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Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung

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Werkbiografie Die Filme Andrej Tarkovskijs sind wuchtige, aber enigmatische Meisterwerke.Eine<br />

Monografieerschliesst nun das grandiose Werk<br />

Russischer Bildmagier<br />

Andrej Tarkovskij, Leben und Werk: Filme,<br />

Schriften, Stills &Polaroids. Schirmer/<br />

Mosel, München 2012. 320 Seiten,<br />

Fr.88.90.<br />

VonChristian Jungen<br />

In den Sechzigerjahren begannen Filmregisseure<br />

sich als Künstler zu verstehen<br />

und prägten mit unverwechselbaren<br />

Handschriften ihre Werke. Ihre Erneuerungen<br />

gingen als neue Wellen in die<br />

Filmgeschichte ein. Aus dieser Epoche<br />

ragen jedoch Monumenten gleich drei<br />

Regisseureheraus, die sich kaum schubladisieren<br />

lassen und die kraft ihrer philosophischen<br />

Durchdringung der Filmkunst<br />

einen ebenso aufmerksamen wie<br />

demütigen Zuschauer erfordern: Ingmar<br />

Bergman, Jean-Luc Godard und Andrej<br />

Tarkovskij. Ihre Œuvres widersetzen<br />

sich der schnellen Aneignung.<br />

Szene aus dem<br />

Filmklassiker<br />

«Stalker» vonAndrej<br />

Tarkovskij (1978), der<br />

sich der rationalen<br />

Analyse entzieht.<br />

Vorbild Ikonenmalerei<br />

Das Werk des russischen Bildmagiers<br />

Tarkovskij (1932–1986) ist für westliche<br />

Filmfreunde vielleicht das schwierigste<br />

der drei, weil unsere rationale Art der<br />

Analyse bei ihm zum Scheitern verurteilt<br />

ist. Im Science-Fiction-Klassiker<br />

«Stalker» (1978) führt der Titelheld<br />

einen Schriftsteller und einen Wissenschafter<br />

in eine geheimnisvolle Zone,<br />

wo es ein Zimmer geben soll, in dem alle<br />

Wünsche in Erfüllung gehen. Kritiker<br />

rätselten vergebens über den Sinn dieser<br />

in Bildern von archaischer Wucht<br />

erzählten Odyssee. «Häufig wurde ich<br />

gefragt, was denn nun eigentlich die<br />

Zone in Stalker symbolisiert», schrieb<br />

Tarkovskij einst. «Derlei Fragen bringen<br />

mich jedes Mal in Verzweiflung und Raserei.<br />

In keinem meiner Filme wird irgendetwas<br />

symbolisiert. Und auch die<br />

Zone tut das nicht. Die Zone ist einfach<br />

die Zone.»<br />

All jenen, die das Schaffen Tarkovskijs<br />

besser verstehen wollen, ist die herausragende<br />

Monografie empfohlen, die<br />

der Filmhistoriker Hans-Joachim Schlegelzusammen<br />

mit Tarkovskijs Sohn Andrej<br />

kuratiert hat. Schlegel ist einer der<br />

profundesten Kenner des osteuropäischen<br />

Kinos. Er hat Tarkovskij persönlich<br />

gekannt und seine Tagebücher wie<br />

auch seine filmtheoretischen Schriften<br />

ins Deutsche übersetzt.<br />

In einem luziden Essay führt er aus,<br />

dass Filme wie «Ivans Kindheit» oder<br />

«Solaris» weniger einen analytisch fragenden<br />

Zuschauer als vielmehr einen<br />

naiven Beobachter erforderten. Denn<br />

Tarkovskij wollte mit seinen Filmen das<br />

eigene Denken transzendieren, die<br />

Suche nach einem filmischen Stil war<br />

ihm Mittel, seine Gefühle auszudrücken<br />

und beim Zuschauer über die ästhetische<br />

Bildwirkung seine Sicht der Welt<br />

fassbarzumachen. Eine wichtigeQuelle<br />

von Tarkovskijs Streben sei das spirituelle<br />

Bildverständnis der Ostkirche gewesen,<br />

insbesonderedie Ikonenmalerei,<br />

die eine Ahnung des Göttlichen gebe.<br />

Schlegel skizziert auch, wie Tarkovskij<br />

früh Probleme mit der Sowjetzensur<br />

bekam. Tarkovskij polemisierte nicht<br />

nur gegen die intellektuelle Montagetheorie<br />

von Sergej Eisenstein, er wehrte<br />

sich auch gegen schulmeisterliche Einwände<br />

der staatlichen Studios: «Eine<br />

dogmatische Sprache kann nicht sprechen.»<br />

Deren Auflagen unterlief er unter<br />

anderem, indem er in seinen Filmen ein<br />

poetisches Ichauftreten liess. Der gegen<br />

die Kirche rebellierende Ikonenmaler in<br />

«Andrej Rubljov» (1969) ist auch ein<br />

Alter ego des Regisseurs, der indirekt<br />

von seinen eigenen Schwierigkeiten<br />

kündet, in einem ideologisch starrsinnigen<br />

Umfeld kreativ zusein.<br />

<strong>Neue</strong> Sehgewohnheiten<br />

Man merkt, dass Schlegel die Schriften<br />

Tarkovskijs übersetzt hat. Er nimmt den<br />

Regisseur oft beim Wort, etwa wenn er<br />

erläutert, warum Tarkovskij sich im<br />

Westen nicht wohl fühlte. «Der Osten<br />

warder ewigen Wahrheit stets näher als<br />

der Westen», schrieb Tarkovskij dazu.<br />

«Man vergleiche nur einmal östliche<br />

Musik und westliche Musik. Der Westen<br />

schreit: Hier –das bin ich! Schaut auf<br />

mich! Hört, wie ich zu leiden und zu lieben<br />

verstehe! Wie unglücklich und<br />

glücklich ich sein kann! Ich! Ich! Ich!!!<br />

Der Osten sagt kein einziges Wort über<br />

sich selbst! Er verliert sich völlig in Gott,<br />

in der Natur, inder Zeit, und er findet<br />

sich in all dem wieder.»<br />

Der Band verdeutlicht, dass Tarkovskijs<br />

grösste Leistung in der Schöpfung<br />

einer eigenen filmischen Zeit war, die<br />

den Betrachter von seiner utilitaristischen,<br />

auf der Einstellung «Zeit ist<br />

Geld» basierenden Sehgewohnheit des<br />

westlichen Kulturkonsums herausreisst.<br />

Nebst Kommentaren zu Filmen, Auszügen<br />

aus Tarkovskijs Schriften und<br />

einer Biografie des Regisseurs enthält<br />

das Buch Zeugnisse von Intellektuellen<br />

wie Jean-Paul Sartre, der 1962 Tarkovskij<br />

gegen schlechte Kritiken verteidigte,<br />

oder von Ingmar Bergman, der 1986<br />

festhielt: «Tarkovskij ist für mich der<br />

Grösste, weil er dem Kino eine neue,besondereSprache<br />

gegeben hat, die es ihm<br />

erlaubt, das Leben als Vision, als ein<br />

Traumbild zu erfassen.»<br />

Die Quellenausschnitte widerspiegeln<br />

die Debatten, welche die Filme Andrej<br />

Tarkovskijs auslösten. Ein Manko<br />

ist, dass die Herausgeber nicht erklären,<br />

wer die Autoren sind. Wernicht weiss,<br />

dassErland Josephson ein schwedischer<br />

Schauspieler ist, der in «Nostalghia»<br />

und «Opfer» für Tarkovskij vor der Kamera<br />

stand, dem hilft das Buch nicht<br />

weiter.<br />

Abgesehen davon ist das Werk allgemeinverständlich.<br />

Es wirddem Schaffen<br />

des Regiepoeten auch insofern gerecht,<br />

als es nebst fundierten Essays auf fast<br />

300 Seiten Filmstills und Polaroidaufnahmen<br />

enthält, die Tarkovskij von<br />

Dreharbeiten und seiner Familie machte.<br />

Und nur über die Bilder lässt sich<br />

dieses Schaffen letztlich ergründen. l<br />

24.Februar 2013 ❘NZZamSonntag ❘ 21

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