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Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung

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Roman Im mehrfach ausgezeichneten Debüt vonAmy Waldman geht es um den Umgang mit 9/11<br />

Wenn eigene Positionen<br />

insWankengeraten<br />

AmyWaldman: Der amerikanische<br />

Architekt. Ausdem Amerikanischen von<br />

Brigitte Walitzek. Schöffling &Co.,<br />

Frankfurt 2013. 512Seiten, Fr.35.50.<br />

VonSimone vonBüren<br />

2003 wurden beim internationalen<br />

Wettbewerb für die 9/11-Gedenkstätte in<br />

Manhattan 5000 Entwürfe aus 63 Ländern<br />

eingereicht. Ausgewählt wurde<br />

«Reflecting Absence» des in Israel geborenen<br />

Architekten Michael Arad und<br />

des amerikanischen Landschaftsarchitekten<br />

Peter Walker: eine riesige baumbepflanzte<br />

Fläche mit zwei Wasserbecken<br />

an der Stelle der zusammengestürzten<br />

Twin Towers.<br />

Bäume und Wasser dominieren auch<br />

den Entwurf, für den sich die Jury in<br />

AmyWaldmans Debütroman «Der amerikanische<br />

Architekt» entscheidet, der<br />

den Wettbewerb für die Gedenkstätte<br />

als Ausgangspunkt nimmt. «Der Garten»<br />

ist ein geometrischer Raum mit<br />

Wasserkanälen sowie echten und aus<br />

den Stahlüberresten der Türme geformten<br />

Bäumen. Für alles <strong>Weiter</strong>e weicht<br />

Waldman von der jüngsten amerikanischen<br />

Geschichte ab. Denn in ihrem<br />

vielfach ausgezeichneten Roman gerät<br />

der demokratisch gefällte Juryentscheid<br />

ins Wanken, als die Identität des Architekten<br />

bekannt wird: Mohammad Khan,<br />

kurz Mo genannt, Sohn indischer Eltern,<br />

in den USA aufgewachsen, ein attraktiver<br />

Enddreissiger, «ein aufsteigender<br />

Stern am Architektenhimmel» – und<br />

Muslim, wenn auch kein gläubiger. Der<br />

Versuch, den Entwurf unter anderem<br />

Namen zu veröffentlichen, scheitert, als<br />

die brisante Information versehentlich<br />

an die Presse gelangt.<br />

Darf ein Muslim den<br />

Ground Zero (im<br />

Bild) gestalten?Um<br />

diese Fragekreistdas<br />

Buch der «NewYork<br />

Times»-Journalistin<br />

AmyWaldman.<br />

Ambitiöse Reporterin<br />

Sofort instrumentalisieren verschiedene<br />

Gruppen und Individuen die Situation<br />

für ihreeigenen Anliegen: Die Gouverneurin<br />

nutzt die Popularität islamfeindlicher<br />

Argumente für ihren Wahlkampf.<br />

Die ambitiöse Reporterin kennt<br />

keine Skrupel in ihrer Jagd auf eine explosive<br />

Exklusivstory.Die Angehörigen-<br />

Vertreterin in der Jury, die für den Gartengekämpft<br />

hatte,gerät unter Beschuss<br />

von Angehörigen, die in einer unguten<br />

Koalition mit der extremistischen Organisation<br />

«Save America from Islam»<br />

gegeneine voneinem Muslim entworfene<br />

Gedenkstätte kämpfen.<br />

Die einen finden, «der Mohammedaner»<br />

sei per definitionem ungeeignet.<br />

Die anderen projizieren ihre Bedenken<br />

gegenüber der Person auf den Entwurf,<br />

indem sie den Garten –vom Historiker<br />

in der Jury als «Fetisch der europäischen<br />

Aristokratie» bezeichnet –als islamische<br />

Tradition und «Märtyrerparadies»<br />

auslegen, mit dem man islamistischen<br />

Extremisten signalisieren würde,<br />

sie hätten gewonnen.<br />

Politische und persönliche Be<strong>weg</strong>gründe<br />

vermischen sich, Haltungen verfestigen<br />

sich, Prinzipien geraten ins<br />

Wanken, Anwältekommen ins Spiel. Die<br />

Situation eskaliert: Es gibt abgerissene<br />

Kopftücher, Drohungen, Demonstrationen,<br />

eine öffentliche Anhörung, einen<br />

Mord. Wie ein «Kind in einem Sorgerechtsstreit<br />

oder wie die Falkland-Inseln»<br />

kann es Mo nicht allen recht machen.<br />

Man wirft ihm vor, den Wettbewerb<br />

als Karriereschritt zunutzen, und<br />

unterstellt ihm «einen verdeckten Versuch<br />

der Islamisierung». Man beschuldigt<br />

ihn, Amerikazuspalten, und erwartet,<br />

dass erfür dessen Prinzip einsteht,<br />

dass«allein die Leistung zählt und nicht<br />

Namen, Religion oder Herkunft». Irritiert<br />

erkennt er, dass sein Bemühen,<br />

nicht wie ein Verbrecher zu wirken,<br />

dazu führt, «dass ersich wie einer verhielt,<br />

sich wie einer fühlte». Er weigert<br />

sich in der Folge, seinen Entwurf zu erklären,<br />

lässt sich einen Bart wachsen,<br />

rasiert sich wieder und fastet zum erstenMal<br />

in seinem Leben, ohne genau zu<br />

wissen, wieso.<br />

Amy Waldman hat als Reporterin der<br />

«New York Times» über 9/11 und dessen<br />

Folgen berichtet. Sie kennt ihr Material<br />

ausgezeichnet und legt das breite Spektrum<br />

der Argumente und Dilemmata in<br />

intellektueller Schärfe offen. Siespiegelt<br />

die kollektive Verunsicherung anhand<br />

individueller Schicksale und bleibt<br />

dabei nahe an der Realität –abgesehen<br />

von der amüsanten Karikierung von Reportern<br />

der Klatschpresse und rechtspolitischen<br />

Aktivisten. IhreFiguren entfalten<br />

sich weniger in der Beschreibung<br />

von Befindlichkeiten und narrativen<br />

Konstrukten –esgibt einige unglaubwürdige<br />

Affären –als in den lebendigen<br />

Dialogen, die die unterschiedlichen Haltungen<br />

in schnörkelloser Sprache auf<br />

den Punkt bringen.<br />

Wer sich wem unterwirft<br />

Geschickt nutzt die 43-jährige Autorin<br />

eine konkrete fiktive Situation, um Konflikte<br />

und Themen freizulegen, die unsere<br />

Gesellschaft verunsichern und die<br />

dem Leser vertraut sind. Der Roman<br />

wirft komplexe Fragen auf über das<br />

westliche Verhältnis zum Islam, über<br />

den Status der Muslime nach 9/11. Aber<br />

auch über kollektives und individuelles<br />

Trauern, privates und öffentliches Erinnern.<br />

Ist der Trauernde moralisch überlegen?<br />

Wie kann ein kollektiver Verlust<br />

erinnert werden? Wer hat welche Ansprüche<br />

an dieses Gedenken? Wer<br />

schlägt Nutzen daraus?<br />

Das Aufräumen der Geschichte im<br />

Epilog maskiert geschickt eine bleibende<br />

Unsicherheit. Auf Letztere weist<br />

auch der Originaltitel «The Submission»<br />

hin: «Submission» bedeutet sowohl<br />

«Eingabe» für einen Wettbewerb<br />

wie «Unterwerfung» und spielt zudem<br />

an auf die Etymologie des arabischen<br />

Wortes «Muslim» als «der sich Gottunterwirft».<br />

Wer sich wem unterwirft,<br />

bleibt als grosse Frage amEnde des Romans<br />

stehen. Und die eigene liberale<br />

Position, aus der man als Leser bestens<br />

unterhalten die Turbulenzen im Text<br />

verfolgt hat, gerät unter Umständen<br />

doch noch ein wenig ins Wanken. l<br />

GÜNTER GOLLNICK /OKAPIA<br />

24.Februar 2013 ❘NZZamSonntag ❘ 7

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