Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung
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Sachbuch<br />
Arabischer Frühling Während autoritäreRegimes gestürzt wurden, verharren Sexualität und das<br />
Geschlechterverhältnis in alten Strukturen<br />
Gretchenfrageder Revolution<br />
Shereen El Feki: Sexund die Zitadelle.<br />
Liebesleben in der sichwandelnden<br />
arabischen Welt. Hanser,Berlin 2013.<br />
408Seiten, Fr.34.90.<br />
VonSusanne Schanda<br />
Zwei Jahre nach Beginn der Volksaufstände<br />
in der arabischen Welt ist die<br />
Zeit reif für eine Zwischenbilanz. Was<br />
ist aus der euphorischen Aufbruchsstimmung<br />
geworden? Wo ist die Meinungsfreiheit,<br />
wo sind die Frauenrechte?<br />
Bereits wenige Monate nach dem<br />
Sturz Mubaraks wurden in Ägypten erneutDemonstranten<br />
auf der Strassevon<br />
Sicherheitskräften zusammengeschlagen<br />
und brutal gefoltert. An festgenommenen<br />
Demonstrantinnen führten Polizeiärzte<br />
sogenannte Jungfräulichkeitstests<br />
durch. Gegen diese Akte der Gewalt<br />
wird lautstark protestiert und vor<br />
Gericht prozessiert, aber niemand stellt<br />
die gesellschaftliche Funktion der Jungfräulichkeit<br />
in Frage.<br />
An diesem Punkt setzt Shereen El<br />
Feki mit ihrem Buch an. Die ägyptischbritische<br />
Immunologin und Wissenschaftsjournalistin<br />
untersucht die Rolle<br />
der Sexualität, die Beziehung der Geschlechter<br />
und die Machtbeziehungen<br />
innerhalb der Familie vor dem Hintergrund<br />
des politischen Umbruchprozesses<br />
in Ägypten und anderen arabischen<br />
Ländern. Sie weiss, dass die politischen<br />
Revolutionen zum Scheitern verurteilt<br />
sind, wenn sie nicht von sozialen, sexuellen<br />
und kulturellen Veränderungsprozessen<br />
im Bewusstsein begleitet werden.<br />
«Es ist schwer vorstellbar, wie die<br />
Demokratie in einer Gesellschaft florieren<br />
soll, wenn deren konstitutioneller<br />
und kultureller Eckpfeiler in der Familie<br />
so undemokratisch ist», schreibt die Autorin<br />
und stellt fest, dass esfür junge<br />
Frauen und Männer in Ägypten leichter<br />
ist, den Präsidenten zu stürzen, als von<br />
zu Hause auszuziehen.<br />
Doppelmoral im Islam<br />
Shereen El Feki wuchs als Tochter eines<br />
ägyptischen Muslims und einer britischen<br />
Christin, die zum Islam konvertierte,<br />
in Kanada auf. Der Islam wurde<br />
ihr als Kind weder aufgedrängt, noch interessierte<br />
sie sich dafür. Erst mit den<br />
Terroranschlägen vom 11. September<br />
2001 begann sie, sich mit ihrer ägyptisch-muslimischen<br />
Herkunft zu beschäftigen.<br />
Bei ihren Recherchen im<br />
Rahmen einer UN-Kommission über<br />
Aids im arabischen Raum fiel ihr «die<br />
Kluft zwischen dem öffentlichen Anschein,<br />
wie er sich in den Statistiken niederschlug,<br />
und privater Wirklichkeit»<br />
auf. Diese Kluft zwischen Sein und<br />
Schein geht nirgends so tief wie in der<br />
Sexualität. So wird inJemen und Saudi-<br />
Arabien die voreheliche Beziehung zwischen<br />
Jugendlichen nicht toleriert, aber<br />
mit der Verheiratung von Mädchen an<br />
Die ägyptische Nacktfoto-Revolutionärin<br />
Aliaa Elmahdy (Mitte)<br />
protestiertmit zwei<br />
ukrainischen Femen-<br />
Aktivistinnen in<br />
Stockholm gegendie<br />
neue Verfassung in<br />
Ägypten (Dez. 2012).<br />
ältere Männer der institutionalisierten<br />
Pädophilie Vorschub geleistet. Prostitution<br />
ist in Ägypten illegal, funktioniert<br />
aber unter dem Deckmantel von «Vertragsehen»,<br />
wie sie oft von Touristen<br />
aus den Golfstaaten für die Dauer der<br />
Sommerferien mit Ägypterinnen abgeschlossen<br />
werden.<br />
Während fünf Jahren reiste Shereen<br />
El Feki quer durch die arabische Welt,<br />
sprach mit verheirateten, ledigen und<br />
geschiedenen Frauen und Männern,<br />
Bloggerinnen, Salafisten und Muslimbrüdern,<br />
mit einer Fernseh-Sextherapeutin<br />
und Zuhältern, die sich Ehevermittler<br />
nennen. Dabei kommt ihr die<br />
doppelte Identität als Ägypterin und<br />
Aussenstehende zugute. Sie zeigt sowohl<br />
Einfühlungsvermögen wie kritische<br />
Distanz. Die Menschen vertrauen<br />
ihr, weil sie zu ihnen gehört, und sehen<br />
ihr die etwas anrüchige Beschäftigung<br />
mit der Sexualität nach, weil sie eine<br />
Frau aus dem Westen ist. Die Autorin<br />
spannt den historischen Bogen weit zurück<br />
in die heute vergessene Hochzeit<br />
der islamischen Kultur vom 8.bis zum<br />
10. Jahrhundert. Diese war nicht nur<br />
eine Blütezeit der arabischen Wissenschaft,<br />
sondern auch der Sexualität.<br />
In der «Enzyklopädie der Lust» von<br />
Ali ibn Nasr al-Katib aus dem Bagdad<br />
des 10.Jahrhunderts reicht das Themenspektrum<br />
von Bisexualität über Techniken<br />
des Beischlafs, Eifersucht, die Steigerung<br />
der Lust bei Mann und Frau bis<br />
zur Beschreibung des Geschlechtsverkehrsund<br />
vonanzüglichem Sex. All dies<br />
mit der deutlichen Botschaft, dass Sex<br />
ein Geschenk Gottes andie Menschheit<br />
sei und genossen werden soll. Nichts<br />
davon ist übrig geblieben in der Verteufelung<br />
der Sexualität durch die radikalkonservativen<br />
Salafisten. Den Niedergang<br />
der lustvollen Kultur führt El Feki<br />
auf die Kolonisierung im 19. Jahrhundert<br />
zurück, auf die die Araber mit Abschottung<br />
reagierten. Die einstige sexuelle<br />
Freizügigkeit wurde nun als Symptom<br />
von Dekadenz gesehen, als Gegenbe<strong>weg</strong>ung<br />
entstand der islamische Fundamentalismus.<br />
Dieser droht nun die Kinder<br />
der Revolution zu fressen.<br />
Frauen mit Zivilcourage<br />
Shereen El Feki beschönigt nichts in<br />
ihrem Buch. Sie verschweigt weder die<br />
in Ägypten trotz Verbot weit verbreitete<br />
Genitalverstümmelung bei Frauen noch<br />
die gesellschaftliche Stigmatisierung<br />
vongeschiedenen Frauen oder die heimliche<br />
Prostitution aus materieller Not.<br />
Aber sie zeigt auch, wie es in dieser Gesellschaft<br />
brodelt – dank zahlreicher<br />
Frauen mit Zivilcourage, wie der Studentin<br />
Aliaa Elmahdy, die als «Nacktfoto-Revolutionärin»<br />
die Scheinheiligkeit<br />
der Gesellschaft blossgestellt hat,<br />
oder die Radiomacherin Mahasin Sabir,<br />
die geschiedenen Frauen eine Stimme<br />
gibt. Die arabischen Revolten haben<br />
weit mehr als die Korruptheit des politischen<br />
Systems ans Tageslicht gezerrt<br />
und zur Debatte gestellt. An eine sexuelle<br />
Revolution in der arabischen Welt<br />
glaubt Shereen El Feki nicht –wohl aber<br />
an eine sexuelle Neubewertung. Ein<br />
langwieriger Prozess, der jetzt immerhin<br />
begonnen hat. l<br />
Susanne Schanda ist Ägypten-Expertin;<br />
im April erscheint im Rotpunktverlag ihr<br />
Buch «Literatur der Rebellion».<br />
FEMEN<br />
18 ❘ NZZamSonntag ❘ 24.Februar 2013