Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung
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Sachbuch<br />
Paläontologie Der Naturforscher Oswald Heer (1809 bis<br />
1883) warLehrer Alfred Eschers, Doppelprofessor und<br />
erster Direktor des Botanischen Gartens Zürich<br />
Darwins<br />
kleiner Bruder<br />
Conradin A. Burga(Hrsg.): Oswald Heer<br />
1809–1883. Paläobotaniker,Entomologe,<br />
Gründerpersönlichkeit. NZZLibro,<br />
Zürich 2013. 511Seiten, Fr.64.90.<br />
VonGenevièveLüscher<br />
Sie hatten den gleichen Jahrgang –1809<br />
–und kannten einander. Während aber<br />
der eine zu Weltruhm gelangte, geriet<br />
der andere inVergessenheit. Natürlich<br />
sind die wissenschaftlichen Verdienste<br />
des Schweizers Oswald Heer mit denen<br />
von Charles Darwin nicht vergleichbar.<br />
Aber auch Heer beschäftigte sich mit<br />
der Erdgeschichte, der Evolution, auch<br />
er war, wie Darwin, zuerst Theologe.<br />
Beide lieferten Argumente und fossile<br />
Belege für eine Abfolge von ausgestorbenen<br />
und neu entstandenen Tier- und<br />
Pflanzenarten im Lauf der Zeit. Mehrfach<br />
verwies Darwin in seinen Werken<br />
auf die Funde aus Schweizer Pfahlbausiedlungen<br />
und gabdabei Heer als Informationsquelle<br />
an. Weralso war Oswald<br />
Heer?<br />
Conradin A. Burga, Dozent an der<br />
Universität Zürich, versucht unter Mithilfe<br />
zahlreicher Spezialisten und Spezialistinnen,<br />
eine Antwort auf diese<br />
Frage zugeben. Über 500 Seiten schwer<br />
ist die Biografie geworden und in ihrem<br />
Detailreichtum bisweilen verwirrend.<br />
Von Gott zu den Käfern<br />
1809 kommt Oswald Heer als zweites<br />
von neun Geschwistern im sanktgallischen<br />
Niederuzwil zur Welt. Der Vater<br />
ist Pfarrer und amtet ab 1817 inMatt im<br />
Kanton Glarus, wo Oswald seine Kindheit<br />
verbringt. Vater Heer betreibt<br />
neben dem Pfarramt eine Art privates<br />
Gymnasium, wo er seine Kinder und<br />
auch auswärtige Schüler unterrichtet.<br />
Schon als Kind sammelt Oswald eifrig<br />
Pflanzen, legt Herbarien an, unternimmt<br />
Exkursionen in die Bergwelt. Ab 1828<br />
studiert er Theologie in Halle. Neben<br />
Kirchengeschichte, Exegese und Psalmenstudium<br />
besucht er Vorlesungen in<br />
Entomologie (Insektenkunde), Mineralogie,<br />
Botanik und Zoologie. In Halle<br />
begegnet er auch Arnold Escher vonder<br />
Linth, mit dem ihn eine lebenslange<br />
Freundschaft verbinden wird.<br />
Der Botaniker Oswald<br />
Heer um 1835.<br />
DasAquarell soll<br />
Clementine Stockar-<br />
Escher gemalt haben,<br />
die Schwester von<br />
Alfred Escher.<br />
1831 folgt die Ordination. Heer kehrt<br />
aber der Theologie den Rücken und<br />
nimmt in Zürich eine Stelle als Konservator<br />
der Käfersammlung von Heinrich<br />
Escher an. Gleichzeitig ist er Hauslehrer<br />
der beiden Sprösslinge Alfred und Clementine;<br />
der später sehr einflussreiche<br />
Alfred Escher wird seinen Lehrer Zeit<br />
seines Lebens fördern. 1838 heiratet<br />
Heer Margarethe Trümpy, sie wird ihm<br />
vier Kinder schenken. Er doktoriert und<br />
habilitiert an der neugegründeten Zürcher<br />
Universität, steigt rasch vomExtraordinarius<br />
zum Professor auf und wird<br />
gleichzeitig Direktor des Botanischen<br />
Gartens. 1855 kommt noch die Professur<br />
für Botanik, Paläobotanik und Entomologie<br />
an der neugegründeten ETH dazu.<br />
Erst spät, mit 72 Jahren, tritt eraus gesundheitlichen<br />
Gründen zurück. Zwei<br />
Jahre später, 1883, stirbt er.<br />
Das Hauptinteresse Heers gehörte –<br />
nach den frühen Forschungen zur Höhenverbreitung<br />
von Insekten und Pflanzen–der<br />
paläobotanischen Erforschung<br />
der Schweiz und Europas im Tertiär. Er<br />
schuf dazu die Grundlagen, er entwickelteneue<br />
Bestimmungsmethoden fossiler<br />
Pflanzen und leistete Pionierarbeit<br />
in der Erforschung fossiler Früchte und<br />
Samen. Heer interessierte sich darüber<br />
hinaus auch für die Botanik im Eiszeitalter,<br />
für die Pflanzenfunde aus den prähistorischen<br />
Pfahlbausiedlungen und<br />
sogar für die Landwirtschaft. Seine Publikationen<br />
füllen Regale. Populär wurde<br />
er 1865 mit dem Buch «Die Urwelt der<br />
Schweiz», wo er als erster die Funde aus<br />
300 Millionen Jahren epochenweise zu<br />
anschaulichen Lebensbildern zusammenstellte.<br />
Für sein Werk wurdeervielfach<br />
auch international geehrt.<br />
Der Gelehrte war ein passionierter<br />
Briefschreiber. Die neue Biografie hat<br />
sich verdankenswerterweise dieser<br />
noch kaum angetasteten Quelle besonders<br />
intensiv angenommen und zitiert<br />
zahlreiche Briefpassagen. Die Korrespondenz<br />
in verschiedenen in- und ausländischen<br />
Archiven richtete sich an<br />
über 650Adressaten! Zu den berühmtesten<br />
zählen Alexander von Humboldt<br />
und Charles Darwin, dessen Evolutionstheorie<br />
Heer scharfkritisierte. Heer war<br />
ein vehementer Verfechter der «Umprägungstheorie»,<br />
die von einer unregelmässigen<br />
und sprunghaften Entwicklung<br />
der Organismen ausging. Als gläubiger<br />
Mensch suchte er damit einen<br />
Kompromisszwischen Schöpfungslehre<br />
und Evolutionstheorie. «Ich halte dafür,<br />
dass Gesetze auch einen Gesetzgeber<br />
voraussetzen», schrieb er1859. Mit der<br />
Ablehnung der zukunftsweisenden Evolutionstheorie<br />
hatte sich Heer aber ins<br />
Abseits manövriert, sicher mit ein<br />
Grund, weshalb er heute in Vergessenheit<br />
geraten ist.<br />
Überfülle an Fachlichem<br />
Heer kannte zahlreiche Persönlichkeiten<br />
und gründete etliche Institutionen.<br />
Viele werden im vorliegenden Buch in<br />
aller Breite vorgestellt. Manchmal geht<br />
das so weit, dassbeim Botanischen Garten<br />
auch noch die Obergärtner porträtiert<br />
werden. Unter der überbordenden<br />
Fülle an Informationen, die <strong>weg</strong>en der<br />
Aufsplitterung des Stoffs in zahllose Kapitel<br />
bisweilen redundant sind, droht<br />
der Leser den roten Faden zu verlieren.<br />
Das Ausbreiten von Fachdetails im entsprechenden<br />
Jargon überfordert den<br />
Laien, was insofern schade ist, als damit<br />
die Chance, Heers Werk einem breiten<br />
Publikum bekannt zu machen, verpasst<br />
worden ist. Auf der anderen Seite erfährt<br />
man fast nichts über Heers Leben<br />
ausserhalb der Forschung, zum Beispiel<br />
über sein Wirken imZürcher Kantonsrat,<br />
dem er immerhin von 1850 bis 1868<br />
angehörte. Eine Einbettung in die damalige<br />
Zeit findet kaum statt.<br />
Insgesamt wäre weniger Fachliches<br />
mehr gewesen; eine straffe Lektorierung<br />
und das Beiziehen eines versierten Historikers<br />
hätten dem Werk sicher gut<br />
getan. Dem Laien bleibt aber zum<br />
Schmökern eine Fülle an Wissenswertem<br />
aus dem Leben des grossen Paläontologen<br />
Oswald Heer. l<br />
LANDESARCHIV DESKANTONS GLARUS,FOTOSAMMLUNG 2.1HEER<br />
24 ❘ NZZamSonntag ❘ 24.Februar 2013