Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung
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Belletristik<br />
Roman In Verena Stössingersberührendem Buch geht es um einen Mann, dessen Biografiesich im<br />
Dunkeln der Geschichteverliert<br />
Aufdas Gedächtnis istkeinVerlass<br />
Verena Stössinger: Bäume fliehen nicht.<br />
Wallimann, Luzern 2012. 189 Seiten,<br />
Fr.29.–.<br />
VonMartin Zingg<br />
Die Reise ist überfällig, und irgendwann<br />
duldet sie keinen Aufschub mehr. Sie<br />
führt einen Mann zurück an die Orte<br />
seiner Kindheit: Jürgen Ramm hat Jahrgang<br />
1934 und ist geboren in Braunsberg,<br />
einer kleinen Stadt ander Ostsee, die<br />
heute Braniewo heisst und zu Polen gehört.<br />
Er ist aufgewachsen in Orten, die<br />
nach dem Zweiten Weltkrieg zu neuen<br />
Ländern geschlagen wurden und inzwischen<br />
auch andereNamen tragen. Er hat<br />
seine Wurzeln in einer Welt, die längst<br />
eine andere geworden ist.<br />
Die ostpreussische Gegend haterseit<br />
der Flucht nie mehr gesehen, nun will er<br />
auf einer Reise den wenigen Spuren<br />
nachgehen, denen er zu trauen wagt.<br />
Was er in frühen Jahren erlebt hat,<br />
scheint längst geronnen zu einer Handvoll<br />
zeit- und ortloser Geschichten. An<br />
seine Kindheit und frühe Jugend kann<br />
sich Ramm nämlich nur vage erinnern,<br />
was auch darum schwer wiegt, weil ihm<br />
keine Gegenstände geblieben sind, nur<br />
gerade vier Fotografien hat eraus jener<br />
Zeit, mehr nicht.<br />
JürgenRamm und seine Frau Beasind<br />
die zentralen Figuren inVerena Stössingers<br />
berührendem Roman «Bäume fliehen<br />
nicht». Bei ihrer gemeinsamen<br />
Reise zu den Städten, in denen er vor<br />
Kriegsende gelebt hat, wirdesumvieles<br />
gehen, um mehr als nur um Orte, das<br />
steht früh schon fest. Denn vieles in Jürgens<br />
Biografie hat sich im Dunkel der<br />
Geschichte verlaufen. Als er 1945 nach<br />
längerer Irrfahrt in Berlin landet, hat er<br />
Verena Stössinger,geboren 1951 in Luzern, istausgebildeteNordistin,<br />
Mitinitiantin des Literaturhauses Basel und Schriftstellerin.<br />
CLAUDE GIGER<br />
bereits seine Eltern und einen Bruder<br />
verloren. Seine Mutter hat er sogar selber<br />
bestatten müssen, aber immerhin<br />
haterbis zuletzt bei ihr bleiben können.<br />
Von seinem früh verstorbenen Vater<br />
hingegen hat er nur ein undeutliches<br />
Bild vor Augen, der Vater war ein seltener<br />
Gast in der Familie. Geblieben sind<br />
drängende Fragen, die niemand beantworten<br />
kann. Washat er gearbeitet, der<br />
Vater? Und: wo? Wieso kam ernur am<br />
Wochenende nach Hause? War er am<br />
Ende gar mitbeteiligt am Krieg? Und:<br />
Gibt es Zeugen oder Dokumente, die<br />
darüber Aufschluss geben könnten?<br />
VorOrt, unter<strong>weg</strong>s entlang der Ostsee,<br />
wollen sich die ersehnten Klärungen<br />
nur zögernd einstellen. Die beiden<br />
Reisenden sind im Mietwagen unter<strong>weg</strong>s,<br />
aber die Strassen haben inzwischen<br />
andere Namen, vieles ist zerstört<br />
worden, das Gedächtnis gibt lange Zeit<br />
wenig frei. Behutsam be<strong>weg</strong>t sich das<br />
Paar durch das fremde Land, die beiden<br />
fragen und hören und sehen sich um,<br />
offen für alles, was der vagen Erinnerung<br />
helfen könnte. Am ehesten stellen<br />
sich Glücksgefühle ein, wenn der alte<br />
Jürgen auf kulinarische Spezialitäten<br />
stösst, die der junge Jürgen besonders<br />
mochte, etwa «Glumse», bröckeligen<br />
Quark.<br />
Das Essen vermag immer wieder<br />
Kindheitsmomente abzurufen. Daneben<br />
melden sich unvermittelt Liedfetzen,<br />
plötzlich stellen sich kleine, meist randscharfe<br />
Bilder ein, aber es schiessen<br />
auch manche Fragen hoch. So vieles ist<br />
offen und muss wohl offen bleiben. Ein<br />
Glück, das die jüngereFrauinihrem einfühlsamen<br />
Pragmatismus diese Offenheit<br />
schützt.<br />
Auf das Gedächtnis ist bekanntlich<br />
kein Verlass, Präzises steht oft neben<br />
Vagem, und beides infiziert sich wechselseitig.<br />
In ihrer Erzählweise nimmt<br />
Verena Stössinger auf raffinierte Weise<br />
gerade das Unverlässliche der Erinnerung<br />
auf und macht es zu einem tragenden<br />
Moment der Handlung. Bis in deren<br />
Struktur, indie Sätze hinein bildet die<br />
Erzählerin das Instabile ab, und daraus<br />
wird eine lebendige und spannende<br />
Suchbe<strong>weg</strong>ung, die ein Stück weit auch<br />
das Gesuchte selber ist. Denn der ältere<br />
Jürgen, der die Spuren des Jüngeren<br />
sucht, stellt hinter dem eigenen Rücken<br />
auch die Frage nach einem sinnvollen<br />
Leben. Aus einer Existenz, die über ihre<br />
Anfänge nicht genügend wissen kann<br />
und darum mit der Lückenhaftigkeit der<br />
Biografie zurechtkommen muss, wird<br />
hier ein eindrücklicher Lebensroman. l<br />
Kriminalroman Die Zürcher Autorin MitraDevilässt ihrer Privatdetektivin alteFälle lösen<br />
Spannend wiedie TV-Serie «24»<br />
MitraDevi: Der Blutsfeind. Nora Tabanis<br />
fünfterFall. Appenzeller-Verlag, Herisau<br />
2012. 286 S., Fr.38.–, E-Book 17.90.<br />
VonCharlotte Jacquemart<br />
Dass Mord und Totschlag Mitra Devi<br />
faszinieren, ist bekannt. In ihrem fünften<br />
Kriminalroman mit dem Titel «Der<br />
Blutsfeind» gelingt es der Zürcher Autorin,<br />
aktuelle Tatund Vergangenheit so<br />
zu verbinden, dass ungeklärte Fragen<br />
der letzten Krimis beantwortet werden.<br />
So kommt endlich zu Tage, wer für den<br />
gewaltsamen Toddes Vaters der Protagonistin,<br />
der Privatdetektivin Nora Tabani,<br />
verantwortlich ist. Jahrezuvor war<br />
er ermordet worden –eine Tat, die Nora<br />
bis heute nicht verarbeitet hat.<br />
6 ❘ NZZamSonntag ❘ 24.Februar 2013<br />
In «Der Blutsfeind» gerät die leicht<br />
chaotisch veranlagte Privatdetektivin<br />
vermeintlich zufällig an den Tatort.<br />
Aber eben nur vermeintlich: Sie wird<br />
aus ganz bestimmten Gründen in die<br />
Zürich Credit Bank bestellt, in der sich<br />
in der Folge ein Banküberfall abspielt,<br />
der übel endet. Nora löst den Fall nicht<br />
wirklich, sondern ist Teil des makaberen<br />
Geschehens, das sich zwischen sieben<br />
Uhr morgens und sieben Uhr abends an<br />
nur einem Tage abspielt. Werdie Fernsehserie<br />
«24» kennt, weiss, wie unstimmig<br />
die Handlungen in einem solch<br />
engen Zeitkorsett wirken können. Devi<br />
jedoch gelingt der Zeitraffer hervorragend:<br />
Nie wirken Szenerie oder Aktionen<br />
bemüht. Der Banküberfall in der<br />
Mitte Zürichs, mit dramatischer Geiselnahme<br />
und sich in die Haaregeratenden<br />
Gangstern, fesselt selbst abgebrühte<br />
Krimi-Leser.<br />
Der Sinn des Buchtitels «Blutsfeind»<br />
erschliesst sich dabei den Lesern erst<br />
auf den letzten Seiten des Krimis. Die<br />
Wende, die das Buch zum Schluss<br />
nimmt, kommt zwar überraschend und<br />
mag auf den ersten Blick etwas konstruiert<br />
wirken. Devis gelungene Schreibe<br />
jedoch lässt dies in den Hintergrund treten.<br />
Auch lässt das Ende von«Der Blutsfeind»<br />
der Autorin alle Möglichkeiten<br />
offen für die Zukunft: Sie könnte sich<br />
von Nora ein für allemal verabschieden<br />
Ωoder der Privatdetektivin einen sechsten<br />
Fall bescheren. Auch wenn Mitra<br />
Devi an Lesungen in jüngster Zeit ein<br />
mögliches Ende von Nora inden Raum<br />
stellte, deutet der Epilog eher darauf<br />
hin, dass bald ein weiteres Buch folgt. l