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Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung

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Kolumne<br />

Charles Lewinskys Zitatenlese<br />

Kurzkritiken Sachbuch<br />

Ichwar schon als kleiner<br />

Jungeein Lügner.<br />

Das kamvom Lesen.<br />

Thomas Sprecher: Schweizer Monat<br />

1921-2012. Eine Geschichteder Zeitschrift.<br />

SMH Verlag,Zürich 2013. 272Seiten, Fr.39.–.<br />

Toby Lester: Die Symmetrie der Welt.<br />

Leonardo und seine berühmtesteZeichnung.<br />

Berlin Verlag,Berlin 2012. 287 S., Fr.37.90.<br />

GAËTAN BALLY/KEYSTONE<br />

Der AutorCharles<br />

Lewinskyarbeitet in<br />

den verschiedensten<br />

Sparten. Sein neues<br />

Buch «Schweizen –<br />

vierundzwanzig<br />

Zukünfte»ist soeben<br />

im Verlag Nagel &<br />

Kimche erschienen.<br />

Isaak Babel<br />

«Alle Autoren sind Lügner», sagt ein<br />

chinesisches Sprichwort. (Und fügt,<br />

gegen alle fernöstliche Höflichkeit<br />

hinzu: «Alle Leser sind Idioten, weil sie<br />

die Lügen glauben.») Der Satz hat was.<br />

(Nur der erste Teil natürlich.) Ein Buch<br />

zu schreiben ist eine der wenigen gesellschaftlich<br />

akzeptierten Arten, die<br />

Unwahrheit zu sagen.<br />

Zugegeben, es gibt auch andere Berufe,<br />

bei denen der ökonomische Umgang<br />

mit der Wahrheit zum professionellen<br />

Alltag gehört. Politiker, zum Beispiel,<br />

oder Werbeleute.<br />

Aber die dürfen den mangelnden<br />

Wirklichkeitsbezug ihrer Aussagen<br />

nicht offen zugeben, sondern müssen<br />

im Brustton der Überzeugung behaupten,<br />

immer nur die Wahrheit und nichts<br />

als die Wahrheit zu sagen. Weil sie<br />

sonst nämlich Gefahr laufen, ihr Amt<br />

zu verlieren. Oder, noch viel schlimmer,<br />

ihren Account.<br />

Wir Schreiberlinge hingegen…<br />

Wir dürfen von Heldentaten erzählen,<br />

die nie stattgefunden haben,<br />

dürfen uns Liebesgeschichten mit<br />

bonbonrosafarbigen Happyends ausdenken,<br />

dürfen unsere Protagonisten<br />

Schlachten schlagen lassen, in denen<br />

wir ganz allein über Sieger und Verlierer<br />

entscheiden.<br />

Wir dürfen alles. Manchmal bekommen<br />

wir sogar Preise dafür.<br />

Und der Leser, dieser nette Mensch,<br />

ist stets bereit, uns unsere Lügen zu<br />

glauben. Nicht etwa, weil er ein Idiot<br />

ist –Schande über den unhöflichen<br />

chinesischen Sprichworterfinder! –,<br />

sondern weil er weiss, dass die sonst so<br />

gut bewachte Grenze zwischen Wahrheit<br />

und Erfindung in einem Buch<br />

durchlässig wird. Und weil die literarische<br />

Lüge manchmal viel wahrer sein<br />

kann als die Wirklichkeit, die sie zu<br />

beschreiben vorgibt.<br />

Einmal, ich erinnere mich gern<br />

daran, ist mir so ein perfektes Täuschungsmanöver<br />

gelungen. Als ein<br />

Kritiker «Melnitz» rezensierte und<br />

meinte, manche der Figuren, die darin<br />

vorkämen, müssten wohl ein reales<br />

Vorbild haben. Weil man nämlich,<br />

schrieb er, so lebendige Charaktere<br />

nicht erfinden könne.<br />

Für den schreibenden Berufslügner<br />

ist so eine Bemerkung schon fast der<br />

Münchhausen-Pokal.<br />

Ja, wir dürfen rund um die Uhr nach<br />

Herzenslust lügen und schummeln.<br />

Und nur schon deshalb ist das Schreiberleben<br />

auch immer ein reines Vergnügen<br />

und hat mit wirklicher Arbeit<br />

überhaupt nichts zu tun.<br />

(Was eben, falls Sie es<br />

nicht gemerkt haben<br />

sollten, auch schon<br />

wieder gelogen war.)<br />

Im Oktober 2012 feierte der «Schweizer<br />

Monat» seine 1000. Ausgabe. Nun wirft<br />

Thomas Sprecher,Jurist und Germanist,<br />

einen Blick auf die wechselvolle Geschichte<br />

des Journals, dessen Verlag er<br />

präsidiert. 1921 gegründet, geriet das<br />

Blatt erst unter frontistisch-deutschfreundlichen<br />

Einfluss bis 1934. ImZweiten<br />

Weltkrieg schaffte es die Wende,<br />

seither versteht es sich als intellektueller<br />

Vorposten des Liberalismus mit stark<br />

kultureller Ausrichtung. Zu den Mitarbeitern<br />

zählten Persönlichkeiten wie<br />

Carl J. Burckhardt, Friedrich August von<br />

Hayek, Ludwig Erhard, Herbert Lüthy,<br />

Hugo Loetscher und François Bondy.<br />

Seit 2008 führt eine freche junge Crew<br />

die Publikation zu neuem Erfolg. Auch<br />

wenn ein paar Kürzungen der Chronik<br />

gut getan hätten, illustriert sie doch lebhaft<br />

das Werden einer Zeitschrift, die<br />

der Autor Rolf Dobelli heute «das intelligenteste<br />

Magazin der Schweiz» nennt.<br />

UrsRauber<br />

Ritchie Pogorzelski: Die Traianssäule in<br />

Rom. Nünnerich-Asmus, Mainz 2012.<br />

146Seiten, Fr.40.90.<br />

Aufdem Forum in Romsteht ganz allein<br />

eine fast 40 Meter hohe, innen begehbare<br />

Marmorsäule. Auf ihrer Aussenseite<br />

windet sich ein 200 Meter langer Fries<br />

in die Höhe; wie ein Comicstreifen stellt<br />

er den Sieg Kaiser Traians über die<br />

Daker dar.Der heutigeBesucher vermag<br />

die Bilder kaum noch zu erkennen,<br />

zumal die ätzende Luft Roms vieles bereits<br />

<strong>weg</strong>gefressen hat. Schade,denn die<br />

vielen Details geben das lebendige Bild<br />

eines Heereszuges ab. 1400 neue Fotos<br />

des steinernen Frieses hat der Autor für<br />

das Buch aufgenommen, am Computer<br />

entzerrt und koloriert, denn auch die<br />

Traianssäule war einst farbig bemalt.<br />

2500 Figuren – Legionäre, Offiziere,<br />

Pferde, Wagen –bevölkern die Bilder,<br />

auch kleinste Details wie Schuhe oder<br />

Waffen sind liebevoll dargestellt. Die<br />

Handlung wirdineinem kurzen Begleittext<br />

erläutert. Für Romfans ein Muss!<br />

GenevièveLüscher<br />

Der nackte Mann im Kreis und Quadrat<br />

ziert heute T-Shirts, Euromünzen und<br />

Kaffeetassen. Leonardo da Vinci hat ihn<br />

wohl im Jahr 1490 als Selbstporträt gezeichnet.<br />

Mit diesem «vitruvianischen<br />

Menschen» gelingt dem 38-jährigen Leonardo<br />

die Visualisierung einer Theorie,die<br />

der römische Architekt Vitruvin<br />

Worten dargelegt hatte und die, von der<br />

Antike ins mittelalterliche Christentum<br />

tradiert, über 2000 Jahre lebendig war:<br />

die Idee nämlich, dass der menschliche<br />

Körper einen Mikrokosmos darstelle, in<br />

dem sich die göttliche Ordnung von<br />

Kosmos und Welt im Kleinen darstellt.<br />

Wo diese Idee auftaucht (in den Visionen<br />

der Hildegard von Bingen etwa, in<br />

frühen Weltkarten, in Christus-Darstellungen)<br />

und wie nach anderen Architekten-Künstlern<br />

der Renaissance gerade<br />

Leonardo ihreideale Darstellung gelang<br />

–dies ist das Thema dieses brillanten<br />

und wunderbar illustrierten Buches.<br />

Kathrin Meier-Rust<br />

Christoph Zürcher: Wieich Kannibalen,<br />

die Taliban und die stärkstenFrauen<br />

überlebte. Orell Füssli 2013. 219 S., Fr.26.90.<br />

Eine Expedition zu Menschenfressern.<br />

Skirennen in Afghanistan. Aufder Suche<br />

nach Bin Laden in Pakistan. Besuch<br />

beim Matriarchat in China. Christoph<br />

Zürchers grosse Reisereportagen im<br />

Gesellschafts-Bund der «NZZ am Sonntag»<br />

sind legendär: weil sie polarisieren,<br />

vom Publikum entweder als «ignorant»<br />

und «despektierlich» verdammt oder<br />

als gnadenlos unterhaltender Lesestoff<br />

verschlungen werden. Der Autor pflegt<br />

einen radikal subjektiven, umwerfend<br />

selbstironischen und gleichzeitig gesellschaftskritischen<br />

Journalismus. Man<br />

kann ihn nur lieben –oder hassen. Auch<br />

ich bekenne mich, nach anfänglicher<br />

Skepsis, als Fander blühenden Abenteuergeschichten.<br />

Das Buch versammelt 18<br />

vonihnen in geballter Wucht. Wierecht<br />

hat doch ein Leser: «Christoph Zürcher<br />

ist der Karl May der Gegenwart –nur<br />

authentischer,humorvoller,packender.»<br />

UrsRauber<br />

24.Februar 2013 ❘NZZamSonntag ❘ 15

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