identisch sind. Denn nur identische Stimuli führen hiernach zu identischen<br />

Reaktionen. Dieses Transferkonzept, wie auch die Versuche seine konzeptionellen<br />

Unstimmigkeiten <strong>und</strong> seine mangelnde empirische Erklärungskraft durch<br />

elaboriertere Erklärungsmodelle auf der Gr<strong>und</strong>lage behavioristischer Annahmen zu<br />

überwinden, sind angesichts der Fortschritte der kognitiven Psychologie <strong>und</strong> auch<br />

vor dem Hintergr<strong>und</strong> der gerade für die Pädagogik so relevanten<br />

Menschenbilddiskussion in der Psychologie nicht mehr haltbar (vgl. MESSNER<br />

1978). Schon im Jahre 1964 hat BERGIUS darauf hingewiesen, daß eben „nicht<br />

spezifische S-R-Verbindungen <strong>von</strong> einer Situation in die andere übertragen<br />

[werden], sondern etwas viel Wichtigeres. Die strukturellen Züge der Situation sind<br />

dafür verantwortlich, daß über einen kognitiven Prozeß (Einsicht) das Lernen der<br />

einen Lösung für die Lösung strukturell ähnlicher Probleme einen Gewinn<br />

bedeutet“ (BERGIUS 1964, S. 315; vgl. MESSNER 1978).<br />

(c)<br />

Die Entscheidung, die betriebliche Ausbildung zum Gütemaßstab der Übungsfirmenarbeit<br />

zu bestimmen <strong>und</strong> jede Abweichung <strong>von</strong> den Bedingungen der<br />

betrieblichen Ausbildung (insbesondere am Arbeitsplatz) als Defizit der<br />

Übungsfirma zu interpretieren, muß als Ausdruck bemerkenswerter<br />

lernorttheoretischer Ignoranz <strong>und</strong> bildungspolitischer Naivität gesehen werden (vgl.<br />

dazu z.B. die Beiträge im Beiheft 8 [1989] der Zeitschrift für Berufs- <strong>und</strong><br />

Wirtschaftspädagogik zum Thema „Lernen <strong>und</strong> Arbeiten“). Tatsächlich wird es<br />

wohl kaum jemanden geben, der nicht konzediert, daß auch die Ausbildung im<br />

Betrieb mit Schwächen <strong>und</strong> Problemen behaftet ist (vgl. z. B. MÜNCH u. a. 1981;<br />

FRANKE/KLEINSCHMIDT 1987; GETSCH 1990; KECK 1995). So kann man gerade in<br />

der Existenz <strong>von</strong> Übungsfirmen im Rahmen der betrieblichen Ausbildung, aber<br />

auch in der Einrichtung <strong>von</strong> werksinternem Unterricht oder überbetrieblichen<br />

Ausbildungseinrichtungen ein Indiz dafür sehen, daß auch die ausbildenden<br />

Betriebe sich der strukturellen Grenzen <strong>und</strong> der Ergänzungsbedürftigkeit des<br />

Lernens am Arbeitsplatz bewußt sind (vgl. z. B. PHILLIPS 1986; REETZ 1986a;<br />

DEHNBOSTEL/HOLZ/NOVAK 1992). Daß es andererseits Lern- <strong>und</strong><br />

Erfahrungschancen gibt, die wohl nur der Betrieb zu bieten hat, ist ebenso<br />

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