Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung
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Sachbuch<br />
Berlin Ilma Rakusahat ein Journal über ihren Aufenthalt in der deutschen Hauptstadtgeführt<br />
Ebenso lebendig wiegeschichtsträchtig<br />
Ilma Rakusa: Aufgerissene Blicke. Berlin-<br />
Journal. Droschl, Graz 2013. 112 Seiten,<br />
Fr.24.90.<br />
VonIna Boesch<br />
Die «Vorbemerkung» ist eine Liebeserklärung<br />
an Berlin. Siesei vonBerlin «berührt»,<br />
bekennt die Schriftstellerin Ilma<br />
Rakusa auf der ersten Seite, «gerade<br />
weil die Stadtweh tut». Weil Geschichte<br />
nicht «<strong>weg</strong>retuschiert» wird. Weil Berlin<br />
ein «Scharnier zwischen Ost und<br />
West» ist. Und <strong>weg</strong>en seiner Vitalität:<br />
«Mit Phantasie werden triste Höfe umgenutzt,<br />
Brachen bebaut,marode Räume<br />
in quirlige Galerien verwandelt.»<br />
Tatsächlich ist es dieser lebendige,<br />
widerspenstige und geschichtsträchtige<br />
Charakter, der für viele treue Besucher<br />
den unwiderstehlichen Charme Berlins<br />
ausmacht. Entsprechend hoch sind die<br />
Erwartungen an die Lektüre des Journals,<br />
das die Autorin während ihres Berlin-Aufenthalts<br />
(Oktober 2010 bis Juli<br />
2011) als Fellow amWissenschaftskolleg<br />
geführt hat.<br />
Gleich zu Beginn nimmt die Autorin<br />
uns mit zum S-Bahnhof Grunewald, zu<br />
Gleis 17, von wo Juden deportiert<br />
wurden, schlendert weiter durchs Villenviertel,<br />
erzählt von einer witzigen<br />
Begegnung mit einem Deux-Cheveaux-<br />
Besitzer, umschliesslich den Tagebucheintrag<br />
mit einer Reflexion über ihre<br />
Arbeit am Wissenschaftskolleg zu beenden.<br />
In wenigen Sätzen bringt Rakusa<br />
zusammen, was inder Stadt ebenfalls<br />
auf knappem Raum zu erfahren ist: der<br />
Schrecken des Nationalsozialismus, der<br />
Reichtum Weniger, die Begegnung mit<br />
einem Original, das intellektuelle Leben.<br />
Solche Verdichtungen sind rar, leider.<br />
Auf den folgenden Seiten des schmalen<br />
Bändchens hält Rakusa fest, was sie<br />
an ausgewählten Tagen be<strong>weg</strong>t oder erfahren<br />
hat: Sie notiert, wie das Wetter<br />
war und ob es sie gesundheitlich beeinträchtigt<br />
hat; sie berichtet von Theater-,<br />
Kino-, Konzert- und Ausstellungsbesuchen;<br />
sie erzählt von Begegnungen mit<br />
der internationalen, vor allem osteuropäischen<br />
Kulturprominenz, vom Gulasch-Essen<br />
mit den Ehepaaren Esterhàzy<br />
und Kertèsz oder von Gesprächen<br />
mit dem libanesischen Autor Elias<br />
Khoury.<br />
Ilma Rakusa zitiert auch andere Journale<br />
(beispielsweise von Emine Sevgi<br />
Özdamar) oder was andere Schriftstellerinnen<br />
(zum Beispiel Ingeborg Bachmann)<br />
über Berlin geschrieben haben.<br />
Sieholt die weiteWelt –die Katastrophe<br />
von Fukushima –mittels <strong>Zeitung</strong>slektüre<br />
in ihreStudierstube. Zu selten hält sie<br />
Episoden fest, die Berlin-spezifisch und<br />
berührend sind wie diese: Mit dünner<br />
Stimme preist ein Obdachloser in der U-<br />
Bahn sein Magazin an, doch keiner<br />
blickt auf, worauf er sich verzweifelt<br />
fragt: Mache ich etwas falsch? l<br />
Dasamerikanische Buch Ausder Bronx ins ObersteGericht der USA<br />
«Kleine,stetigeSchritte»haben sie<br />
einen denkbar langen Weggetragen,<br />
schreibt Sonia Sotomayor in ihren<br />
Memoiren My BelovedWorld (Alfred A.<br />
Knopf, 315Seiten): Er führteaus der Armutpuerto-ricanischer<br />
Einwanderer in<br />
der Bronx bis hinter die Marmorsäulen<br />
des amerikanischen Verfassungsgerichts.<br />
VonPräsident Barack Obama<br />
ausgewählt, nahm Sotomayor2009 als<br />
erstePersönlichkeit lateinamerikanischer<br />
HerkunftEinsitz am obersten<br />
Gericht der USA. Siewurde damit eine<br />
historische Figur. Aber dies scheint erst<br />
heute wirklich in der breiten Öffentlichkeit<br />
und auch in ihrer eigenen<br />
«Community» anzukommen. Dafür<br />
spricht das enorme Echo auf «MyBelovedWorld».<br />
Das Buch ist umgehend<br />
an die Spitzeder Bestsellerlisten gesprungen<br />
und die Lesereise der Richterin<br />
im Februar geriet zu einem<br />
Triumphzug mit begeistertem Publikum<br />
in überfüllten Hallen.<br />
Die durch<strong>weg</strong>s positivenKritiken nahmen<br />
diesen Erfolg vor<strong>weg</strong>. Das Buch<br />
endet zwar bereits 1992,als Sotomayor<br />
an das Bundesgericht für den südlichen<br />
Bezirkihrer Heimatstadtberufen<br />
wurde. So vermeidet die Juristin<br />
Diskussionen ihrer vonRepublikanern<br />
bekämpften Nominierung für den<br />
Supreme Court und ihrer Haltung zu<br />
aktuellen Fällen. Dafür wirdder Leser<br />
mit einer packenden und anrührenden<br />
Lebensgeschichtebelohnt. Diese zieht<br />
ihreemotionale Kraftebenso aus der<br />
Offenheit der Autorin, wie aus den<br />
Prüfungen, die sie auf ihrem Wegzu<br />
bestehen hatte.<br />
1955 geboren, wuchs Sotomayormit<br />
einer distanzierten Mutterund einem<br />
alkoholsüchtigen Vaterauf,der nach<br />
Sonia Sotomayor<br />
feiertihren vierten<br />
Geburtstag(1959).<br />
Heuteist sie die<br />
ersteRichterin mit<br />
puerto-ricanischen<br />
Wurzeln am US-<br />
Verfassungsgericht<br />
(unten).<br />
REUTERS<br />
ihrem neunten Geburtstag verstarb.<br />
Erschwert wurdeihreKindheit durch<br />
Diabetes, die sie bereits als Siebenjährigeallein<br />
meistern musste. Die Kleine<br />
lernte, sich selbst die tägliche Insulinspritzezusetzen,<br />
und realisierte, dass<br />
sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen<br />
musste. Rückschlägenahm das mit<br />
einer scharfenIntelligenz begabteMädchen<br />
fortan als Lektionen wahr,die sie<br />
mit Fleissund Beharrlichkeit bewältigenkonnte.<br />
WieSotomayordankbar<br />
hervorhebt, standen ihr dabei an jeder<br />
Station Mentoren zur Seite. Niescheute<br />
sie sich, um Ratzufragen. So gewann sie<br />
an der Princeton Universityund danach<br />
an der Yale LawSchool, bei der New<br />
YorkerStaatsanwaltschaftund schliesslich<br />
als jungePartnerin einer renomiertenKanzlei<br />
in Manhattan lebenslange<br />
PRIVAT<br />
Freunde. Dazu zählt der einflussreiche<br />
Jurist José Cabranes, der heute am Berufungsgericht<br />
für den amerikanischen<br />
Nordosten wirkt.<br />
Sotomayornotiert zudem, dassihre<br />
Karrierenur deshalb möglich war, weil<br />
Institutionen in Staatund Gesellschaft<br />
der USAwährend der 1970er Jahreallmählich<br />
Türen für ehrgeizige«Hispanics»<br />
öffneten. Sieverteidigt die bis<br />
heute umstrittene «affirmative action»,<br />
also die gezielteFörderung vonAngehörigen<br />
farbiger Minoritäten, stellt<br />
aber selbstbewusstfest: «Meine Herkunftmag<br />
mir ein Princeton-Stipendium<br />
ermöglicht haben. Aber den<br />
Abschlusssumma cum laude habe ich<br />
mir aus eigener Kraftverdient!»<br />
Doch, obwohl ihr Buch zu einem Zeitpunkt<br />
erscheint, an dem die Hispanics<br />
auch als politischer Faktor den endgültigen<br />
Durchbruch erzielt haben, ist<br />
«MyBelovedWorld» keines<strong>weg</strong>s eine<br />
Streitschriftauf dem Schlachtfeld der<br />
Identitätspolitik in den USA. SotomayormöchteBeispiel<br />
sein für die Möglichkeit<br />
des klassisch-amerikanischen<br />
Aufstiegsund plädiert für schrittweise<br />
Reformen: Aufgewachsen in Chaos und<br />
Not, hält die Richterin das Recht als<br />
Regelwerk hoch, das speziell Bürgern<br />
aus benachteiligten Milieus Sicherheit<br />
und Chancen gewähren sollte.<br />
Dabei hält sie an ihren Wurzeln fest.<br />
Dazu zählt eine afrokaribische Spiritualität,<br />
die sie an ihrer Grossmutter<br />
Mercedes aus PuertoRicofestmacht.<br />
So würdigt Sotomayorauch den Geist<br />
der geliebten «Abuelita» als Beistand,<br />
der sie auf ihrer imponierenden Lebensreise<br />
mit Ratund Tatbegleitet hat.<br />
VonAndreas Mink l<br />
26 ❘ NZZamSonntag ❘ 24.Februar 2013