Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung

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18.01.2014 Aufrufe

Belletristik Versepos Das neue Buch des israelischen SchriftstellersDavid Grossman ist Totenklageund Wiederaneignung des Lebens in einem EinMannsucht seinen totenSohn ATEF SAFADI /EPA David Grossman: Ausder Zeit fallen. Ausdem Hebräischen vonAnne Birkenhauer.Hanser,München 2013. 128 Seiten, Fr.23.90. VonKlaraObermüller Wenn einen ein grosses Unglück treffe, sagte David Grossman, als er vor zwei Jahren in Frankfurt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennahm, dann sei das ein Gefühl, als ob man aus dem Leben «ins Exil» vertrieben werde. David Grossman wusste, wovon er sprach. Er hatte es selber erlebt, nachdem sein Sohn Uri am12. August 2006 auf dem Rückzug aus Libanon voneiner Rakete tödlich getroffen worden war. Mit einem Schlag hatte er damals alles David Grossman 1954 in Jerusalem geboren, arbeitete David Grossman als Radiojournalist, bevorerRomane und Jugendbücher veröffentlichte. Journalistische Arbeiten wie «Der gelbe Wind» (1988) oder politische Essays wie «Diesen Krieg kann keiner gewinnen» (2003) liefen stets neben belletristischen Werken wie «Das Lächeln des Lammes» (1988), «Der Kindheitserfinder» (1994)oder «Eine Frau flieht vor einer Nachricht» (2009) einher.Erist auch ein bekannter Friedensaktivist. 4 ❘NZZamSonntag ❘ 24.Februar 2013 verloren, worauf er bislang hatte bauen können: alle Gewissheit, alles Vertrauen, ja selbst das natürliche Recht, sich im Leben zuhause zu fühlen. Aber er waraus dem Exil auch wieder zurückgekehrt: zurück an die Arbeit und zurück ins Leben. Einen Tagnach der Trauerwoche, so berichtete er, habe er sich wieder an seinen Schreibtisch gesetzt, um an dem Roman weiterzuschreiben, den er in Arbeit hatte.Und sei sich dabei vorgekommen wie einer,der nach einem Erdbeben aus den Trümmern seines Hauses kriecht, sich umschaut, hinsetzt und «beginnt, wieder Steine aufeinanderzulegen». Oder eben Wörter. Zwei Jahre nach dem Toddes Sohnes erschien in Israel der Roman «Eine Frau flieht vor einer Nachricht»: das Buch, in dem der Autor von den Ängsten einer israelischen Mutter erzählte, deren Sohn Militärdienst leistet, und in dem er auf fast schon prophetische Weise vorwegnahm, was ihm und seiner Familie zustossen sollte. Ohne es zu wollen, wurde der Jahre zuvor begonnene Roman zum Requiem für den toten Sohn und zum Versuch des Vaters, sich sein Heimatrecht im Leben zurückzuholen. Hohes Mass an Empathie Dass dies nur zum Teil gelungen war, macht das Erscheinen eines weiteren Buches deutlich, das in der hervorragenden Übersetzung vonAnne Birkenhauer nunmehr auch auf Deutsch vorliegt. «Aus der Zeit gefallen» heisst es und ist für einmal kein Roman und auch keine Erzählung, sondern eine Art Versepos oder dramatisches Gedicht. Ein Werk jedenfalls, das sich jeder Gattungsbezeichnung entzieht, wie sich auch sein Inhalt jeder Erfahrung entzieht, die der Autorbisher gemacht hat. «Aus der Zeit gefallen» ist Totenklage und Wiederaneignung des Lebens in einem. Es ist surreal und furchtbar konkret zugleich. «Ich muss gehen», sagt ein Mann zu seiner Frau. «Wohin?», fragt sie. «Zu ihm. Nach dort», antwortet der Mann. So beginnt der Text und nimmt ein Bild wieder auf, das aus einem früheren Roman des Autors bekannt ist: Auch in «Stichwort: Liebe» war von einem «Land Dort» die Rede gewesen. Die Überlebenden der Shoah verwendeten den Begriff, wenn sie von den Lagern sprachen, denen sie entkommen waren, ohne je wieder im Leben Fuss fassen zu können. Jetzt ist mit «dort» das Reich des Todes gemeint, das kein Lebender je betreten wird. Der Mann bricht gleichwohl auf. Erkann nicht anders. Er mussseinen totenSohn suchen, noch einmal in Kontakt zu ihm treten, noch einmal den Schmerz kosten, die Trauer durchleben, um danach vielleicht tatsächlich aus dem Exil ins Leben zurückkehren zu können. Grossman gibt hier einer existenziellen Erfahrung Ausdruck, die er mit unzähligen israelischen Eltern teilt. Darin lag von jeher seine Stärke. Seit er als blutjunger Autor mit dem Reportage-Band «Der gelbe Wind» das Augenmerk seiner Landsleute auf «die israelisch-palästinensische Tragödie» gelenkt hatte, ist Grossman immer wieder durch ein untrügliches Gespür für die Virulenz verdrängter Gefühle innerhalb der israelischen Gesellschaftaufgefallen. Ob er in «Das Lächeln des Lammes» über die Begegnung zwischen einem jungen Israeli und einem alten Araber schrieb oder in «Stichwort: Liebe» dem Trauma der Shoah aus der Sicht eines Kindes beizukommen versuchte; ob er sich in «Der Kindheitserfinder» mit den Mühen des Erwachsenwerdens in Zeiten des Krieges befasste oder in seinem jüngsten Roman die permanenten Vernichtungsängste israelischer Eltern thematisierte –immer war er mit seinem Erzählen ganz nah bei dem, was die israelische Bevölkerung bewegte. Dabei zeichnete ersich stets durch ein hohes Mass anEmpathie auch für die andere, die arabische Seite aus und nahm Autobiografisches allenfalls zum Anlass, nie jedoch zum Selbstzweck sei-

RINA CASTELNUOVO /REDUX/LAIF nes Schreibens. Das ist im Falle seines neuen Buches nicht anders. David Grossman weiss, dassdie Trauer um ein totes Kind an keine ethnischen, religiösen oder familiären Grenzen gebunden ist, sondern im wahrsten Sinne des Wortes eine universale Erfahrung darstellt. Deshalb ist dies auch sein bis anhin persönlichstes und zugleich am stärksten verfremdetes Buch geworden. Es ist sein ganz persönlicher Schmerz, und es ist der Schmerz der ganzen Welt, der hier zum Ausdruck kommt. Zwei Jahre –sosagt es die Datumszeile am Ende des Textes –hat David Grossman an diesem Epitaph für seinen gefallenen Sohn gearbeitet. Wasesihn gekostet haben muss, die Wunden noch einmal aufzureissen und noch einmal allen Schmerz zu durchleben, den die Todesnachricht auslöste, das kann man bei der Lektüre des schwierigen und streckenweise hermetischen Textes nur ahnen. Die archaisch anmutende, hoch artifizielle Form, die der Autor für seine Totenklage gewählt hat, war aber wohl nötig, um die Verzweiflung in Schach halten und überhaupt schreiben zu können. Im Gegensatz zu seinen bisherigen Werken kennt «Aus der Zeit gefallen» keine Individuen, sondern nur Typen: den Gehenden Mann und seine Frau, den Schuster und die Hebamme, die Netzflickerin, den Greisen Rechenlehrer, den Zentauren, den Chronisten und seine Frau, den Herzog. Sie alle –das kristallisiert sich nach und nach heraus –sind vereint in der Trauer über den Verlust eines Kindes. Sie geben dem Mann Geleit. Siesind, wie er,unterwegs «nach dort», um in Kontakt zu treten zu ihren toten Kindern: ein vielstimmiger Chor von Trauernden, der Sprache zu finden sucht für seine Qual. Grossman schafft mit seinem Text eine Art Echoraum für Geschichten, die, zu lange schon totgeschwiegen, endlich nach Ausdruck verlangen und nach Erlösung. Neue Poetik des Lebens In immer wieder neuen Schüben werden Erinnerungen wach und Bilder lebendig, die irgendwo in den Tiefen des Gedächtnisses verschüttet gewesen waren. Menschen, die in ihrem Leid verstummt waren, kehren zurück aus dem Exil ihrer Sprachlosigkeit und fangen an, Trauern um ein Kind: David Grossman hat 2006 einen Sohn im Krieg verloren. Im Bild eine trauernde Mutter 2008 im israelischen MilitärfriedhofMount Herzl in Jerusalem. von ihren Kindern zu erzählen. Und so wie die Mutter in Grossmans letztem Roman ihren Sohn durch Erzählen vor dem Tod zu bewahren versucht, so holen hier die trauernden Eltern ihre toten Kinder durch Erzählen noch einmal ins Leben zurück. Die Mauer, die das Land der Lebenden vom Land der Toten trennt, überwinden sie damit zwar nicht. Aber indem sie bis an den äussersten Rand des Menschenmöglichen gehen, beginnen die Grenzen zwischen hier und dort sich zu verwischen. Leben und Tod «pendeln sich aus» und es entsteht ein «beinah zartes Gleichgewicht», sagt die Frau des Chronisten und ahnt, dass es Zeit wird, die Totenruhen zu lassen und ins Leben zurückzukehren. «Das Kind ist tot», sagt der Gehende Mann. «Nichts mehr von dir wollen, auch nicht dich selbst», sagt der Chronist. «Und mir bricht es das Herz, mein Augenstern, wenn ich daran denk, dass ich – ist’s möglich?! –, dass ich dafür die Worte fand», sagt der Zentaur. Auch David Grossman hat sie gefunden und mit dieser Poetik der Trauer den Wegzueiner neuen Poetik des Lebens freigelegt. l 24.Februar 2013 ❘NZZamSonntag ❘ 5

RINA CASTELNUOVO /REDUX/LAIF<br />

nes Schreibens. Das ist im Falle seines<br />

neuen Buches nicht anders. David<br />

Grossman weiss, dassdie Trauer um ein<br />

totes Kind an keine ethnischen, religiösen<br />

oder familiären Grenzen gebunden<br />

ist, sondern im wahrsten Sinne des Wortes<br />

eine universale Erfahrung darstellt.<br />

Deshalb ist dies auch sein bis anhin persönlichstes<br />

und zugleich am stärksten<br />

verfremdetes Buch geworden.<br />

Es ist sein ganz persönlicher Schmerz,<br />

und es ist der Schmerz der ganzen Welt,<br />

der hier zum Ausdruck kommt. Zwei<br />

Jahre –sosagt es die Datumszeile am<br />

Ende des Textes –hat David Grossman<br />

an diesem Epitaph für seinen gefallenen<br />

Sohn gearbeitet.<br />

Wasesihn gekostet haben muss, die<br />

Wunden noch einmal aufzureissen und<br />

noch einmal allen Schmerz zu durchleben,<br />

den die Todesnachricht auslöste,<br />

das kann man bei der Lektüre des<br />

schwierigen und streckenweise hermetischen<br />

Textes nur ahnen. Die archaisch<br />

anmutende, hoch artifizielle Form, die<br />

der Autor für seine Totenklage gewählt<br />

hat, war aber wohl nötig, um die Verzweiflung<br />

in Schach halten und überhaupt<br />

schreiben zu können.<br />

Im Gegensatz zu seinen bisherigen<br />

Werken kennt «Aus der Zeit gefallen»<br />

keine Individuen, sondern nur Typen:<br />

den Gehenden Mann und seine Frau,<br />

den Schuster und die Hebamme, die<br />

Netzflickerin, den Greisen Rechenlehrer,<br />

den Zentauren, den Chronisten und<br />

seine Frau, den Herzog. Sie alle –das<br />

kristallisiert sich nach und nach heraus<br />

–sind vereint in der Trauer über den<br />

Verlust eines Kindes. Sie geben dem<br />

Mann Geleit. Siesind, wie er,unter<strong>weg</strong>s<br />

«nach dort», um in Kontakt zu treten zu<br />

ihren toten Kindern: ein vielstimmiger<br />

Chor von Trauernden, der Sprache zu<br />

finden sucht für seine Qual. Grossman<br />

schafft mit seinem Text eine Art Echoraum<br />

für Geschichten, die, zu lange<br />

schon totgeschwiegen, endlich nach<br />

Ausdruck verlangen und nach Erlösung.<br />

<strong>Neue</strong> Poetik des Lebens<br />

In immer wieder neuen Schüben werden<br />

Erinnerungen wach und Bilder lebendig,<br />

die irgendwo in den Tiefen des<br />

Gedächtnisses verschüttet gewesen waren.<br />

Menschen, die in ihrem Leid verstummt<br />

waren, kehren zurück aus dem<br />

Exil ihrer Sprachlosigkeit und fangen an,<br />

Trauern um ein Kind:<br />

David Grossman hat<br />

2006 einen Sohn im<br />

Krieg verloren. Im Bild<br />

eine trauernde Mutter<br />

2008 im israelischen<br />

MilitärfriedhofMount<br />

Herzl in Jerusalem.<br />

von ihren Kindern zu erzählen. Und so<br />

wie die Mutter in Grossmans letztem<br />

Roman ihren Sohn durch Erzählen vor<br />

dem Tod zu bewahren versucht, so<br />

holen hier die trauernden Eltern ihre<br />

toten Kinder durch Erzählen noch einmal<br />

ins Leben zurück.<br />

Die Mauer, die das Land der Lebenden<br />

vom Land der Toten trennt, überwinden<br />

sie damit zwar nicht. Aber<br />

indem sie bis an den äussersten Rand<br />

des Menschenmöglichen gehen, beginnen<br />

die Grenzen zwischen hier und dort<br />

sich zu verwischen. Leben und Tod<br />

«pendeln sich aus» und es entsteht ein<br />

«beinah zartes Gleichgewicht», sagt die<br />

Frau des Chronisten und ahnt, dass es<br />

Zeit wird, die Totenruhen zu lassen und<br />

ins Leben zurückzukehren. «Das Kind<br />

ist tot», sagt der Gehende Mann. «Nichts<br />

mehr von dir wollen, auch nicht dich<br />

selbst», sagt der Chronist. «Und mir<br />

bricht es das Herz, mein Augenstern,<br />

wenn ich daran denk, dass ich – ist’s<br />

möglich?! –, dass ich dafür die Worte<br />

fand», sagt der Zentaur. Auch David<br />

Grossman hat sie gefunden und mit dieser<br />

Poetik der Trauer den Wegzueiner<br />

neuen Poetik des Lebens freigelegt. l<br />

24.Februar 2013 ❘NZZamSonntag ❘ 5

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