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Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung

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Sachbuch<br />

Gulag Posthum erscheinen die Erinnerungen vonHorst Bienek über seine Zeit in Lagerhaft<br />

«Meine Seelewar wieaus Blei»<br />

Horst Bienek: Workuta. Wallstein,<br />

Göttingen 2013. 80 Seiten, Fr.21.90.<br />

VonAnja Hirsch<br />

Arbeit. Hunger. Liebe/Sex. Beschreibung<br />

der Mithäftlinge. Das waren die<br />

ersten Stichworte, unter denen der<br />

Schriftsteller Horst Bienek (1930–1990),<br />

angeregt von seinem Lektor, dem Hanser-Verleger<br />

Michael Krüger,seine Erinnerung<br />

aufwecken sollte, vierzig Jahre<br />

danach. Mit 22 Jahren war Horst Bienek,<br />

der als Vertriebener aus Oberschlesien<br />

in der damaligen DDR eine neue Heimat<br />

gefunden hatte, indas Lager Workuta<br />

Fotografie Schnappschüsse aus dem Zarenreich<br />

1905 verspürte der russische ZarNikolaus II. den<br />

Wunsch, sein riesiges Land besser kennenzulernen.<br />

Eine Reise warihm aber zu beschwerlich und so<br />

schickteereinen Fotografen los, der ihm Landschaftenund<br />

Menschen bequem in den Palastliefern<br />

sollte. 10 Jahrewar SergeiProkudin-Gorski (1863–<br />

1944) in einem Spezialzug inklusiveDunkelkammer<br />

unter<strong>weg</strong>s, 10000 mit einer eigens entwickelten<br />

Kameraaufgenommene Farbbilder warenseine<br />

Ausbeute. Die Drei-Farben-Fotografien, heuteinder<br />

Library of Congress in Washington archiviert, galten<br />

langeals Geheimtipp. Zusammen mit Schwarz-Weiss-<br />

Fotosanderer zeitgenössischer Fotografen sind nun<br />

20 ❘ NZZamSonntag ❘ 24.Februar 2013<br />

die schönstenunter ihnen erstmals im deutschsprachigen<br />

Raum veröffentlicht. DasPanorama zeigt<br />

das Zarenreich kurz vorseinem Zusammenbruch, mit<br />

seinen schönen und auch weniger schönen Seiten.<br />

Die Reise der AutorenVeronica Buckleyund Philipp<br />

Blom beginnt in St.Petersburg, führtinden Westen<br />

und Nordwesten, dann nach Zentralasien (im Bild:<br />

jüdische Kinder mit ihrem Lehrer in Samarkand,<br />

1911), erreicht den fernen Osten, Sibirien, den Ural<br />

und endet in Moskau. GenevièveLüscher<br />

Philipp Blom, Veronica Buckley(Hrsg.): Das<br />

russische Zarenreich. Eine fotografische Reise 1855–<br />

1918. Brandstätter, Wien 2012. 248Seiten, Fr.66.90.<br />

gebracht worden –ins Polargebiet, wo<br />

grosse Kohlevorkommen unter der Erde<br />

ruhten.<br />

Unter Stalin arbeiteten hier zeitweise<br />

über eine Million Gefangene, oft <strong>weg</strong>en<br />

einer Lappalie als Vorwand verurteilt –<br />

wie Bienek, dem unter anderem ein Telefonbuch,<br />

das er in den Westen brachte,<br />

zum Verhängnis wurde. Das Urteil über<br />

zwanzig Jahre Zwangsarbeit <strong>weg</strong>en<br />

Spionage wurde inzwischen aufgehoben.<br />

Vier Jahre, von 1952 bis 1955, verbrachte<br />

Bienek in Workuta, von einem<br />

Tagauf den anderen herausgerissen aus<br />

dem Leben. Er wollte sich gerade als<br />

Künstler etablieren. Bertolt Brecht hatte<br />

ihn als Schauspielschüler in sein Ensemble<br />

geholt. Nach der skandalösen Verhaftung<br />

rührte Brecht jedoch keinen<br />

Finger für ihn.<br />

Der Autor, Lektor und Kulturredaktor<br />

Horst Bienek, heute bekannt vor allem<br />

durch die literarische Verarbeitung seiner<br />

oberschlesischen Kindheit, hatte<br />

zwar in seinen ersten Roman «Die<br />

Zelle» (1968) schon eigene Erfahrungen<br />

einfliessen lassen, verstand sein damaliges<br />

Buch aber allgemeiner: Die Zelle<br />

war ihm der herausragende Ort des<br />

20. Jahrhunderts schlechthin.<br />

Wieaber wareswirklich?Das erzählt<br />

er in «Workuta»mit grosser Klarheit. Er<br />

schafft allein durch die Chronologie der<br />

Details eine schockierende Nähe. Am<br />

Anfang steht die Ohnmacht in ersten,<br />

nächtlichen Verhören, die mit Willkür<br />

als zermürbender Strategie arbeiten.<br />

«Als ich einmal fragte, warum ich nicht<br />

verhört würde, schob er meine Worte<br />

mit der Hand zurück. Hier hatte nur<br />

einer zu fragen, und das war er. In der<br />

dritten Nacht fing ich an zu schreien.»<br />

Bis Workuta folgt man dem Wirken<br />

dieses Gifts der Mächtigen. Bienek, zeitweise<br />

in der Einzelzelle, beginnt mit absurden<br />

Selbstbefragungen auf der Suche<br />

nach der ihm unterstellten Schuld –weil<br />

er in Berlin eine surrealistische Gruppe<br />

mitgründete? Weil der Mitbegründer als<br />

Trotzkist gebrandmarkt war oder Kontakt<br />

zu einem Jugendfreund bestand, der<br />

sich rühmte, CIA-Agent zu sein?«Meine<br />

Seele war wie aus Blei.»<br />

Man begleitet Bienek mit anderen<br />

Häftlingen auf Transporteins Zwischenlager.<br />

Das anfängliche Abkapseln verschwindet<br />

schnell: «Ich hörte zu, und<br />

ich merkte, ich gehörteschon zu ihnen.»<br />

Selten denkt er noch an den Geschmack<br />

der Sahnebonbons, die er als Kind liebte.<br />

Zwischen die sich immer wiederholenden<br />

Erzählrituale, mit denen man<br />

gegen die Wartezeit angeht, mischt sich<br />

anfangs noch vage Hoffnung. Lieber ein<br />

deutsches Gefängnis als Sibirien. Undes<br />

gibt auch «Humor, der uns überleben<br />

half und der die Zeit verkürzte». Oder<br />

jenen namenlosen Litauer, der den<br />

Schwächeren unter die Fittiche nimmt<br />

und «für zwei schuftete».<br />

Doch der lange, unaufhaltsame Weg<br />

nach Workuta, wo Zehn-Stunden-<br />

Schichten auf Kohleschacht 29 die Regel<br />

sind, ist eine Fallstrecke. Irgendetwas<br />

zerbricht. Das hat sich diesem Erinnerungstext<br />

von Horst Bienek tief eingebrannt,<br />

gerade weil es selten direkt benannt<br />

wird.<br />

Schwierigkeiten bei der Sichtung des<br />

Nachlasses sind auch ein Grund dafür,<br />

warum dieser Text erst heute veröffentlicht<br />

wird. In einem sehr persönlichen<br />

Nachwort schreibt Michael Krüger, wie<br />

er Bienek, der anfangs konsequent alles<br />

klein schrieb, zu normaler Schreibweise<br />

überredete: Inhalt und Form schienen<br />

abstrakt genug; warum unnötig das<br />

Lesen erschweren? Bienek aber wollte<br />

das «Eingesperrtsein» im Vordergrund<br />

haben. Er starb 1990 über den Aufzeichnungen<br />

zu «Workuta», die das abgrundtief<br />

vermitteln. l

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