4. Konzept zur analytischen Rekonstruktion und zur Beurteilung von ...

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Kapitel 4: Zur Rekonstruktion und Beurteilung von Lernprozessen „Berufsfähigkeiten (Qualifikationen) A) Affektive Qualifikationen 1. Sorgfalt bei der Aufgabenerfüllung. 2. Bereitschaft, sich für eine Aufgabe einzusetzen und anzustrengen. 3. Bereitschaft, für eigenen Aufgabenbereich Verantwortung zu übernehmen. 4. Fähigkeit, entscheiden zu können. 5. Fähigkeit, in Streßsituationen durchzuhalten. 6. Fähigkeit, sich auf Kollegen einzustellen und sich in eine Arbeitsgruppe einzugliedern. 7. Fähigkeit, Vorgesetzter zu sein und sich durchzusetzen. 8. Bereitschaft, gelegentlich die eigenen Interessen dem Betriebsinteresse gegenüber zurückzustellen. B) Kognitive Qualifikationen 9. Fähigkeit, sich Kollegen und Betriebspartnern gegenüber verständlich zu machen. 10. Fähigkeit, Informationen aufzunehmen und in Zusammenhänge einzuordnen. 11. Fähigkeit, von gewohnten Verfahrensweisen Abstand zu nehmen und nach neueren besseren Möglichkeiten zu suchen. 12. Fähigkeit, in unklaren Situationen selbständig zu improvisieren. 13. Verfügung über theoretische Kenntnisse, die für den Betrieb Bedeutung haben. 14. Fähigkeit, einzelne Vorschriften, Gesetze und Verfahrensregeln und konkrete Arbeitsaufgaben anzuwenden. 15. Fähigkeit, Pläne aufzustellen, und zu organisieren. 16. Fähigkeit, sich an einem neuen Arbeitsplatz schnell einzuarbeiten“ (ebenda S. 61f.). Ergänzt um nicht näher spezifizierte Anforderungen aus dem Bereich psychomotorischer Fähigkeiten, worunter vor allem praktische, bürotechnische Fertigkeiten verstanden werden, bildet diese Liste die Grundlage einer vergleichenden Befragung von Auszubildenden im Patenbetrieb der Übungsfirma („Realität“) und von Mitarbeitern der Übungsfirma nach den Anforderungsprofilen ihrer jeweiligen Tätigkeitsbereiche. Der Anforderungsvergleich führt zu dem Ergebnis, „daß in der ÜF die für die Arbeitsplätze im Betrieb notwendigen Qualifikationen größtenteils nicht erworben werden können“, wobei die stärksten Anforderungsdefizite im affektiven Bereich festgestellt werden. Lediglich im psychomotorischen Bereich sieht der Verfasser „keine Anforderungsdefizite in der ÜF“ (ebenda, S. 121.). Unter Einbeziehung aller drei Aspekte kommt er schließlich zu dem Ergebnis, daß die Übungsfirma den Lernort Betrieb nicht ersetzen könne, sondern daß ihre Funktion in der Ergänzung oder Vorbereitung der betrieblichen Ausbildung liege, insbesondere in der Vermittlung psychomotorischer Fähigkeiten und theoretischer Kenntnisse (vgl. ebenda S. 142). 195

Kapitel 4: Zur Rekonstruktion und Beurteilung von Lernprozessen Wir wollen darauf verzichten, uns mit dieser Beurteilung inhaltlich auseinanderzusetzen, wie wir auch davon absehen, Anlage und Durchführung der Untersuchung unter methodologischem Aspekt zu kritisieren. Interessieren soll uns vielmehr der Zusammenhang der spezifischen Gegenstandsauffassung oder Modellierung der Übungsfirma mit leitenden theoretischen Annahmen und pragmatischen Interessen. Bei näherer Betrachtung ergeben sich für einen derartigen Versuch, den Gegenstand Übungsfirma konzeptionell zu fassen, eine ganze Reihe theoretisch und normativ fragwürdiger Implikationen. Wenn diese im folgenden kursorisch angedeutet werden, so geschieht dies deshalb, um deutlich zu machen, (a) in welchem Maße auch ein zunächst so voraussetzungslos erscheinender „Original-Modell-Vergleich“ seinen Gegenstand auf nachhaltige Weise nicht abbildet, sondern erzeugt, und (b) daß die in einem solchen Gegenstandsverständnis sich ausdrückenden theoretischen und normativen Annahmen unvereinbar sind mit den Leitvorstellungen unseres Projekts. (1) Es kann zunächst festgehalten werden, daß das Leitmodell der Übungsfirmenarbeit, das dieser Untersuchung zugrunde liegt, eine bestimmte Ausprägung der Vorstellung von betrieblicher Realität ist. Es handelt sich insofern lediglich um eine Variante der Vorstellung von Betrieb, als natürlich auch das, was wir am System Betrieb wahrnehmen, wiederum von theoretischen und pragmatischen Annahmen und Bedingungen geprägt wird. Insofern ist ein so fundiertes Übungsfirmenmodell Reflex eines allgemeineren „Betriebsmodells“, d. h. der erkenntnisleitenden Vorstellung davon, welche Elemente, Strukturen und Prozesse den Gegenstand „Betrieb“ oder „Unternehmung“ konstituieren (vgl. dazu systematisch Reetz 1986b). Daß es auch hier kein einheitliches Gegenstandsverständnis gibt, zeigt schon ein flüchtiger Blick auf den metatheoretischen Diskussionsstand in der Betriebswirtschaftslehre (vgl. z. B. DLUGOS u. a. 1972; SCHWEITZER 1978; SCHNEIDER 1987). Dem kann natürlich auch nicht dadurch entgangen werden, daß die abstrakte Vorstellung des Betriebes durch die Konkretisierung in Form des „Patenbetriebes“ ersetzt wird. (2) Die Entscheidung, „betriebliche Realität“ als Leitmodell zu wählen, wird unmittelbar damit begründet, daß nur am Lernort Betrieb die erforderlichen funktionalen Qualifikationen erworben werden können. Deren Rechtfertigung wird im Rahmen eines funktionalistischen Curriculumkonzepts eingeholt, das die An- und Einpassung in vorfindliche bzw. antizipierte berufliche und gesellschaftliche Systemstrukturen als normative Leitidee setzt. Diese Argumentation beruht auf einer Reihe äußerst problematischer Annahmen: (a) Die curriculare Leitidee der funktionalistischen Curriculumkonzeption wird weder dem Entfaltungsanspruch des Subjekts gerecht noch berücksichtigt sie im erforderlichen Maße die technologische, gesellschaftliche und berufliche Dynamik (vgl. RÜLCKER 1976). Die Forderung nach An- und Einpassung des Schülers oder Auszubildenden in gegebene Systeme reduziert das Subjekt zum bloßen Funktionsträger. Sie ist weder vor dem Hintergrund des entwickelten pädagogischen Problembewußtseins haltbar, noch dürfte sie überhaupt der geeignete Weg sein, tatsächlich die „Überlebensfähigkeit“ der betroffenen Bezugssysteme zu sichern. Dies verweist auf einen zweiten grundsätzlichen Einwand gegenüber dem funktionalistischen Curriculumkonzept, denn dieses setzt die Möglichkeit der 196

Kapitel 4: Zur <strong>Rekonstruktion</strong> <strong>und</strong> <strong>Beurteilung</strong> <strong>von</strong> Lernprozessen<br />

Wir wollen darauf verzichten, uns mit dieser <strong>Beurteilung</strong> inhaltlich auseinanderzusetzen, wie<br />

wir auch da<strong>von</strong> absehen, Anlage <strong>und</strong> Durchführung der Untersuchung unter methodologischem<br />

Aspekt zu kritisieren. Interessieren soll uns vielmehr der Zusammenhang der spezifischen<br />

Gegenstandsauffassung oder Modellierung der Übungsfirma mit leitenden theoretischen<br />

Annahmen <strong>und</strong> pragmatischen Interessen. Bei näherer Betrachtung ergeben sich für<br />

einen derartigen Versuch, den Gegenstand Übungsfirma konzeptionell zu fassen, eine ganze<br />

Reihe theoretisch <strong>und</strong> normativ fragwürdiger Implikationen. Wenn diese im folgenden kursorisch<br />

angedeutet werden, so geschieht dies deshalb, um deutlich zu machen, (a) in welchem<br />

Maße auch ein zunächst so voraussetzungslos erscheinender „Original-Modell-Vergleich“<br />

seinen Gegenstand auf nachhaltige Weise nicht abbildet, sondern erzeugt, <strong>und</strong> (b) daß die in<br />

einem solchen Gegenstandsverständnis sich ausdrückenden theoretischen <strong>und</strong> normativen<br />

Annahmen unvereinbar sind mit den Leitvorstellungen unseres Projekts.<br />

(1) Es kann zunächst festgehalten werden, daß das Leitmodell der Übungsfirmenarbeit, das<br />

dieser Untersuchung zugr<strong>und</strong>e liegt, eine bestimmte Ausprägung der Vorstellung <strong>von</strong> betrieblicher<br />

Realität ist. Es handelt sich insofern lediglich um eine Variante der<br />

Vorstellung <strong>von</strong> Betrieb, als natürlich auch das, was wir am System Betrieb wahrnehmen,<br />

wiederum <strong>von</strong> theoretischen <strong>und</strong> pragmatischen Annahmen <strong>und</strong> Bedingungen geprägt<br />

wird. Insofern ist ein so f<strong>und</strong>iertes Übungsfirmenmodell Reflex eines allgemeineren<br />

„Betriebsmodells“, d. h. der erkenntnisleitenden Vorstellung da<strong>von</strong>, welche Elemente,<br />

Strukturen <strong>und</strong> Prozesse den Gegenstand „Betrieb“ oder „Unternehmung“ konstituieren<br />

(vgl. dazu systematisch Reetz 1986b). Daß es auch hier kein einheitliches<br />

Gegenstandsverständnis gibt, zeigt schon ein flüchtiger Blick auf den metatheoretischen<br />

Diskussionsstand in der Betriebswirtschaftslehre (vgl. z. B. DLUGOS u. a. 1972;<br />

SCHWEITZER 1978; SCHNEIDER 1987). Dem kann natürlich auch nicht dadurch entgangen<br />

werden, daß die abstrakte Vorstellung des Betriebes durch die Konkretisierung in Form<br />

des „Patenbetriebes“ ersetzt wird.<br />

(2) Die Entscheidung, „betriebliche Realität“ als Leitmodell zu wählen, wird unmittelbar<br />

damit begründet, daß nur am Lernort Betrieb die erforderlichen funktionalen<br />

Qualifikationen erworben werden können. Deren Rechtfertigung wird im Rahmen eines<br />

funktionalistischen Curriculumkonzepts eingeholt, das die An- <strong>und</strong> Einpassung in<br />

vorfindliche bzw. antizipierte berufliche <strong>und</strong> gesellschaftliche Systemstrukturen als<br />

normative Leitidee setzt. Diese Argumentation beruht auf einer Reihe äußerst<br />

problematischer Annahmen:<br />

(a)<br />

Die curriculare Leitidee der funktionalistischen Curriculumkonzeption wird weder<br />

dem Entfaltungsanspruch des Subjekts gerecht noch berücksichtigt sie im erforderlichen<br />

Maße die technologische, gesellschaftliche <strong>und</strong> berufliche Dynamik (vgl.<br />

RÜLCKER 1976). Die Forderung nach An- <strong>und</strong> Einpassung des Schülers oder Auszubildenden<br />

in gegebene Systeme reduziert das Subjekt zum bloßen Funktionsträger.<br />

Sie ist weder vor dem Hintergr<strong>und</strong> des entwickelten pädagogischen Problembewußtseins<br />

haltbar, noch dürfte sie überhaupt der geeignete Weg sein,<br />

tatsächlich die „Überlebensfähigkeit“ der betroffenen Bezugssysteme zu sichern.<br />

Dies verweist auf einen zweiten gr<strong>und</strong>sätzlichen Einwand gegenüber dem<br />

funktionalistischen Curriculumkonzept, denn dieses setzt die Möglichkeit der<br />

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