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Leseprobe - Bayerische Staatsoper

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<strong>Bayerische</strong> <strong>Staatsoper</strong> 2012– 2013 Max JosepH<br />

D: 6,00 Euro A: 6,20 Euro CH: 8,00 CHF<br />

16<br />

Max Joseph<br />

Vox<br />

populi<br />

4 197877 206003<br />

<strong>Bayerische</strong><br />

staatsoper<br />

We are Family<br />

Carolin Emckes Versuch über die Familie<br />

Opernstudio-Premiere – Elegie für junge Liebende<br />

Premiere Simon Boccanegra – Krassimira Stoyanova und Dmitri Tcherniakov


<strong>Bayerische</strong><br />

staatsoper<br />

ORION<br />

Max Joseph 3 2012 – 2013<br />

Neu ab Mai: Orion 38 grau. Grau wie der Himmel über Glashütte, grau wie die Finanzbuchhaltung?<br />

Von wegen: Grau ist „leicht erregbar zu herrlichen Tönen“, sagte einst der Maler<br />

Johannes Itten. Grau ist glaubwürdig, die Farbe des Wissens. Ist eleganter als Weiß, lichter<br />

als Schwarz. Und jetzt die Farbe einer neuen großen Uhr aus der Glashütter Manufaktur.<br />

Orion-Modelle gibt es ab 1280 Euro etwa bei: Aschaffenburg: Vogl; Augsburg: Bauer & Bauer, Hörl; Bamberg: Triebel; Bayreuth: Böhnlein; Erlangen: Winnebeck;<br />

Garmisch-Partenkirchen: Stöckerl; Hof: Hohenberger; Ingolstadt: Dührkoop; Landshut: Füssl; München: Bauer, Bucherer, Fridrich, Hieber, Kiefer, Niessing; Nürnberg:<br />

Bucherer; Regensburg: Kappelmeier; Ulm: Kerner, Roth, Scheuble; Würzburg: Scheuble. Überall bei Wempe. www.nomos-store.com und www.nomos-glashuette.com<br />

Das Magazin der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong>


Anna Rodighiero, Pickle Family, 2011


Ein Rabe, ein roter Wuschel und ein gelbes Männchen, vermutlich Verwandte<br />

aus der Sesamstraße, sitzen auf unserer Titelseite um einen Tisch in häuslicher<br />

Umgebung. Macht sie das zu einer Familie? Mit diesem Begriff beschäftigt sich<br />

diese Ausgabe von MAX JOSEPH, nachdem wir uns dem Spielzeitthema vox<br />

populi zuvor mit den Heften „We are the World“ und „Wir sind das Volk“ genähert<br />

haben.<br />

Für Dmitri Tcherniakov, der Giuseppe Verdis Oper Simon Boccanegra an<br />

der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong> inszeniert, ist Familie ein Sehnsuchtsgedanke, kaum<br />

zu erreichen. Dies erzählt der Regisseur eindrucksvoll im MAX JOSEPH-Gespräch,<br />

um dann auf eine persönliche Familiengeschichte zu kommen, die an einem<br />

großen runden Tisch spielt. Für die Sopranistin Krassimira Stoyanova, die<br />

die Rolle der Amelia singen wird, steht die Vater-Tochter-Beziehung im Vordergrund,<br />

deren Glück aber auch sie misstraut – Amelias Happy End als Einzelfall bei<br />

Verdis Frauen.<br />

Im Theater existiert der Begriff der Theaterfamilie, als verschworene<br />

Gruppe der gleichen Passion, in der Menschen in einem künstlerisch existen z i-<br />

ellen Sinn füreinander verantwortlich sind. Die Regisseurin Christiane Pohle,<br />

die mit dem Opernstudio der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong> Hans Werner Henzes<br />

Elegie für junge Liebende erarbeitet, erzählt hiervon: wie mit dem Ensemble eine<br />

eigene Welt entsteht, die zu verlassen manchmal schwierig, manchmal ebenso<br />

notwendig sein kann. Die Fotografin Sarah Brück hat die Künstlerin hierfür in<br />

Szene gesetzt. Das Opernstudio, in dem junge Sängerinnen und Sänger aus<br />

aller Welt zusammengebracht werden und im besten Fall eine Gemeinschaft bilden,<br />

stellen wir in einer Foto-Story vor, die sich den Meinungen, Ängsten und<br />

Leidenschaften der Künstler widmet.<br />

Kaum ein Thema erlebt derzeit eine solch intensive gesellschaftliche Aufmerksamkeit<br />

wie Familie, allzu gern entlang biologischer Zusammenhänge. Im<br />

18. Jahrhundert meinte das Wort Familie zunächst einmal die häusliche Umgebung<br />

und schloss etwa auch die „Dienstboten“ ein, wie die Gebrüder Grimm festhielten.<br />

Ihr Lexikoneintrag begleitet in dieser Ausgabe das Portfolio, das mit<br />

Ideen von Familie spielt. Wo auch immer ein jeder Familie sucht, findet oder gründet,<br />

werden sich dem Wort neue Dimensionen eröffnen.<br />

Befragt nach ihrem Verständnis von Familie, antwortete uns die Band Sister<br />

Sledge, dass Familie im besten Sinn schlicht eine Liebesverbindung bedeute, sei<br />

es zu Bluts- oder Seelenverwandten. Womit die seit über vierzig Jahren im Popgeschäft<br />

tätigen Musikerinnen nicht nur die Interpreten ihres Welthits We Are Family<br />

wurden, sondern nun auch die Namensgeber dieser MAX JOSEPH-Ausgabe.<br />

Nikolaus Bachler, Staatsintendant<br />

Editorial5


2<br />

3<br />

8<br />

10<br />

12<br />

20<br />

Foto Daniel Delang<br />

Cover<br />

Das Cover zeigt ein Filmstill aus dem<br />

preisgekrönten Kurzfilm Don‘t Hug Me<br />

I’m Scared. Er stammt von THIS IS IT<br />

Collective, einer freien Vereinigung von<br />

Animationsfilmern und Designern, die<br />

ihre Kurzfilme selbst schreiben, produzieren<br />

und finanzieren.<br />

Illustration<br />

Von Anna Rodighiero<br />

Editorial<br />

Von Nikolaus Bachler<br />

Contributors/Impressum<br />

Playlist<br />

Zusammengestellt von DJ Paul van Dyk<br />

Versuch über die Familie<br />

Was Familie sein kann. Von Carolin Emcke<br />

Liebe, Drama, Wahnsinn<br />

Das Opernstudio vor Elegie für junge Liebende<br />

Foto-Story von Gabriela Herpell und Daniel<br />

Delang – PREMIERE<br />

Max Joseph 3 Inhalt<br />

28<br />

34<br />

Foto Robert Lazzarini<br />

Foto Sarah Brück<br />

40<br />

Noch einmal zurück<br />

Regisseur Dmitri Tcherniakov über Simon<br />

Boccanegra und familiäre Glücksmomente<br />

– PREMIERE<br />

Ehrenwerte Familien<br />

Ist die Mafia ein Familienbetrieb?<br />

Von Giovanni Tizian<br />

„Man erschafft mit dem Ensemble<br />

eine eigene Welt“<br />

Christiane Pohle, Regisseurin von<br />

Elegie für junge Liebende, im Gespräch<br />

– PREMIERE


46<br />

49<br />

Illustration Benjamin Marra<br />

Leise und Stark<br />

Sopranistin Krassimira Stoyanova über die<br />

Figur der Amelia in Simon Boccanegra<br />

– PREMIERE<br />

Comic<br />

Giuseppe Verdis Macbeth, gezeichnet von<br />

Benjamin Marra<br />

Spielzeit 2012–2013<br />

72<br />

82<br />

Portfolio<br />

Familien. Spielarten<br />

Epilog: Familienbande von Iris Hanika<br />

Familie. Kinderlos oder auSSer<br />

Haus. Es ist egal.<br />

Eine Erzählung von Sibylle Berg<br />

60<br />

Noten, die das Leben schreibt<br />

Michael Kerstan über autobiografische<br />

Spuren in Hans Werner Henzes Elegie für<br />

junge Liebende<br />

– PREMIERE<br />

Foto Mark Nixon<br />

86<br />

Alle lieben diesen Song!<br />

Ein Anruf bei Sister Sledge, den Interpreten<br />

des Songs We Are Family<br />

88<br />

„Zsch! Des is die klane Hörbiger“<br />

Dirk Stermann befragt Mavie Hörbiger zu<br />

ihrem Stammbaum<br />

93<br />

Spielplan<br />

98<br />

Familiengeschichten<br />

Kulturtipps von Opernmitarbei tern<br />

66<br />

Im Kinderzimmer (Immer Noch)<br />

Ein erwachsener Mann im Niemandsland<br />

zwischen Kindheit und Vaterschaft.<br />

Von Thomas Jonigk<br />

100<br />

Vorschau


Sehen Sie Sauerstoff.<br />

In einer Weltpremiere<br />

von Linde.<br />

Am Anfang stand eine Idee: unsichtbare Gase sichtbar zu machen.<br />

Wir haben einen faszinierenden, einzigartigen Ansatz entwickelt.<br />

Numerische Grafiken, errechnet aus den spezifischen Stoffeigenschaften<br />

der Gase.<br />

Mehr unter www.fascinating-gases.com.<br />

Wir unterstützen die <strong>Bayerische</strong> <strong>Staatsoper</strong> als Spielzeitpartner.


Impressum<br />

Contributors<br />

Magazin der<br />

<strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong><br />

www.staatsoper.de/maxjoseph<br />

Max-Joseph-Platz 2 / 80539 München<br />

T 089 – 21 85 10 20 / F 089 – 21 85 10 23<br />

maxjoseph@staatsoper.de<br />

www.staatsoper.de<br />

Herausgeber<br />

Staatsintendant Nikolaus Bachler<br />

(V.i.S.d.P.)<br />

Redaktionsleitung<br />

Maria März<br />

Gesamtkoordination<br />

Christoph Koch<br />

Redaktion<br />

Miron Hakenbeck, Rainer Karlitschek,<br />

Olaf A. Schmitt, Andrea Schönhofer<br />

Mitarbeit: Christoph Lang<br />

Bildredaktion<br />

Yvonne Gebauer; Mitarbeit: Sabine Voss<br />

Gestaltung<br />

Bureau Mirko Borsche<br />

Mirko Borsche, Johannes von Gross,<br />

Moritz Wiegand, Judith Schröder,<br />

Cyrill Kuhlmann<br />

Autoren<br />

Eva Gesine Baur, Sibylle Berg, Paul van Dyk,<br />

Carolin Emcke, Marlene Halser, Iris Hanika,<br />

Petra Hauschild, Gabriela Herpell,<br />

Thomas Jonigk, Michael Kerstan,<br />

Christopher McMullen-Laird, Christian Rieger,<br />

Karin Siedenburg, Dirk Stermann,<br />

Giovanni Tizian, Gajendran Thuraiappah<br />

Fotografen & Illustratoren<br />

Sarah Brück, Dennis Busch, Daniel Delang,<br />

Grace DeVito, Yvonne Gebauer, Gian Gisiger,<br />

Jan von Holleben, Erik Klein Wolterink,<br />

Benjamin Marra, Chantal Michel, Mark Nixon,<br />

Robert Lazzarini, Anna Rodighiero,<br />

THIS IS IT Collective, Mohammed Wiegand<br />

Carolin Emcke<br />

Seite 12<br />

Carolin Emcke schreibt als<br />

vielfach ausgezeichnete<br />

Journalistin, Kriegsreporterin<br />

und Buchautorin vor allem<br />

über Menschenrechte,<br />

Theorien der Gewalt, Zeugenschaft<br />

und kulturelle<br />

Identitäten (zuletzt Wie wir<br />

begehren, 2012). Sie studierte<br />

Politik und Philosophie in<br />

Frankfurt am Main und<br />

Harvard, lehrte unter anderem<br />

an der Yale University<br />

und moderiert den „Streitraum“<br />

an der Schaubühne<br />

Berlin. Für MAX JOSEPH<br />

erkundet sie ihrem Essay den<br />

Ort Familie. Ab S. 12.<br />

Benjamin Marra<br />

Seite 49<br />

„Ich versuche jemand zu<br />

sein, der nicht versteht, was<br />

er tut“, sagte der Comic-<br />

Zeichner Benjamin Marra<br />

kürzlich in einem Interview.<br />

Diejenigen, die seine Arbeit<br />

aufnehmen, verstehen sie<br />

sehr wohl. Marra, in New<br />

York lebend, erreichte mit<br />

den Underground-Comicbüchern<br />

Night Business und<br />

Gangsta Rap Posse Kultstatus.<br />

Offizielle Würdigungen<br />

folgten rasch, etwa von der<br />

US-amerikanischen Society<br />

of Illustrators. Für MAX<br />

JOSEPH zeichnete er Verdis<br />

Oper Macbeth. Ab S. 49.<br />

Sarah Brück / Daniel Delang<br />

Seite 20 / Seite 40<br />

Sarah Brück und Daniel<br />

Delang haben für dieses<br />

MAX JOSEPH-Foto We are<br />

Family frei interpretiert und<br />

freundlicherweise ihr Hoch -<br />

zeitsfoto vorweggenommen.<br />

Sie sind seit dreieinhalb<br />

Jahren ein Paar und kennen<br />

sich seit dem Fotografiestudium<br />

in München. Sarah<br />

Brück zeigt die Regisseurin<br />

Christiane Pohle auf ganz<br />

zarte und elegische Weise,<br />

während die Bilder der Foto-<br />

Story von Daniel Delang aus<br />

den Dramen des Alltags der<br />

jungen Opernstudio-Sänger<br />

erzählen. Ab S. 20, 40.<br />

Foto Carolin Emcke: Sebastian Bolesch<br />

Übersetzung<br />

Raffaella Marini<br />

Marketing<br />

Maria Gaul<br />

T 089 – 21 85 10 27 / F 089 – 21 85 10 33<br />

marketing@staatsoper.de<br />

Schlussredaktion<br />

Andrea G. J. Hoffmann<br />

Verlag<br />

HOFFMANN UND CAMPE VERLAG GmbH,<br />

ein Unternehmen der GANSKE<br />

VERLAGSGRUPPE<br />

Harvestehuder Weg 42 / 20149 Hamburg<br />

T 040 – 44 18 84 57 / F 040 – 44 18 82 36<br />

cp@hoca.de / www.hocacp.de<br />

Anzeigenleitung<br />

<strong>Bayerische</strong> <strong>Staatsoper</strong>: Imogen Lenhart<br />

T 089 – 21 85 10 06<br />

imogen.lenhart@staatsoper.de<br />

Verlag: Doris Bielstein<br />

T 040 – 27 17 20 95 /<br />

doris.bielstein@bm-brandmedia.de<br />

Vertrieb Zeitschriftenhandel<br />

Premium Sales Germany GmbH<br />

Poßmoorweg 2-6 / 22301 Hamburg<br />

T 040 - 27 17 23 43<br />

Lithografie<br />

MXM Digital Service, München<br />

Druck<br />

Gotteswinter, München<br />

ISSN<br />

1867-3260<br />

Nachdruck nur nach vorheriger Einwilligung.<br />

Für die Originalbeiträge und Originalbilder alle<br />

Rechte vorbehalten. Urheber, die nicht zu<br />

erreichen waren, werden zwecks nachträglicher<br />

Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.<br />

Sibylle Berg<br />

Seite 82<br />

Familie heißt auch Krisengebiet,<br />

heißt auch Einsamkeit,<br />

heißt: die Dinge, wie sie<br />

sind. Hiervon handelt die<br />

Erzählung von Sibylle Berg<br />

– vielleicht. Die Autorin<br />

stammt aus Weimar, sie lebt<br />

heute in Zürich. Sie hat viele<br />

Bücher veröffentlicht<br />

(zuletzt Vielen Dank für das<br />

Leben, 2012) und ihre<br />

Theaterstücke (etwa Hund,<br />

Mann, Frau) werden im Inund<br />

Ausland gespielt. Einer<br />

breiteren Leserschaft ist sie<br />

bekannt durch ihre Spiegel-<br />

Kolumne Fragen Sie Frau<br />

Sibylle. Ab S. 82.<br />

Giovanni Tizian<br />

Seite 34<br />

Giovanni Tizian zog mit<br />

seiner Familie im Alter von<br />

zwölf Jahren nach Norditalien,<br />

nachdem die Mafia 1988<br />

die Möbelfabrik seines<br />

Großvaters niedergebrannt<br />

und ein Jahr später seinen<br />

Vater ermordet hatte. Tizian<br />

studierte Kriminologie und<br />

wurde Journalist. 2012<br />

veröffentlichte er das Buch<br />

Mafia AG über die Geschäfte<br />

der Mafia in Norditalien.<br />

Er lebt seither unter Polizeischutz.<br />

Für MAX JOSEPH<br />

schreibt er über das Konzept<br />

von Familie in der<br />

Mafia. Ab S. 34.<br />

Erik Klein Wolterink<br />

Seite 66<br />

Der Dokumentarfotograf<br />

und Fotokünstler Erik Klein<br />

Wolterink fängt mit seiner<br />

Kamera den Fluss der Zeit<br />

ein und „baut mit Bildern“,<br />

wie er selbst sagt. Er hatte<br />

fünfzehnJahre als Agraringenieur<br />

gearbeitet, bevor<br />

er in Amsterdam Fotografie<br />

studierte. Seine Bilder<br />

erlauben einen Blick, wie<br />

Wolterink auch Natur<br />

betrachtet: so nah, so<br />

selbstverständlich, voller<br />

Rätsel. Seine Collagen aus<br />

der Serie Terug Thuus<br />

begleiten den Text von<br />

Thomas Jonigk. Ab S. 66.<br />

Foto Sibylle Berg: Katharina Lütscher


München<br />

Residenzstrasse 6<br />

089 238 88 50 00<br />

Düsseldorf<br />

Kö-Center/<br />

Martin-Luther-Platz 32<br />

0211 135 40 92<br />

Frankfurt<br />

Goethestrasse/<br />

Grosse Bockenheimer-Str. 13<br />

069 219 96 700<br />

Hamburg<br />

Neuer Wall 39<br />

040 430 94 90<br />

Wien<br />

Am Kohlmarkt 4<br />

01 535 30 53<br />

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www.akris.ch


playlist<br />

CovEr-Gestaltung Dennis Busch


DJ Paul Van Dyk<br />

über Tracks, die ihn<br />

in den letzten Jahren<br />

begleitet haben.<br />

Paul van Dyk ist DJ und Produzent<br />

von elektronischer Musik. Van Dyk,<br />

der in Ost-Berlin aufwuchs, gehört<br />

zu den gefragtesten DJs weltweit,<br />

er hat für Madonna und U2 Remixe<br />

gemacht und war für den Grammy<br />

nominiert.<br />

Foto Olaf Heine<br />

1. JUPITER JONES – Wer winkt hier eigentlich wem?<br />

Der Titel verrät schon, dass es um mehr geht als irgendwelche<br />

Popmusik. Ich glaube, dass die Jungs die beste deutschsprachige<br />

Band sind, die wir haben. In diesem Song geht es<br />

darum, dass es immer auch einen Verlierer gibt, aber der<br />

Verlierer gestärkt aus einer Situation herausgehen kann.<br />

Das ist zumindest das, was ich in die Lyrics hineininterpretiere.<br />

Die Songs dieser Jungs sind immer ein Stück weit<br />

kryptisch, aber auch sehr nah am Leben. Ich habe teilweise<br />

das Gefühl, ich könnte deren Leben gelebt haben oder die<br />

meins, zumal wir in unterschiedlichen Situationen Ähnliches<br />

erlebt haben müssen. Sonst würde es zu solchen Lyrics<br />

nicht kommen.<br />

2. 3-11 PORTER – Surround me with your Love<br />

Das ist ein Klassiker. Es kommt nicht häufig vor, dass man<br />

im Autoradio unterwegs ein Stück Musik hört, das einen<br />

wirklich fasziniert und begeistert. Aber bei 3-11 Porter war<br />

es so. Ich habe tatsächlich bei der Radiostation angerufen<br />

und gefragt, was die gerade gespielt haben. Es war Surround<br />

me with your Love. Es gibt hier eine unglaubliche Stimme –<br />

es ist ein fantastisches Liebeslied. Es ist intensiv, ohne dabei<br />

über die Maßen kitschig zu sein. Deshalb mag ich den<br />

Song sehr und höre ihn immer wieder gerne.<br />

3. Vega4 – Radio Song<br />

Vega4 ist eine Band, die mich massiv begleitet hat, auch<br />

aufgrund der Tatsache, dass Johnny McDaid, der Sänger<br />

und Kopf der Band, über die letzten zwölf Jahre einer meiner<br />

besten Freunde geworden ist. Wir haben viel Musik gemeinsam<br />

geschrieben. Radio Song war das allererste Stück<br />

Musik, das ich von ihm und mit ihm gehört habe. Das war<br />

noch zu einer Zeit, als auf MTV noch Musikvideos liefen und<br />

nicht komische Fernsehsendungen. Ich habe mir dann das<br />

Album organisiert und angehört.<br />

4. The Smiths – Half a Person<br />

Eine andere Band, die für mich maßgebend war, sind The<br />

Smiths. Als es für mich losging, Musik zu entdecken – ich<br />

war so zehn Jahre alt –, saß ich vor dem Radio und machte<br />

Hausaufgaben, als ich eine Musik hörte, die völlig anders<br />

war als das, was in den 80er-Jahren so am Start war. Ich bin<br />

in der DDR groß geworden, saß in Ostberlin und hörte<br />

Westberliner Radio. Ich hatte nie einen anderen Kontakt zu<br />

dieser Band als über das Lesen von Magazinen oder das<br />

Kaufen von Platten. Es ging immer nur pur um die Musik.<br />

Was mich fasziniert hat, ist die unglaubliche Emotion und<br />

Tiefe. Ich konnte damals noch kein Englisch und nicht verstehen,<br />

was die singen. Half a Person war ein Track, der bei<br />

mir etwas ganz Besonderes ausgelöst hat. Da ist Reinhören<br />

besser, als das mit Worten zu beschreiben.<br />

5. Paul van Dyk – Evolution<br />

Musik, die mich begleitet, ist für mich natürlich in allererster<br />

Linie elektronische Musik. Ich habe lange überlegt,<br />

welche Titel ich da wählen sollte, und ehrlich gesagt ist mir<br />

kein Einzelner eingefallen. An elektronischer Musik fasziniert<br />

mich die Bandbreite, die sie bietet, und die Kreativität<br />

aller Künstler, die sich in diese musikalische Reise von<br />

elektronischer Musik einbringen. Deswegen würde ich<br />

mein Evolution-Album nennen, mit dem ich gerade auf Tour<br />

bin. Bei jedem Konzert spiele ich Sachen aus dem Album.<br />

Außerdem spiele ich auf diesem Album mit vielen Leuten<br />

zusammen, die ich sehr wertschätze – von Austin Leeds bis<br />

zu Giuseppe Ottviani, von Johnny McDaid (dem besagten<br />

Sänger von Vega4) bis hin zu Sue McLaren und vielen anderen.<br />

11


Versuch über die Familie<br />

Was Familie sein kann. Von Carolin Emcke


Bilder Jan von Holleben<br />

Familie?<br />

Familie ist ein Rätsel, das wir als solches nicht erkennen.<br />

Wir neigen dazu zu glauben, wir wüssten, was das sei: Familie. Wir glauben, eine<br />

Familie, das sei doch selbstverständlich, natürlich, etwas Unverfügbares, so sicher<br />

wie der Schatten, den wir hinter uns wissen, auch wenn wir ihn nicht sehen.<br />

Wir nehmen Familie als das, in was wir hineingeboren wurden, ohne Wahl, als die<br />

Konfiguration, in der wir aufgewachsen sind, deren Muster unsere psychische<br />

Grammatik geschrieben haben, deren Rhythmen und Rituale uns geformt haben<br />

in einer Zeit, in der uns nicht bewusst war, dass es auch andere geben könnte. Wir<br />

nehmen Familie als diejenigen, die dasselbe neblige Licht sahen, morgens, über<br />

dem Fluss, die dasselbe Ächzen hörten, wenn die wuchtigen Herbststürme das<br />

Haus zum Klingen brachten, wir nehmen Familie als diejenigen, die mit denselben<br />

Gewürzen vertraut sind, die wissen, woher die Narbe über dem rechten Auge<br />

stammt, die dieselben Lieder kennen, die, auf den Rücken des anderen geklopft,<br />

zu erraten waren, die dieselben Geschichten erzählten um die Feiertage und die<br />

neue erfanden die restlichen Tage des Jahres.<br />

Oft verstehen wir Familie auch als das Ensemble an Vorgaben, die sich in uns wiederfinden<br />

oder wiederfinden sollen, Familie, das sind dann die alten Fotos von<br />

längst verstorbenen Großvätern oder Urgroßtanten, in denen gesucht und gelesen<br />

wird, als ersparte der Blick zurück das Nachdenken über die eigenen Eigenschaften<br />

und Neigungen. Wir verstehen Familie manchmal als eine Art Partitur, geschrieben<br />

lange vor unserer Geburt, von anderen Menschen in einer anderen Zeit,<br />

weitergereicht von Generation zu Generation mit dem Anspruch, denselben Klang<br />

erzeugen zu sollen.<br />

Und schließlich denken wir Familie als den Ort, an dem wir ein ganzes Set an<br />

emotionalen Erwartungen glauben mit gutem Grund haben zu dürfen: geschützt<br />

zu werden und nicht missbraucht, geliebt zu werden und nicht abgelehnt, unterstützt<br />

zu werden und nicht fallengelassen – all das soll in dem Raum der Familie<br />

gelten. Wir denken Familie als diejenigen, mit denen wir rechnen können, immer,<br />

diejenigen, die Adressat unserer Bedürftigkeit und Not sein können und Quell der<br />

Vergebung. Wir denken Familie als diejenigen, die uns (oder denen wir) etwas<br />

schulden: Liebe und Anerkennung, Zuneigung und Offenheit, Milde und Fürsorge.<br />

Wir denken Familie als eine Art Schutzzone, in der andere Regeln gelten als in der<br />

sozialen Welt jenseits von ihr: Von uns wird mehr erwartet als von Fremden und<br />

von uns wird weniger erwartet als in anderen Kontexten.<br />

Und doch, wenn wir ehrlich sind, ist die reale Familie, die, die wir leben und erfahren,<br />

jenseits der Fantasie, uns oft sehr viel weniger gewiss. Dieselben Menschen,<br />

die den morgendlichen Nebel über dem Fluss gesehen haben, erinnern das wundersame<br />

Tuten der Schiffe nicht, das dem Tag seine ganze Klangfarbe gab, denselben<br />

Menschen machten die wuchtigen Herbststürme keine Freude, sondern Angst,<br />

dieselben Geräusche und Gerüche hatten andere Bedeutungen, dieselben Schläge<br />

hatten die einen unberührt gelassen und die anderen auf immer verstört.<br />

So erscheint, was wir als vertraut behaupten, auf einmal seltsam fremd.<br />

Die vertikale Linie, in der die Imagination der Vorderen sich auf die Nachgeborenen<br />

richtet, die geerbte Geschichte der Familie, bedeutet den einen Ansporn und<br />

Stolz, aber den anderen Last und Unfreiheit. Die angeblich lesbare Partitur hat<br />

Lücken und lässt sich schwer dechiffrieren, in jeder Generation wurden die Lücken<br />

anders ausgefüllt, musikalische Motive wurden ergänzt, Variationen verän-<br />

Essay13


14<br />

Wir nehmen Familie als diejenigen, die dasselbe neblige<br />

Licht sahen, morgens, über dem Fluss, die dasselbe Ächzen<br />

hörten, wenn die wuchtigen Herbststürme das Haus zum<br />

Klingen brachten.


dert und erweitert, der Klang, der nur wiederholt werden sollte, ist in Wahrheit<br />

stets ein anderer.<br />

So erscheint, was wir als Tradition behaupten, auf einmal seltsam unstet.<br />

Und schließlich werden unsere emotionalen Erwartungen enttäuscht. Die Familie<br />

erweist sich als unkartografierte Landschaft, als längst nicht so bekannte Gegend,<br />

wie wir glaubten: Es gibt Lügen und Geheimnisse, die wir spüren, weil sie die<br />

Konturen der Gefühle in Unschärfe tauchen, es gibt alte Trauer und Schmerzen,<br />

die beschwiegen werden und die so fortleben, immer lähmender, je unartikulierter<br />

sie sind, es gibt Missverständnisse und Missachtung, die umso brachialer wirken,<br />

als sie die Geschütztheit, in der wir uns in der Familie wähnen, ausnutzen und<br />

unterwandern.<br />

Und oftmals decken sich unsere Emotionen nicht mit den Emotionen, die zu den<br />

zugewiesenen Rollen und Funktionen passen würden: Die Arbeit des kriegsversehrten<br />

Vaters erledigt die älteste Tochter und untergräbt so seine Selbstachtung,<br />

die ältere Schwester, die im Kindbett gestorben ist, belädt das nächste Kind mit<br />

einer Trauer, die sich nicht abgelten lässt durchs Leben, die kranke Mutter erweist<br />

sich als stärker als der kraftstrotzende Vater, die alleinlebende Großmutter stiftet<br />

ein Zuhause für all jene, die es zusammen nicht herstellen können, der Nachbar<br />

beschützt die Geschwister besser, als es der älteste Bruder leisten könnte.<br />

Es ist ein Reigen aus Fremden und Freunden, heimlichen und offiziellen Geliebten,<br />

leiblichen oder angenommenen Kindern, Hausangestellten oder Vorgesetzten,<br />

Lehrerinnen und Mentoren, ein Netz aus Bezugspunkten, die nicht zur traditionellen<br />

Konfiguration der Familie gehören, die sie vielleicht sogar unterlaufen, und<br />

gleichwohl stabilisieren sie jene emotionale Grammatik, die es braucht zum Überleben.<br />

So erscheint, was wir als gewiss behaupten, auf einmal seltsam rätselhaft.<br />

Die Oper Simon Boccanegra erzählt uns von einem solch unverstandenen Rätsel<br />

Familie: Alle Figuren der Dreiecks-Konstellation Fiesco-Simon Boccanegra-Amelia<br />

leitet das Nicht-Wissen mehr als das Wissen, gepeint und getrieben von den<br />

Rissen ihrer eigenen Geschichten suchen sie alle nach den Bruchstücken, die ihnen<br />

fehlen. Von Simon Boccanegra selbst erfahren wir nicht einmal etwas darüber, wer<br />

seine ursprüngliche Familie war, sie bleibt im Schatten der Erzählung, er ist ein<br />

„Korsar“ im Dienste der Genueser, das ist alles, was wir zu Beginn erfahren, einer,<br />

der übers Meer gekommen ist. Für Fiesco, Simon und Amelia besteht Familie aus<br />

losen Enden, aus Fäden, die sich nicht zusammenflechten lassen, sie lassen sich in<br />

keine sinnhafte Erzählung bringen, weil sie unterbrochen ist.<br />

Es ist das Nicht-Wissen, was sie alle zu verzerrten oder verschobenen Emotionen<br />

treibt: Fiesco projiziert die Trauer über den Verlust seiner Tochter auf Simon und<br />

weil er die Vorstellung eines weiteren Verlusts seiner Enkelin nicht ertragen kann,<br />

unterstellt er Simon diese zu verstecken. Schuld und Rache ersetzen Trauer und<br />

familiäre Liebe; Amelia sieht in Simon nur den Dogen, der ihr einen Ehemann<br />

aufnötigen will, den sie nicht liebt, und nicht den verloren geglaubten Vater; Furcht<br />

und Zorn ersetzen die Liebe; Simon weiß nicht, wo seine Liebe Maria versteckt<br />

wird, und lässt sich zum Dogen küren, nur um sie befreien zu können, doch Maria<br />

ist bereits tot. Die ungewollte Macht, die er fortan ausüben muss, bleibt ihm hohl<br />

und bedeutungslos. Zweifel und Trauer über den doppelten Verlust ersetzen, zunächst,<br />

Liebe und Glück.<br />

Essay Carolin Emcke 15


16<br />

Wir denken Familie als den Ort, an dem wir ein ganzes<br />

set an emotionalen Erwartungen glauben mit gutem<br />

Grund haben zu dürfen: geschützt zu werden und nicht<br />

missbraucht, geliebt zu werden und nicht abgelehnt.


Bilder Jan von Holleben<br />

In Hans Werner Henzes Oper Elegie für junge Liebende ist es weniger die Projektionsfläche<br />

Familie, die decodiert wird, als der Genie-Kult, der den Künstler als<br />

eine Person stilisiert, die jenseits der Moral, jenseits emotionaler oder sozialer<br />

Ansprüche anderer agieren darf. In der grellen Überzeichnung der Figuren unterwandert<br />

das Libretto von W. H. Auden aber auch die moralischen Erwartungen,<br />

die in Liebende gesetzt werden: Wer liebt, so neigen wir zu glauben, sorgt sich um<br />

eine andere Person, oft mehr als um sich selbst. Dem künstlerischen Narziss, Gregor<br />

Mittenhofer, der sich um die liebende Verehrung der Menschen um ihn herum<br />

nicht schert, sind die Gefühle der anderen nichts als Material für sein Werk, ein<br />

instrumentelles Schauspiel, das ihn stimuliert oder langweilt, ohne dass es ihn als<br />

Person berühren oder fordern würde.<br />

Das Nicht-Wissen besteht in Elegie für junge Liebende nicht aus Lügen und Geheimnissen,<br />

sondern aus dem Rätsel des Liebens, das nicht nur sich selbst spiegeln<br />

will im anderen. Mittenhofer weiß nicht, was lieben heißt, weiß nicht, dass Liebe<br />

einen anderen Adressaten als sich selbst braucht, jemanden, an die sich hinzugeben<br />

keinen erzwungenen Verlust, sondern geschenkte Lust bedeuten könnte.<br />

Doch Familie ist niemals nur die eigene vertraut-rätselhafte Familie. Familie ist<br />

immer auch das ideelle Konstrukt, an dem sich gesellschaftliche Normen festschreiben.<br />

Welche sozialen oder ökonomischen Werte reguliert werden sollen, welche<br />

ästhetischen oder kulturellen Bilder und Rollenvorgaben toleriert werden, das<br />

kristallisiert sich im gesellschaftlich propagierten Modell von Familie heraus: welche<br />

Form der Geschlechterverhältnisse als legitim gelten, welche sexuellen Praktiken<br />

als pervers, welche Affären als akzeptabel und welche als promisk definiert<br />

werden, wer als Eltern geduldet wird – nur heterosexuelle Paare oder jeder, der<br />

oder die Kinder liebt und fördert, ob alleinerziehend, mit Hilfe der Großmutter<br />

oder als schwules Paar –, welche Spielgefährten als pädagogisch sinnvoll gelten –<br />

nur Kinder von alt-eingesessenen Bildungsbürgern oder auch die von Einwanderern<br />

und aus bildungsferneren Schichten.<br />

Kaum ein ideologisches Modell ist derart überschrieben mit normativen Vorgaben<br />

wie die Familie und geriert sich dabei als unideologisch, harmlos und natürlich.<br />

Selbst (oder gerade?) in Zeiten, in denen die klassischen Funktionen der Familie<br />

der ökonomischen, rechtlichen und erzieherischen Absicherung weitgehend obsolet<br />

geworden sind, entwickelt sich die Familie (und Kinder) mehr und mehr zum<br />

diskursiven Konflikt-Feld, auf dem sich soziale und kulturelle Ängste so enthemmt<br />

artikulieren wie sonst kaum mehr.<br />

Wie in der Schnittstelle der Familie ganz andere soziale, politische, kulturelle<br />

Normen und Werte markiert und verhandelt werden, zeigt sich auch in Simon<br />

Boccanegra: Die Oper erzählt nicht nur von der unerwünschten Liebe von Simon<br />

und Maria oder der von Gabriele und Amelia, sondern auch von den sozialen Konflikten<br />

in Genua, den Ressentiments und Verwerfungen zwischen Patriziern und<br />

Volk, zwischen Einheimischen und Fremden, zwischen denen, deren Herkunft geklärt<br />

ist, und denen, die aus dem Nichts kommen, denen, die ihre Privilegien verteidigen,<br />

und denen, denen sie vorenthalten sind.<br />

Beziehungen und Paare sind in Simon Boccanegra niemals privat oder frei, sie<br />

sind von Macht und Status ermöglicht und begrenzt, sie werden als legitim oder<br />

illegtim markiert, je nachdem, ob sie die Vorgaben des sozialen Stands verifizieren:<br />

So lehnt Fiesco den Korsaren Simon als Geliebten seiner Tochter ab, so wählt der<br />

Manipulator Paolo den Außenstehenden Simon als Kandidaten für den Posten des<br />

Dogen, weil der „Kämpfer“ als volksnah gilt, so fürchtet Gabriele den Dogen, weil<br />

Versuch über die Familie 17


er denkt, dieser würde seiner Geliebten Amelia den Günstling Paolo aufdrängen,<br />

als Lohn für treue Dienste. Alle Ängste und Projektionen verlaufen entlang der<br />

normativen Erwartungen und Gewohnheiten der jeweiligen sozialen oder kulturellen<br />

Herkunft.<br />

Allein Simon Boccanegra überschreitet und widersetzt sich dieser Ordnung, die<br />

nur Unheil über alle Liebenden gebracht hat. Allein die Titelfigur steht von Anbeginn<br />

außerhalb dieser Logik aus „wir gegen sie“: Es ist Simon Boccanegra, der<br />

immer wieder nach Versöhnung sucht, der vor einem Krieg warnt, und es ist Boccanegra,<br />

der der blutrünstigen Meute aus Adel und Volk trotzt, als die seinen Tod<br />

fordert.<br />

Was Simon Boccanegra auszeichnet vor allen anderen Figuren, ist seine Fremdheit.<br />

Er steht außerhalb der Ordnung der Genueser, er gehört keiner ihrer Kasten<br />

und Gruppen an, ihre Geschichten aus verwundeten Bindungen an die Gegner,<br />

ihre emotionalen Reflexe aus Angst und Zorn, ihre kulturellen oder sozialen Wurzeln<br />

teilt er nicht. Boccanegras Heimat, so deutet es das Libretto, aber vor allem<br />

die Musik an, ist allein das Meer. Gerade das, was sonst als unheimlich, bedrohlich<br />

und subversiv behauptet wird, ein Fremder, einer, der eben nicht aus der eigenen<br />

Familie stammt, der nicht vertraut ist mit dem, was einem an Ritualen und Überzeugungen<br />

gemein ist, gerade das ist hier die rettende Figur: ein anders verstandenes<br />

Rätsel von Familie.<br />

Sie teilen nichts an Erfahrung, Simon Boccanegra und seine Tochter, sie kennt<br />

nicht einmal den Namen, den ihre Mutter ihr gab, bevor sie starb, sie wissen nichts<br />

voneinander, Simon und Amelia, ihre Familie ist geprägt von Verlust, die verlorenen<br />

Jahre, in denen Amelia bei einer anderen Familie angenommen wurde, in denen<br />

die Beziehung von Fiesco und Simon durch zornige Trauer vergiftet wurde.<br />

Alle suchen sie, die losen Fäden aufzunehmen, Großvater, Vater, Tochter, Geliebter<br />

der Tochter, die Lücken der Familie, die verstorbene Mutter, die Amme, die<br />

Familie Grimaldi, die das vermeintlich elternlose Kind bei sich aufnahm, die Brüche<br />

bestimmen die emotionale Textur der Familie wie das Ungebrochene. Sie sind<br />

eine ungewöhnliche Familie, wie es jede Familie ist, die nicht dem Modell entspricht,<br />

was angeblich „normal“ sein soll. Vielleicht weil es das nicht gibt: eine<br />

normale Familie.<br />

Mehr über die Autorin auf S. 8<br />

Die Fotografien von Jan von Holleben<br />

stammen aus seiner Serie Great Masters<br />

(2007–2009). Die Serie ist eine „hän dische“<br />

Hommage an die großen Meister<br />

der Kunstgeschichte.<br />

18<br />

Seite 12 The Munch<br />

Seite 14 The Monet<br />

Seite 16 The Duchamp


TRAUM | EWIGKEIT<br />

UHREN SCHMUCK JUWELEN<br />

München Residenzstraße 2 | Neuhauser Straße 2 | bucherer.com


Liebe, drama,<br />

wahnsinn<br />

Das Opernstudio der<br />

<strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong><br />

Das Opernstudio in München, so sagt es der musikalische Leiter Tobias Truninger, ist vergleichbar mit der Juniorenmannschaft eines großen<br />

Fußballclubs. Allerdings sind sie keine Elf, sondern nur zu zehnt hier (von links im Uhrzeigersinn): Joshua Stewart aus den USA, Dean Power aus<br />

Irland, Rafał Pawnuk aus Polen, Yulia Sokolik aus Russland, Silvia Hauer aus Deutschland, Andrea Borghini aus Italien, Tim Kuypers aus Holland,<br />

Naomi Schmitz aus Deutschland, Golda Schultz aus Südafrika und Iulia Maria Dan aus Rumänien stehen am Anfang einer großen Karriere.<br />

Nach abgeschlossenem Studium durchlaufen sie zwei Jahre lang den Alltag an der Oper: Korrepetition, Sprach-, Schauspiel- und Sprechunterricht,<br />

Auftritte auf der großen Bühne mit Weltstars. Und sie erarbeiten sich eine eigene Produktion: Elegie für junge Liebende von Hans Werner<br />

Henze. Eine Oper aus dem 20. Jahrhundert ist eine besondere Herausforderung, der gelegentlich Abwechslung mit älteren Werken gut tut. So<br />

wie Sportler sich zwischendurch dehnen, singen die zehn in den Pausen vor sich hin, aus Opernarien von Mozart, Rossini, Verdi, aus klassischen<br />

Liedern von Brahms oder aus Operettenarien von Johann Strauss.


Fünf Prozent des Singens sind Genuss. Die<br />

Vorbereitungen werden brutal unterschätzt.<br />

Es ist harte Arbeit zu<br />

singen. Die Aufführungen<br />

machen Spaß,<br />

klar, aber davor ist<br />

fast alles Arbeit.<br />

Wir lieben den<br />

Beruf und wir<br />

hassen ihn.<br />

Und dann kannst du noch echt Pech haben,<br />

eine schlechte Nacht kann dir den Abend verderben.<br />

Weil alles so genau stimmen muss. Es<br />

ist anspruchsvoll, aber die Mühe wird belohnt.<br />

Die körperliche Empfindung<br />

beim Singen ist natürlich<br />

sensationell. Aber die Nerven<br />

liegen blank, vor allem, wenn<br />

du weißt, dass der schwierige<br />

Teil noch kommt.<br />

Premiere Elegie für junge Liebende


Wir singen von<br />

der Liebe.<br />

Von Dramen.<br />

Von Geld<br />

und vom Tod.<br />

Das, was wir singen,<br />

beeinflusst unser<br />

Leben natürlich.<br />

Unsere Gefühle.<br />

Die alte Frage:<br />

Haben wir<br />

größere Gefühle<br />

als andere, weil<br />

wir Oper singen?<br />

Oder sind wir<br />

Opernsänger,<br />

weil wir stärker<br />

empfinden?<br />

Die Rollen bringen<br />

manchmal Züge<br />

in einem heraus, von<br />

denen man gar nichts<br />

wusste. Weil wir so<br />

etwas in Wirklichkeit<br />

noch gar<br />

nicht erlebt haben.<br />

Aber wir müssen<br />

verstehen, was<br />

die Figuren fühlen.


Du musst ständig, ob du<br />

willst oder nicht, allein<br />

in deine Zelle kriechen und<br />

üben. Das geht ein<br />

paar Wochen so, dann<br />

kommt die Krise.<br />

Es ist ein Beruf für<br />

Einzelgänger.<br />

Weil er deine<br />

ganze emotionale<br />

Energie braucht.<br />

Das ändert sich.<br />

Wenn man sich seine<br />

Rollen eines Tages<br />

aussuchen kann.


Ich bin der<br />

stille Typ.<br />

Aber lustig,<br />

dass du das<br />

LAUT sagst.<br />

Manchmal musst<br />

du dein Schweigen<br />

brechen.


Wir sind total<br />

unterschiedlich.<br />

Wir sind ja auch<br />

alle aus anderen<br />

Ländern und<br />

Kulturen.<br />

Konkurrenz zwischen<br />

uns gibt es nicht. Das<br />

liegt am Stimmfach.<br />

Der Bariton empfindet<br />

keine Konkurrenz zum<br />

Tenor, der Tenor<br />

keine zum Bass.<br />

Moment mal! Ich<br />

komme am höchsten.<br />

Ich bin der Sopran!<br />

Nicht nur ein Mezzo.


Die jungen Künstler singen alle zusammen zu Naomis Klavierspiel: Brüderlein und Schwesterlein aus der Fledermaus von Johann Strauss.<br />

Zum schmissigen Abschluss eines Arien-Programms im Künstlerhaus am Lenbachplatz.<br />

Henze, das<br />

ist Wahnsinn.<br />

Unsere erste<br />

Oper, und<br />

dann das!<br />

Elegie für junge Liebende<br />

Oper in drei Akten<br />

Von Hans Werner Henze<br />

Premiere am Freitag, 3. Mai 2013<br />

Cuvilliés-Theater<br />

Weitere Termine im Spielplan ab S. 94<br />

Für MAX JOSEPH begleiteten die Journalistin<br />

Gabriela Herpell und der Fotograf Daniel Delang die<br />

Sänger des Opernstudios bei mehreren Terminen.


ICH BRAUCHE KEIN HAUS<br />

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Noch einmal zurück<br />

Regisseur Dmitri<br />

Tcherniakov inszeniert<br />

an der <strong>Bayerische</strong>n<br />

<strong>Staatsoper</strong> Giuseppe<br />

Verdis Simon Boccanegra.<br />

Im MAX JOSEPH-<br />

Gespräch zeichnet<br />

er einfühlsam seine<br />

Deutung der Titelfigur<br />

nach und erzählt eine<br />

per sönliche Familiengeschichte.


MAX JOSEPH In Simon Boccanegra finden sich ein Vater<br />

und seine Tochter wieder, die Jahrzehnte zuvor auseinandergerissen<br />

wurden. Diese fast sentimental wirkende Wiederbegegnung<br />

verspricht vollkommen glücklich zu verlaufen<br />

und könnte alte Wunden heilen. Dann aber erliegt<br />

Boccanegra einem Mordanschlag. In welchem Zusammenhang<br />

steht hier das Scheitern eines Politikers mit seiner familiären<br />

Geschichte? Was ist Vordergrund, was Hintergrund?<br />

DMITRI TCHERNIAKOV Das Thema Familie ist für<br />

mich in dieser Oper eher peripher. Niemand hat dort<br />

wirklich eine Familie, eher geht es um ihre Abwesenheit.<br />

Hingegen ist das persönliche Scheitern Boccanegras<br />

für mich wesentlich. Er ist ein Mensch, der<br />

sich verloren hat und mit den Jahren versteht, dass<br />

er nicht sein eigentliches Leben gelebt hat. Dass es<br />

einen entscheidenden Augenblick gab, in dem sein<br />

Leben eine falsche Richtung eingeschlagen hat, für<br />

mehr als zwanzig Jahre. Diesen Wendepunkt, diesen<br />

alles entscheidenden Abend in Boccanegras Leben,<br />

als seine Geliebte sich ermordet und er zum Dogen<br />

gewählt wird, erzählt uns Verdi im Prolog. Im Laufe<br />

seines weiteren Lebens kehrt Boccanegra in Gedanken<br />

immer wieder zu diesem Abend zurück. Er versucht,<br />

ihn noch einmal zu durchleben, ihn Sekunde<br />

für Sekunde zu rekonstruieren, um zu verstehen, wie<br />

alles passieren konnte, und um das Geschehene<br />

rückgängig zu machen. Aber das ist nicht möglich,<br />

diese fortwährende Rückkehr in die Vergangenheit<br />

ist zerstörerisch. Am Ende der Oper macht Boccanegra<br />

dann so etwas wie ein Downshifting, steigt aus<br />

seinem Job aus, lässt alles zurück und geht fort. Weil<br />

er versteht, dass er von seinem bisherigen Leben<br />

nichts mehr braucht. Ich lasse ihn nicht durch das<br />

Gift seiner Gegner sterben, wie es das Libretto vorsieht.<br />

Das wäre zu einfach. Das Gift, die Intrige, der<br />

politische Mord sind nur Teile einer Theaterkonvention.<br />

Boccanegra bleibt am Leben, ändert aber seine<br />

Prioritäten.<br />

MJ Der Auslöser für diese Veränderung in seinem Denken<br />

ist aber doch das unerwartete Auftauchen seiner Tochter,<br />

die in jener Vergangenheit verschwunden ist.<br />

DT Ja, Amelia ist der Katalysator. Ich erzähle die Familiengeschichte<br />

in Simon Boccanegra aber etwas<br />

anders als Verdi und seine Librettisten und verändere<br />

sie in einem ganz kleinen, aber wesentlichen Detail.<br />

Ich glaube nicht an die Echtheit der Gefühle<br />

während dieser Wiederbegegnung. Wie kann Boccanegra,<br />

wenn diese verloren geglaubte Tochter nach<br />

über zwanzig Jahren auftaucht, unmittelbar in ein<br />

Duett von so verzuckerter Natur mit ihr einstimmen?<br />

Das Duett ist ein Spiel. Was müsste ein ständig von<br />

Komplotten umkreister und aus Erfahrung misstrauischer<br />

Politiker denken, wenn er plötzlich auf ein<br />

Interview Miron Hakenbeck<br />

Mädchen trifft, das sich ihm als seine Tochter zu erkennen<br />

gibt? „Wer steht hinter ihr? Was ist das für<br />

eine Provokation?“ Für mich glaubt Boccanegra<br />

nicht ein einziges Mal an die Identität dieser wiederaufgetauchten<br />

Tochter.<br />

MJ Das heißt, die beiden sind gar nicht verwandt? Warum<br />

gibt sich Amelia als diese Tochter aus? Oder glaubt sie<br />

selbst an die Geschichte von Vater und Tochter?<br />

DT Diese junge Frau ist keine kalkulierende Intrigantin,<br />

die an die Macht gelangen will. Sie ist eine<br />

Waise, über Jahre in einer fremden Familie aufgewachsen,<br />

mit dem Gefühl, dass niemand sie braucht.<br />

In der autistischen Blase, in der sie lebt, denkt sie<br />

sich Boccanegra als ihren Helden. Als die Vaterfigur,<br />

die sie in ihrem Leben nie hatte. Sie weiß vom Verschwinden<br />

seiner Tochter vielleicht durch Paolo, der<br />

sie oft besucht und Boccanegra noch aus der Zeit<br />

kennt, bevor dieser Doge wurde. Aus Paolos Erzählungen<br />

konnte sie ein Porträt Boccanegras kreieren.<br />

Sie idealisiert ihn, schneidet vielleicht seine Fotos<br />

aus den Zeitungen aus und klebt sie in ihr Tagebuch.<br />

Sie muss eine unheimliche Angst haben, dass alles<br />

auffliegt und sie als Lügnerin dastehen wird. Aber<br />

sie hat diese idée fixe, dass ihr Glück davon abhängt.<br />

MJ Bei allem Misstrauen löst die Begegnung mit dieser<br />

jungen Frau in Boccanegra eine Kette von emotionalen Reaktionen<br />

aus.<br />

DT Er hatte jahrelang die Hoffnung, seine Tochter<br />

noch einmal wiederzusehen, auch wenn dies mit der<br />

Zeit immer utopischer wurde. Wie eine wichtige<br />

Schublade, die immer leerer zu werden droht. Deshalb<br />

ist es ab einem bestimmten Moment nicht mehr<br />

wichtig für ihn, ob diese Frau wirklich seine Tochter<br />

ist. Sie nimmt einfach diesen Platz in seinem Leben<br />

ein. Es ist, als würde er ihr sagen: „Ich will dich nicht<br />

weiter ausfragen. Aber verlass mich bitte nicht! Ich<br />

brauche dich.“ Und dennoch: In der ersten Begegnung,<br />

in ihrer ersten gemeinsamen Szene lügt Boccanegra<br />

und spielt ihr vor, dass er ein glücklicher<br />

Vater ist. Danach stürzen eine Menge vernichtender<br />

Zweifel und Probleme auf ihn ein.<br />

MJ Auf dem Politiker Boccanegra, dem von den Plebejern<br />

gewählten Dogen, lag die Hoffnung auf Ausgleich zwischen<br />

verfeindeten Parteien. Seine Politik war aber zwanzig Jahre<br />

lang von Terror und Ungerechtigkeit gegen die Patrizier<br />

gezeichnet. Schlittert er ganz passiv und unbedacht in diese<br />

Form der Machtausübung hinein? Oder übt er an den<br />

Patriziern Rache für seinen persönlichen Verlust?<br />

DT Boccanegra hat sich sicher immer als zweitklassiger<br />

Mensch gegenüber den Patriziern gefühlt. Und<br />

nur deshalb wurde sein Leben zerstört – von Fiesco,<br />

dem Vater seiner Geliebten, der seine Tochter vielleicht<br />

sogar in den Selbstmord getrieben hat. Als<br />

Boccanegra, einmal an der Macht, die Möglichkeit<br />

Premiere Simon Boccanegra29


zur Rache bekam, hat er sie genutzt. Es gab ganz private<br />

Gründe, diesen Krieg gegen die Welt Fiescos zu<br />

führen. Das war kein politisches Kalkül, auch wenn<br />

es politische Auswirkungen hat. Fiesco verfolgt ihn<br />

lebenslang. In jeder Szene, in der wir Boccanegra<br />

mit Fiesco erleben, beleidigt ihn dieser. Vielleicht<br />

ist Boccanegras Handeln vor allem dadurch bestimmt,<br />

diesem Mann, der ihn als Bräutigam seiner<br />

Tochter nicht akzeptiert hat, etwas beweisen zu wollen.<br />

Die beiden Männer führen einen endlosen mentalen<br />

Dialog miteinander. Damit verbringen sie ihr<br />

halbes Leben.<br />

MJ Im Kontrast zu fast abstrakt anmutenden, schwarz-weißen<br />

Innenräumen in den darauffolgenden Akten wird der<br />

Prolog in dieser Inszenierung zu einer farbigen Straßenszene,<br />

die aber doch auch befremdend künstlich wirkt, da<br />

die Atmosphäre und eine bekannte Eckbar die Welt des<br />

Malers Edward Hoppers zu zitieren scheinen. Ist das programmatisch<br />

gemeint? Ist Boccanegras Leben ein Boulevard<br />

of Broken Dreams?<br />

DT Ich mag keine programmatischen Statements.<br />

Mich interessiert eher eine Wirkungsweise. Durch<br />

Postkarten und Poster kennen Edward Hoppers Bilder<br />

mittlerweile alle. Wir sehen dieses Café und wissen<br />

sofort: Das habe ich irgendwo schon gesehen.<br />

Das Bühnenbild des Prologs prägt sich deswegen<br />

sofort ins Bewusstsein ein – so wie dieser Abend<br />

und dieser Ort sich in Boccanegras Erinnerung einbrennen.<br />

Außerdem habe ich bei Bildern von Hopper<br />

immer ein Gefühl von Leere, als ob die Welt verlassen<br />

wäre. Es sind Bilder, wie sie ganz schnelle, frühmorgendliche<br />

Träume produzieren, die ein merkwürdiges<br />

Gefühl hinterlassen: An diesen Orten bin ich<br />

schon einmal gewesen, aber irgendetwas stimmt an<br />

ihnen nicht. Auf erschreckende Weise sind sie unecht.<br />

Ähnlich wirkte in der Kindheit auf mich Feuerwerk.<br />

Ich habe nie auf die explodierenden Leuchtkörper<br />

geschaut, sondern auf die Straßen und<br />

Gebäude, die für Sekundenbruchteile grell beleuchtet<br />

wurden – vor dem Hintergrund des schwarzen<br />

Himmels, mit der Helligkeit eines unnatürlichen<br />

Lichts.<br />

MJ In vielen Ihrer letzten Inszenierungen ist Familie der<br />

Ort von Manipulation und Verletzungen. Don Giovanni wird<br />

zum konfliktgeladenen familiären Beziehungsgeflecht, da<br />

alle Figuren hier plötzlich verwandt sind. Im Wozzeck ist<br />

die kleine Familie aus Vater, Mutter und Kind nur einer unter<br />

vielen Vertretern dieser familiären Mikrozelle, die alle<br />

in einem riesigen Neubaublock wohnen und in denen die<br />

gleiche katastrophale Spirale aus Ohnmacht, Entfremdung<br />

und Gewalt ablaufen könnte. In Janáčeks Jenůfa bleiben<br />

die Frauen dreier Generationen am Ende in der Hölle geschlossener<br />

Türen allein miteinander zurück. Dagegen gab<br />

es in Francis Poulencs Dialogues des Carmélites und auch<br />

Stickerei Yvonne Gebauer<br />

„Bei einem Feuerwerk<br />

habe ich als Kind nie auf<br />

die explodierenden Leuchtkörper<br />

geschaut, sondern<br />

auf die Straßen und Gebäude,<br />

die für Sekundenbruchteile<br />

grell beleuchtet<br />

wurden.“<br />

in Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch etwas<br />

anderes: eine Suche nach Verständnis und nach Aufgehobensein,<br />

nach glücklichem und ausgelassenem Miteinander<br />

außerhalb der Familie. Das Ende von Kitesch mutet wie<br />

die Erinnerung an einen glücklichen Sommer in der Kindheit<br />

an – auch wenn es dann doch schon das Paradies der<br />

Toten ist. Könnte es so etwas wie ein unbeschädigtes kindliches<br />

Wunschbild einer glücklichen Gemeinschaft geben,<br />

das jeder durch sein Leben trägt und nach dessen Erfüllung<br />

wir dann suchen?<br />

DT Ich glaube nicht an das Modell Familie. Trotzdem<br />

löst diese Frage bei mir eine wichtige Erinnerung<br />

aus: Als ich noch sehr klein war, in den frühen<br />

1970er-Jahren, gab es in der Familie meines Großvaters<br />

manchmal große Feste. Alle haben sich<br />

hübsch angezogen, die Frauen trugen große, auftoupierte<br />

Frisuren. Meine Großmutter sah umwerfend<br />

aus in ihrem glitzernden Lurex-Jackett. Meine Mutter<br />

und ihre zwei Schwestern legten sich bäuchlings<br />

auf das große Ehebett meiner Großeltern. Dort plauderten<br />

sie, lachten und wackelten mit ihren Beinen.<br />

Später saß ich unter dem Tisch und berührte die Hosen,<br />

Kleider und Socken aller Gäste. Die ältere<br />

Schwester meiner Mutter hatte zu viel getrunken<br />

und krabbelte zu mir unter den Tisch. Das alles<br />

schien mir ein wunderbares Glück zu sein. Später ist<br />

das verschwunden, als ob diese große Familie nicht<br />

mehr existierte. Der Großvater ist gestorben und die<br />

Großmutter hat solche Zusammenkünfte nicht mehr<br />

organisiert. Ihre Töchter haben sie noch besucht,<br />

aber nie wieder gemeinsam. Als meine Großmutter in<br />

eine kleinere Wohnung umziehen musste, stritten<br />

sie sich um die schönen alten Möbel. Und mit dem<br />

Tod der Großmutter hörte der Kontakt zwischen den<br />

drei Schwestern auf. Ich wollte sie wieder zusammenbringen<br />

und begann eine Art therapeutische<br />

Sitzung mit meiner Mutter: Ich zeigte ihr Ingmar<br />

Bergmans Film Schreie und Flüstern, in dem es um<br />

drei Schwestern geht, die sich auf kaum zu ertragen-<br />

Dmitri Tcherniakov 31


de blieb Weise für sie voneinander nur Film entfremdet mit guten haben. Schauspielern, Aber es<br />

blieb ohne einen für sie Bezug nur ein zu Film ihrem mit Leben. guten Und Schauspielern,<br />

seit meine<br />

ohne Mutter einen gestorben Bezug ist, zu ihrem habe ich Leben. meine Und Tanten seit meine nicht<br />

Mutter mehr gesehen, gestorben obwohl ist, habe sie auch ich meine Moskau Tanten wohnen. nicht<br />

mehr Alles ist gesehen, auseinander obwohl gefallen. sie auch in Moskau wohnen.<br />

Alles Die Beziehung ist auseinandergefallen.<br />

meiner Eltern war in meiner Kindheit<br />

voller Konflikte Die Beziehung und Eifersucht. meiner Eltern Ich erinnere war mich meiner an<br />

ständiges Kindheit voller Geschrei Konflikte und und Türenschlagen. Eifersucht. Ich erinnere<br />

in meiner mich an Schulklasse ständiges Geschrei Kinder, deren und Türenschlagen.<br />

Eltern geschie­<br />

kannte<br />

den Ich kannte waren und in meiner hatte Schulklasse eine Riesenangst, Kinder, dass deren auch Eltern<br />

das geschieden passieren waren, könnte. und Ich hatte dachte eine darüber Riesenangst, nach,<br />

mir<br />

wie dass mein auch Bruder mir das und passieren ich diese könnte. zwei Ich Menschen dachte darüber<br />

nach, wie mein könnten. Bruder Später, und als ich sie diese schon zwei um Men-<br />

die<br />

zusammenhalten<br />

Sechzig schen zusammenhalten waren, ohne uns Kinder könnten. lebten Später, und mein als Vater<br />

schon schwer um die krank sechzig wurde, waren, schienen ohne sie uns mir Kinder eine lebten ideale<br />

sie<br />

Familie und mein zu Vater sein: Wie schwer sie sich krank gegenseitig wurde, schienen den Hemdkragen<br />

mir eine richteten, ideale Familie wie sie zu sein: einander wie sie pflegten, sich gegen-<br />

wenn<br />

sie<br />

sie seitig krank den waren. Hemdkragen Gleichzeitig richteten, ist fast wie ihr sie ganzer einander Bekanntenkreis<br />

pflegten, wenn verschwunden. sie krank waren. Aber Gleichzeitig in dieser ist Zweisamkeit<br />

ihr ganzer haben Bekanntenkreis sie endlich ihr verschwunden. Glück gefunden, Aber vier­<br />

in<br />

fast<br />

zig dieser Jahre Zweisamkeit nach der Hochzeit. haben sie Das endlich ist doch ihr aber Glück auch gefunden,<br />

harmonisch, vierzig Jahre oder? nach Ich der erinnere Hochzeit. mich Das also ist an<br />

nicht<br />

keine doch aber harmonische auch nicht Familie, harmonisch, nur an oder? diesen Ich erinnere<br />

mich also Moment an keine in harmonische der Kindheit, Familie, als ich nur unter an<br />

kurzen<br />

utopischen<br />

dem diesen Tisch kurzen saß und utopischen es mir schien, Moment dass in der alle Kindheit, das vollkommene<br />

als ich unter Glück dem erleben. Tisch saß Manchmal und es mir habe schien, ich das als<br />

Bedürfnis, würden alle diese das vollkommene Utopie wieder Glück herzustellen, erleben. Manchmal<br />

habe vielleicht ich das niemand Bedürfnis, anderes dieses sie Gefühl braucht wieder und<br />

auch<br />

wenn<br />

obwohl herzustellen, es mich auch oft wenn frustriert, vielleicht dass niemand sie nicht anderes überlebensfähig<br />

es braucht ist. und obwohl es mich oft frustriert, dass es<br />

MJ Wie? nicht überlebensfähig ist.<br />

MJ Wie? DT Auf komische Weise. Neulich habe ich versucht,<br />

eine DT Auf Wohnung komische in dem Weise. Haus Neulich zu mieten, habe ich in dem versucht, diese<br />

glücklichen eine Wohnung Familientreffen in dem Haus zu stattfanden. mieten, in Nicht dem diese dieselbe<br />

glücklichen Wohnung, Familientreffen aber eine im stattfanden. Nachbareingang, Nicht dieselbe<br />

Ausblick Wohnung, auf aber den eine gleichen im Nachbareingang, Schornstein. Ich mit<br />

mit<br />

dem<br />

habe dem Ausblick versucht auf zu denselben verhandeln Schornstein. und sogar Ich habe eine<br />

schrecklich versucht zu verhandeln hohe Summe und geboten. sogar eine Aber schrecklich es ist mir<br />

nicht hohe gelungen. Summe geboten. Aber es ist mir nicht gelungen.<br />

in der Arbeit?<br />

MJ Und<br />

MJ Und DT in Manchmal der Arbeit? gelingt es mir in der Tat während der<br />

Proben DT Manchmal einer gelingt Inszenierung. es mir in Zum der Tat Beispiel während im Fall der<br />

von Proben Eugen an einer Onegin. Inszenierung. Die weibliche Zum Hauptfigur, Beispiel im Tatjana,<br />

von ist Eugen eine Onegin. Art Outsider, Die weibliche sie fühlt Hauptfigur, sich vollkommen Tatja-<br />

Fall<br />

allein na, ist inmitten eine Art Outsider, Gemeinschaft sie fühlt der sich anderen. vollkommen Wie<br />

kann allein man inmitten diese der Gemeinschaft zeigen? der anderen. Was bringt Wie<br />

die kann Leute man in diese der Gemeinschaft russischen Tradition zeigen? zusammen?<br />

Was bringt<br />

Nicht die Leute Golfspielen, in der russischen oder? Selbstverständlich Tradition zusammen? ein<br />

Fest, Nicht um Golfspielen, einen Tisch oder? herum. Selbstverständlich So entstand die ein Idee Fest, eines<br />

um einen großen Tisch Tisches herum. als So Zentrum entstand dieser Idee Inszenierung.<br />

großen Tatjana Tisches versucht, als Zentrum nicht dazu dieser zu Inszenierung.<br />

gehören und<br />

eines<br />

ignoriert Tatjana versucht, diesen Tisch, nicht setzt dazuzugehören, sich wie gezwungen und ignoriert<br />

Gleichzeitig diesen Tisch, entstand setzt sich um wie eben gezwungen diesen Tisch an ihn. he­<br />

an<br />

ihn.<br />

rum Gleichzeitig vielleicht entstand eine der um glücklichsten eben diesen Probensituati­<br />

Tisch herum<br />

32<br />

onen vielleicht in meiner der bisherigen glücklichsten Arbeit Probensituationen<br />

überhaupt. Wir haben<br />

in meiner uns täglich bisherigen um ihn Arbeit versammelt überhaupt. – fünf Wir Solisten, haben<br />

ein uns kleiner täglich Chor um diesen und ich Tisch – und versammelt mit großem – Spaß fünf fast Solisten,<br />

ein geprobt, kleiner unentwegt Chor und gelacht. ich – und Unbewusst mit großem ha­<br />

endlos<br />

ben Spaß wir fast ihn endlos mit diesem geprobt, Glück unentwegt aus der Vergangenheit<br />

gelacht. Unbewusst<br />

haben Ich wollte wir ihn immer mit diesem wieder Glück so eine aus Situation der Ver-<br />

belebt.<br />

herstellen. gangenheit Einmal belebt. Ich konnte wollte sich immer die wieder Sängerin so eine der<br />

Amme Situation an herstellen. keine szenische Einmal Abmachung konnte sich die mehr Sängerin<br />

der Sie Amme war damals an keine schon szenische gut siebzig Abmachung Jahre alt mehr und<br />

erinnern.<br />

eine erinnern. zerbrechliche Sie war damals Frau. schon Ich war gut ungeduldig, siebzig Jahre habe alt<br />

mich und eine über zerbrechliche sie geärgert und Frau. auf Ich sie war eingeredet. ungeduldig, Sie<br />

war habe furchtbar mich über erschrocken, sie geärgert hatte und auf die sie Augen eingeredet. voller<br />

Tränen Sie war und furchtbar flüsterte erschrocken, immer wieder hatte aufgeregt die Augen meinen voller<br />

Tränen „Dimotschka! und flüsterte Dimotschka! immer wieder Was aufgeregt kann mei-<br />

ich<br />

Namen:<br />

tun?“ nen Namen: Wie ein „Dimotschka! kleiner Grashalm Dimotschka! Wind. Das Was war kann nur<br />

wenige ich tun?“ Monate Wie ein nach kleiner dem Grashalm Tod meiner im Mutter. Wind. Das Ich war erinnerte<br />

nur wenige mich, Monate dass meine nach dem Mutter Tod genau meiner so Mutter. reagierte, Ich<br />

wenn erinnerte ich grob mich, mit dass ihr meine umging. Mutter Diese genauso Sängerin reagierte,<br />

wenn Moment ich grob meiner mit ihr umging. Mutter so Diese ähnlich, Sängerin dass war ich<br />

war in<br />

diesem<br />

ein diesem schreckliches Moment Schuldgefühl meiner Mutter bekam, so ähnlich, mich auf dass der<br />

Toilette ich ein schreckliches einsperrte und Schuldgefühl dort eine Stunde bekam, heulte. mich auf Inzwischen<br />

der Toilette ist einsperrte diese Frau und 78 Jahre dort eine alt Stunde kann heulte. schon<br />

nicht Inzwischen mehr richtig ist diese singen. Frau achtundsiebzig Aber ich kann sie Jahre nicht alt<br />

einfach und kann umbesetzen. schon nicht Es mehr würde richtig alles singen. zerstören. Aber ich<br />

kann sie nicht einfach umbesetzen. Es würde alles<br />

zerstören. <br />

Simon Boccanegra<br />

Oper in einem Prolog und drei Akten<br />

Dmitri Tcherniakov inszenierte nach seinem<br />

Regiestudium an der Russischen<br />

(fünf Bildern)<br />

Von Giuseppe Verdi<br />

Akademie für Theaterkunst am Mariinski-<br />

Theater Sankt Petersburg und am Moskauer<br />

Bolschoi-Theater. Bald arbeitete<br />

Premiere am Montag, 3. Juni 2013,<br />

Nationaltheater<br />

der 1970 in Moskau geborene Künstler<br />

auch im Ausland. Die Bühnenbilder zu<br />

Weitere Termine im Spielplan ab S. 94<br />

seinen Inszenierungen entwirft er in der<br />

Regel selbst. Er ist Preisträger vieler<br />

russischer Theaterpreise und wurde in<br />

den vergangenen Spielzeiten mehrfach<br />

zum Opernregisseur des Jahres gewählt.<br />

Zuletzt inszenierte er u.a. Die Legende<br />

von der unsichtbaren Stadt Kitesch in<br />

Amsterdam, Eugen Onegin, Wozzeck und<br />

Ruslan und Ludmilla am Bolschoi-Theater<br />

Moskau, Macbeth an der Opéra National<br />

de Tcherniakov Paris und am inszenierte Teatro Real nach Madrid, sei­<br />

Dmitri<br />

nem Don Giovanni Regiestudium in Aix-en-Provence an der Russischen und am<br />

Akademie Teatro Real für Madrid, Theaterkunst Il trovatore am am Mariinski­Theatere<br />

La Monnaie Sankt Brüssel Petersburg sowie Jenůfa und am<br />

Moskauer Opernhaus Bolschoi­Theater. Zürich. An die Bald <strong>Bayerische</strong> arbei­<br />

Théâttete<br />

<strong>Staatsoper</strong> der 1970 kehrt in er Moskau nach Mussorgskis<br />

geborenen<br />

Künstler Chowanschtschina auch im Ausland. und Poulencs Die Bühnenbildelogues<br />

zu des seinen Carmélites Inszenierungen zurück. entwirft<br />

Dia-<br />

er in der Regel selbst. Er ist Preisträger<br />

vieler russischer Theaterpreise und<br />

wurde in den vergangenen Spielzeiten<br />

mehrfach zum Opernregisseur des Jahres<br />

gewählt. Zuletzt inszenierte er u.a.<br />

Die Legende von der unsichtbaren Stadt<br />

Kitesch in Amsterdam, Eugen Onegin,<br />

Wozzeck und Ruslan und Ludmilla am<br />

Bolschoi­Theater Moskau, Macbeth an<br />

der Simon Opéra Boccanegra national de Paris und am Teatro<br />

Oper Real in Madrid, einem Prolog Don Giovanni und drei in Akten Aix­en­<br />

Provence (fünf Bildern) und am Teatro Real Madrid, Il<br />

trovatore Von Giuseppe am Théâtre Verdi La Monnaie Brüssel<br />

sowie Jenůfa am Opernhaus Zürich.<br />

An Premiere die <strong>Bayerische</strong> am Montag, <strong>Staatsoper</strong> 3. Juni 2013, kehrt er<br />

nach Nationaltheater Mussorgskis Chowanschtschina<br />

und Poulencs Dialogues des Carmélites<br />

zurück. Weitere Termine im Spielplan ab S. 94


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Ehrenwerte<br />

Familien<br />

Fotografie Robert Lazzarini<br />

Text Giovanni Tizian


Die Mafia, ein Familienbetrieb? Das Konzept von Familie<br />

hat in der Mafia essenzielle Bedeutung – auch heute, in<br />

Zeiten des Wandels zur „Mafia-AG“. Ein Bericht des italienischen<br />

Journalisten und Buchautors Giovanni Tizian.<br />

Es ist der 15. Juli 2006. Die Brautleute, Maria Valle und Giulio Lampada, fahren in einer<br />

Kutsche durch die Auffahrtsallee zur Villa d’Este in Cernobbio am Comer See. Hier, wo sonst<br />

Gipfeltreffen zwischen Staatsoberhäuptern stattfinden, heiraten die Sprösslinge der zwei<br />

einflussreichsten Familien der lombardischen ‘Ndrangheta, die sehr eng mit der in Kalabrien<br />

verbunden ist. Sie werden mit dem Beifall von zweihundertfünfzig Hochzeitsgästen begrüßt,<br />

steigen aus und tauchen in der Menge unter. Mit ihnen feiern Mafiabosse, junge Mafiosi, befreundete<br />

Unternehmer und Mitglieder der Mailänder Oberschicht. Sechzigtausend Euro<br />

wird der Empfang kosten. Macht kann auch so gezeigt werden.<br />

Die Geschichte der Mafia ist reich an Ehen, bei denen die Liebe geopfert wird, um<br />

Machtallianzen zu besiegeln oder Vermögen zu mehren. In Italien ist die kalabrische kriminelle<br />

Organisation ‘Ndrangheta eine Meisterin darin, Ehen zu arrangieren, die lediglich dem<br />

Business und der Machtgier dienen.<br />

Gleiches Drehbuch tausend Kilometer südlicher, im Sommer 2008, im Umland von<br />

Locri, zwischen dem Jonischen Meer und dem Aspromonte. Zwölfhundert Gäste feiern die<br />

Vermählung von Elisa Pelle und Giuseppe Barbaro, Erben zweier wichtiger Familien der<br />

‘Ndrangheta. Sie repräsentieren, nach Ansicht der Ermittler, die beiden Mafiafamilien Pelle<br />

und Barbaro. An der Feier nehmen die wichtigsten ‘Ndranghetabosse teil, die sogar eigens<br />

aus Deutschland, Holland und Australien gekommen sind. An diesem Tag wird nicht nur die<br />

Krönung der Liebe zwischen zwei jungen Menschen gefeiert. Die Hochzeitsfeierlichkeiten<br />

dienen lediglich der Verschleierung krimineller Geschäfte und sind keine Herzensangelegenheit.<br />

35


Die Staatsanwaltschaft von Reggio Calabria vermerkt in den Gerichtsakten, dass während<br />

der Feier Posten erneuert und neue Bosse ernannt wurden. Manchmal dienen solche Feiern<br />

auch dazu, denen Signale und Botschaften zu übermitteln, die nicht ihre Pflicht erfüllt haben.<br />

„Nunzio“ Novella, ein Boss der lombardischen ‘Ndrangheta, versteht sofort, dass er in<br />

Schwierigkeiten ist, als er keine Einladung zur Hochzeit bekommt. Ein paar Monate später<br />

wird er ermordet.<br />

Das Konzept von Familie hat für die kalabrischen Mafiosi essenzielle Bedeutung. Die<br />

Blutsfamilie schützt und bewahrt Geheimnisse. Auch das Phänomen der „Pentiti“ (der geständigen<br />

Mafiosi) kann hier besser gesteuert werden als in Stieffamilien, die nicht auf Blutsverwandtschaft<br />

gegründet sind.<br />

Bei der Cosa Nostra hingegen, der sizilianischen und amerikanischen Mafia, ist Blutsverwandtschaft<br />

eher selten. (Der Name bedeutet „unsere Sache“, es ist die bekannteste Mafiaorganisation.)<br />

Ja, es gibt Ehen, die mehrere Familien vereinen, aber es ist keine festgelegte<br />

Regel wie bei der ‘Ndrangheta. Ebenso verhält es sich bei der neapolitanischen Camorra.<br />

Ihre Clans bestehen aus jungen Leuten, die nicht miteinander verwandt sind und aus instabilen<br />

Familienverhältnissen kommen und genau deswegen eher zu impulsiverer Gewalt neigen.<br />

Es ist kein Zufall, dass Camorra und Cosa Nostra sehr hart von der sogenannten Kronzeugenregelung<br />

getroffen wurden, während die ‘Ndrangheta nur leicht davon gestreift wurde.<br />

Unter die Kronzeugenregelung fällt ein Mafioso, der sich zum „Verrat“ von Geheimnissen<br />

entschließt und mit der Justiz zusammenarbeitet. Anders als die ‘Ndrangheta mussten<br />

ihre kampanischen und sizilianischen Schwesterorganisationen im Lauf der Jahre erleben,<br />

wie Abtrünnige die Regeln des Geheimhaltens gebrochen haben. Zu Zeiten der Richter Giovanni<br />

Falcone und Paolo Borsellino, also in den 1980er- und 1990er-Jahren gab es zahlreiche<br />

sizilianische „Pentiti“. Borsellino und Falcone konnten durch ihre Geständnisse Untersuchungen<br />

abschließen – auch auf der Sizilien-USA-Achse. Der wichtigste sizilianische „Pentito“,<br />

der von Falcone befragt wurde, war Tommaso Buscetta, der Boss der „zwei Welten“.<br />

Dann wurden zuerst Falcone und später Borsellino ermordet, im Jahr 1992. Und während<br />

die Cosa Nostra auf allen Blättern erschien, blieb die ‘Ndrangheta den meisten unbekannt.<br />

Die familiäre Struktur der kalabrischen Mafia schützt sie vor Verrat, wohl weil es schwieriger<br />

ist, Verwandte anzuzeigen.<br />

Wenn es aber doch zum Verrat kommt, hat das katastrophale Auswirkungen für die<br />

Organisation. Wer aussagt, kennt nämlich die Familiengeheimnisse genau. Bei der ‘Ndrangheta<br />

heißt der Familienverband „‘ndrina“, was dem Begriff des „Clans“ oder der „Cosca“<br />

bei anderen mafiösen Vereinigungen entspricht. Wer in eine Mafiafamilie als Mitglied eintritt<br />

– und das gilt für alle italienischen Mafiaverbände – kann nur als Toter oder als „Pentito“<br />

wieder austreten.<br />

Legende und Realität<br />

Die Mafia bedient sich nicht nur familiärer Verhaltensregeln. Sie benutzt auch Ursprungsund<br />

Gründungslegenden, um ihre Macht zu festigen. Osso, Mastrosso und Carcagnosso sind<br />

die drei spanischen Ritter, die einst von der Insel Favignana loszogen, um die Mafia auf Sizilien,<br />

die ‘Ndrangheta in Kalabrien und die Camorra in Kampanien zu gründen. Die ‘Ndrangheta<br />

beruft sich bei ihren Ritualen oft auf die drei. Aber die Legende der mutigen Ritter,<br />

die sich dem Schutz und der Gerechtigkeit für die Schwächeren verschrieben hatten, sollte<br />

der ‘Ndrangheta bloß einen legendenhaften Anschein verleihen. Die Wahrheit sieht bekanntlich<br />

anders aus.<br />

Seit Jahrhunderten üben kalabrische, sizilianische und kampanische Mafiosi ihre<br />

Macht durch Gewalt und Unterdrückung aus. Von jeher lag ihnen daran, das Überleben der<br />

Interessen der herrschenden Klasse zu sichern. Als sie das erreicht hatten, haben sie sich mit<br />

ihr zusammengetan. Früher beschützten sie die Güter der Großgrundbesitzer, heute überwachen<br />

sie die Baustellen der großen italienischen Industriekonzerne. Und gestern wie heute<br />

zerstören, verseuchen, töten sie, setzen sie unter Druck und veruntreuen Geld und Arbeit.<br />

Sie halten ganze Gebiete in Armut, um besser Kontrolle ausüben zu können. Denn je größer<br />

skull (iii), 2000, resin, bone, pigment, 4 x 14 x 6 inches gun (i), 2008, steel, walnut, 13.5 x 6 x 2.5 inches all images courtesy of the artist and Marlborough Chelsea, NY


Es ist kein Zu fall, dass Camorra und Cosa Nostra hart von der sogenannten<br />

Kron zeugenregelung getroffen wurden. Die ‘Ndrangheta hingegen,<br />

in der Bluts verwandtschaft eine essenzielle Bedeutung hat, wurde davon<br />

nur leicht gestreift.<br />

die soziale Verzweiflung, desto stärker iat die Macht der Mafia und der korrupten Politiker<br />

– die ja oft am gleichen Strang ziehen –, andere erpressbar zu machen.<br />

Auch die Cosa Nostra hat ihre Gründungslegende. Sie führt ihre Rituale auf die Geheimsekte<br />

der Beati Paoli zurück. Die Sekte entstand um das 12. Jahrhundert und hatte sich<br />

zum Ziel gesetzt, die Opfer der Übergriffe des palermitanischen Adels zu verteidigen. Auch<br />

hier ist die Berufung auf soziale Gerechtigkeit klar. Mafiosi gerieren sich als Verteidiger der<br />

von Machtmissbrauch gemarterten und ausgenutzten sozialen Schichten. Wie die Geschichte<br />

gezeigt hat, ist das pure Fantasie. Das ist wirklich Folklore. Die Wahrheit trägt die grüne<br />

Farbe des Geldes, die rote des Blutes der Unschuldigen und die schwarze der Korruption.<br />

Wahr ist, dass sich die Aufnahmeriten der drei Mafiaorganisationen ähneln.<br />

Die Taufe des jungen Ehrenmannes in der Cosa Nostra, „Picciotto“ genannt, wird<br />

immer vor den Clanchefs vollzogen. Man sticht mit einer Nadel in einen Finger der rechten<br />

Hand, von dem man ein bisschen Blut auf ein Heiligenbild tropfen lässt. Schließlich wird das<br />

mit dem Blut des jungen Täuflings benetzte Heiligenbild verbrannt und der junge Mann wird<br />

nun zum „Ehrenpicciotto“. Bei der ‘Ndrangheta macht man sich den Erzengel Michael als<br />

Symbolfigur zunutze. Er ist nicht zufällig Bezugsfigur der Organisation geworden. Der Erzengel<br />

wird wie ein Held dargestellt: In der einen Hand hält er die Waage der Justitia, in der<br />

anderen hält er ein Schwert, mit dem er den Drachen des Bösen durchbohrt: eine Mystifizierung<br />

zur Rechtfertigung von Verbrechen.<br />

Die Mafia wird zu einem Unternehmen<br />

Bis vor ein paar Jahrzehnten ähnelten die Clans eher Stämmen. Der Mafiaboss war eine<br />

Respektsperson, weil er die Fäden in der von ihm unterdrückten Bevölkerung in der Hand<br />

hatte. Die Bevölkerung war meistens arm und deswegen zog er es vor, nicht allzu viel von<br />

seinem Reichtum zu zeigen. Heute hingegen sind die kriminellen Organisationen wahre Holding-Gesellschaften<br />

mit sehr unterschiedlichen Interessen, die von Drogen und Glücksspiel<br />

über Baugeschäfte und Gastronomie bis hin zu Call Centern reichen. Vor allem die ‘Ndrangheta,<br />

die in den 1970er- und 1990er-Jahren Geld durch Entführungen angehäuft hat, leitet<br />

jetzt einen Drogenmarkt enormen Ausmaßes, in dem Einkünfte pausenlos in den legalen<br />

Markt recycelt werden.<br />

Die italienische und die europäische Wirtschaft werden still und leise von dieser Flut<br />

an schmutzigen Geldgeschäften verseucht, die das wirtschaftliche Gleichgewicht zum Wanken<br />

bringen. Heutzutage erkennt man einen Mafioso nicht mehr an seiner schräg aufgesetzten<br />

Mütze und der Schrotflinte oder etwa an seinem süditalienischen Akzent. Mit einer<br />

sauberen Weste – aber durch das immense Kapital, das ihnen zur Verfügung steht, umso<br />

gefährlicher geworden – nutzen die Mafiosi ihren Reichtum, um in der Geschäftswelt, die<br />

weit über die traditionellen regionalen Grenzen hinausreicht, akzeptiert zu werden. Der<br />

Mailänder Boss benutzt intern die gleichen Rituale wie früher, um seine Zugehörigkeit zu<br />

einem Clan zu zeigen. Nach außen jedoch vermittelt er den Eindruck eines versierten Geschäftsmannes,<br />

der wie die anderen produziert und die Wirtschaft vorantreibt. Er ist nicht<br />

mehr der Schmarotzer, der Geld unterschlägt, sondern nimmt aktiv am Wirtschaftsgeschehen<br />

teil. In Anbetracht des großen Erfolgs seines Produkts und seines gewaltigen Umsatzes<br />

fühlt sich der Dealer-Broker für Kokain nicht mehr wie ein Krimineller, sondern wie jeder<br />

Businessman, der geschäftliche Beziehungen zu Unternehmern, Politikern, Anwälten, Notaren,<br />

Ärzten und Freimaurern unterhält. Bosse mit Laptop, die ihre Pistole gerne zu Hause<br />

lassen. In den verlassenen kleinen Dörfern um Locri und im Aspromonte herrschen die<br />

‘Ndranghetabosse von ihren grauen und halbfertigen Zementpalästen aus über Dorfgemeinschaften,<br />

während sie im Norden Traumvillen bauen, die den Villen in Hollywoodfilmen<br />

gleichen.<br />

Während die erste Phase einer Mafiaboss-Karriere durch enorme Geldanhäufung und blitzartigen<br />

Machtzuwachs gekennzeichnet ist, besteht die zweite Phase aus Flucht, Entbehrung,<br />

Gefängnis und Tod. Nach fast einem Jahrhundert Straflosigkeit folgte in den 1980er-Jahren<br />

ein starkes Antimafia-Engagement von links, vor allem von der Kommunistischen Partei.<br />

Ehrenwerte Familien 37


Der sizilianische Fraktionschef Pio La Torre entwarf ein innovatives Gesetz, das die Beteiligung<br />

an einer mafiösen Vereinigung unter Strafe stellen sollte; dies sollte ermöglichen, Güter<br />

der Mafiosi zu konfiszieren. Unmittelbar nach diesem Gesetzesentwurf wurde der kommunistische<br />

Politiker ermordet. Erst nach dieser Bluttat wurde der Entwurf im Jahr 1982 als<br />

Rognoni-La Torre-Gesetz verabschiedet. (Man bräuchte ein solches Gesetz auf europäischer<br />

Ebene. Aber es gibt noch einiges zu tun.) Von diesem Augenblick an hatte die Mafia keine<br />

Chance mehr, davonzukommen. Die Straffreiheit der Mafiosi hatte ein Ende.<br />

Kultur und Mafia<br />

Musik verbindet Menschen und Völker, stimmt auf Schlachten ein, vermittelt Werte und<br />

konsolidiert sie. Auch die „ehrenwerte Gesellschaft“ hat ihre Musik: Hundertfünfzigtausend<br />

Exemplare der „Musik der Mafia“ wurden in Deutschland und ebenso viele in neun weitere<br />

Länder verkauft. Es ist eine Trilogie, in der – wie in den besten Epen – Geschichten, Werte<br />

und Riten des reichsten kriminellen Verbandes Europas, der ‘Ndrangheta, erzählt werden.<br />

Und so sind eine Menge Aufnahmen der Verbrecherwelt in Umlauf. Eher indirekt in<br />

seiner Botschaft ist das neomelodische neapolitanische Musikgenre, das aus der traditionellen<br />

neapolitanischen szenischen Darstellung entstanden ist. Oft eignet es sich – in einem<br />

sentimentalen und romantischen Rahmen –, die Figur des Camorrabosses und seine Rolle<br />

als gerechter Mann hervorzuheben, der im Gefängnis seine „ungerechte“ Strafe absitzen<br />

muss. Die neomelodische Musik erfährt auch außerhalb der Grenzen Kampaniens und Süditaliens<br />

großen Zuspruch. Viele junge Menschen lassen sich von der Sentimentalität ihrer<br />

Klänge verführen, ohne unterscheiden zu können, wo die Musikkunst aufhört und die Mafiapropaganda<br />

beginnt. Die Mafiaorganisationen nutzen Musik und Kultur aus, ohne sie mit<br />

positiven Elementen zu bereichern und immer mit einem kriminellen Ziel.<br />

Zu diesem Zweck ist in Rosarno das Radio Olimpia Medma der ‘Ndrangheta-Familie<br />

dei Pesce entstanden. Wie bei dem Modell der peruanischen und bolivianischen Narcos nutzen<br />

sie UKW-Frequenzen, um mit angehörigen Häftlingen, die sich in Isolierhaft befinden,<br />

zu kommunizieren. Also eine Art Tauschhandel durch den Äther mit geringen Schutzgeldern<br />

in Form von Musiktiteln oder Widmungen.<br />

Mafiaorganisationen lieben das Kino, vor allem wenn ein Film den folkloristischen<br />

Aspekt des Mafioso und die Darstellung seiner Macht zelebriert. Und Der Pate ist ein Kultfilm.<br />

Nicht von ungefähr trat Luciano Liggio, Chef der Cosa Nostra, der kurz nach Erscheinen<br />

des Films verhaftet wurde, mit einem Outfit vor Gericht, das dem des Film-Paten Vito<br />

Corleone glich. Auch Daniel Carbuccia, der New Yorker Mafia-Neuling, der 2010 des Mordes<br />

angeklagt war, behauptete in einer Polizeiaufnahme: Es ist mein Lieblingsfilm.<br />

Auch die Villen der Bosse haben als architektonische Referenz die riesigen Häuser<br />

der Paten in Kinofilmen. Diese Selbstinszenierungen dienen dazu, vor den jungen Mafia-<br />

Aspiranten Hässlichkeiten dieses kriminellen Lebens zu überspielen. Filme zu produzieren<br />

und maßgeschneiderte Geschichten zu realisieren, ist für Mafiosi sehr verlockend. Und auch<br />

wenn es derzeit keine einschlägigen Untersuchungen gibt, kann man ein gewisses Interesse<br />

von Seiten der Mafia für den Sektor nicht ausschließen. So wie es mit einigen Zeitungen<br />

passiert ist, die unter starkem Einfluss krimineller Organisationen standen, die damit die<br />

öffentliche Meinung besser manipulieren konnten.<br />

Uns ehrlichen Italienern bleibt aber die Oper, die genauso wie Mafia, Camorra und<br />

‘Ndrangheta ein italienisches Markenzeichen ist, das uns aber im Gegensatz zu diesen mit<br />

Stolz erfüllt und wir mit Procida in Verdis Oper Les vêpres siciliennes reinen Herzens und<br />

voller Hoffnung sagen können:<br />

O Heimat, o teure Heimat,<br />

Verbannt, in weiter Ferne,<br />

Kannte ich nur die Sehnsucht,<br />

Dich wieder zu sehn!<br />

Aus dem Italienischen von<br />

Raffaella Marini<br />

Mehr über den Autor auf S. 8


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„Man<br />

erschafft<br />

mit dem<br />

Ensemble<br />

eine eigene<br />

Welt“<br />

Die<br />

Regis seurin<br />

Christiane<br />

Pohle im<br />

Gespräch.<br />

Text Marlene Halser<br />

In Hans Werner Henzes Oper Elegie für junge Liebende<br />

geht es um den Künstler an sich. Was inspiriert<br />

ihn? Wie erschafft er sein Werk? Diese Oper<br />

verlangt daher den Künstlern, die sie zur Aufführung<br />

bringen, eine besondere Auseinandersetzung<br />

auch mit sich selbst ab. Christiane Pohle, die das<br />

Werk mit dem Opernstudio der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong><br />

inszeniert, sprach mit MAX JOSEPH über die<br />

Sehnsucht von Kunstschaffenden und das Leben im<br />

Ensemble.<br />

Ein wenig abgehetzt erscheint Regisseurin Christiane Pohle<br />

zum Interview. Ganz in Schwarz ist sie gekleidet und zierlich.<br />

Der Mund dunkelrot geschminkt, die Augen strahlend<br />

blau, das fein ziselierte Gesicht blass vom langen Winter.<br />

Zuletzt hat Pohle am Schauspielhaus in Graz Der Untergeher<br />

von Thomas Bernhard inszeniert. Ein Roman über das<br />

Scheitern, die Unvereinbarkeit von Ideal und Realität und<br />

das Leben im Widerspruch. Auch in Hans Werner Henzes<br />

Elegie für junge Liebende ist es die Mehrdeutigkeit, die<br />

Pohle an der zentralen Figur, dem Dichter Gregor Mittenhofer,<br />

fasziniert.<br />

CHRISTIANE POHLE „Die Figur des scheinbar<br />

egozentrischen Künstlers birgt viele Dimensionen, nicht<br />

nur die rein psychologische. Mittenhofer hat die Sehnsucht,<br />

etwas zu erschaffen. Wenn er seine Muse Elisabeth Zimmer,<br />

die den Sohn seines Leibarztes ihm vorzieht, scheinbar ziehen<br />

lässt, betreibt Mittenhofer ein gefährliches Spiel, das<br />

sich grausam auf das Schicksal von Elisabeth und Toni<br />

auswirkt. Für ihn hingegen ist das höchst inspirierend.<br />

Was passiert also, wenn einer, der den Tod zweier Menschen<br />

in Kauf nimmt, um die Entstehung seines Werks zu befördern,<br />

gleichzeitig ein großer Künstler ist? Wie haben wir<br />

damit umzugehen? Die Antwort liegt nicht in der Vereinfachung.“<br />

Als Kunstschaffende widmet auch die Regisseurin<br />

Pohle einen Großteil ihres Lebens dem Werk, das sie inszeniert.<br />

Ausgebildet im Schauspiel, begann Pohle schon früh,<br />

Regie zu führen. Ihre erste Regiearbeit erarbeitete sie 1999<br />

mit Sitzen in Hamburg (eine Bearbeitung von Anton<br />

Tschechows Die drei Schwestern) und wurde dafür gemeinsam<br />

mit ihrer Gruppe Laborlavache! mit dem Impulse-<br />

Preis für Freies Theater ausgezeichnet.<br />

„In Henzes Oper gibt es eine enorme Sehnsucht nach<br />

künstlerischer Wahrhaftigkeit und danach, dass das, was<br />

man schafft, eine Entsprechung im echten Leben hat. Sie<br />

wirft die Frage auf, ob die Kreation gleichwertig mit dem<br />

Leben ist. Nicht umsonst spielt die Natur darin eine so<br />

wichtige Rolle.“<br />

Die Elegie für junge Liebende spielt im „Schwarzen<br />

Adler“, einem Berggasthaus in den österreichischen Alpen.<br />

Drei der Figuren verunglücken in einem Schneesturm:<br />

Gleich zu Beginn – erzählt in der Rückschau – stirbt der<br />

Ehemann von Hilda Mack („eine Witwe“). Vierzig lange<br />

41<br />

Premiere Elegie für junge Liebende


Jahre wartet sie nach seinem Verschwinden vergeblich auf<br />

ihn und wird vor Trauer verrückt, so dass sie immer wieder<br />

Visionen hat – eine Inspirationsquelle des Dichters. Später<br />

verunglücken dann des Dichters Muse Elisabeth Zimmer<br />

und ihr junger Geliebter Toni, der Sohn des Leibarztes.<br />

Mittenhofer, der Dichter, hat die beiden in die Berge geschickt,<br />

ein Edelweiß zu pflücken, um seine Inspiration zu<br />

befördern. Als der Bergführer vor dem heraufziehenden<br />

Unwetter warnt, verschweigt Mittenhofer, dass die beiden<br />

noch draußen sind.<br />

„Die Natur als zerstörerische Kraft ist permanent anwesend.<br />

Ihr wohnt eine Macht inne, die weit über dem steht,<br />

was der Mensch in seiner kleinen persönlichen Biografie für<br />

gewöhnlich zu vollbringen vermag. Mittenhofer treibt die<br />

Sehnsucht an, etwas Elementares zu schaffen, das an die<br />

Kraft der Natur heranreicht. Und die Manipulationen, die<br />

er vornimmt, werden am Ende auch an ihm nicht spurlos<br />

vorbeigegangen sein.“<br />

Es ist ein fast romantisches Künstlerdasein, das Gregor<br />

Mittenhofer in seinem Berggasthof führt – zurückgezogen<br />

und einsam, umgeben vom elitären Kreis seiner Bediensteten.<br />

Der Leibarzt, die Muse, die Sekretärin. Sie alle<br />

scheinen auf die Bedürfnisse ihres Meisters ausgerichtet zu<br />

sein, auf dass ihm sein Kunstwerk, dieses höhere Gut, gelingen<br />

möge.<br />

„Wenn man einen künstlerischen Prozess beginnt,<br />

erschafft man mit dem Ensemble eine eigene Welt. Es ergibt<br />

sich so etwas wie eine Familie. Durch die Auseinandersetzung<br />

mit dem Stoff entsteht ein eigener Zugang zum Thema.<br />

Man wird zum Erfinder – gemeinsam! Auf eine Weise ist<br />

diese Welt künstlich, weil sie im Außen keinen Bestand hat.<br />

Aber in dem Moment, in dem das Stück entsteht, ist diese<br />

Welt die Realität und bleibt es im Idealfall auch für die<br />

Dauer der Aufführung. Die Konflikte, die es dort gibt, sind<br />

elementar. Das Erschaffen künstlicher Welten ist lebensnotwendig.<br />

Ein Satz von Gert Jonke ist mir dazu im Gedächtnis<br />

geblieben. Er sagte: ‚Ich muss schreiben, weil das Leben<br />

so schrecklich fad ist.‘ Das kann ich gut nachvollziehen.“<br />

Christiane Pohle ist ein kritischer Geist. Oft überlegt<br />

sie lange, bevor sie auf eine Frage antwortet. Bisweilen<br />

probiert sie erst verschiedene Adjektive aus, als koste sie<br />

deren inhaltliche Tauglichkeit anhand des Klangs beim<br />

Sprechen, bis sie eines gefunden hat, das am besten beschreibt,<br />

was sie vermitteln will. Während ein Stück entsteht,<br />

fällt ihr die Kommunikation mit der Außenwelt<br />

schwer, wie sie sagt.<br />

„Künstlerische Gedanken- und Entwicklungsprozesse<br />

sind offen und schwer vermittelbar und daher schützenswert.<br />

Oft stellt sich im Gespräch, während der Probe oder beim<br />

Anhören von Musik so etwas wie ein atmosphärisches Assoziieren<br />

ein. Das in Worte zu fassen, wäre gar nicht dienlich.<br />

Auch in Henzes Oper klingt das an. Sie trägt den Titel Elegie<br />

für junge Liebende. Wenn diese Elegie aber zum Schluss vorgetragen<br />

wird, hören wir gar keine Worte. Sie besteht nur aus<br />

42<br />

Fotografie Sarah Brück<br />

„Was passiert, wenn einer<br />

den Tod zweier Menschen<br />

in Kauf nimmt, um die<br />

Entstehung seines Kunstwerks<br />

zu befördern?<br />

Die Antwort liegt nicht<br />

in der Vereinfachung.“<br />

einem Echo der Stimmen, die zuvor im Stück zu hören waren.<br />

Das Kunstwerk, um das es geht, bleibt also etwas Imaginäres.<br />

Das empfinde ich als eine sehr schöne Beschreibung dessen,<br />

was Kunst sein kann: etwas nicht Ausgesprochenes, sondern<br />

etwas, das man nur spüren kann. Etwas, das über dem<br />

Künstler steht.“<br />

Christiane Pohles Mutter ist Sängerin und die Bühne<br />

war deshalb immer ein Teil ihres Lebens, vielleicht sogar<br />

der wichtigste. Das Ensemble, die Kunst, sie waren stets<br />

aufs engste mit dem Familienbegriff verwoben. Das Klischee<br />

des einsamen Künstlers lässt sie nicht gelten.<br />

„Wir sind alle einsam. Der Künstler ebenso wie alle<br />

anderen Menschen. Das nicht anzuerkennen, wäre naiv.<br />

Was ich an der Arbeit im Theaterzusammenhang besonders<br />

schätze, ist die Möglichkeit, sich innerhalb kürzester Zeit mit<br />

hoher Intensität zu begegnen und im Kollektiv zu arbeiten.<br />

Das geht nur, weil im Zentrum ein ganz bestimmtes Thema<br />

steht. Lernt man Menschen in anderem Zusammenhang kennen,<br />

braucht es meist viel länger, bis man sich mit so viel<br />

Vertrauen und einer solchen Verbindlichkeit begegnen kann.<br />

Das genieße ich enorm. Das einzelgängerische Schaffen des<br />

bildenden Künstlers oder des Autors, der in Klausur geht,<br />

die Welt mit sich nimmt und dann mit einem Text oder einem<br />

Kunstwerk wieder herauskommt, wäre nichts für mich.<br />

Nach der Premiere als Regisseurin den Kontext wieder<br />

zu verlassen, ist oft schwierig. In dem Moment, in dem<br />

das Publikum mit den Schauspielern oder den Sängern in<br />

Beziehung tritt, findet das Gespräch zwischen der Regisseurin<br />

und dem künstlerischen Kollektiv nicht mehr statt. Die<br />

Zeitfamilie ist aus dem Leben verschwunden. Im Grunde<br />

„Wenn die Elegie zum<br />

Schluss vorgetragen wird,<br />

hören wir keine Worte.<br />

Sie besteht nur aus einem<br />

Echo der Stimmen, die<br />

zuvor im Stück zu hören<br />

waren.“


in ich wie ein Satellit, der ein Universum betritt. Dann<br />

entsteht dort etwas. Und dann verlässt der Satellit das Universum<br />

wieder. Der Hofstaat Mittenhofers ist in gewisser<br />

Weise ein Bild für diese Zeitfamilie, mit all ihren Hierarchien,<br />

Vor- und Nachteilen.“<br />

1999, mit der Inszenierung ihrer ersten Regiearbeit,<br />

gründete Christiane Pohle gemeinsam mit anderen Schauspielerinnen<br />

das Künstlerkollektiv Laborlavache!, das vier<br />

Jahre Bestand hatte.<br />

„Laborlavache! entstand aus der Sehnsucht nach<br />

Kontinuität. Wenn man über einen längeren Zeitraum zusammenarbeitet,<br />

kommt man zu einer viel differenzierteren<br />

künstlerischen Sprache oder kann einer bestimmte Art der<br />

Auseinandersetzung besser etablieren. Auf der anderen Seite<br />

hat das Immer-wieder-neu-auf-eine-Gruppe-Stoßen, auch<br />

etwas. So kann man immer wieder von allen alles für möglich<br />

halten, weil man sie noch nicht kennt.“<br />

Die Regisseurin schätzt das „sowohl – als auch“. Von<br />

Eindimensionalität ist sie schnell gelangweilt. Und „Das<br />

interessiert mich nicht“ ist aus ihrem Mund ein vernichtendes<br />

Urteil. Sich stets auf die verschiedenen Charaktere einer<br />

neuen Gruppe einstellen zu müssen, empfindet sie deshalb<br />

als Bereicherung.<br />

„Es gibt konfliktgeladene Kollektive und solche, die<br />

sehr harmonisch sind. Das hat oft mit dem Stoff zu tun. Denn<br />

jedes Thema wirft andere Fragen auf. Und diese bringen unterschiedliche<br />

Qualitäten der Menschen an die Oberfläche.<br />

Oft spiegeln sich Konflikte, die es auf der Stückebene gibt, im<br />

Ensemble wider. Das ist im Grunde sehr natürlich. Man befasst<br />

sich ja sehr intensiv mit den Charakteren des Stücks<br />

und den Fragen, die diese beschäftigen.“<br />

Der Dichter Gregor Mittenhofer in Henzes Elegie<br />

ist auch von Angst geprägt. Von der Angst, dass seine Kreativität<br />

in Zweifel gezogen werden könnten, dass er das<br />

künstlerische Niveau nicht halten kann.<br />

„Natürlich weiß man um diesen Moment, in dem<br />

man an die Öffentlichkeit geht, und natürlich ist es der<br />

größte Wunsch, dass das, was man kreiert hat, aufgenommen<br />

und gespürt wird. Der Zweifel, dass es nicht so sein<br />

könnte, ist da. Was mich besonders beschäftigt, ist die Angst,<br />

dass eine Arbeit nicht konsequent sein könnte. Dass etwas<br />

halbgar ist. Entfaltet eine Aufführung eine Kraft? Hat sie<br />

eine Eigenständigkeit? Das ist eine Frage, der man jedes<br />

Mal ausgesetzt ist.<br />

Auch bei der Figur Mittenhofer ist das interessant.<br />

Er ist nicht nur auf den Erfolg bedacht, diese Aussage wäre<br />

mir zu platt. Wichtiger ist für mich, die tiefe Notwendigkeit<br />

auszuloten, etwas Inneres zum Ausdruck zu bringen und<br />

die Frage, was passiert, wenn in diesem Moment etwas misslingt.<br />

Denn dann ist der Mensch nicht nur als Künstler in<br />

Frage gestellt ...“ <br />

<br />

Christiane Pohle, geboren 1968 in Berlin, inszeniert an den bedeutenden<br />

Schauspielhäusern im deutschsprachigen Raum. An den<br />

Münchner Kammerspielen entstanden u.a. Jeff Koons, Bulbus, Zur<br />

schönen Ansicht, Parzival (Ein Projekt), Die Räuber, am Thalia<br />

Theater Hamburg Auslöschung, Früchte des Nichts und Die Marx-<br />

Saga. Bei den Salzburger Festspielen erarbeitete sie Ein Fest für<br />

Boris und Fünf Goldringe. Weitere Inszenierungen waren am<br />

Schauspielhaus Zürich, Wiener Burgtheater, Theater Basel, Düsseldorfer<br />

Schauspielhaus und Leipziger Centraltheater zu sehen.<br />

Christiane Pohle studierte Schauspiel und verwirklichte ab 1999<br />

mit ihrer Gruppe Laborlavache! zahlreiche Theaterprojekte, wofür<br />

sie unter anderem mit dem von der Akademie für Darstellende<br />

Künste vergebenen Förderpreis für Regie 2001 ausgezeichnet wurde.<br />

Bei den Münchner Opernfestspielen 2009 brachte sie Jay Schwartz’<br />

Narcissus und Echo zur Uraufführung.<br />

Marlene Halser ist freie Journalistin in München. Sie arbeitet unter<br />

anderem als Korrespondentin für die taz.<br />

Mit bestem Dank an das Museum Villa Stuck in München, das<br />

seine Historischen Räume für die Fotoaufnahmen zur Verfügung<br />

gestellt hat. In den Räumlichkeiten verbanden sich Leben und<br />

Werk des Künstlers Franz von Stuck.<br />

Mehr über die Fotografin auf S. 8<br />

Elegie für junge Liebende<br />

Oper in drei Akten<br />

Von Hans Werner Henze<br />

Eine Produktion des Opernstudios der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong><br />

44<br />

Premiere am Freitag, 3. Mai 2013,<br />

Nationaltheater<br />

Weitere Termine im Spielplan ab S. 94


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Leise und stark<br />

In Simon Boccanegra<br />

kann Tochter Amelia ihre<br />

Wünsche durchsetzen –<br />

anders als die meisten<br />

Frauen in Verdis Opern. Was<br />

macht sie richtig? Sopranistin<br />

Krassimira Stoyanova,<br />

die die Amelia an der<br />

<strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong><br />

singen wird, gibt Antworten.<br />

Text Eva Gesine Baur<br />

„Befreie mich – Libera me“, hat sie gerade<br />

gefleht. Krassimira Stoyanova<br />

kommt direkt aus der Probe zu Verdis<br />

Messa da Requiem. Dort ist Gott zuständig<br />

für die Befreiung der Seele aus<br />

irdischen Verstrickungen. Nun aber<br />

soll sie über Frauen in Verdis Opern<br />

reden: Töchter, Schwestern und Gattinnen,<br />

die gefangen sind in den Reglements<br />

ihrer Väter, Brüder und Ehemänner.<br />

Und todunglücklich, weil keiner<br />

sie befreit. Die tausend Seiten von<br />

Anna Karenina, einer Schwester seiner<br />

Heldinnen, hat Verdi sicher nicht<br />

gelesen. Er bevorzugte Groschenromane.<br />

Trotzdem hört sich der Anfang<br />

aus Leo Tolstois Familienepos an wie<br />

ein Motto für die meisten Verdi-Opern:<br />

„Alle glücklichen Familien sind einander<br />

ähnlich. Jede unglückliche Familie<br />

ist jedoch auf ihre besondere Weise<br />

unglücklich.“<br />

Krassimira Stoyanova kennt Verdis<br />

Familien von innen wie eine Familientherapeutin.<br />

An der <strong>Bayerische</strong>n<br />

<strong>Staatsoper</strong> singt sie in der Neuproduktion<br />

von Simon Boccanegra die Amelia,<br />

nur eine von fünfzehn Verdi-Partien, in<br />

die sie sich hineingekniet hat. „Jede<br />

ist vollständig anders. Auch Amelia ist<br />

auf einzigartige Weise unglücklich: Sie<br />

kommt aus einer Familie, die nie eine<br />

war“, sagt Stoyanova. Amelias Vater,<br />

Simon Boccanegra, durfte ihre Mutter,<br />

die Patrizierin Maria Fiesco, nicht heiraten,<br />

weil er als Pirat a.D. nicht standesgemäß<br />

war. Als Amelias Großvater,<br />

der Patrizier Jacopo Fiesco, ihre Mutter<br />

einsperrte, starb sie nach drei Monaten<br />

Isolationshaft an Kummer. Das<br />

erfuhr Simon, als er gerade Doge geworden<br />

war, also endlich standesgemäß.<br />

Er hatte seine Tochter Amelia zu<br />

einer Ziehmutter gegeben, von wo aus<br />

sie spurlos verschwunden war. Das erfuhr<br />

der Großvater, als er die Enkelin<br />

zu sich nehmen wollte. Daraufhin verfluchte<br />

Amelias Großvater ihren Vater<br />

Simon. Für die Familienzusammenführung<br />

prognostisch ungünstig. Amelia<br />

droht das zu werden, was Verdis Heldinnen<br />

meistens werden: ein Opfer – ob sie<br />

nun geopfert werden oder sich freiwillig<br />

aufopfern.<br />

Chantal Michel, Pour Auguste, 2011, www.chantalmichel.ch<br />

46


Frauen von heute wollen alles werden,<br />

aber das bestimmt nicht. Krassimira<br />

Stoyanova lächelt verständnisinnig:<br />

„O doch. Wenn Frauen von der großen<br />

Liebe träumen, sind sie bereit, sich aufzuopfern.“<br />

Dieser Ansicht waren offenbar<br />

auch Verdi und seine Librettisten.<br />

Gilda lässt sich in Rigoletto anstelle ihres<br />

untreuen Geliebten ermorden, Aida<br />

mit ihrem Radamès lebendigen Leibes<br />

begraben und Amelia bekennt sich zu<br />

ihrer großen Liebe Gabriele Adorno, obwohl<br />

sie weiß, dass sie damit ihr Leben<br />

riskiert. Denn Paolo, der Mann, der sie<br />

aus machtpolitischen Gründen heiraten<br />

will, gilt nicht als milde Sorte, sondern<br />

als kriminell.<br />

Krassimira Stoyanova reißt ihre<br />

graugrünblauen Augen auf, als sähe<br />

sie ein Geiseldrama vor sich. „Amelia<br />

wird Entführungsopfer. Das ist ein<br />

schreckliches Erlebnis, ein Trauma.“<br />

Aus Sicht der Verdi-Expertin jedoch so<br />

unvermeidbar wie die Leiden der übrigen<br />

Verdi-Heroinen. „Sie sehnen sich<br />

danach, große Emotionen zu erleben –<br />

wie wir. Ihnen ist das aber oft nur möglich<br />

durch einen Opfertod. Das liegt an<br />

den sozialen Strukturen der Zeit. Der<br />

Zeit, in der die großen Opern Verdis entstanden,<br />

und der Zeit, in der sie spielen.<br />

Da hatten die Frauen kein Wahlrecht.<br />

Weder politisch noch privat.“<br />

Simon Boccanegra spielt im Genua des<br />

14. Jahrhunderts. „Da waren alle Frauen<br />

Sklavinnen. Auch die reichen. Sie hatten<br />

nur eine einzige Möglichkeit, Macht<br />

auszuüben: indirekt.“ Das versucht<br />

auch Luisa Miller in Verdis gleichnamiger<br />

Oper, mit der Stoyanova das Münchner<br />

Publikum erobert hat. Luisa scheitert,<br />

weil sie sich, um den Vater zu retten,<br />

erpressen lässt. Amelia hat Erfolg:<br />

Sie bekommt den Mann zugesprochen,<br />

den sie liebt, Gabriele Adorno. Was<br />

macht sie richtig?<br />

„Sie ist reifer, überlegter, analytischer<br />

als andere. Vor allem als Gabriele.“<br />

Und wie sieht die Sängerin<br />

Gabriele? „Das ist ein vielleicht typischer<br />

junger italienischer Mann: gutherzig,<br />

aber ungebremst spontan. Er<br />

reagiert zu emotional. Daher ist er benutzbar<br />

und manipulierbar.“ Sie selbst<br />

Bild Chantal Michel<br />

fühlt sich der Fünfundzwanzigjährigen<br />

durchaus nah. Überlegt hat Stoyanova<br />

ihre Karriere geplant und sich von<br />

niemandem manipulieren lassen. Ihre<br />

Aversion gegen Vermarktungsstrategien<br />

ist berüchtigt. Dass sie es von Bulgarien<br />

an die wichtigsten Bühnen der Welt<br />

geschafft hat, schreibt sie selbst ihrer<br />

Konsequenz zu. Die ist Verdis Heldinnen<br />

ebenfalls nicht abzusprechen: Befreit<br />

sie keiner, befreien sie sich selbst;<br />

wird es ihnen zu eng, sprengen sie die<br />

Gefängnisse der Ehe, der Familie, der<br />

Konvention. Nur gehen sie bei der<br />

Sprengung meistens drauf. Giovanna<br />

d’Arco stirbt, ihr Vater, der sie als Hexe<br />

denunziert hat, macht weiter. Leonora<br />

in Il trovatore wird vom Bruder erdolcht,<br />

der den Vater rächt, Luisas Vater, der<br />

alte Miller, muss die vergiftete Tochter<br />

beerdigen. Violetta in La traviata verendet<br />

kläglich, nachdem sie den Geliebten<br />

freigegeben hat, wie es dessen<br />

Vater befahl. Doch sterbend singen die<br />

Frauen meistens davon, dass sie nichts<br />

bereuen. Sie haben ihr Leben aufs Spiel<br />

gesetzt oder aus freien Stücken beendet<br />

für das, was ihnen wichtiger ist: die<br />

Liebe. Sei es die zu einem Mann, sei es<br />

die zu einem Ideal oder Gott.<br />

In Verdis Opern beugen sich die<br />

Söhne meist dem Vater, die Töchter begehren<br />

gegen ihn auf. Doch nur Amelia<br />

hat damit Erfolg. „Vielleicht traut<br />

sich Amelia mehr, weil sie mehr gelernt<br />

hat, mehr kennt, mehr weiß und selbstbewusster<br />

ist.“ Eine Amelia lässt sich<br />

nicht erpressen, reagiert nicht panisch<br />

angesichts vermeintlicher Ausweglosigkeit<br />

und verhindert besonnen, dass<br />

ihr Geliebter in seinem Rachedurst zum<br />

Mörder wird.<br />

Amelia behauptet sich dem Vater gegenüber.<br />

„Deshalb ist für mich das Duett<br />

von Vater Simon und Tochter Amelia<br />

im ersten Akt das Schlüsselstück<br />

der Oper.“ Simon gibt dem Wunsch der<br />

Tochter nach, die er nach fünfundzwanzig<br />

Jahren wieder gefunden hat. Aus<br />

Einsicht?<br />

Im ersten Moment hört sich das erneut<br />

an wie eine dem Jetzt entrückte<br />

Geschichte. „Eltern haben es heute<br />

schwer“, sagt Stoyanova. „Zum einen,<br />

„Vielleicht traut<br />

sich Amelia mehr,<br />

weil sie mehr<br />

gelernt hat, mehr<br />

kennt, mehr weiß<br />

und selbstbewusster<br />

ist.“ — Krassimira<br />

Stoyanova<br />

Die bulgarische Sopranistin Krassimira Stoyanova<br />

gehört weltweit zu den bedeutendsten Interpreten<br />

der Opern Giuseppe Verdis. Seit ihrem Debüt als<br />

Gilda (Rigoletto) 1995 in Sofia sang sie u. a. Leonora<br />

(Il trovatore) in Washington, Violetta (La traviata)<br />

an der Metropolitan Opera New York sowie am Londoner<br />

Royal Opera House, Covent Garden, Desdemona<br />

(Otello) in New York und an der <strong>Bayerische</strong>n<br />

<strong>Staatsoper</strong>, wo sie auch in der Titelrolle von Luisa<br />

Miller zu erleben war. An der Wiener <strong>Staatsoper</strong> debütierte<br />

sie als Elisabetta (Don Carlo). Auch zahlreiche<br />

Rollen jenseits von Verdi gehören zu ihrem<br />

Repertoire, darunter Micaëla (Carmen), Tatjana (Eugen<br />

Onegin), Marguerite (Faust) und die Titelpartie<br />

in Ariadne auf Naxos. Auf der Konzertbühne war sie<br />

besonders mit Verdis Requiem, Rossinis Stabat mater<br />

und Janá čeks Glagolitische Messe zu hören.<br />

Premiere Simon Boccanegra 47


weil sie ihre Kinder ständig gefährdet<br />

wissen. Aber auch, weil es in vielen<br />

Familien zu stark um materielle Werte<br />

geht.“<br />

Stoyanova studiert nicht nur die<br />

Familienstrukturen in Verdis Opern,<br />

sie studiert sie auch in der Wirklichkeit,<br />

überall auf der Welt. „Was mich<br />

erschreckt ist, wie einsam viele Menschen<br />

inmitten der Familie sind. Jeder<br />

lebt allein vor sich hin, meistens vor einem<br />

Bildschirm.“ Doch findet sich diese<br />

Einsamkeit in der Gemeinschaft nicht<br />

auch bei Verdi? Lebt nicht auch eine<br />

Gilda allein, deren Vater nichts von ihrer<br />

Liebe zu seinem Arbeitgeber weiß?<br />

Und Rigoletto, der seiner Tochter verheimlicht,<br />

wie er als Hofnarr Leidende<br />

verspottet und selbst zum Gespött wird?<br />

Ist nicht auch Fiesco einsam, der durch<br />

eigenes Verschulden die Tochter verlor<br />

und als Geistlicher nach Sinn sucht?<br />

„Das menschliche Herz ist Quell unendlicher<br />

Schmerzen“, singt Fiesco am<br />

Schluss, als er über der Leiche Simon<br />

Boccanegras seine Enkelin und ihren<br />

Geliebten traut. An den eigentlichen<br />

Seelendramen in Verdis Opern scheint<br />

aber nicht das Herz, sondern das Hirn<br />

schuld zu sein. Es sind bewusste Entscheidungen,<br />

mit denen Väter ihre<br />

Töchter, Männer ihre Frauen, Brüder<br />

ihre Schwestern ins Unglück stürzen.<br />

Warum?<br />

Weil Macht und Liebe nicht vereinbar<br />

seien, behaupten die gängigen Deutungen.<br />

„Weil ihnen der Respekt voreinander<br />

fehlt“, sagt Krassimira Stoyanova.<br />

„Ohne Respekt würde ja auch der ganze<br />

Opernbetrieb nicht funktionieren.“<br />

Beim Münchner Simon Boccanegra<br />

sind ihr einige der anderen Hauptdarsteller<br />

von früheren Aufführungen vertraut.<br />

„Aber auch wenn man sich noch<br />

überhaupt nicht kennt: Man muss sich<br />

fünf Minuten später umarmen, küssen,<br />

schlagen. Das geht nur, wenn man einander<br />

respektiert und imstande ist, sich<br />

in die Lage des anderen einzufühlen.“<br />

Das Heikelste an ihrer Partie sei die<br />

erste Arie, in der Amelia aufs Meer blickend<br />

über die Liebe nachdenkt und<br />

über das Trauma ihrer Kindheit – ein innerer<br />

Monolog. „Das ist ein atemtechnisches<br />

Abenteuer: Ich muss absolutes<br />

Pianissimo singen.“ Amelia zeigt ihre<br />

Stärke in leisen Tönen, mit Umsicht und<br />

Vorsicht. Sie durchschaut die Machtspiele<br />

der Männer und erkennt, wie viel<br />

Schaden diese anrichten aus verletztem<br />

Stolz. Sie geht mit dem Vater wie<br />

mit dem Geliebten souverän um und erreicht,<br />

was keine für möglich hielt: Vergebung<br />

und Versöhnung. Eine moderne<br />

Siegerin. Eine, die dem Opfertod entkommt,<br />

weil sie Psychologin ist.<br />

Stoyanova ist langsam und leise<br />

zum Star geworden. Wer hat ihr geholfen?<br />

„Mein Gottvertrauen, mein Mann,<br />

mein Können." <br />

Eva Gesine Baur ist Autorin von Sachbüchern<br />

und Romanen. Als Lea Singer publizierte sie zuletzt<br />

den Roman Verdis letzte Versuchung (2012).<br />

Simon Boccanegra<br />

Oper in einem Prolog und drei Akten<br />

(fünf Bildern)<br />

Von Giuseppe Verdi<br />

Premiere am Montag, 3. Juni 2013,<br />

Nationaltheater<br />

Weitere Termine im Spielplan ab S. 94


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Noten, die das Leben schreibt<br />

Das Opernstudio der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong> zeigt Hans Werner Henzes Elegie für junge Liebende im Cuvilliés-Theater.<br />

In der Hauptfigur dieser Oper lässt sich der 2012 verstorbene Komponist erahnen. Michael Kerstan, Regisseur und langjähriger<br />

Begleiter des Komponisten, über autobiografische Spuren im Werk Hans Werner Henzes.


Oft verschlüsselt, manchmal ganz direkt, manchmal im<br />

Hauptthema oder in einer kleinen musikalischen Geste –<br />

das umfangreiche Œuvre Hans Werner Henzes gibt Auskunft<br />

darüber, wie sich der Komponist mit seiner Rolle als<br />

Künstler, als Individuum und als Außenseiter in der Gesellschaft<br />

auseinandergesetzt hat. Gerade im ausgesprochenen<br />

Künstlerdrama der Elegie für junge Liebende scheint diese<br />

Spur besonders interessant. Sie reicht bis zu Henzes letzter<br />

Oper Gisela! (2010) und lässt sich über die Werke davor,<br />

Phaedra (2007) und L’Upupa (2003), bis zum Anfang der sechziger<br />

Jahre des 20. Jahrhunderts zu Elegie zurückverfolgen.<br />

Nebelheim und Sonnenland<br />

In seiner letzten Oper Gisela! oder die merk- und denkwürdigen<br />

Wege des Glücks thematisiert Henze den kulturellen<br />

Gegensatz zwischen Nord (Westfalen) und Süd (Neapel),<br />

den „ewigen Kontrast zwischen Nebelheim und Sonnenland“,<br />

der ihn zu Beginn seiner Laufbahn und auch später<br />

häufig beschäftigt hat. Gisela aus Oberhausen, die Protagonistin,<br />

macht sich mit ihrem Geliebten und einigen Freunden<br />

auf eine Studienreise nach Neapel. Dort gibt sie schnell<br />

ihre vernunftgeleitete Nüchternheit auf und verliebt sich in<br />

einen neapolitanischen Studenten, der als Reiseführer<br />

jobbt und nebenbei ein begnadeter Pulcinella-Darsteller ist.<br />

Sie überredet ihn, sofort mit ihr nach Deutschland zu fahren,<br />

wo die Geschichte schließlich auf dem Bahnsteig des<br />

Oberhausener Bahnhofs bei leichtem Schneefall endet. Es<br />

werden die bekannten Gegensätze der Mentalität, des Klimas,<br />

der Landschaft angesprochen, besonders auch des Tageslichts,<br />

dessen spezifisch mittelitalienische Variante für<br />

das Wohlergehen des Maestros so wichtig war. Diese Unterschiede<br />

werden auf einer zweiten Handlungsebene mit jeweiligen<br />

Ausformungen von Volkskultur belegt – hier die<br />

Commedia dell’Arte, in der Pulcinella auftritt, dort die<br />

Grimm'schen Märchen, von denen Gisela im zweiten Teil<br />

frierend träumt. Aber auch die unterschiedlichen Musiksprachen<br />

zeigen dies – hier das neapolitanische Volkslied<br />

(1956 hatte Henze einen ganzen Zyklus davon geschrieben,<br />

Cinque canzoni napoletane), dort Zitate aus Bach'schen Orgelsonaten.<br />

Das Stück umrahmt gleichsam ein Künstlerleben<br />

und es macht geradezu neugierig auf weitere, überall in<br />

Henzes Werken auffällig ausgelegte autobiografische Hinweise.<br />

Tod und Leben<br />

Autobiografische Belange haben auch in zwei Konzertstücken<br />

der vergangenen Jahre eine große Bedeutung. Das<br />

Chorwerk Elogium musicum ist eine Eloge auf Henzes 2007<br />

verstorbenen Lebensgefährten Fausto Moroni. Nachdem er<br />

im dritten Satz des Stücks zum „König der Wälder“ ausgerufen<br />

wurde, folgt ein reales Erlebnis (in der Oper Phaedra<br />

wird übrigens der von Kreta nach Italien verbrachte und<br />

wieder zum Leben erweckte Hippolyt König der Wälder):<br />

Er bringt mit einem entschiedenen „Basta!“ eine lärmende<br />

Text Michael Kerstan<br />

Zikade zum Schweigen. Es folgt eine Generalpause und<br />

dann der Klang zweier Ferntrompeten, die zu sagen scheinen:<br />

Der ferne Freund hört zu und ist einverstanden. Und<br />

im vierten Satz taucht es wieder auf, das Sonnenlicht Mittelitaliens,<br />

in der sanften Einleitung zum Adagio, gespielt<br />

von einem Streichquartett.<br />

Mit dem Orchesterstück Sebastian im Traum hat der<br />

Komponist sich selbst eine Abschiedsmusik geschrieben (er<br />

nennt sie im Vorwort zur Partitur Salzburger Nachtmusik)<br />

und hat damit schon 2004 seinen Tod musikalisch vorweggenommen.<br />

Nicht zufällig lag er bei der Uraufführung (Dezember<br />

2005 in Amsterdam) sterbenskrank in Marino und<br />

ebenso wenig zufällig ist es die letzte Musik, die er in seinem<br />

Leben gehört hat. Die Musik bezieht sich auf ein Gedicht<br />

von Georg Trakl und spannt so den Bogen zum Frühwerk<br />

Apollo et Hyazinthus (1949), das den gleichnamigen<br />

Trakl-Text sogar vertont und das gleichfalls von dieser melancholischen<br />

Todesnähe geprägt ist.<br />

Der Bruch zwischen dem ersten und dem zweiten<br />

Akt seiner Oper Phaedra gründet in einer schweren gesundheitlichen<br />

Krise im Sommer und Herbst des Jahres<br />

2005, die eintrat, nachdem der Komponist den ersten Akt<br />

(mit der Tötung seines Alter Ego Hippolyt und der Selbsttötung<br />

Phaedras) vollendet hatte. Er lag mehrere Monate<br />

krank darnieder, dem Tode näher als dem Leben, und als er<br />

Ende Januar 2006 wieder zum Bleistift griff, entstand die<br />

erste Szene des zweiten Akts. Sie wirkt wie eine Parodie<br />

auf die Krankheit Henzes und deren Behandlung: Hippolyt<br />

wird von Artemis und einem Gehilfen zusammengeflickt,<br />

man hört Geräusche von Motorsägen, Hämmern und sieht<br />

ein Sauerstoffgerät und einen Defibrillator (vulgo: Elektroschock-Gerät),<br />

Instrumente, mit denen auch der Komponist<br />

Bekanntschaft gemacht hat.<br />

Morgenländische Kultur und abendländische Natur<br />

In seiner Märchenoper L’Upupa verarbeitet Hans Werner<br />

Henze Erfahrungen und Erlebnisse auf der kenianischen,<br />

von der arabischen Kultur geprägten Insel Lamu, wo er von<br />

1991 an zehn Jahre lang den Winter verbrachte. Ortsnamen<br />

des Archipels tauchen in der Oper auf, märchenhaft klingende<br />

Schauplätze, die der Komponist alle besucht und an<br />

denen er unvergessliche Erfahrungen gesammelt hat:<br />

Schwarze Paviane bevölkern die Insel Manda und wenn<br />

dort Boots-Touristen ihr Picknick einnehmen, müssen sie<br />

ihre Essensreste zurücklassen, sonst provozieren sie den<br />

wütenden Protest der Affen. Pate Island hat eine stolze<br />

Vergangenheit und ist heute nahezu unbewohnt; daher ist<br />

der ansässige Sultan Malik in der Oper mindestens uralt.<br />

Matandoni hingegen ist ein Dorf an der Nordwestküste von<br />

Lamu, wo in Handarbeit die Dwahs für die gesamte Inselgruppe<br />

hergestellt werden, die schmalen hölzernen Segelboote,<br />

die das wichtigste Transportmittel der Region sind.<br />

An der Kipungani Bay an der Südwestküste Lamus befindet<br />

sich ein Hotel mit einem erstklassigen Restaurant. Der<br />

Premiere Elegie für junge Liebende61


2<br />

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1955 in Neapel<br />

1962 mit Karl Amadeus Hartmmann<br />

Mit Igor Strawinsky<br />

Spiegel-Titelseite vor der Weltpremiere von<br />

Der Prinz von Homburg, 1960<br />

1961 am Cuvilliés-Theater in München<br />

Ca. 1965<br />

Hans Werner Henze 1926 – 2012 63


Alte Turm im Stück ist das vierstöckige Haus im erhöhten<br />

Zentrum des Dörfchens Shela, welches der Komponist bei<br />

seinen Aufenthalten bewohnt hatte. All diese Plätze erfahren<br />

in der Oper eine Umgestaltung zu Fantasieorten, sie<br />

werden durcheinandergemischt und mit weiteren biografischen<br />

Details angereichert. Unschwer lässt sich erkennen,<br />

dass sich der Komponist in dem weisen alten Mann spiegelt,<br />

musikalisch beschreibt er sein Feriendomizil und die<br />

es umgebenden Geräusche. Er lässt aber auch ein Bild (oder<br />

seine Erfahrung) einer islamischen Kultur aufscheinen, die<br />

von Weisheit, Toleranz, Gerechtigkeit und Güte geprägt ist,<br />

und das zu Beginn des dritten Jahrtausends keineswegs opportun<br />

war.<br />

Ohne Frage ist L’Upupa auch eine Hommage an den<br />

Wiedehopf: Jedes Jahr ziehen zum Frühlingsanfang mindestens<br />

zwei Wiedehopfpaare in Henzes Garten ein, um<br />

dort ihre Jungen auszubrüten und großzuziehen und im<br />

Herbst wieder nach Afrika abzureisen. Der Maestro konnte<br />

den Vögeln stundenlang zuschauen, ihre Flugbewegungen<br />

voraussagen und daraus ihre Nistplätze in Mauerlöchern<br />

lokalisieren.<br />

Überhaupt sind Tiere ein Dauerthema in Henzes Musikschaffen.<br />

In seinem Konzertstück Opfergang von 2010<br />

auf ein Gedicht von Franz Werfel spielt ein kleiner Hund<br />

die Hauptrolle, musikalisch charakterisiert der Komponist<br />

hier seine eigenen Haustiere, italienische Windspiele. In<br />

seiner 1997 am Münchner Nationaltheater uraufgeführten<br />

Oper Venus und Adonis spiegeln Stute, Hengst und Eber<br />

die Protagonisten Primadonna, Heldendarsteller und Clemente.<br />

Das verratene Meer (1990) endet mit der symbolischen<br />

Tötung einer Katze als Vorübung für die Hinrichtung<br />

des Matrosen, der den Idealen der jugendlichen Protagonisten<br />

abtrünnig geworden ist. Im Haushalt des Maestros<br />

lebten immer Katzen und in seinem Stück Die Englische<br />

Katze, in der nur Tiere auftreten, versucht er, eine „eigene<br />

katzenhafte Welt“ zu entwerfen – kleine musikalische Gesten,<br />

mit denen sich der Komponist selbst auf den Arm<br />

nimmt. Um ein Beispiel zu geben: Lord Puff, der alte Kater,<br />

macht sich zurecht für seinen Besuch, das junge Katzenmädchen<br />

vom Lande. Er kämmt sich seine spärlich gewordenen<br />

Haare (Henze hatte ab dem 25. Lebensjahr kaum<br />

noch Kopfhaare) und die Kämm-Bewegungen sind ganz illustrativ<br />

auskomponiert. Tiere allüberall: in der Kinderoper<br />

Pollicino (1980) Uhu, Waldkauz, Fuchs, Hasel, Igel,<br />

Wildsau und Wolf, in den Moralitäten (1967) Frösche, Kranich,<br />

Pfau und Pferde, in Der junge Lord von 1965 ein als<br />

junger englischer Adliger verkleideter Affe. Der Protagonist<br />

in König Hirsch (1955) ist ein Tier, ebenso wie die Stimmen<br />

des Waldes in jenem Stück.<br />

64<br />

Genie und Unsterblichkeit<br />

Gern und vielleicht nicht zu Unrecht wird eine Parallele<br />

zwischen der Hauptfigur in der Oper Elegie für junge Liebende,<br />

dem Dichter Gregor Mittenhofer, und dem Komponisten<br />

gezogen. Ein Künstler brauche diese Unerbittlichkeit<br />

sich selbst und den Mitmenschen gegenüber, um ein<br />

Meisterwerk erschaffen zu können, so die einhellige Meinung,<br />

auch von Henze. Anlässlich der Erstaufführung in<br />

München 1961 schreibt er, es gehe ihm um „Darstellung des<br />

schlimmen Veitstanzes, des ‚eroico furore’, den unendlichen<br />

Konflikt zwischen dem schöpferischen Menschen und seiner<br />

Umwelt, um das Ausmessen dieser mörderischen Bereiche,<br />

die immer wieder Literatur und Philosophie beschäftigen,<br />

und die hier gleichnishaft dargestellt werden, vor dem<br />

Hintergrund einer Schuldkultur, die das christlich-späteuropäische<br />

Denken durchdringt“. Diese Übereinstimmung<br />

zwischen Dichter und Komponist scheint auf der Hand zu<br />

liegen, aber ganz so einfach verhalten sich die Dinge nicht.<br />

Inspirationsquelle für Mittenhofer ist Hilda Mack,<br />

die, seit vierzig Jahren auf ihren im Berg verschollenen<br />

Bräutigam wartend, einen Traum von der Unsterblichkeit<br />

lebt und Visionen hat, die dann in den Gedichten des Meisters<br />

aufscheinen.<br />

Das zugrunde liegende Motiv ist seinerseits die Vorstellung<br />

der Unsterblichkeit, wenigstens der äußeren Form<br />

eines Menschen. Die Legende von der nach Jahrzehnten<br />

auftauchenden Leiche, vollständig konserviert und nicht<br />

gealtert, während alle lebenden Menschen natürlich älter,<br />

hinfälliger geworden sind, wird in zahlreichen literarischen<br />

Vorlagen angesprochen wie in jenen vom Bergmann, der in<br />

Falun in Kupfervitriol gestürzt ist (E.T.A. Hoffmann, Hugo<br />

von Hofmannsthal, Johann Peter Hebel). Im Sommer wird<br />

in den Tageszeitungen regelmäßig von Leichen berichtet,<br />

die in den tauenden Alpengletschern gefunden werden<br />

(jüngst waren es ein seit zehn Jahren vermisster Bergsteiger,<br />

der im Alter von achtzehn Jahren in eine Gletscherspalte<br />

gestürzt ist, und ein Soldat, dem das gleiche Schicksal<br />

im Ersten Weltkrieg widerfahren ist). Die Faszination,<br />

die von einer Leiche ausgeht, die Jahrzehnte unversehrt<br />

und ohne zu altern überdauert, mithin an die eigene, verblühte<br />

Jugend erinnert, lässt sich übertragen auf die Hoffnung<br />

des Künstlers, die er mit seinem Werk verknüpft,<br />

dass es nämlich unsterblich und ewig jung bleiben möge, sei<br />

es Mittenhofer mit seiner Poesie, sei es Henze mit seiner<br />

Musik. Dass dies bei Letzterer der Fall ist, kann man schon<br />

heute mit Fug und Recht behaupten. <br />

Michael Kerstan ist Autor und Regisseur. Er inszenierte u.a. die<br />

italienische Erstaufführung von Phaedra (Florenz 2008). Als Mitglied<br />

des El Cimarrón-Ensembles erarbeitete er zahlreiche Uraufführungen,<br />

u.a. von Luca Lombardi und Stefan Hakenberg. Mit Hans<br />

Werner Henze verband ihn eine dreißigjährige Freundschaft und<br />

Zusammenarbeit.<br />

Elegie für junge Liebende<br />

Oper in drei Akten<br />

Von Hans Werner Henze<br />

Eine Produktion des Opernstudios der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong><br />

Premiere am Freitag, 3. Mai 2013,<br />

Cuvilliés-Theater<br />

Weitere Termine im Spielplan ab S. 94


wagner<br />

verdi<br />

wir<br />

iebes<br />

tod<br />

HOLGER NOLTZE<br />

»Klar argumentierend,<br />

originell, von Geistesblitzen<br />

durchzuckt. Ein Buch,<br />

das viele Anregungen gibt,<br />

weit über das Wagner-<br />

Verdi-Jahr hinaus.«<br />

WDR 3, Tonart<br />

| Hoffmann und Campe |


IM KINDERZIMMER<br />

(immer noch)<br />

Ein erwachsener Mann im Niemandsland<br />

zwischen Kindheit und Vaterschaft.<br />

Von Thomas Jonigk<br />

67


Bilder Erik Klein Wolterink<br />

Text Thomas Jonigk


„Die Familie, jede Familie zeichnet sich<br />

natürlich durch die Eigenschaft aus,<br />

eine Konzentration von Isolation zu<br />

sein.“ (Gertrude Stein)<br />

Die Gitterstäbe sind aus Holz. Sie<br />

umrahmen das Kinderbett, in dem ich<br />

liege, und erschweren die Sicht auf<br />

den dahinter liegenden Raum. Schräge<br />

Wände (offenbar ein Dachzimmer)<br />

sind mit verblichenen Tapetenbahnen<br />

ta peziert. Vor zwanzig oder fünfundzwanzig<br />

Jahren waren darauf einmal<br />

gutmütige Bärenkindergesichter hinter<br />

enormen Honigtöpfen zu sehen. Und<br />

freundliche Elterntiere, die ihnen zurufen,<br />

ruhig tüchtig zuzugreifen, es sei<br />

genug Honig da, immer habe ich mir vorgestellt,<br />

dass sie das rufen müss-ten,<br />

die Bärenmutter und der Bärenvater, der<br />

das Jüngste in seinen pelzigen Armen<br />

hält, das er am Ende des lustigen Tages<br />

auf weichen Tatzen nach Hause trägt.<br />

Heute sind auf der Tapete nur wiederkehrende,<br />

sinnlos gewordene Formen<br />

unterschiedlicher Größe auszumachen<br />

(in farblichen Abstufungen von<br />

beige bis braun).<br />

Vor meiner Geburt war dies das Arbeitszimmer<br />

meines Vaters.<br />

Meine Beine liegen auf dem rückwärtigen<br />

Gitter des Bettes, die Füße<br />

hängen aufgerichtet in der Luft und weisen<br />

in Richtung der Zimmerecke, die<br />

mit ausrangierten Gegenständen (Gartengeräten,<br />

Plastikplanen, Dachpappe,<br />

Farbeimer) vollgestellt ist. Wenn<br />

ich den Kopf nach rechts verdrehe,<br />

sehe ich den alten Kleiderschrank, auf<br />

dem mein Vater (er ist seit mindestens<br />

zwanzig Jahren tot, zumindest glaube<br />

ich das) seinen Werkzeugkasten,<br />

abgewetzte Rei sekoffer sowie Stapel<br />

von alten Wochenzeitschriften gelagert<br />

hat. Ebenso einen Globus, auf dessen<br />

Halterung sich Spinnweben festgesetzt<br />

haben, Länder, Kontinente und<br />

Weltmeere, sämtlich unbereist, nie erkundet,<br />

auch die Koffer sind nie über<br />

Deutschland und wenige Nachbarländer<br />

(Dänemark, Niederlande) hinausgekommen.<br />

Ihre Aufbewahrung ist entweder<br />

der Tatsache geschuldet, dass<br />

sie vergessen wurden. Oder, dass es irgendwo<br />

im genetischen Labyrinth meiner<br />

Eltern so etwas wie Sehnsucht gab:<br />

Lust, Neugierde, wenn nicht sogar Mut<br />

(die Bereitschaft zum Unerwarteten,<br />

Unwägbaren).<br />

Mein Vater ist tot.<br />

Mein Mutter vermutlich auch.<br />

Ich bin das Kind.<br />

Dies ist ein Kinderzimmer, mein Kinderzimmer,<br />

das ich seit einigen Jahrzehnten<br />

nicht mehr betreten habe. Ich<br />

bin ihm entwachsen, weder passe ich in<br />

die Grenzen meines Gitterbetts noch an<br />

den von meinem Vater gebauten Tisch<br />

aus Kiefernholz. Ich stehe als Goliath in<br />

den Überresten einer Zeit, für die ich zu<br />

groß geworden bin: Ich stoße an, remple,<br />

renne gegen Wände und beanspruche<br />

einen unmöglichen Radius. Ich blicke<br />

auf meine in Materie erstarrte Vergangenheit<br />

herab, eine abgeschlossene<br />

Zeit, die Wörter wie „Kleinfamilie“, „Vater“,<br />

„Sohnemann“ oder „Kinderkrankheit“<br />

evoziert und vorbei ist. Ich befinde<br />

mich in der Gegenwart meines Lebens,<br />

längst müsste ich selbst Vater und meine<br />

Kinder junge Erwachsene sein und<br />

so weiter, und so weiter.<br />

Michel Foucault beschreibt Räume,<br />

die auf spezielle Weise gesellschaftliche<br />

Verhältnisse reflektieren, indem sie<br />

sie repräsentieren, negieren oder umkehren.<br />

Diese bezeichnet er als Heterotopien,<br />

die existierende Normen nur<br />

teilweise oder nicht vollständig umgesetzt<br />

haben oder nach eigenen Regeln<br />

funktionieren (zum Beispiel der Dachboden,<br />

das Kinderzimmer, das elterliche<br />

Ehebett, die Bibliothek). Nach Foucault<br />

sind sie „wirkliche Orte, wirksame<br />

Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft<br />

hineingezeichnet sind, sozusagen<br />

Gegenplatzierungen oder Widerlager,<br />

tatsächlich realisierte Utopien,<br />

in denen die wirklichen Plätze innerhalb<br />

der Kultur gleichzeitig repräsentiert,<br />

bestritten und gewendet sind, gewissermaßen<br />

Orte außerhalb aller Orte“.<br />

Das Kinderzimmer als realisierte<br />

bzw. lokalisierte Utopie. Für mich lösen<br />

der Aufenthalt darin und die Erinnerung<br />

an diese Zeit ohne greifbare Zukunft<br />

Gefühle aus, die ich mit Beklemmung<br />

und Einengung bezeichne. Mit<br />

Sprachlosigkeit. Unsagbarkeit. Und<br />

Zwang. Mit der Präsenz von etwas, das<br />

sich der Präsenz versagt. Mein Kinderzimmer<br />

im Arbeitszimmer meines Vaters:<br />

eine Krypta (laut Jaques Derrida<br />

präsentiert eine Krypta sich nicht. Oder<br />

anders gesagt: Die Krypta bewahrt einen<br />

unauffindbaren Ort als Grund. Und<br />

zwar mit gutem Grund). Ich bin in diesem<br />

Zimmer und das Zimmer ist in mir,<br />

der eine bewahrt das andere (und umgekehrt).<br />

Keine Trennung, keine Abnabelung,<br />

nichts in Sicht, was Außenoder<br />

Aufsicht gleichkäme. Gefangen im<br />

Raum meines Vaters.<br />

Noch einmal zurück zum Anfang.<br />

Ich liege in meinem Kinderzimmer, in<br />

mir isoliert, auf engstem Raum mit denen,<br />

die meine Familie bilden, die ich<br />

bis zu meiner Volljährigkeit ca. sechstausendfünfhundert<br />

Tage vermisst, gehasst,<br />

verachtet und umworben habe.<br />

Dabei hat dieses Zimmer nie existiert,<br />

es ist ein Produkt meiner (dichterischen)<br />

Fantasie. Gitterbett, Bärentapete,<br />

der vom Vater gebaute Tisch aus<br />

Kiefernholz – alles erdacht. Und doch<br />

deckt sich das Erfundene auf fatale<br />

Weise mit (auto-)biografischem Material.<br />

Fakten verschwimmen mit Fiktion,<br />

Personen und Zeiträume werden<br />

(je nach Grad der Verwundung) dämo-<br />

Mein Gedächtnis<br />

hält keiner<br />

kalendarischen<br />

und familiengeschichtlichen<br />

Überprüfung<br />

stand, es ist<br />

emotional: versehrt,<br />

wütend,<br />

fassungslos.<br />

Und (vor allem)<br />

nachtragend.<br />

Es ist das des<br />

Kindes, das ich<br />

69<br />

noch immer bin.


nisiert, verdrängt oder überbewertet:<br />

Mein Gedächtnis hält keiner kalendarischen<br />

und familiengeschichtlichen<br />

Überprüfung stand, es ist emotional:<br />

versehrt, wütend, fassungslos. Und (vor<br />

allem) nachtragend. Es ist das des Kindes,<br />

das ich noch immer bin.<br />

„Jedes Leben, das man betrachtet,<br />

kommt einem unglücklich vor, aber<br />

jedes gelebte Leben ist ziemlich vergnügt,<br />

und was immer geschieht, es<br />

wird auch weiterhin so sein.“ (Gertrude<br />

Stein)<br />

Meine Kindheit war schrecklich.<br />

Meine Kindheit war glücklich. Beide<br />

Aussagen sind wahr, je nachdem, welche<br />

Fotografien ich hervorhole und betrachte.<br />

Ich erinnere mich an mich:<br />

beim Auspacken der Geburtstagsgeschenke,<br />

beim Spielen mit Nachbarskindern<br />

und beim Ausflug zum Tierpark<br />

Hagenbeck – vervielfältigte Nachweise<br />

einer (momentweise) glücklichen<br />

Kindheit. Dennoch war mein Bedürfnis,<br />

nicht mehr Kind zu sein. Oder wie Oliver<br />

Twist rechtzeitig erfahren zu dürfen,<br />

dass irgendwo auf der Welt (Adoptiv-)<br />

Eltern bereitstehen, die sich als besser,<br />

weniger gewalttätig und meiner insgesamt<br />

angemessener erweisen würden.<br />

Kein Kuckucksei mehr sein zu müssen.<br />

Den eigenen Eltern nicht mehr fremd.<br />

Dabei ist die Ähnlichkeit zwischen<br />

mir und meinen Eltern (die im jungen<br />

Alter schön waren) nicht zu übersehen.<br />

Das Foto meines Vaters als junger Matrose<br />

(mit nacktem Oberkörper einen<br />

Schiffsbug reinigend) scheint mich<br />

darzustellen. Von meiner Mutter habe<br />

ich Stirnfalte, Haarfarbe, vor allem aber<br />

Suchtneigung und dramatische Begabung<br />

geerbt. Ich wurde an ihrem vierundzwanzigsten<br />

Geburtstag, dem fünften<br />

(oder sechsten) Hochzeitstag meiner<br />

Eltern, geboren, seitdem ist alles<br />

unheilvoll miteinander verwoben: Teile<br />

ihrer Körper und ihres Charakters wurden<br />

meine, Erfahrungen, Defizite oder<br />

Ängste meiner Eltern waren plötzlich<br />

etwas, das mich ausmachte. Wörter wie<br />

„Muttermal“, „Tochterzelle“ oder „Vaterland“<br />

lassen keinen Zweifel daran:<br />

Es gibt kein Entkommen, weder auf der<br />

genetischen, anatomischen noch gesellschaftlichen<br />

Ebene. Das Prinzip Vater<br />

und Mutter, das ich bekämpfe, ist in<br />

mir begründet und wuchert als Krebsgeschwür<br />

oder zerstörerischer Embryo,<br />

der nicht abgetrieben werden kann.<br />

Wie will ich leben? Wer bin ich? Und<br />

wie lautet die Alternative zum Sein als<br />

universeller, biologistischer, hyperfamilialer<br />

Eklektizismus? Zum Auffanglager<br />

für Erbgut und genetische Begrenzung?<br />

Schon als Kind habe ich Männer abgelehnt.<br />

Väter als dumpfe, unsensible,<br />

gesprächsunfähige Wesen betrachtet<br />

und verachtet. Oder anders gesagt: Es<br />

kann nicht darum gehen, Kind gewesen<br />

zu sein, um ein Mann zu werden, dessen<br />

einzige Berufung es ist, Vater zu sein,<br />

Führungspositionen in den Bereichen<br />

Familie, Kirche, Politik (und so weiter)<br />

einzunehmen und Nachwuchs zu zeugen,<br />

d.h. Menschen nach dem eigenen<br />

Bild zu schaffen. „Die Vaterschaft kann,<br />

wenn schon nicht besiegt, so doch zumindest<br />

entschieden abgelehnt werden“,<br />

schreibt Donald Barthelme, aber<br />

wie geht das? Schwul zu sein und keine<br />

Kinder in die Welt zu setzen, kann<br />

unmöglich ausreichend sein. Sich auf<br />

die weibliche Seite schlagen, der bessere<br />

Feminist sein und sich verleugnen?<br />

Nein.<br />

Niemand kann ein Leben lang in seinem<br />

Kinderzimmer bleiben. Im Arbeitsraum<br />

seines Vaters.<br />

Vielleicht ist Kindsein eine Möglichkeit:<br />

wild sein, verspielt sein, unberechenbar,<br />

anstrengend und unökonomisch,<br />

Umwege machend, die nach<br />

Baudrillard die einzige Möglichkeit<br />

sind, nicht erfasst zu werden und Widerstand<br />

zu leisten. Diese Aussicht könnte<br />

mich überzeugen, Vaterschaft zu meinem<br />

Thema zu machen und eigene Quälgeister<br />

wie Plagen in die Welt zu setzen.<br />

Wer weiß: Vielleicht liegen in meinem<br />

Gitterbett eines Tages doch Kinder, die<br />

ich über Selbstbefruchtung (wie Bandwurm<br />

oder Tellerschnecke) gezeugt haben<br />

werde. Dann aber mindestens neunzehn.<br />

Von denen zwölf Mädchen (neun<br />

unfruchtbar und drei lesbisch) und sieben<br />

Jungs (vier schwul und drei zeugungsunfähig)<br />

sein werden.<br />

Ich freue mich jetzt schon auf die Zeit,<br />

die wir gemeinsam in meinem Kinderzimmer<br />

verbringen werden. Wir werden<br />

Familie spielen und uns dann entschließen,<br />

gemeinsam auszusterben. Mal sehen,<br />

wie's dann weitergeht. <br />

Thomas Jonigk ist Theater- und Romanautor.<br />

Er arbeitet zudem als Regisseur,<br />

Dramaturg und Dozent. Jonigks Werk wurde<br />

in viele Sprachen übersetzt und mit<br />

Preisen ausgezeichnet. Sein dritter Roman<br />

Melodram erschien jüngst im Literaturverlag<br />

Droschl. Im Herbst 2013 wird<br />

sein neues Stück am Münchner Residenztheater<br />

uraufgeführt.<br />

Mehr über den Fotokünstler auf S. 8


MODE<br />

BEAUTY<br />

LIFESTYLE<br />

MUSIK<br />

SUMMER<br />

AM MARIENPLATZ IN MÜNCHEN WWW.LUDWIGBECK.DE


Familien. Spielarten<br />

Ein Portfolio<br />

Entenhausen<br />

Courtesy Mohammed Wiegand<br />

72


FAMILIE, f. aus dem lat. familia, it. famiglia,<br />

sp. familia, fr. famille, seit dem beginn des 18 jh.<br />

mit macht allenthalben eingedrungen, nnl.<br />

dän. familie, schw. familj, engl. family, poln. familia,<br />

böhm. familie, russ. familija; galische, irische,<br />

welsche, armorische wörterbücher geben es nicht,<br />

und wahren ihre eignen ausdrücke, ebenso<br />

die litauischen, lettischen, finnischen. bei uns<br />

führt es Stieler noch nicht auf und dem 17 jh.<br />

blieb es ungebraucht wie dem 13; Frisch und<br />

Adelung können sich seiner nicht mehr enthalten.<br />

wie lang dauerte aber, bis das fremde wort<br />

unter bürger und bauern gebracht und von ihnen<br />

verstanden wurde. so schön und gefüge es an<br />

sich selbst sei, hat es doch gleich zahllosen<br />

andern ausländischen wörtern unsere hergebrachten<br />

heimischen gestört und manche<br />

natürliche redensarten durch seinen ausgedehnten<br />

einflusz beeinträchtigt. die älteste benennung<br />

der familie war goth.heiv (verwandt mit lat.<br />

civis und wahrscheinlich mit hus, haus), ahd.<br />

hiwiski, hieske, hiuske, hûske (Graff 4, 1068),<br />

ags. hivisce, vgl. altn. hiuskapr matrimonium<br />

und unser heurat, heirat. nur haus behält auch<br />

heute den allgemeinen sinn von familie, welche<br />

andere deutschen ausdrücke sonst galten oder<br />

noch gelten, ist aus der den folgenden beispielen<br />

und belegen hinzugefügten erklärung zu entnehmen.<br />

den Slaven gilt rod (= art) und rodina,<br />

73


The Factory<br />

Außenseiter<br />

Courtesy The Andy Warhol Foundation Gustavo Lacerda, 2011<br />

74


poln. rodzina. dies ist meine familie, hier ist<br />

meine ganze familie, hier ist mein ganzes haus<br />

(οἰκία), hier sind alle meine leute, die meinigen,<br />

meine lieben oder trauten, frau und kinder,<br />

auch die dienstboten, wofür leute zumal haftet.<br />

Gellert meidet noch gern familie und schreibt:<br />

grüsze mir dein ganzes haus; ich grüsze und<br />

segne ihr ganzes liebes haus. 10, 25; grüszen sie<br />

ihr ganzes haus von mir. 10, 26; viele freuden,<br />

die ich ihnen und ihrer jgfr. schwester und<br />

ihrem ganzen hause gönne. 10, 28; ich habe es<br />

beständig als eine der gröszten wolthaten<br />

von gott erkannt, dasz er mich in ihr haus und<br />

in ihre bekanntschaft gebracht hat. Garve an<br />

Gellert 10, 39. doch ihm antwortet auch Gellert:<br />

gott, den sie fürchten, lasse es ihnen mit<br />

ihrer ganzen familie wol gehn. 10, 42. Cramer<br />

an Gellert: jetzt bin ich in Lingbye, wo ich für<br />

meine familie ein logis für den ganzen sommer<br />

gemiethet habe. 8, 130 statt für die meinigen<br />

eine wohnung. bei allen spätern musz es immer<br />

geläufiger geworden sein: wenn er wiederkommen<br />

sollte und sollte sehen wie es mit seiner<br />

familie stünde. Lessing 1, 468; genug, dasz<br />

das geld in der familie bleibt. 2, 540; die ganze<br />

welt sollte nur éine familie sein. ebenda; ihre<br />

familie ist doch auch recht wol und munter? 12,<br />

341; lebte ruhig in der familie und war sehr<br />

still und in sich gekehrt. Göthe 24, 224; die<br />

75


Wohngemeinschaft<br />

Nonnen<br />

Courtesy Max Winter Courtesy Deutsches Bundesarchiv<br />

76


edeutendsten weltbegebenheiten ist man bis in<br />

die geheimnisse der familien zu verfolgen genöthigt.<br />

24, 211; mein tischgenosse … leistete<br />

mir manchen dienst, indem er mich in verschiednen<br />

ortschaften und familien theils persönlich,<br />

theils durch empfehlungen einführte. 25, 339; wir<br />

fanden den vater ganz allein, denn die familie<br />

(seine leute, nicht blosz die dienstboten) war auf<br />

dem felde. 25, 341; dieser … ward noch mehr<br />

durch die hofnung eines guten empfangs in einer<br />

so angenehmen familie belebt. 26, 32; durch<br />

solche unangenehme kleine zwischenfälligkeiten<br />

[Bd. 3, Sp. 1306]<br />

wurden wir jedoch so wenig als doctor Primrose<br />

und seine liebenswürdige familie in unserm<br />

heitern leben gestört. 26, 33; es war nicht das<br />

erste und letzte mal, dasz ich mich in familien,<br />

in geselligen kreisen befand gerade im augenblicke<br />

ihrer höchsten blüte. 26, 34; die ländliche<br />

familie, der ich befreundet war, hatte verwandte<br />

häuser in der stadt. ebenda. in groszen häusern<br />

wohnt gewöhnlich mehr als éine familie. man<br />

sagt von einem kinderlosen: er hat keine familie;<br />

wie stark ist deine familie? wie viel kinder hast<br />

du? eine edle, berühmte, ansehnliche, ehrbare,<br />

zahlreiche, grosze familie; eine arme, kleine,<br />

dürftige familie, bettlerfamilie; diese altgegrün-<br />

77


Gruppe 47<br />

Fußball<br />

Courtesy Deutsches Literatur Archiv, Marbach Courtesy picture-alliance<br />

78


deten familien. Göthe 48, 70; die familie blühte<br />

noch. 48, 71; er ist von guter familie, von gutem<br />

geschlecht, stamm, von adel;von einer geringen<br />

familie, aus bürgerlichem stand; sippe ist verwandtschaft;<br />

familie reiht sich an familie,<br />

stamm an stamm. Göthe;<br />

seine familie (sein geschlecht) ist ausgestorben,<br />

ausgegangen, in der naturgeschichte wird<br />

von familien (geschlechtern, arten) der thiere,<br />

pflanzen, steine geredet und selbst bei handschriften,<br />

die von einander stammen oder nebeneinander<br />

laufen, die einzelne familie unterschieden. in<br />

der familie der oberen er kennt nisvermögen gibt<br />

es ein mittelglied zwischen verstand und<br />

vernunft. Kant 7, 15. die zusammensetzungen<br />

werden vielsilbig, und ihre unerschöpfliche reihe<br />

zeigt, wie tiefe wurzel dies wort unter uns<br />

geschlagen hat.<br />

Aus: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854-1961.<br />

Quellenverzeichnis Leipzig 1971. Online-Version vom 02.04.2013.<br />

79


80<br />

Familienbande (als Epilog)


von Iris Hanika<br />

Als Kind war ich davon überzeugt, daß meine Eltern gar<br />

nicht meine richtigen Eltern seien, sondern mich aus dem<br />

Kinderheim oder sonstwoher geholt hätten. Anders konnte<br />

ich mir nicht erklären, wie ich in diese Familie geraten war.<br />

Meine richtigen Eltern waren nämlich einerseits Künstler<br />

(mein Vater abstrakter Maler, meine Mutter Komponistin)<br />

und andererseits Hippies, die mit einem alten Bus durch<br />

die Lande reisten. Man hatte mich ihnen weggenommen,<br />

weil sie kein Geld und keinen festen Wohnsitz hatten und<br />

eben ganz anders lebten als die anderen. Ich glaubte fest<br />

daran, daß sie mich suchten und eines Tages auch finden<br />

würden. Dann würden sie mich entführen und mit mir zusammen<br />

in dem alten Bus nach Italien oder Spanien fahren,<br />

und wir würden immer am Strand leben.<br />

Leider hatten meine richtigen Eltern mich noch nicht<br />

gefunden, als ich volljährig wurde. Aber nun war ich alt genug,<br />

um mich selbst auf die Suche nach ihnen zu machen.<br />

Als erstes habe ich mich unter die Künstler begeben. Zwar<br />

wollte ich selber keine Kunst machen, aber zum einen gefiel<br />

mir das Künstlerleben sehr gut, und zum anderen waren in<br />

diesen Kreisen die Chancen größer, meine wirklichen Eltern<br />

zu finden. Daß ich keine künstlerischen Impulse hatte,<br />

war in der Kommune, der ich mich anschloß, kein Problem,<br />

weil dort immer Leute gebraucht wurden, die bei der Kunst<br />

der anderen mitmachten. Mit der Zeit habe ich aber kapiert,<br />

daß ich dort total ausgebeutet wurde und man mich nur als<br />

Material betrachtete. Im nachhinein muß ich sagen, daß es<br />

keine gute Zeit war. Immer diese schlechte Laune!<br />

Zum Glück habe ich dann ein paar Leute kennengelernt,<br />

die bald meine besten Freunde wurden. Die sagten,<br />

man müsse zu den Anfängen der menschlichen Existenz<br />

zurück, um sich der fundamentalen Entfremdung, die einem<br />

der Kapitalismus aufzwingt, zu entziehen und sich<br />

selbst zu finden, also sein wahres Ich und so. Darum liefen<br />

wir meistens nackig herum, und ich will auch nicht verhehlen,<br />

daß wir eine gemischtgeschlechtliche Gruppe waren<br />

und … na ja. War ziemlich super. War echt ziemlich super.<br />

Nur wurde es irgendwann Winter, da war das Nackigsein<br />

nicht mehr so angenehm. Aber wir wollten nicht so schnell<br />

aufgeben.<br />

Eine Zeitlang haben wir versucht, produktiv mit dem<br />

Wetter umzugehen, indem wir selbst wie der Winter wurden,<br />

zumindest äußerlich. Wir nannten uns alle gegenseitig<br />

Schneekönigin und waren so schön wie die Antarktis im<br />

Sommer. Und genauso weit weg vom Leben der anderen.<br />

Wir fielen extrem auf, gehörten extrem nicht dazu und darum<br />

extrem zusammen. Das hätte ewig so weitergehen können,<br />

bloß hatten wir überhaupt kein Geld und kaum was zu<br />

essen, darum waren wir ja so blaß geworden. Am Anfang<br />

führte der Hunger zu ekstatischen Zuständen (ich erinnere<br />

an die Gemischtgeschlechtlichkeit unserer Gruppe), aber<br />

es ging leider nicht lange gut.<br />

In einem hungerinduzierten Anfall religiösen Wahns<br />

habe ich schließlich an die Pforte eines Klosters geklopft<br />

und um Einlaß gebeten, der mir auch gewährt wurde. Die<br />

Nonnen waren sehr nett zu mir, aber nackig durfte ich dort<br />

nicht herumlaufen. Sie haben mir die Tracht einer verstorbenen<br />

Schwester geliehen und mich schnell wieder aufgefüttert.<br />

Sie haben aber nicht aufgehört, mich zu füttern, als ich<br />

schon lange keinen Hunger mehr hatte und auch nicht mehr<br />

dünn war. Vielmehr wurde ich immer dicker. Am Ende war ich<br />

wieder so schlecht gelaunt wie seinerzeit bei den Künstlern.<br />

Daran habe ich erkannt, daß irgendwas falsch lief.<br />

„Jetzt habe ich die ganze Zeit nur von mir geredet.<br />

Jetzt sagt ihr doch mal, wie ihr mich findet“, forderte ich,<br />

nachdem ich den Leuten in der WG, in der ich mich vorstellte,<br />

echt mein ganzes Leben erzählt hatte. Wie sie mich fanden?<br />

Gut fanden sie mich. Es gab kein Halten! Und das Tolle<br />

ist, daß es so lustig geblieben ist, wie’s am ersten Abend<br />

war. Wir sind immer fröhlich, auch ohne Alkohol.<br />

Wir sind echt ein gutes Team. Wir diskutieren sehr<br />

konzentriert alles bis zum Ende, weil wir voll auf die Schwarmintelligenz<br />

vertrauen. Die Bienen machen es ja auch so.<br />

„Kameraden, wir müssen diskutieren, bis alles vorbei ist!“<br />

rufe ich manchmal in die Runde, wenn sich Müdigkeit einstellt.<br />

Dann wird weiterdiskutiert, bis einer sagt: „habemus<br />

Günter Grass“. Der Erfolg gibt uns recht, wir gewinnen Preise<br />

ohne Ende.<br />

Mit der Firma haben wir innerhalb kürzester Zeit die<br />

Gewinnzone erreicht. Ist ja auch kein Wunder, wo wir keinen<br />

Unterschied zwischen Privat- und Berufsleben machen,<br />

sondern alles eins ist und wir auch zusammenleben.<br />

„We are family!“ ist die Parole. So hört die Arbeit nie auf,<br />

aber auch der Spaß nicht. Geld macht nämlich Spaß, da<br />

kann mir keiner was erzählen.<br />

Inzwischen habe ich mich auch damit versöhnt, daß<br />

meine Eltern keine Künstler sind. Ich finde ihre Berufe eigentlich<br />

voll okay. Meine Mutter ist Kfz-Mechanikerin und<br />

mein Vater hat ein Nagelstudio, das ist schon auch irgendwie<br />

künstlerisch. Ich finde es auch nicht mehr cool, sondern<br />

eigentlich fast spießig, sein ganzes Leben lang in einem<br />

Kleinbus durch die Weltgeschichte zu gondeln und<br />

keinen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung zu leisten.<br />

Es reicht, wenn man das mal im Urlaub macht oder bei<br />

sonst einer besonderen Gelegenheit. Aber immer? Nee,<br />

muß nicht sein.<br />

Iris Hanika veröffentlicht seit 1992 Prosatexte, zuletzt<br />

Tanzen auf Beton (2012). Ihr Roman Treffen<br />

sich zwei stand auf der Shortlist für den Deutschen<br />

Buchpreis. Das Eigentliche erhielt 2010 den Literaturpreis<br />

der Europäischen Union.<br />

81


Familie. Kinderlos oder auSSer<br />

Haus. Es ist egal.<br />

Der Restaurantbesuch eines Ehepaars. Die<br />

Seele der ehefrau begibt sich auf Wanderschaft.<br />

Eine Erzählung von Sibylle Berg.<br />

Es war so ein Moment, da die Seele<br />

den Körper verlässt, eine Runde dreht<br />

und sich das Desaster ansieht, ehe sie<br />

verstört wieder in den Leib kriecht,<br />

um Bericht zu erstatten.<br />

Sie zuckte ein wenig zusammen,<br />

denn das Bild war verstörend unattraktiv:<br />

ein älteres Paar in einem Feinschmecker-Restaurant,<br />

das „Zur Taube“,<br />

„Zum Gockel“, „Zum Hornvieh“<br />

oder dergleichen hieß, es war das Jahr<br />

2008, da nannte man teure Restaurants<br />

so. Nicht mehr französisch, nichts<br />

mehr mit Coq, sondern ehrlich, erdig<br />

waren die Namen und die Inneneinrichtungen.<br />

Gehobener Bürgergeschmack<br />

und immer waren großkarierte<br />

Stoffe und dunkles Holz im<br />

Spiel, immer standen exquisite große<br />

Stehlampen mit Textilquaderschirmen<br />

auf alten rustikalen Beistelltischen.<br />

Vermutlich gab es für Designer ein<br />

Programm im Internet, das sie herunterladen<br />

konnten und in dem alle Eckpunkte<br />

der gestalterischen Vorlieben<br />

wohlhabender Menschen um die fünfzig<br />

enthalten waren. Auf Englisch. Die<br />

Designsprache. Use a kind of Bauernmöbel,<br />

but they must be made from<br />

Teakholz.<br />

Alles im Leben folgte Codes. Stillen<br />

Übereinkünften, Gesetzen, die das<br />

Leben erleichterten, denn Routine<br />

schenkte einem eine gewisse Freiheit.<br />

Leute wie sie trugen unabhängig von<br />

ihrer Verfassung immer die gleichen<br />

Trikotagen. Die Herren Kaschmirpullover<br />

in kanariengelb, Slipper und<br />

Wollhosen mit braunen Gürteln, die<br />

immer ein wenig zu weit oben am<br />

Bauch saßen. Die Haare waren nicht<br />

mehr vorhanden, zu viel Testosteron<br />

hatte die Herren schließlich dahin geführt,<br />

wo sie heute waren. Die Damen<br />

mit Kurzhaar immer in blond, Hosen<br />

mit Bundfalten von Max Mara, Poloshirts,<br />

wenn es leger sein sollte. Escada,<br />

wenn es was zu feiern gab, und sei<br />

es nur ein gutes Essen. Alle um sie sahen<br />

aus, wie Chinesen auf einen Europäer<br />

wirkten, wurde ihr in dieser Sekunde<br />

klar. Da saßen Zahnärzte und<br />

Bauunternehmer, Verwaltungsratsmitglieder<br />

und Halbleiterplattenherstellungsfirmenbosse<br />

mit Gattinnen, die<br />

Innendesign machten oder Dentalhygienekliniken<br />

besaßen, und aßen und<br />

redeten währenddessen ausschließlich<br />

darüber, was sie im Verlauf ihres Lebens<br />

schon zu sich genommen hatten.<br />

Die Namen kleiner Guide de Michelin-<br />

Lokale in der Provence, von Molekularküchengurus<br />

in Spanien und von<br />

Fernsehköchen in der Schweiz rieselten<br />

leise durch den Raum, während die<br />

Menschen auf den nächsten Gang warteten.<br />

Fünf davon – und es benötigte<br />

selbst bei sehr langsamem Kauen<br />

höchstens sechs Minuten, um einen zu<br />

verputzen, dann wurde wieder gewartet,<br />

eine halbe Stunde. Das bezahlte<br />

man im Anschluss, diese Zeit, die das<br />

Gefühl von „frisch zubereitet“, Handarbeit<br />

und Exklusivität ausmachte.<br />

Die Gourmets von heute, das waren<br />

keine runden, lustig bacchantischen<br />

Schlemmer, sondern disziplinierte Bildungsbürger,<br />

die demnächst das<br />

Opernabonnement ihrer Eltern erben<br />

würden. Und sie mittendrin. Noch drei<br />

Stunden essen, mindestens. Und reden.<br />

Über Essen. Wie jeder Mensch<br />

fühlte sie sich natürlich anders, einzigartig,<br />

sie gehörte nicht zur Gruppe dieser<br />

etwas stereotypen Neureichen, sie<br />

erfüllte zwar scheinbar alle optischen<br />

Attribute, die sie als Angehörige dieser<br />

Schicht kennzeichneten, aber innen<br />

war doch alles nicht viel anders als damals,<br />

als sie zwanzig war oder in einem<br />

ähnlichen Alter, an das sie sich nicht<br />

mehr erinnern konnte, weil es zu weit<br />

entfernt schien. Ihre Seele fragte:<br />

Glaubst du das wirklich? Und machte<br />

sich erneut auf einen Rundflug, diesmal<br />

mit weiter entferntem Ziel. Ihr<br />

Mann steckte sich gerade ein Stück<br />

flambiertes Irgendwas in den Mund.<br />

Sein Gesicht verwandelte sich in das<br />

einer wiederkäuenden Kuh, was ihr<br />

nicht unangenehm war, denn Kühe<br />

sind als Tiere über jeden Zweifel erhaben.<br />

An den übrigen Tischen saßen –<br />

Reptilien, Hyänen und Frettchen und<br />

ließen sie ihre Reise zügig fortsetzen.<br />

Sie landete fast dreißig Jahre früher.<br />

Und sah sich sitzen in einem gelben<br />

Untermietszimmer, in ihren Ohren<br />

rauschte es, von zu viel Stille. Sie war<br />

müde, es war kalt. Nachts arbeitete sie<br />

an der Kasse einer Diskothek. Oder als<br />

Putzkraft. Oder als Küchenhilfe. Geld<br />

hatte sie nie, aber solche Angst und<br />

keine Ahnung, vor was. Die Welt war<br />

82


zu groß und sie noch zu jung, um irgendeinen<br />

Platz darin einzunehmen.<br />

Essen hieß damals für sie eingepackter<br />

Schmelzkäse und Knäckebrot, Tütensuppen<br />

und Äpfel – immer Hunger<br />

und unglücklich sein und sich sehnen.<br />

Mit einer Stärke, die ihr in ihrem heutigen<br />

Leben völlig abhanden gekommen<br />

war. Etwas so sehr zu wollen und<br />

nicht zu wissen, was. Ihr Hunger damals<br />

war mit Essen nicht zu stillen gewesen.<br />

Sie erinnerte sich daran, dass<br />

sie einsam gewesen war, es war ihr<br />

nicht gelungen, mit anderen zu fühlen,<br />

sie konnte deren Gesichter nicht lesen<br />

und die Absichten dahinter. Es rauschte<br />

in ihren Ohren, sie saß auf dem Bett<br />

in einem hässlichen Zimmer und hatte<br />

solche Angst, dass es niemals anders<br />

werden könnte. Keiner, der ihr gesagt<br />

hätte: Das ist nur die Jugend, die<br />

wächst sich aus, du musst einfach<br />

durchhalten, bis du dreißig bist, dann<br />

weißt du auch nicht viel mehr, aber es<br />

wird dir egal sein. Furchtbare Jahre beschied<br />

sie, als der nächste Gang kam.<br />

Sie hörte sich etwas mit ihrem<br />

Mann reden, hörte sich lachen, so<br />

machten das alle. Kopieren, was der<br />

formale Rahmen unter dem Stichwort<br />

„Beziehung“ vorgab, aber innerlich unterwegs<br />

sein. An einem traurigen Ort,<br />

wo missgestaltete Tiere an Brunnen<br />

tranken.<br />

Zehn Jahre später war es ihr besser<br />

gegangen. Sie sah sich mit Mitte<br />

dreißig in einer reizenden Wohnung.<br />

Sie war zufrieden. Tags arbeitete sie irgendetwas,<br />

was auch noch nicht perfekt<br />

war, aber angenehmer als Büros<br />

zu reinigen am Morgen um vier. Sie<br />

hatte gelernt, Kontakt zu anderen zu<br />

Fotografie Mark Nixon<br />

haben, wenn auch nicht zu Männern,<br />

die waren ihr zu fremd. Es war das Alter,<br />

in dem man sich mit Freunden<br />

zum Essen traf, was meinte, man ging<br />

zu einem Italiener oder zum Griechen,<br />

man verbrachte seine Zeit mit anderen<br />

Alleinstehenden, die Freunde hatten<br />

sich noch nicht in Kleinfamilien oder<br />

in therapeutische Einrichtungen verabschiedet.<br />

Der Kühlschrank war gefüllt<br />

und sie frühstückte regelmäßig.<br />

Die Zeit zwischen dreißig und vierzig,<br />

wenn man nicht mehr an Wunder<br />

glaubt, aber doch noch ein wenig darauf<br />

hofft. Dass einem etwas zustünde<br />

vom Leben, einfach weil man den Mist<br />

auf sich nahm, weil man sich ankleidete,<br />

Formulare ausfüllte, enttäuscht<br />

wurde, fror, das musste doch belohnt<br />

werden, konnte doch nicht sein, dass<br />

die tausend anderen Embryonen das<br />

83


große Los gezogen hatten. Sie fühlte<br />

sich noch jung, stand auf dem Balkon<br />

ihrer überschaubaren Wohnung, sah<br />

den Schwalben zu und der Hunger war<br />

leiser geworden. Es ließ sich aushalten,<br />

ihr Leben, wenngleich sie ein wenig<br />

müde wurde bei dem Gedanken, es<br />

noch vierzig Jahre in der gleichen<br />

Form fortzusetzen.<br />

Das Dessert. Und fast waren Körper<br />

und Seele wieder deckungsgleich.<br />

Weitere zehn Jahre später hatte sie<br />

ihren Mann getroffen, der damals noch<br />

Haare besaß und einen Beruf, den sie<br />

nicht verachtete. Sie war des Alleinseins<br />

müde und wartete nicht mehr auf<br />

große Leidenschaften, die hatte sie für<br />

untauglich befunden. Es schien ihr, als<br />

sei sie nach Ende ihrer Pubertät in einen<br />

leichten Schlaf gefallen und Jahre<br />

später erwacht, in einem befremdlich<br />

großen Haus, mit einem Mann, der<br />

sein Haar verlor, fast fünfzigjährig,<br />

und ihr Herz, das machte ihr Sorgen<br />

manchmal. Es war so langsam geworden,<br />

so träge und nichts vermochte sie<br />

mehr zu erregen. Die Dummheit nicht,<br />

die Verlogenheit und Gier, sie hatte<br />

sich damit abgefunden, eingesehen,<br />

dass man nur durchhalten musste und<br />

das es besser ging, wenn man es sich<br />

behaglich machte. Wann genau sie begonnen<br />

hatte, es als normal zu empfinden,<br />

dass ein Kostüm zweitausend<br />

Franken kostete, wusste sie nicht<br />

mehr genau zu sagen, ebenso wenig,<br />

wann ihrer beider Leidenschaft für erlesenes<br />

Essen begann. Es hatte sich<br />

vermutlich so entwickelt. Vielleicht<br />

hatten sie irgendwann entdeckt, dass<br />

es wirklich Unterschiede in der Qualität<br />

der Nahrung gab, hatten herausgefunden,<br />

dass ein teurer Wein besser<br />

schmeckte als ein billiger, dass man<br />

sehr erlesenen Fisch kaufen konnte,<br />

wenn man bereit war, für hundert<br />

Gramm dreißig Franken zu bezahlen,<br />

und dass es Alternativen zum Italiener<br />

um die Ecke gab. Wie überall im Leben<br />

konnte man auch in diesem Bereich<br />

tiefer gehen, weiter, über Grenzen,<br />

und irgendwann waren auch die<br />

Preise für hundert Gramm Trüffel normal,<br />

und wenn ein Restaurant keinen<br />

Stern aufwies, musste man über seinen<br />

Besuch nicht nachdenken. Nie mehr<br />

Hunger zu haben. Einen Menschen neben<br />

sich, der freundlich war und von<br />

leisem Temperament, keine Angst<br />

mehr, außer die vor dem Tod, der mit<br />

jedem Restaurantbesuch ein wenig näher<br />

kam wie die ersten Flecken auf<br />

den Händen, die ersten grauen Haare,<br />

das war der Verfall, nichts würde ihn<br />

aufhalten können, das war ihr Leben<br />

und es jetzt noch zu verändern ein<br />

Akt, der einer Kraft bedurfte, die sie<br />

nicht mehr hatte. Und ändern – in<br />

was? In eine andere Stadt ziehen, alleine,<br />

in der niemand an einer alternden<br />

Frau interessiert war und wo vielleicht<br />

eine andere Sprache gesprochen wurde?<br />

Keine Alternative.<br />

Das war ihr Leben und es würde<br />

sie mit allen Feinschmeckerlokalen begleiten,<br />

bis sie es irgendwann final verlassen<br />

würde.<br />

Der Espresso wurde serviert und<br />

sie kehrte zurück.<br />

Sah den Mann ihr gegenüber, der<br />

vom Wiederkäuer zum Menschen geworden<br />

war, dessen Kopf ein wenig gerötet<br />

war und der eine große Zufriedenheit<br />

ausstrahlte. Er hatte gut gegessen,<br />

sie würden gleich in einem<br />

nach Leder riechenden Auto in eine<br />

nach Blumen riechende Wohnung fahren,<br />

sich aneinanderschmiegen und<br />

einschlafen, erwachen an einem neuen<br />

Tag, der ohne weitere Sorgen auf sie<br />

wartete. Die glücklichste Zeit ihres Lebens<br />

war jetzt. Was war falsch daran,<br />

nichts mehr zu wollen, außer vielleicht<br />

ein wunderbares neues Restaurant, einen<br />

raren Wein zu entdecken? Viel<br />

mehr war es doch nicht, was von einem<br />

blieb. Ein Körper, im besten Fall ein<br />

wohlgenährter, der Futter würde. Da<br />

war nicht Schlechtes am Sattsein.<br />

Dachte sie, lächelte und war wieder<br />

eins, nach dem Moment der Verwirrung,<br />

die einen befällt, wenn die Seele<br />

kleine Ausflüge unternimmt. <br />

Mehr über die Autorin auf S. 8<br />

Der irische Fotograf Mark Nixon porträtiert<br />

in seiner Serie MuchLoved seit einigen Jahren<br />

Teddys mit Biografie.<br />

S. 83 links: Teddy Gilligan (Alter unbekannt),<br />

gehört Sean Gilligan. Von ihm existieren Fotos<br />

von seinem Ferienaufenthalt in Italien.<br />

S. 83 rechts: Teddy Louis (42), gehört Dara<br />

Ferguson. Louis hat immer noch Narben von<br />

einem Sturz aus der Eisenbahn. Daras Cousine<br />

hat für ihn ein rosa Kleid gestrickt.


RIGOLETTO<br />

Giuseppe Verdi<br />

DON GIOVANNI<br />

Wolfgang Amadeus Mozart<br />

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Uraufführung<br />

THE HOUSE<br />

TAKEN OVER<br />

Vasco Mendonça<br />

ELENA<br />

Francesco Cavalli<br />

ELEKTRA<br />

Richard Strauss<br />

Konzerte<br />

Europaïsche<br />

Musikakademie<br />

Francisco Infante, Artifacts, from the series Pilgrimage of the Square, 1977


Alle lieben diesen Song!<br />

Ein Anruf bei Sister Sledge,<br />

der Band, die seit 1979 den<br />

Hit We Are Family singt.<br />

MAX JOSEPH Bei dem Motto „We are family“ fällt jedem<br />

sofort Ihr fast fünfunddreißig Jahre alter Song ein.<br />

Verraten Sie uns: Wie haben Sie das gemacht?<br />

SISTER SLEDGE Das war ein Glücksfall. Das Lied wurde<br />

ursprünglich von Nile Rodgers und Bernard Edwards<br />

komponiert. Die Musik hatten sie bereits, aber es gab noch<br />

keinen Text. Bis sie am Ende unserer ersten Aufnahmesession<br />

sagten: „Wow, ihr habt euch wirklich gern!“ Und so<br />

entstand die großartige Idee zu We are family. Wir haben<br />

die Mikrofone aufgedreht und hatten eine Party – es hat<br />

sofort eingeschlagen.<br />

Sie waren also mit Ihrem Familiensinn die Inspiration<br />

für dieses Lied?<br />

Ja. Familie ist unserer Meinung nach die Grundlage für<br />

Liebe. Jeder hat Verwandte, seien es Bluts- oder Seelenverwandte.<br />

Wir sind froh, dass der Titel so sehr mit uns in<br />

Verbindung gebracht wird.<br />

Hat sich der Begriff „Familie“ über die Jahrzehnte verändert?<br />

Eigentlich nicht. Eine Familie ist eine Liebesverbindung<br />

zwischen einer beliebigen Gruppe von Menschen. Und man<br />

kann sich nicht aussuchen, ob jemand zur Familie gehört<br />

oder nicht. Man muss sie so akzeptieren, wie sie ist.<br />

86<br />

Unterscheiden Sie zwischen Ihrer privaten und beruflichen<br />

Familie?<br />

Das ist eine schwierige Sache, da sich bei uns beides überschneidet.<br />

Es ist eine echte Herausforderung, mit Leuten<br />

zu arbeiten, mit denen man eng verwandt ist.<br />

Wir machen das schon viele Jahre. Wir alle<br />

schlagen manchmal verschiedene Wege ein,<br />

aber das Wichtigste ist, wieder zusammenzukommen.<br />

Welche Ursachen für Probleme gab es?<br />

Oft ging es um kreative Dinge, aber wir<br />

haben uns immer irgendwie zusammengerauft.<br />

Wir alle sind starke<br />

Künstlerpersönlichkeiten. Man muss<br />

die individuelle Kraft des Einzelnen<br />

respektieren lernen und sich auf einen<br />

kreativen Kompromiss einigen.<br />

Ihre Großmutter war Opernsängerin.<br />

Welche Rolle spielt Oper in Ihrem Leben?<br />

Wir lieben klassische Musik. Unsere Großmutter<br />

hat uns das Singen beigebracht. Sie hat<br />

an der Juillard School studiert und liebte alles von<br />

Puccini, vor allem Madama Butterfly. Vor Jahren haben<br />

wir sie auf eine Tournee nach Paris mitgenommen. Auf der<br />

Bühne reichten wir ihr ein Mikrofon und sie war zu Tränen<br />

gerührt. Jeder liebte sie. Wir müssen lächeln, nur weil Sie<br />

sie erwähnt haben.<br />

Diese Spielzeit an der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong> steht<br />

unter dem Begriff vox populi. Hierzulande wird gerne<br />

zwischen Hochkultur und Popkultur getrennt, gleichwohl<br />

beeinflussen sich die Bereiche gegenseitig. Wie<br />

sehen Sie das?<br />

Wir sind froh, dass Sie versuchen, dies miteinander in Beziehung<br />

zu setzen. Die Grenzen von populärer und ernster<br />

Musik verschwimmen. Wir erarbeiten gerade eine Show mit<br />

dem Titel Symphonic Stage, mit musikalischen Einflüssen<br />

aus der ganzen Welt. Von klassischer Musik können wir<br />

sehr viel lernen. Ich habe einmal in der Scala geweint wie<br />

ein Baby. Die bloße musikalische Darbietung der Sänger<br />

war so beeindruckend und beseelt. Man sieht das in Filmen,<br />

aber es ist etwas anderes, wenn einem das wirklich passiert.<br />

Zurück zum Song: Singen Sie noch immer gerne We<br />

Are Family?<br />

Ja, wir alle lieben den Song. Jedes Mal, wenn wir ihn singen,<br />

entsteht ein Familiengefühl gemeinsam mit dem Publikum,<br />

egal ob fünfzig Leute da sind oder fünfzigtausend. Selbst<br />

wenn wir uns zuvor in die Haare bekommen haben – sobald<br />

man ins Publikum schaut, denkt man sich „Ach, was soll’s“.<br />

<br />

Interview Maria März und Olaf A. Schmitt<br />

Sister Sledge ist eine US-amerikanische Funk- und<br />

Soulband, bestehend aus den drei (von ehemals vier)<br />

Schwestern Joni, Debbie und Kim Sledge. Die vierte<br />

Schwester Kathy verfolgt mittlerweile eine Solokarriere.<br />

1979 landete Sister Sledge mit We Are Family ihren<br />

größten Hit. Sie sind mit dem Song bis heute auf Tour,<br />

spielen zudem aber auch genreübergreifende Musik.


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„Zsch! Des is die klane Hörbiger“<br />

Sollten einmal alle Mitglieder der Hörbiger-Familie We Are<br />

Family aufführen, wäre eine stattliche Anzahl von Schauspielern<br />

der renommiertesten Theater im deutschsprachigen<br />

Raum beteiligt. Für MAX JOSEPH hat der Kabarettist Dirk<br />

Stermann die Schauspielerin Mavie Hörbiger im Wiener<br />

Burgtheater getroffen und um einen Stammbaum gebeten.<br />

DIRK STERMANN Ich kenne Schauspieler, die in<br />

ihrer Kindheit gar nicht wussten, dass man das als<br />

Beruf erlernen kann. Hat es dir geholfen, dass du<br />

Theaterleute in deiner Familie hattest und wusstest,<br />

dass es möglich ist, ein Theaterstar zu sein?<br />

MAVIE HÖRBIGER Ich wusste schon, dass man das lernen<br />

kann und dass es ein Beruf ist (lacht). Ob mir das geholfen<br />

hat, das werde ich erstaunlicherweise oft gefragt. Aber darüber<br />

habe ich mir nie Gedanken gemacht, weil der Beruf<br />

des Schauspielers so normal war – und damit aber auch<br />

nicht schön oder verklärt. Es hat auch nicht geheißen: Dafür<br />

musst du lernen! Erst im Nachhinein habe ich angefangen,<br />

darüber nachzudenken. Ich glaube, dass die Leute<br />

natürlich viel schneller hingeguckt haben, aber im Endeffekt<br />

schadet es einem nur, weil der Name schon über einem<br />

schwebt. Dann hört man die ganze Zeit: Ah, das ist die<br />

Hörbiger. Als ich das erste Mal am Burgtheater gespielt<br />

habe, musste man immer eine Minute warten, bis sich die<br />

Leute ein bisschen beruhigt hatten: „Des is die klane Hörbiger,<br />

des is sie“… (zischt). Ich hatte einen rosafarbigen<br />

Frottee-Schlafanzug an und stand barfuß im Dreck. Da hat<br />

Nicholas Ofczarek auch nicht weitergespielt. Jetzt finden<br />

die Leute es eher seltsam, dass ich hochdeutsch spreche.<br />

Sie haben noch nicht ganz verstanden, dass ich keine Österreicherin<br />

bin. Der Schock kommt wahrscheinlich noch.<br />

DS Wieso hast du denn gar keine Färbung? Deine<br />

Mutter ist …<br />

MH ... Norddeutsche, aus Kiel. Das Stück Liliom, das ich gerade<br />

spiele und das in Mundart geschrieben ist, spielen<br />

alle, die es können, in Mundart. Nur Katharina Lorenz und<br />

ich hängen ein bisschen in der Luft.<br />

DS Könntest du es denn?<br />

Interview Dirk Stermann<br />

MH Wenn man es mir zeigen würde, ja. Ich habe vor eineinhalb<br />

Jahren ein Casting für einen Film von Götz Spielmann<br />

gemacht, und er hat mich besetzt – als Österreicherin.<br />

Dann habe ich aber Gott sei Dank Liliom bekommen. Als vor<br />

zwanzig Jahren das letzte Mal Liliom gespielt wurde, spielte<br />

Karlheinz Hackl Liliom, Andrea Clausen die Julie und<br />

meine Rolle spielte Maria Happel als ihre erste Rolle – sie<br />

war sehr jung, aber auch sehr deutsch. Unten bei den Spielplanaushängen<br />

stand ganz fett: Piefke go home. Ich bin<br />

gespannt, wie es uns jetzt damit geht.<br />

DS Das heißt, du hast dir, so wie ich, nicht gedacht,<br />

dass du nach Wien kommst.<br />

MH Ich habe vor allem nicht gedacht, dass ich hier bleibe.<br />

DS Du bist gleich ans Burgtheater gekommen.<br />

MH Ja, und dann habe ich erst einmal ein Kind bekommen<br />

und dann noch eines. Ich hätte nicht gedacht, dass ich hier<br />

richtig groß spiele.<br />

DS Du hast dir nicht gedacht, dass du gleich in die<br />

Champions League gehst?<br />

MH Ich habe komischerweise gar nichts gedacht. Es war so<br />

absurd für mich. Ich wurde erst einmal aufs Abstellgleis geschoben,<br />

war auch ganz glücklich damit und dachte: Jetzt<br />

muss ich erst einmal die Antrittsrollen spielen und dann<br />

gehen wir eh wieder weg. Und jetzt sind wir eben richtig da.<br />

DS Findest du mittlerweile auch, dass Wien es<br />

schafft, dir das Gefühl zu geben, dass der Rest der<br />

Welt so wurscht ist?<br />

MH Es fliegt ein bisschen wie ein Ballon, irgendwo außerhalb<br />

von allem.<br />

DS Wien hat so ein komisches Selbstbewusstsein,<br />

dass es sich in Wahrheit gut findet und den Rest<br />

überflüssig.<br />

Mavie Hörbiger 89


SL Wir lieben klassische Musik. Unsere<br />

Großmutter hat uns das Singen bei-<br />

MH Aber der Rest bekommt auch aus Wien nicht viel mit.<br />

DS Der Hörbiger-Stammbaum. Das bist du.<br />

Die Leute fragen teilweise: Mensch, wo bist du denn die MH Du hast aber falsch angefangen. Wenn du mich so weit<br />

gebracht. Sie hat an der Juillard School<br />

ganze Zeit? Die Leute denken, man ist tot oder hat siebzehn<br />

Kinder Anruf bekommen. bei Sister Sledge, der Band, DS die Du bist aber für mich das Zentrum deiner Familie.<br />

nach oben setzt …<br />

studiert und liebte alles von Puccini,<br />

Ein<br />

vor allem Madama Butterfly. Vor Jahren<br />

haben wir sie auf eine Tournee<br />

DS Zu meiner Mutter habe ich während der Pubertät<br />

Das heißt, irgendwo ist Christiane Hörbiger, die ist<br />

seit 1979 den Hit We Are Family singt.<br />

einmal gesagt, dass Familie wie eine Kette ist, eine<br />

deine Tante, nein, Großtante. Das ist also das Großtantenfeld.<br />

Und Elisabeth Orth ist auch deine Groß-<br />

nach Paris mitgenommen. Auf der<br />

unangenehme. Das hat sie mir bis heute übel genommen.<br />

Sie hat nicht verstanden, warum ich das<br />

tante?<br />

Bühne reichten wir ihr ein Mikrofon<br />

und sie war zu Tränen gerührt. Jeder<br />

sage, obwohl sie ihre eigene Mutter auch nicht mag. MH Sie ist die Schwester von Christiane. Gleichermaßen<br />

liebte sie. Wir müssen lächeln, nur weil<br />

MH Man sucht sich ja seine Verwandten nicht aus. Ich Großtantenfeld. Und dann gibt es noch eine Schwester:<br />

Sie sie erwähnt haben.<br />

habe das auch einmal über meine Brüder gesagt: Wenn ich Maresa. Jetzt hast du aber überhaupt keinen Platz mehr<br />

nicht mit ihnen verwandt wäre, weiß ich nicht, ob ich mit nach oben.<br />

MJ Diese Spielzeit an der <strong>Bayerische</strong>n<br />

ihnen etwas zu tun hätte. Obwohl ich sie sehr, sehr liebe.<br />

DS Großtanten sind ja<br />

<strong>Staatsoper</strong><br />

eher verstreute,<br />

steht unter<br />

entfernte<br />

dem<br />

Ich frage mich manchmal, ob man die Menschen so liebt,<br />

Verwandte. Die sind<br />

Begriff<br />

gefühlsmäßig<br />

„vox populi“.<br />

auch<br />

Hierzulande<br />

nur halbverwandt,<br />

deshalb berühren wird gerne sie dich zwischen gar nicht Hochkultur so. Wer<br />

weil man sie schon so lange kennt. Oder ob man sie wirklich<br />

liebt. Ob es wirklich so was gibt wie Blutsverwandtschaft<br />

berührt dich denn und dann Popkultur eher? Das getrennt, ist der gleichwohl Disko-Vater.<br />

Sollen wir ihm beeinflussen einen Namen sich geben? die Bereiche ge-<br />

und wir uns deshalb lieben.<br />

DS Blutsverwandtschaft ist ein bizarrer Begriff. Es MH Tommy.<br />

genseitig. Wie sehen Sie das?<br />

gibt ein cooles, archaisches Spiel, das ich immer mit<br />

meiner Tochter gespielt habe: Meine Mutter hat eine<br />

Großfamilie und ich habe gefragt: Bist du blutsverwandt<br />

oder nicht?<br />

MH Das machen wir auch ständig.<br />

DS Sind deine beiden Brüder auch Schauspieler?<br />

MH Nein. Ein Bruder arbeitet hier in der Requisite am Akademietheater<br />

DS Der ist total SL mit Wir dir sind verwandt. froh, dass Und die Sie junge versuchen, Mutter.<br />

Hier dazwischen dies miteinander sind noch in deine Beziehung Fußball-Brüder.<br />

Der Wirtschafts-Bruder Die Grenzen von und populärer der Requisiteur. und erns-<br />

setzen.<br />

Jetzt fehlen noch ter Musik Attila Hörbiger verschwimmen. und so. Wir Wie erarbeiten<br />

gerade eine Show mit dem Titel<br />

bist du<br />

mit ihnen verwandt?<br />

MH Der Vater meines Symphonic Vaters war Paul. Stage, mit musikalischen<br />

DS Der berühmte Einflüssen Paul Hörbiger. aus der ganzen Welt. Von<br />

MAX JOSEPH in Bei Wien, dem der Motto andere „We handelt eine mit Liebesverbindung Autos und zwischen MH Er war einer der Bruder klassischer von Attila, Musik der wiederum können wir der sehr Vater viel<br />

Immobilien. are family“ fällt jedem sofort Ihr<br />

fast 35 DS Jahre Aber alter nicht Song im Theaterumfeld?<br />

ein. Verraten<br />

beliebigen Gruppe von Menschen. von meinen Und Großtanten lernen. war. Ich Ihre habe Mutter einmal war in Paula. der Scala geweint<br />

Die wie ist ein ja Baby. nur mit Die deinen bloße Großtan-<br />

musika-<br />

man kann sich nicht aussuchen, DS ob Paula je-<br />

Wessely.<br />

Nein, Sie uns: er Wie hat Betriebswirtschaft haben Sie das ge-<br />

studiert mand und zur sich Familie ge-<br />

gehört oder ten nicht. verwandt. lische Darbietung der Sänger war so<br />

MH<br />

dacht, macht? er muss weg aus diesem Künstlermoloch. Man muss sie so akzeptieren, MH Es wie gibt sie ist. noch viele beeindruckend mehr, die hängen und alle beseelt. in der Man Ahnengalerie,<br />

sieht<br />

SISTER SLEDGE DS Ist dein Das Vater war Schauspieler?<br />

ein Glücksfall.<br />

zwischen aber Ih-<br />

die kenne das ich in auch Filmen, alle aber nicht. es ist etwas ande-<br />

MJ Unterscheiden Sie<br />

MH Das Er Lied hat es wurde versucht, ursprünglich aber er war von wirklich nicht rer gut privaten (lacht). und beruflichen DS Fami-<br />

Davor gab res, noch wenn mehr? einem das wirklich passiert.<br />

Nile Hätte Rodgers Rainer und Werner Bernard Fassbinder Edwards ihn entdeckt, lie? hätte er MH Ja, es gab noch mehr MJ Schauspieler, Zurück zum Song: eine Josephine, Singen Sie<br />

komponiert. wahrscheinlich Die Musik eine hatten große sie Karriere bereits,<br />

gemacht. SL Das Er ist spielte eine schwierige auch Sache, Burgschauspielerin. da noch Jetzt immer musst gerne du We aber Are noch Family? Tra-<br />

schon aber in es gab den noch 1950er-Jahren keinen Text. so, Bis wie später sich bei Fassbinder- uns beides überschneidet. mitz unterbringen, Es meinen SL Ja, wir Cousin. alle lieben Mein den Vater Song. hat Jedes zwei<br />

sie Schauspieler am Ende unserer gespielt ersten haben: Aufnahmesession<br />

Ganz gerade ist sagt eine er echte seine Herausforderung, Schwestern: mit Christl Ptack Mal, wenn und Monica wir ihn singen, Tramitz, entsteht die Mutter ein<br />

Sätze sagten: und geht „Wow, wieder. Ihr Das habt hat euch also nicht funktioniert, Leuten zu arbeiten, dann mit denen des Schauspielers man eng Christian Familiengefühl Tramitz. gemeinsam mit dem<br />

wirklich hat er Clubs gern!“ und und Diskotheken so entstand gebaut, die geleitet, verwandt gelebt. ist. Wir machen das DS schon Das sind die Publikum, dir am nächsten egal ob 50 Stehenden Leute da – sind wie<br />

großartige DS Idee Deine zu Mutter „We are ist family“. aber Schauspielerin. viele Jahre. Wir alle schlagen bei manchmal<br />

einer Familienaufstellung.<br />

oder 50.000. Selbst wenn wir uns zuvor<br />

kennengelernt,<br />

verschiedene Wege ein, aber das Wir MH haben Nein, die auch Mikrofone nicht. Er aufgedreht hat sie sehr jung<br />

in die Haare bekommen haben – sobald<br />

und sie hatten war gerade eine Party zwanzig, – es und hat hat sofort sich dann Wichtigste um uns gekümmert.<br />

kommen.<br />

sich „Ach, was soll’s“.<br />

ist, wieder zusammen zu man ins Publikum schaut, denkt man<br />

eingeschlagen.<br />

MJ Sie<br />

DS<br />

waren<br />

Gab<br />

also<br />

es bei<br />

mit<br />

euch<br />

Ihrem<br />

auch<br />

Familiensinn<br />

riesige Familienfeiern,<br />

MJ Welche<br />

bei<br />

Ursachen für Probleme<br />

denen<br />

die Inspiration<br />

viele Anekdoten<br />

für dieses<br />

erzählt wurden,<br />

gab<br />

wie<br />

es?<br />

es gerade<br />

männliche Schauspieler so machen?<br />

Schmitt<br />

Interview Maria März und Olaf A.<br />

Lied?<br />

SL Oft ging es um kreative Dinge, aber<br />

SL<br />

MH<br />

Ja.<br />

Wenn,<br />

Familie<br />

dann<br />

ist<br />

redet<br />

unserer<br />

man<br />

Meinung<br />

nur kurz darüber;<br />

wir haben<br />

ich bin<br />

uns<br />

eher<br />

immer irgendwie zusammengerauft.<br />

Wir alle sind starke<br />

diejenige, die Fragen stellt. Zu Liliom habe ich Elisabeth<br />

nach die Grundlage für Liebe. Jeder<br />

gefragt, wer das schon mal wann wie gespielt hat. Dann<br />

hat Verwandte, seien es Bluts- oder Künstlerpersönlichkeiten. Man muss<br />

sind sie eher von mir genervt. Aber Anekdoten? Sie sind<br />

Seelenverwandte. Wir sind froh, dass die individuelle Kraft des Einzelnen respektieren<br />

lernen und sich auf einen<br />

alle keine Angeber, sondern ehrfürchtige, zurückhaltende<br />

der Titel so sehr mit uns Verbindung<br />

Schauspieler.<br />

gebracht wird.<br />

kreativen Kompromiss einigen.<br />

DS Könntest du einen Stammbaum zeichnen?<br />

MJ Hat sich der Begriff „Familie“ MJ Ihre Großmutter war Opernsängerin.<br />

Welche Rolle spielt Oper<br />

MH Einen Stammbaum? Mach du das doch. Und ich verbessere<br />

dich.<br />

über die Jahrzehnte verändert?<br />

SL Eigentlich nicht. Eine Familie ist in Ihrem Leben?<br />

86<br />

Alle lieben diesen Song!<br />

Mavie Hörbiger ist Schauspielerin und Mitglied<br />

des Burgtheater-Ensembles in Wien. Die gebürtige<br />

Münch nerin lebt mit ihrem Mann, dem Schauspieler<br />

Michael Maertens, und ihren beiden Kindern in Wien.<br />

Sie ist derzeit als Marie in Liliom von Franz Molnár zu<br />

sehen, in Sister der Inszenierung Sledge sind von eine Barbara US-amerikanische<br />

Funk- und Soulband, bestehend<br />

Frey.<br />

aus den Schwestern Kathy, Joni, Kim<br />

Dirk Stermann und Debbie ist Autor, Sledge. Radiomoderator 1979 landeten und Kabarettist,<br />

Letzteres mit We Are gemeinsam Family mit ihren Christoph größten Grisse-<br />

Hit.<br />

sie<br />

mann als Sie Stermann sind mit & Grissemann. dem Song Jüngst bis heute erschien auf<br />

sein neues Tour, Buch spielen Stoß im zudem Himmel. aber auch genreübergreifende<br />

Musik.<br />

Foto Irene Schaur


Seit 1841<br />

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Das Theateralphabet...<br />

Standing Ovations.


Spielplan<br />

03.05.13<br />

bis<br />

26.06.13<br />

Soweit nicht anders angegeben, finden alle Veranstaltungen im Nationaltheater statt.<br />

Karten<br />

Tageskasse der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong><br />

Marstallplatz 5<br />

80539 München<br />

tickets@staatsoper.de<br />

T 089 – 21 85 19 20<br />

www.staatsoper.de<br />

93


Oper<br />

Wolfgang A. Mozart<br />

Don Giovanni<br />

Musikalische Leitung Adam Fischer<br />

Inszenierung Stephan Kimming<br />

Gerald Finley, Štefan Kocán, erin Wall, William Burden, Annette Dasch,<br />

Alex esposito, Hanna-elisabeth Müller, Tareq Nazmi<br />

Fr 03.05.13 19:00 Uhr<br />

Di 07.05.13 19:00 Uhr<br />

Do 09.05.13 18:00 Uhr<br />

So 12.05.13 19:00 Uhr<br />

Jacques Offenbach<br />

Les Contes d’ Hoffmann<br />

Musikalische Leitung emmanuel Villaume<br />

Inszenierung richard Jones<br />

Kathleen Kim, Genia Kühmeier, Dinara Alieva, Kevin Conners, John relyea,<br />

Tara erraught, Heike Grötzinger, Giuseppe Filianoti, Ulrich reß, Dean power,<br />

Tim Kuypers, Christian rieger, Joshua Stewart,<br />

Christoph Stephinger 18. / 24. / 29.05. / 08.06., Kristian paul 02.06.<br />

Sa 18.05.13 19:00 Uhr<br />

Fr 24.05.13 19:00 Uhr<br />

Mi 29.05.13 19:00 Uhr<br />

So 02.06.13 18:00 Uhr<br />

Mi 05.06.13 19:00 Uhr<br />

Sa 08.06.13 19:00 Uhr<br />

Hans Werner Henze<br />

Elegie für junge Liebende<br />

Musikalische Leitung Francesco Angelico<br />

Inszenierung Christiane pohle<br />

Tim Kuypers, rafał pawnuk, Joshua Stewart, Golda Schultz,<br />

Silvia Hauer 03.05. / 07.05., Yulia Sokolik 05.05. / 09.05., Iulia Maria Dan<br />

Fr 03.05.13 19:00 Uhr Cuvilliés-Theater premiere<br />

So 05.05.13 19:00 Uhr Cuvilliés-Theater<br />

Di 07.05.13 19:00 Uhr Cuvilliés-Theater<br />

Do 09.05.13 19:00 Uhr Cuvilliés-Theater<br />

Giuseppe Verdi<br />

La traviata<br />

Musikalische Leitung Dan ettinger<br />

Inszenierung Günter Krämer<br />

ermonela Jaho, Heike Grötzinger, Silvia Hauer, piotr Beczala, Fabio Maria<br />

Capitanucci, Kevin Conners, Christian rieger, Tareq Nazmi, Christoph Stephinger,<br />

Joshua Stewart, Tim Kuypers, rafał pawnuk<br />

Mo 20.05.13 18:00 Uhr<br />

Do 23.05.13 19:00 Uhr<br />

So 26.05.13 19:00 Uhr<br />

Do 30.05.13 16:00 Uhr<br />

Gaetano Donizetti<br />

L’elisir d’amore<br />

Musikalische Leitung Leo Hussain<br />

Inszenierung David Bösch<br />

eri Nakamura, Dimitri pittas, Fabio Maria Capitanucci,<br />

erwin Schrott, Tara erraught<br />

Sa 04.05.13 19:00 Uhr<br />

sponsored by<br />

Giuseppe Verdi<br />

Macbeth<br />

Giuseppe Verdi<br />

Simon Boccanegra<br />

Musikalische Leitung Bertrand de Billy<br />

Inszenierung Dmitri Tcherniakov<br />

Željko Lučić, Krassimira Stoyanova, Vitalij Kowaljow, ramón Vargas,<br />

Levente Molnár, Goran Jurić, Joshua Stewart, Iulia Maria Dan<br />

Mo 03.06.13 19:00 Uhr premiere<br />

Do 06.06.13 19:00 Uhr<br />

So 09.06.13 18:00 Uhr<br />

Mi 12.06.13 19:00 Uhr<br />

Sa 15.06.13 19:00 Uhr<br />

sponsored by<br />

Musikalische Leitung Massimo Zanetti<br />

Inszenierung Martin Kušej<br />

Željko Lučić, Nadja Michael, Goran Jurić, evgeniya Sotnikova, Wookyung Kim,<br />

emanuele D'Aguanno, Christoph Stephinger, Andrea Borghini, rafał pawnuk,<br />

Iulia Maria Dan, Solist des Tölzer Knabenchores<br />

So 05.05.13 19:00 Uhr<br />

Mi 08.05.13 19:00 Uhr<br />

Sa 11.05.13 19:00 Uhr<br />

Fr 17.05.13 19:00 Uhr<br />

Live auf <strong>Staatsoper</strong> TV<br />

94


BALLeTT<br />

John Neumeier / Richard Siegal<br />

Illusionen - wie Schwanensee<br />

Musik peter I. Tschaikowsky<br />

Matinee der Heinz-Bosl-<br />

Stiftung / Junior Company<br />

Junior Company des <strong>Bayerische</strong>n Staatsballetts und Studierende und Kinder<br />

der die Ballett-Akademie der Hochschule für Musik und Theater München<br />

Der Vorverkauf erfolgt über die Heinz-Bosl-Stiftung: T 089 - 33 77 63<br />

So 05.05.13 11:00 Uhr<br />

Terence Kohler<br />

Helden<br />

Musik Lera Auerbach, Alfred Schnittke<br />

Solisten und ensemble des <strong>Bayerische</strong>n Staatsballetts<br />

Musikalische Leitung Myron romanul<br />

Fr 10.05.13 19:30 Uhr<br />

Fr 31.05.13 20:00 Uhr<br />

Sa 01.06.13 19:30 Uhr Live auf STAATSOper.TV<br />

Solisten und ensemble des <strong>Bayerische</strong>n Staatsballetts<br />

Musikalische Leitung Michael Schmidtsdorff<br />

Fr 14.06.13 19:00 Uhr<br />

So 16.06.13 15:00 Uhr<br />

Sa 22.06.13 19:00 Uhr<br />

So 23.06.13 19:00 Uhr<br />

Merce Cunningham<br />

Exits and Entrances<br />

BIpeD / Unitxt<br />

Musik Gavin Bryars (Biped), Carsten Nicolai (unitxt)<br />

Solisten und ensemble des <strong>Bayerische</strong>n Staatsballetts<br />

Di 25.06.13 19:30 Uhr prinzregententheater Uraufführung<br />

Mi 26.06.13 19:30 Uhr prinzregententheater<br />

KONZerTe<br />

PARTNER DES BAYERISCHEN STAATSORCHESTERS<br />

Patrice Bart / Marius Petipa<br />

La Bayadère<br />

Musik Ludwig Minkus<br />

Solisten und ensemble des <strong>Bayerische</strong>n Staatsballetts Gast N.N.<br />

Musikalische Leitung Michael Schmidtsdorff<br />

So 09.05.13 15:00 Uhr<br />

Sa 25.05.13 19:30 Uhr<br />

BALLeTT exTrA<br />

Proben zur Uraufführung<br />

Exits and Entrances<br />

Mi 05.06.13 20:00 Uhr Ballettprobenhaus, platzl 7<br />

Jerome Robbins / Jiří Kylián<br />

Goldberg Variationen /<br />

Gods and Dogs<br />

Musik Johann Sebastian Bach, Jiří Kylián, Dirk Haubrich, Ludwig van Beethoven<br />

Solisten und ensemble des <strong>Bayerische</strong>n Staatsballetts<br />

Piano elena Mednik<br />

Fr 07.06.13 19:30 Uhr<br />

5. Akademiekonzert<br />

Wolfgang rihm, Anton Bruckner<br />

Klavier Siegfried Mauser<br />

Musikalische Leitung Kent Nagano<br />

So 12.05.13 11:00 Uhr **<br />

Mo 13.05.13 20:00 Uhr<br />

Di 14.05.13 20:00 Uhr<br />

** Vorstellung für die Freunde des Nationaltheaters e.V., begrenztes<br />

Kartenkontingent im freien Verkauf<br />

6. Kammerkonzert<br />

Lennox Berkeley, Charles Koechlin, Johannes Brahms<br />

Horn Johannes Dengler<br />

Violine Markus Wolf<br />

Klavier Julian riem<br />

So 02.06.13 11:00 Uhr Allerheiligen Hofkirche<br />

Di 04.06.13 20:00 Uhr Allerheiligen Hofkirche<br />

6. Akademiekonzert<br />

Gustav Mahler, Unsuk Chin, Alban Berg, Ludwig van Beethoven<br />

Violoncello Alban Gerhardt<br />

Musikalische Leitung Kent Nagano<br />

Mo 10.06.13 20:00 Uhr<br />

Di 11.06.13 20:00 Uhr<br />

95


Prima la musica, poi le parole<br />

Konzert des Opernstudios und der Orchesterakademie der<br />

<strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong><br />

Do 13.06.13 19:30 Uhr<br />

Fr 14.06.13 11:00 Uhr<br />

Sa 15.06.13 19:30 Uhr<br />

CAMpUS<br />

Hubertussaal, im Schloss Nymphenburg<br />

Hubertussaal, im Schloss Nymphenburg<br />

Hubertussaal, im Schloss Nymphenburg<br />

Sitzkissenkonzert:<br />

Das Vollmondorchester<br />

Gregor A. Mayrhofer<br />

Sa 08.06.13 14:30 Uhr<br />

Sa 15.06.13 14:30 Uhr<br />

parkett, Garderobe<br />

parkett, Garderobe<br />

Spiel Ballett: Tanzen<br />

kann wie Fußball sein …<br />

Sa 04.05.13 14:00 Uhr (nur für Jungen) Ballettprobenhaus, platzl 7<br />

Sa 11.05.13 14:00 Uhr (nur für Mädchen) Ballettprobenhaus, platzl 7<br />

exTrAS<br />

Die unmögliche<br />

Enzyklopädie 24: Protest<br />

Mi 15.05.13 20:00 Uhr probenräume, Nationaltheater<br />

Premierenmatinee:<br />

Simon Boccanegra<br />

So 26.05.13 11:00 Uhr<br />

Opernseminar:<br />

Simon Boccanegra<br />

So 09.06.13 10:00 Uhr<br />

Mo 10.06.13 18:00 Uhr<br />

sehend hören<br />

Sa 15.06.13 14:00 Uhr<br />

Neue pinakothek<br />

Die unmögliche<br />

Enzyklopädie 25: Crossover<br />

So 16.06.13 20:00 Uhr probenräume, Nationaltheater<br />

96


ManchMal<br />

ist das<br />

leben<br />

ein<br />

duett.<br />

Zeit für Musik. br-klassik.de<br />

Augsburg 102.1 | Hof 102.3 | Ingolstadt 88.0 | Lindau 87.6 | München 102.3 | Nürnberg 87.6<br />

Passau 95.6 | Regensburg 97.0 | Würzburg 89.0 | Bayernweit im Digitalradio | Bundesweit digital<br />

im Kabel | Europaweit digital | über Satellit Astra 19,2 Grad Ost | Weltweit live im Internet


FAMILIEN-<br />

GESCHICHTEN<br />

Die Mitarbeiter der<br />

Oper empfehlen:<br />

KEVIN – ALLEIN ZU HAUS<br />

Von Gajendran Thuraiappah,<br />

Mitarbeiter der Theaterkantine<br />

Ich denke, in einer Familie muss es einfach viele Kinder<br />

geben. Das ist das wahre Glück. Und weil ich so denke, erinnere<br />

ich mich noch heute ziemlich genau an einen Film, den<br />

ich vor über zwanzig Jahren gesehen habe: Kevin – Allein zu<br />

Haus. Ziemlich sicher haben die meisten den Film schon mal<br />

gesehen, als Kind oder Teenager. Aber ich empfehle ihn wieder<br />

anzusehen, mit erwachsenen Augen. Es geht um eine<br />

große Familie mit vier oder fünf Kindern. Natürlich gibt es da<br />

ständig Stress. Jedenfalls vergisst die Familie beim Aufbruch<br />

in den Weihnachtsurlaub ein Kind zuhause, den achtjährigen<br />

Kevin, denn bei der Abreise gibt es ein riesiges<br />

Durcheinander. Der ganz normale Familienirrsinn eben.<br />

Kevin verteidigt dann das Haus ganz allein gegen zwei Einbrecher.<br />

Parallel dazu zeigt der Film die Odyssee der Familie<br />

zurück zu Kevin. Für die Eltern und Geschwister ist kein<br />

Stress zu groß und kein Weg zu weit, um zusammen zu sein.<br />

Wahrscheinlich kann ich mich deswegen noch so gut an den<br />

Film erinnern, weil das mein Familiengefühl ist. Auf jeden<br />

Fall eine gute Message in kalten Zeiten.<br />

Kevin – Allein zu Haus, USA 1990 – Regie Chris Columbus, mit Macaulay Culkin,<br />

Joe Pesci; DVD ab ca. 5,00 €<br />

DOCTOR DÖBLINGERS<br />

GESCHMACKVOLLES KASPERLTHEATER<br />

Von Karin Siedenburg, Inspizientin<br />

Bei Doctor Döblingers geschmackvollem Kasperltheater<br />

handelt es sich nicht, wie man meinen könnte, um eine Kinderbespaßung,<br />

die für Erwachsene nicht nachvollziehbar<br />

oder Nerven strapazierend ist. Sondern es geht um Geschichten,<br />

die dank der beiden grandiosen Puppenspieler<br />

Richard Oehmann (Kasperl u.v.a.) und Josef Parzefall (Seppl<br />

u.v.a.) für die ganze Familie zum besonderen Kulturerlebnis<br />

werden. Ich freue mich schon seit vielen Jahren auf alles,<br />

was die beiden herausbringen, und besonders seit es nahezu<br />

jährlich ein neues Hörspiel auf CD gibt, bin ich ein Erscheinungsdatum-Käufer.<br />

Auch bei mehrmaligem Anhören<br />

Kulturtipps<br />

98<br />

wird man nicht satt von den Abenteuern von Kasperl und<br />

Seppl, die alle in Hinterwieselharing und Umland stattfinden.<br />

Allein die Booklets mit Landkarte und aufschlussreicher<br />

Figurenbeschreibung des mitwirkenden Personals sind<br />

eine sehr gute Vorspeise zur CD. So erfährt man zum Beispiel,<br />

dass der als „selbstständiger Monarch und Familienvater<br />

regierende König Kurt“ Befehlen, Verbieten und Wagner-Opern<br />

mag, während er Ungehorsam, Widerspruch und<br />

unausgedrückte Zahnpasta-Tuben nicht mag.<br />

Mein Sohn Fridolin ist mit seinen zwei Jahren leider<br />

noch zu klein, um die Auftritte von Kasperl und Seppl im<br />

„theater … und so fort“ zu besuchen, aber bei Autofahrten<br />

und im Kinder zimmer lauschen wir gern den Geschichten<br />

und besonders der fantastischen Lieder-CD Xingel-Xangel.<br />

Mein Favorit hier ist der Tango des verkaterten Zauberers<br />

Wurst Heut tut mir alles weh. Momentan kaufe ich die CDs<br />

primär ganz egoistisch für mich, aber wie glücklich wird Fridolin<br />

sein, wenn er im „Kasperlalter“ angekommen ist und<br />

schon stolzer Besitzer der elf bestehenden und aller bis dahin<br />

entstandenen Kasperl-CDs sein wird! Und ich kann endlich<br />

auch mit meinem Sohn ins „theater … und so fort“ gehen.<br />

Doctor Döblingers Kasperlhörspiele, erhältlich im Handel oder unter<br />

www.dr-doeblingers-kasperltheater.de, à 12,95 €; Kasperltheater im „theater …<br />

und so fort“, Kurfürstenstr. 8, 80799 München, T 089 - 23 21 98 77,<br />

meist So 14:30 Uhr und 16:00 Uhr<br />

UNDERWATER TEA TIME<br />

Von Christopher McMullen-Laird,<br />

Maestro suggeritore (dirigierender Souffleur)<br />

Warum im Deutschen die angenehme Nachmittagsstunde<br />

zwischen dem Verdauungstief und den Maskenzeiten mit einer<br />

Selbstverständlichkeit „Kaffeezeit“ heißt, wird einem<br />

leidenschaftlichen Teetrinker auf Anhieb bewusst: Denn in<br />

Bayern trifft man nur auf Missverständnisse, was eine gute<br />

Tasse Tee ausmacht. (Weswegen ich übrigens meist nach<br />

der Mittagspause zum Tee nach Hause flüchte.) Werde ich<br />

bei einer Einladung zu Kaffee und Kuchen mit der Frage „Tee<br />

oder Kaffee” bedroht, ist für mich „Kaffee. Danke” die harmlosere<br />

Antwort. Sollten Kinder anwesend sein, hat man eine<br />

Chance auf die stets rettende Saftschorle.<br />

Wer hingegen von mir eine Einladung zur Tea Time bekommt,<br />

hat garantiert keine Wahl. Durch einen verbindlichen<br />

Namen kann man schließlich alle Erwartungen erfüllen.<br />

Wenn man nur weiß, wie man eine Kanne Tee kocht! In meiner<br />

Familie gab es zu jeder Tageszeit Tee und zubereiten kann<br />

ihn jeder, meint man. Wer es aber immer noch nicht raus hat,<br />

dem sei geholfen: Man nehme kaltes, reines Wasser und<br />

koche es auf großer Flamme in einem Edelstahlkessel. Ein<br />

wenig sprudeln lassen und den Klang der Pfeife genießen.<br />

Unterdessen die Teekanne heiß ausspülen und kurz vor dem<br />

Aufguss mit losen Teeblättern befüllen: einen Löffel pro<br />

Nase, plus einen für die Kanne. Den Tee einige Minuten brühen<br />

lassen und sofort einschenken – am besten aus ca. 30 cm<br />

Höhe, damit er noch atmen kann (und die Gäste große Augen<br />

machen!). Mit echter Milch, Zitrone und Zucker servieren.


Wem das alles zu viel ist, der warte auf den Sommer und veranstalte<br />

eine imaginäre „Underwater Tea Party“, wie meine<br />

Schwester und ich es in unserer Kindheit an der Küste von<br />

Cape Cod im Atlantik jeden Sommer getan haben: Man muss<br />

tief Luft holen, bevor man unter Wasser alle Bewegungen einer<br />

ordentlichen Tea Time im Schnelldurchlauf gestikuliert,<br />

inklusive gespreiztem kleinen Finger. Gewinner ist, wer die<br />

meisten Tassen Tee trinkt, ohne sich am Meerwasser zu verschlucken,<br />

aber es gibt eine knifflige Regel: Man darf sich<br />

niemals selber einschenken!<br />

Kulturtipps<br />

Das Buch zeigt, dass scheinbar Alltägliches mitnichten<br />

selbstverständlich ist und dass man mithilfe echter Freunde<br />

auch die schwierigste Situation meistern kann. Und wie<br />

jedes gute Kinderbuch ist dieses Buch natürlich auch für<br />

Erwachsene ein Genuss – auch wenn sie darin ganz andere<br />

Dinge lesen.<br />

Bernd Zeller: Robin Kruhse – Oder wie ein Junge aus der Stadt zum Abenteurer<br />

wird, Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf 2013, 9,95 €<br />

Underwater Tea Time, zu veranstalten in jedem tieferen stillen Gewässer,<br />

in München insbesondere in den städtischen Schwimmbädern …<br />

http://www.swm.de/privatkunden/m-baeder.html<br />

ROBIN KRUHSE<br />

Von Petra Hauschild,<br />

Mitarbeiterin der Finanzverwaltung<br />

Für mich hat das Buch Robin Kruhse – Oder wie ein Junge<br />

aus der Stadt zum Abenteurer wird sehr viel Familiensinn. Es<br />

wird jetzt schon fleißig als neuer Kinderbuchklassiker und<br />

Nachfolger von Robinson Crusoe verkauft, mit dem Ähnlichkeiten<br />

rein gar nicht zufällig sind. Bernd Zeller, ein früherer<br />

Gag-Autor der Harald Schmidt Show und Titanic-Redakteur,<br />

hat ein lustiges und farbenfrohes Büchlein über einen Jungen<br />

geschrieben und gezeichnet, den es auch auf eine einsame,<br />

wilde Insel verschlägt. Dort muss er sich mithilfe seiner<br />

Freunde, einem Affen und einem Vogel, gegen Widrigkeiten<br />

durchsetzen, denen er in der Stadt noch nie begegnet ist.<br />

KLAVIERBÜCHER VON ANNE TERZIBASCHITSCH<br />

Von Christian Rieger, Mitglied des Opern-Ensembles<br />

Für kleinere und größere Pianisten – und jeder Opernsänger<br />

hatte übrigens mehr oder weniger erfolgreichen Klavierunterricht<br />

– habe ich einen musikalischen Tipp, den man,<br />

wenn man denn will, zu einer Familienangelegenheit machen<br />

kann: die Klavierbücher von Anne Terzibaschitsch.<br />

Anne war meine Nachbarin in Karlsruhe, als ich dort am Badischen<br />

Staatstheater gesungen habe, und ihre leichten bis<br />

mittelschweren Werke kann man wunderbar zu viert, zu dritt,<br />

zu zweit oder ganz allein spielen. Es sind originale oder<br />

arrangierte Stücke, die meiner Familie, meinen Freunden<br />

und mir oft ein Lächeln auf die Lippen zauberten.<br />

Nur ein Hinweis noch: Im größeren Familienkreis<br />

empfehle ich zusätzlich zur Seelennahrung ein schönes<br />

Essen – denn das hilft der gemeinsamen Widmung intimer<br />

Kammermusik ungemein!<br />

Klavierbücher von Anne Terzibaschitsch, Holzschuh-Verlag, à ca. 12,00 €<br />

Illustration Gian Gisiger, Bureau Mirko Borsche


Sonderausgabe zu den Münchner Opernfestspielen<br />

Max Joseph<br />

Grace DeVito, Cupcake, 2009<br />

… UND JETZT ALLE!<br />

Premiere Il trovatore – Paolo Carignani<br />

Trovère unserer Zeit – Juliette Gréco<br />

Premiere Written on Skin – Kent Nagano<br />

Vorschau<br />

Die Festspielausgabe von Max Joseph 2012-2013 erscheint am 21.06.2013.


ORION<br />

Neu ab Mai: Orion 38 grau. Grau wie der Himmel über Glashütte, grau wie die Finanzbuchhaltung?<br />

Von wegen: Grau ist „leicht erregbar zu herrlichen Tönen“, sagte einst der Maler<br />

Johannes Itten. Grau ist glaubwürdig, die Farbe des Wissens. Ist eleganter als Weiß, lichter<br />

als Schwarz. Und jetzt die Farbe einer neuen großen Uhr aus der Glashütter Manufaktur.<br />

Orion-Modelle gibt es ab 1280 Euro etwa bei: Aschaffenburg: Vogl; Augsburg: Bauer & Bauer, Hörl; Bamberg: Triebel; Bayreuth: Böhnlein; Erlangen: Winnebeck;<br />

Garmisch-Partenkirchen: Stöckerl; Hof: Hohenberger; Ingolstadt: Dührkoop; Landshut: Füssl; München: Bauer, Bucherer, Fridrich, Hieber, Kiefer, Niessing; Nürnberg:<br />

Bucherer; Regensburg: Kappelmeier; Ulm: Kerner, Roth, Scheuble; Würzburg: Scheuble. Überall bei Wempe. www.nomos-store.com und www.nomos-glashuette.com

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