Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung

Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung

18.01.2014 Aufrufe

Belletristik Roman Andrej Bitow treibt mit seinen Lesern ein raffiniertes Spiel. Beim Lesen schwankt man zwischen Frustration und Vergnügen Nichtschreiben darf manalles Andrej Bitow:Der Symmetrielehrer. Ein Echoroman. Ausdem Russischen vonRosemarie Tietze. Suhrkamp,Berlin 2012. 333 Seiten, Fr.36.90. VonSieglinde Geisel Washeisst lesen, was heisst verstehen? Beim Versuch der Lektüre von Andrej Bitows Roman «Der Symmetrielehrer» kann man an solchen Fragen verzweifeln. Der Autor gibt sich als Übersetzer eines verschollenen Romans mit dem Titel «The Symmetry Teacher» aus. Bereits «in vorschriftstellerischen Jugendjahren», so Bitow in der Vorbemerkung, habe er diesen Text «aus dem Ausländischen» ins Russische übersetzt, wobei er längst nicht alles verstanden habe; die Übersetzung sei verloren gegangen, doch Jahre später habe sich dieses vergessene Buch wieder seiner Phantasie bemächtigt, so dass eraufgeschrieben habe, anwas er sich erinnerte. «Zurückverfolgen lässt sich nun kaum mehr etwas», so das Fazit dieser (traditionsreichen) literarischen Verdunkelungsstrategie. In «Anm. d. Ü.» wendet sich der Übersetzer-Autor gerne direkt an den Leser, bisweilen tut das auch die Übersetzerin aus dem Russischen, Rosemarie Tietze. Unmöglich zu sagen, worum es in diesem Buch geht. In seinem «Vorwort des Übersetzers» gibt uns Bitow Einblick in eine ausgetüftelte Konstruktion aus Symmetrien, Zeitebenen und Paradoxien, samt entsprechenden Tabellen. Und in der Tat: Spiegeleffekte finden sich sowohl auf der Ebene der Figuren wie der einzelnen Sätze. So erweist sich etwa der Ich-Erzähler Urbino Vanoski («ein englischer Dichter von gemischt polnisch-holländisch-japanischer Herkunft») als Autor und Romanfigur zugleich. Man stösst auf symmetrisch formulierte Meta-Sentenzen wie: «Verstehen Sie, Leben ist Text. (…) Aber auch Text ist Leben!», oder: «Was zuerst da war, weiss ich nicht. Ob die Romanidee die Ereignisse modellierte oder die Ereignisse die Romanidee vorantrieben.» Dickicht von Bezügen Eine literarische Anspielung jagt die andere indiesem «Echoroman». So verdankt etwa der «Tristram-Club» dem «Tristram Shandy» vonLaurenceSterne seinen Namen, diesem Urroman der ausschweifenden Abschweifung; das abgründig ironische Kapitel «Die posthumen Papiere des Tristram-Clubs» (oder «The Inevitability of the Unwritten») handelt von scheiternden Schriftstellern und somit nicht vom Schreiben, sondern vom Nichtschreiben: «Nichtschreiben darf man alles, was man möchte. Schreiben darfman nur,was gelingt», so zwei der Regeln der Satzungen dieses Clubs, der sich schliesslich in 8 ❘ NZZamSonntag ❘ 24.Februar 2013 Der russische AutorAndrej Bitow,75, hier im Juli 2009 am Internationalen Literaturfestival in Leukerbad. «Verein zum Schutz literarischer Helden vor ihren Autoren» umbenennt. Es brauche Leser, «die sich unerschrocken ins akustische Spiegelkabinett» dieses Romans hineinwagen, heisst es im Verlagstext. Denn so brillant, ironisch und vielstimmig die einzelnen Novellen, Dialogszenen und Miniatur-Essays mitunter sind –über weiteStrecken hinweg müht sich der «unerschrockene Leser» (Kommentar des Verlags) vergeblich, aus dem Dickicht der Bezüge klug zu werden. Denn natürlich ist die vermeintlich raffinierte Konstruktion nur ein Spiel, und zwar eins auf Kosten des Lesers, dessen Entzifferungs- und BEATSCHWEIZER Decodierungsbemühungen vom Autor- Übersetzer ignoriert, wenn nicht sabotiert werden. Lauterlose Enden, die sich nicht zu einem Ganzen fügen lassen. Wasmachen wir, zum Beispiel, mit der Insel-Episode? Vanoski strandet auf einer Insel, die sich, wie es in Mythen vorkommen kann, als Rücken eines Wals entpuppt –wenn dieser auch in den vergangenen fünfzig Jahren kein einziges Mal abgetaucht sei; ausserdem ist von Tsunamis die Rede. Zwei weibliche Wesen hausen auf dieser einsamen Insel, Lili und Marleen, sie entpuppen sich als Zwillingsschwestern, und in beide verliebt sich Vanoski, obwohl eine von ihnen ein Hund ist, normalerweise angekettetimKeller.Dann wieder heisst es, die beiden seien ein einziges Wesen, doch keineswegs eines namens Lili Marleen, denn: «Das ist ein Lied, kein Mensch», so die empörte Lili. Der gebildete Leser mag an Odysseus auf Ogygia bei der Nymphe Kalypso denken, doch was bringt’s? Liegt es in der Verantwortung des Lesers, Sinn zu finden, oder in der Verantwortung des Autors,Sinn zu stiften? Haben wir es mit blossem l’art pour l’art zu tun, oder gibt es Nachrichten zu entschlüsseln, über das Leben und die Liebe,ander Vanoski auf so viele Arten scheitert? Brillante Formulierungen Beides dürfte der Fall sein, und deshalb ist die Lektüreein Wechselbad zwischen Frustration und luzidem Vergnügen. Vanoski verzweifelt angesichts der «schwindelerregend unverständlichen» auf Englisch radegebrechten Erzählungeneines Russen, der Anton heisst –wie Tschechow, natürlich! –und der bei der Südpol-Expedition von Robert Scott die Ponysbetreuthaben soll. Vergnügen bereiten anderseits Sätze wie: «The more we live –/The more weleave. /The morewechoose –/The moreweloose.» Manches gelingt phänomenal, und manches entgleitet dem Autor, denn waswir in den Händen halten, ist ein work in progress. Seit den frühen siebziger Jahren, so erfährt man in der editorischen Notiz, habe Andrej Bitow an dem Text gearbeitet –imGrunde schreibe er sein ganzes Leben an einem einzigen Roman. Zu den Sujets dieses Lebensromans, der zugleich alle Sujets verfolgt und keines, gehört das Verhältnis von Leben und Schreiben. «Sie wüssten gern, wie alles in Wirklichkeit war?», fragt Urbino Vanoski den Reporter am Ende seines Lebens und am Anfang des Buchs. «Ich erinnere mich aber nicht, was ich geschrieben habe und was gelebt.» Wenn wir das Leben deuten, sind wir gleichzeitig Autorund Figur. Wirerkennen Sinn, wo keiner ist, und oft sind wir blind für Zusammenhänge, die in unseremLeben wirksam sind. Doch will man Bücher lesen wie das Leben? l

Betrachtungen Zu seinem 70. Geburtstag schreibt Wilhelm Genazino ein Buch über Frankfurt Chronist desdeutschen Alltags Wilhelm Genazino: Tarzan am Main. Spaziergänge in der Mitte Deutschlands. Hanser,München 2013. 139 Seiten, Fr.23.90. VonSandraLeis «Als die Post noch Deutsche Bundespost hiess und keine Gewinne machen musste», schreibt Wilhelm Genazino in seinem neuen Buch, «gab es in den Stadtteilen schöne, grosse und – im Winter –auch geheizte Schalterhallen.» Bis zu ihrer Privatisierung hatte die Post eine «Tendenz zur Gemeinnützigkeit»: Mütter machten ihre Säuglinge frisch, Rentnerinnen verzehrten ihre mitgebrachten Brote und alte Herren kontrollierten ihre Brieftaschen. Heute sind die grossen Posthallen weitgehend verschwunden –die Post ist zur Untermiete.Man könne nicht sagen, dassdie Post ihre Aufgaben vernachlässige, so Genazino, esgehe alles seinen Gang wie früher. «Nur: Beeindruckt ist von dieser Post niemand mehr.» Wilhelm Genazino nimmt in seinen Romanen und Essays wie früher auch in seinen Hörspielen und Sketches das Unscheinbare und Alltägliche in den Blick; er fahndet nicht nach dem Spektakulären, sondern nach dem Zeittypischen. Den literarischen Durchbruch schaffte er mit seiner Romantrilogie «Abschaffel» (1977), «Die Vernichtung der Sorgen» (1978) und «Falsche Jahre» (1979) über das Leben des Büroangestellten Abschaffel: Diesem wird sein Beruf fremd, und in der sogenannten Freizeit weiss erjelänger, desto weniger etwas mit sich anzufangen. Allmählich kommt er sich abhanden, und Genazino beschreibt diese Entwicklung nüchtern und genau. Seit vielen Jahren lebt der Autor in Frankfurt am Main, wo er einst als Redaktor der Satirezeitschrift «Pardon» anheuerte. In der Stadt, die sich zum einen in ihrer «hausbackenen Eppelwoi- Seligkeit» gefällt und zum anderen als «Mainhattan» gelten will, ist Wilhelm Genazino daheim. Und so macht er Frankfurt regelmässig zum Schauplatz seiner Bücher. Auch in «Tarzan am Main», seinem jüngsten Band, der zum 70. Geburtstag des Autors erschienen ist. In seinen Betrachtungen schreibt Genazino detailliert und trotzdem immer kurz und bündig über Supermärkte und Kleinmarkthallen, über den Bahnhof und die U- Bahn, über Pendler und Ausländer, Verwahrloste und Bettler und über Trinker, die diskret ihre leeren Flaschen entsorgen und den Nachschub verschämt im Rucksack verstauen. Er schreibt über den «Verdruss der Enge» und über die oft lieblose Architektur seiner Stadt, die nach dem Krieg möglichst schnell wieder aufgebaut werden musste. In seinen Prosaminiaturen zu Frankfurt versammelt Genazino kleine Beobachtungen, Gedanken und Erinnerungen. In kurzen, präzisen Betrachtungen reflektiert er Gegenwart und Vergangenheit und ist, was erimmer ist: ein Chronist des deutschen Alltags. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Aufgemotzt und irreführend wirken deshalb Sätze aus der Werbeabteilung des Hanser-Verlags, gemäss denen das gewöhnliche Deutschland «exotischer» sei «als die Ferne, die inzwischen jeder kennt». «Tarzan am Main» ist nicht nur ein Buch über Frankfurt, es ist genauso ein Buch über Genazino selbst –über seine kleinbürgerliche Herkunft, über seine Angst vor dem nächsten Buch und über die Frage, ob ein sinnvoll abgeschlossenes Ende eines Schriftstellerlebens überhaupt möglich ist. In einem Kapitel beschreibt er, wie ihn zwei Herren vom Malerei Von der Unmöglichkeit, sich ein Bild zu machen DieSonne scheintzwischenkahlen Bäumen hindurch. Zwei Pferde warten darauf,dass die Männer ihnen den Befehl geben, einen Stamm wegzuziehen. Eine winterliche Szene aus einer anderen Zeit. Uwe Wittwer, der 1954 in Zürich geborene Künstler,hat nach einer Fotografie gemalt. Er sammelt historische Aufnahmen. Viele vonihnen findet er im Internet. Ein Konvolut wurde in Ostpreussen zurZeit des Zweiten Weltkriegsgemacht. Die Familie seines Vaters stammt aus der Gegend zwischen Berlin und dem alten Königsberg. Die biografische Assoziation istfür Wittwerallerdingsnicht entscheidend. Er schätzt Deutschen Literaturarchiv besuchen, um seinen Vorlass zu inspizieren. In mehr als dreissig Ordnern hat Genazino Entwürfe, Vorstufen und Kapitelskizzen zu kommenden Romanen aufbewahrt. Er schreibt: «Die Aufzeichnungen sind oft nur deshalb entstanden, weil ich meiner inneren Mutlosigkeit irgendetwas entgegenhalten musste. Ohne diese Vor-Notizen wären die ‹eigentlichen› Werke nie entstanden.» Das wäre furchtbar für einen, der bereits mit 14 wusste,dass erSchriftsteller werden wollte und sonst nichts. Sein Glück steckt in der Arbeit. Genauer: Der Augenblick des Glücks ist der «Augenblick der Verwandlung» –ineinen, der bald schreiben wird. l historische Vorlagen –gerne dürfen es auch Gemälde berühmter Vorgänger sein –, weil er mit ihnen leichter austesten kann, wie ein Bild funktioniert. Wie es sich verändert, wenn man Lichtpunkteund Schatten setzt. Und vorallem wie ein Bild verblasst, so dass es eher dem Versinken als dem Wecken einer Erinnerung gleicht. Denn Wittwerist der Maler des zerbrechlichen Gedächtnisses. Er führtuns die Notwendigkeit und die Unmöglichkeit vor, sich ein Bild zu machen. GerhardMack JuergJudin u.a. (Hrsg.): UweWittwer –Paintings. Hatje Cantz, Ostfildern 2012. 208Seiten, Fr.69.90. 24.Februar 2013 ❘NZZamSonntag ❘ 9

Belletristik<br />

Roman Andrej Bitow treibt mit seinen Lesern ein raffiniertes Spiel. Beim Lesen schwankt man<br />

zwischen Frustration und Vergnügen<br />

Nichtschreiben darf manalles<br />

Andrej Bitow:Der Symmetrielehrer.<br />

Ein Echoroman. Ausdem Russischen<br />

vonRosemarie Tietze. Suhrkamp,Berlin<br />

2012. 333 Seiten, Fr.36.90.<br />

VonSieglinde Geisel<br />

Washeisst lesen, was heisst verstehen?<br />

Beim Versuch der Lektüre von Andrej<br />

Bitows Roman «Der Symmetrielehrer»<br />

kann man an solchen Fragen verzweifeln.<br />

Der Autor gibt sich als Übersetzer<br />

eines verschollenen Romans mit dem<br />

Titel «The Symmetry Teacher» aus. Bereits<br />

«in vorschriftstellerischen Jugendjahren»,<br />

so Bitow in der Vorbemerkung,<br />

habe er diesen Text «aus dem Ausländischen»<br />

ins Russische übersetzt, wobei<br />

er längst nicht alles verstanden habe; die<br />

Übersetzung sei verloren gegangen,<br />

doch Jahre später habe sich dieses vergessene<br />

Buch wieder seiner Phantasie<br />

bemächtigt, so dass eraufgeschrieben<br />

habe, anwas er sich erinnerte. «Zurückverfolgen<br />

lässt sich nun kaum mehr<br />

etwas», so das Fazit dieser (traditionsreichen)<br />

literarischen Verdunkelungsstrategie.<br />

In «Anm. d. Ü.» wendet sich<br />

der Übersetzer-Autor gerne direkt an<br />

den Leser, bisweilen tut das auch die<br />

Übersetzerin aus dem Russischen, Rosemarie<br />

Tietze.<br />

Unmöglich zu sagen, worum es in<br />

diesem Buch geht. In seinem «Vorwort<br />

des Übersetzers» gibt uns Bitow Einblick<br />

in eine ausgetüftelte Konstruktion<br />

aus Symmetrien, Zeitebenen und Paradoxien,<br />

samt entsprechenden Tabellen.<br />

Und in der Tat: Spiegeleffekte finden<br />

sich sowohl auf der Ebene der Figuren<br />

wie der einzelnen Sätze. So erweist sich<br />

etwa der Ich-Erzähler Urbino Vanoski<br />

(«ein englischer Dichter von gemischt<br />

polnisch-holländisch-japanischer Herkunft»)<br />

als Autor und Romanfigur zugleich.<br />

Man stösst auf symmetrisch formulierte<br />

Meta-Sentenzen wie: «Verstehen<br />

Sie, Leben ist Text. (…) Aber auch<br />

Text ist Leben!», oder: «Was zuerst da<br />

war, weiss ich nicht. Ob die Romanidee<br />

die Ereignisse modellierte oder die Ereignisse<br />

die Romanidee vorantrieben.»<br />

Dickicht von Bezügen<br />

Eine literarische Anspielung jagt die andere<br />

indiesem «Echoroman». So verdankt<br />

etwa der «Tristram-Club» dem<br />

«Tristram Shandy» vonLaurenceSterne<br />

seinen Namen, diesem Urroman der<br />

ausschweifenden Abschweifung; das abgründig<br />

ironische Kapitel «Die posthumen<br />

Papiere des Tristram-Clubs» (oder<br />

«The Inevitability of the Unwritten»)<br />

handelt von scheiternden Schriftstellern<br />

und somit nicht vom Schreiben,<br />

sondern vom Nichtschreiben: «Nichtschreiben<br />

darf man alles, was man<br />

möchte. Schreiben darfman nur,was gelingt»,<br />

so zwei der Regeln der Satzungen<br />

dieses Clubs, der sich schliesslich in<br />

8 ❘ NZZamSonntag ❘ 24.Februar 2013<br />

Der russische AutorAndrej Bitow,75, hier im Juli 2009 am<br />

Internationalen Literaturfestival in Leukerbad.<br />

«Verein zum Schutz literarischer Helden<br />

vor ihren Autoren» umbenennt.<br />

Es brauche Leser, «die sich unerschrocken<br />

ins akustische Spiegelkabinett»<br />

dieses Romans hineinwagen, heisst es<br />

im Verlagstext. Denn so brillant, ironisch<br />

und vielstimmig die einzelnen Novellen,<br />

Dialogszenen und Miniatur-Essays<br />

mitunter sind –über weiteStrecken<br />

hin<strong>weg</strong> müht sich der «unerschrockene<br />

Leser» (Kommentar des Verlags) vergeblich,<br />

aus dem Dickicht der Bezüge<br />

klug zu werden. Denn natürlich ist die<br />

vermeintlich raffinierte Konstruktion<br />

nur ein Spiel, und zwar eins auf Kosten<br />

des Lesers, dessen Entzifferungs- und<br />

BEATSCHWEIZER<br />

Decodierungsbemühungen vom Autor-<br />

Übersetzer ignoriert, wenn nicht sabotiert<br />

werden. Lauterlose Enden, die sich<br />

nicht zu einem Ganzen fügen lassen.<br />

Wasmachen wir, zum Beispiel, mit<br />

der Insel-Episode? Vanoski strandet auf<br />

einer Insel, die sich, wie es in Mythen<br />

vorkommen kann, als Rücken eines<br />

Wals entpuppt –wenn dieser auch in<br />

den vergangenen fünfzig Jahren kein<br />

einziges Mal abgetaucht sei; ausserdem<br />

ist von Tsunamis die Rede. Zwei weibliche<br />

Wesen hausen auf dieser einsamen<br />

Insel, Lili und Marleen, sie entpuppen<br />

sich als Zwillingsschwestern, und in<br />

beide verliebt sich Vanoski, obwohl eine<br />

von ihnen ein Hund ist, normalerweise<br />

angekettetimKeller.Dann wieder heisst<br />

es, die beiden seien ein einziges Wesen,<br />

doch keines<strong>weg</strong>s eines namens Lili Marleen,<br />

denn: «Das ist ein Lied, kein<br />

Mensch», so die empörte Lili.<br />

Der gebildete Leser mag an Odysseus<br />

auf Ogygia bei der Nymphe Kalypso<br />

denken, doch was bringt’s? Liegt es in<br />

der Verantwortung des Lesers, Sinn zu<br />

finden, oder in der Verantwortung des<br />

Autors,Sinn zu stiften? Haben wir es mit<br />

blossem l’art pour l’art zu tun, oder gibt<br />

es Nachrichten zu entschlüsseln, über<br />

das Leben und die Liebe,ander Vanoski<br />

auf so viele Arten scheitert?<br />

Brillante Formulierungen<br />

Beides dürfte der Fall sein, und deshalb<br />

ist die Lektüreein Wechselbad zwischen<br />

Frustration und luzidem Vergnügen.<br />

Vanoski verzweifelt angesichts der<br />

«schwindelerregend unverständlichen»<br />

auf Englisch radegebrechten Erzählungeneines<br />

Russen, der Anton heisst –wie<br />

Tschechow, natürlich! –und der bei der<br />

Südpol-Expedition von Robert Scott die<br />

Ponysbetreuthaben soll. Vergnügen bereiten<br />

anderseits Sätze wie: «The more<br />

we live –/The more weleave. /The<br />

morewechoose –/The moreweloose.»<br />

Manches gelingt phänomenal, und manches<br />

entgleitet dem Autor, denn waswir<br />

in den Händen halten, ist ein work in<br />

progress.<br />

Seit den frühen siebziger Jahren, so<br />

erfährt man in der editorischen Notiz,<br />

habe Andrej Bitow an dem Text gearbeitet<br />

–imGrunde schreibe er sein ganzes<br />

Leben an einem einzigen Roman. Zu den<br />

Sujets dieses Lebensromans, der zugleich<br />

alle Sujets verfolgt und keines,<br />

gehört das Verhältnis von Leben und<br />

Schreiben. «Sie wüssten gern, wie alles<br />

in Wirklichkeit war?», fragt Urbino Vanoski<br />

den Reporter am Ende seines Lebens<br />

und am Anfang des Buchs. «Ich<br />

erinnere mich aber nicht, was ich geschrieben<br />

habe und was gelebt.»<br />

Wenn wir das Leben deuten, sind wir<br />

gleichzeitig Autorund Figur. Wirerkennen<br />

Sinn, wo keiner ist, und oft sind wir<br />

blind für Zusammenhänge, die in unseremLeben<br />

wirksam sind. Doch will man<br />

Bücher lesen wie das Leben? l

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!