Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung
Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung
Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Betrachtungen Zu seinem 70. Geburtstag schreibt Wilhelm Genazino ein Buch über Frankfurt<br />
Chronist desdeutschen Alltags<br />
Wilhelm Genazino: Tarzan am Main.<br />
Spaziergänge in der Mitte Deutschlands.<br />
Hanser,München 2013. 139 Seiten,<br />
Fr.23.90.<br />
VonSandraLeis<br />
«Als die Post noch Deutsche Bundespost<br />
hiess und keine Gewinne machen<br />
musste», schreibt Wilhelm Genazino in<br />
seinem neuen Buch, «gab es in den<br />
Stadtteilen schöne, grosse und – im<br />
Winter –auch geheizte Schalterhallen.»<br />
Bis zu ihrer Privatisierung hatte die Post<br />
eine «Tendenz zur Gemeinnützigkeit»:<br />
Mütter machten ihre Säuglinge frisch,<br />
Rentnerinnen verzehrten ihre mitgebrachten<br />
Brote und alte Herren kontrollierten<br />
ihre Brieftaschen. Heute sind die<br />
grossen Posthallen weitgehend verschwunden<br />
–die Post ist zur Untermiete.Man<br />
könne nicht sagen, dassdie Post<br />
ihre Aufgaben vernachlässige, so Genazino,<br />
esgehe alles seinen Gang wie früher.<br />
«Nur: Beeindruckt ist von dieser<br />
Post niemand mehr.»<br />
Wilhelm Genazino nimmt in seinen<br />
Romanen und Essays wie früher auch in<br />
seinen Hörspielen und Sketches das Unscheinbare<br />
und Alltägliche in den Blick;<br />
er fahndet nicht nach dem Spektakulären,<br />
sondern nach dem Zeittypischen.<br />
Den literarischen Durchbruch schaffte<br />
er mit seiner Romantrilogie «Abschaffel»<br />
(1977), «Die Vernichtung der Sorgen»<br />
(1978) und «Falsche Jahre» (1979)<br />
über das Leben des Büroangestellten<br />
Abschaffel: Diesem wird sein Beruf<br />
fremd, und in der sogenannten Freizeit<br />
weiss erjelänger, desto weniger etwas<br />
mit sich anzufangen. Allmählich kommt<br />
er sich abhanden, und Genazino beschreibt<br />
diese Entwicklung nüchtern<br />
und genau.<br />
Seit vielen Jahren lebt der Autor in<br />
Frankfurt am Main, wo er einst als Redaktor<br />
der Satirezeitschrift «Pardon»<br />
anheuerte. In der Stadt, die sich zum<br />
einen in ihrer «hausbackenen Eppelwoi-<br />
Seligkeit» gefällt und zum anderen als<br />
«Mainhattan» gelten will, ist Wilhelm<br />
Genazino daheim. Und so macht er<br />
Frankfurt regelmässig zum Schauplatz<br />
seiner Bücher.<br />
Auch in «Tarzan am Main», seinem<br />
jüngsten Band, der zum 70. Geburtstag<br />
des Autors erschienen ist. In seinen Betrachtungen<br />
schreibt Genazino detailliert<br />
und trotzdem immer kurz und bündig<br />
über Supermärkte und Kleinmarkthallen,<br />
über den Bahnhof und die U-<br />
Bahn, über Pendler und Ausländer, Verwahrloste<br />
und Bettler und über Trinker,<br />
die diskret ihre leeren Flaschen entsorgen<br />
und den Nachschub verschämt im<br />
Rucksack verstauen. Er schreibt über<br />
den «Verdruss der Enge» und über die<br />
oft lieblose Architektur seiner Stadt, die<br />
nach dem Krieg möglichst schnell wieder<br />
aufgebaut werden musste.<br />
In seinen Prosaminiaturen zu Frankfurt<br />
versammelt Genazino kleine Beobachtungen,<br />
Gedanken und Erinnerungen.<br />
In kurzen, präzisen Betrachtungen<br />
reflektiert er Gegenwart und Vergangenheit<br />
und ist, was erimmer ist: ein<br />
Chronist des deutschen Alltags. Nicht<br />
mehr, aber auch nicht weniger. Aufgemotzt<br />
und irreführend wirken deshalb<br />
Sätze aus der Werbeabteilung des Hanser-Verlags,<br />
gemäss denen das gewöhnliche<br />
Deutschland «exotischer» sei «als<br />
die Ferne, die inzwischen jeder kennt».<br />
«Tarzan am Main» ist nicht nur ein<br />
Buch über Frankfurt, es ist genauso ein<br />
Buch über Genazino selbst –über seine<br />
kleinbürgerliche Herkunft, über seine<br />
Angst vor dem nächsten Buch und über<br />
die Frage, ob ein sinnvoll abgeschlossenes<br />
Ende eines Schriftstellerlebens<br />
überhaupt möglich ist. In einem Kapitel<br />
beschreibt er, wie ihn zwei Herren vom<br />
Malerei Von der Unmöglichkeit, sich ein Bild zu machen<br />
DieSonne scheintzwischenkahlen Bäumen hindurch.<br />
Zwei Pferde warten darauf,dass die Männer<br />
ihnen den Befehl geben, einen Stamm <strong>weg</strong>zuziehen.<br />
Eine winterliche Szene aus einer anderen Zeit. Uwe<br />
Wittwer, der 1954 in Zürich geborene Künstler,hat<br />
nach einer Fotografie gemalt. Er sammelt historische<br />
Aufnahmen. Viele vonihnen findet er im Internet. Ein<br />
Konvolut wurde in Ostpreussen zurZeit des Zweiten<br />
Weltkriegsgemacht. Die Familie seines Vaters<br />
stammt aus der Gegend zwischen Berlin und dem<br />
alten Königsberg. Die biografische Assoziation istfür<br />
Wittwerallerdingsnicht entscheidend. Er schätzt<br />
Deutschen Literaturarchiv besuchen,<br />
um seinen Vorlass zu inspizieren. In<br />
mehr als dreissig Ordnern hat Genazino<br />
Entwürfe, Vorstufen und Kapitelskizzen<br />
zu kommenden Romanen aufbewahrt.<br />
Er schreibt: «Die Aufzeichnungen sind<br />
oft nur deshalb entstanden, weil ich<br />
meiner inneren Mutlosigkeit irgendetwas<br />
entgegenhalten musste. Ohne diese<br />
Vor-Notizen wären die ‹eigentlichen›<br />
Werke nie entstanden.»<br />
Das wäre furchtbar für einen, der bereits<br />
mit 14 wusste,dass erSchriftsteller<br />
werden wollte und sonst nichts. Sein<br />
Glück steckt in der Arbeit. Genauer: Der<br />
Augenblick des Glücks ist der «Augenblick<br />
der Verwandlung» –ineinen, der<br />
bald schreiben wird. l<br />
historische Vorlagen –gerne dürfen es auch Gemälde<br />
berühmter Vorgänger sein –, weil er mit ihnen<br />
leichter austesten kann, wie ein Bild funktioniert. Wie<br />
es sich verändert, wenn man Lichtpunkteund<br />
Schatten setzt. Und vorallem wie ein Bild verblasst,<br />
so dass es eher dem Versinken als dem Wecken einer<br />
Erinnerung gleicht. Denn Wittwerist der Maler des<br />
zerbrechlichen Gedächtnisses. Er führtuns die<br />
Notwendigkeit und die Unmöglichkeit vor, sich ein<br />
Bild zu machen. GerhardMack<br />
JuergJudin u.a. (Hrsg.): UweWittwer –Paintings.<br />
Hatje Cantz, Ostfildern 2012. 208Seiten, Fr.69.90.<br />
24.Februar 2013 ❘NZZamSonntag ❘ 9