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Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung

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Essay<br />

▼<br />

«Emily Dickinsons Lyrik<br />

ist mutig, frei und radikal,<br />

ver<strong>weg</strong>en bis zur<br />

Blasphemie und mitunter<br />

schockierend rückhaltlos in<br />

ihrer Selbstenthüllung.»<br />

legte und Schluss machte mit der weit verbreiteten<br />

Vorstellung, Dickinson sei eine Dichterin<br />

ohne jede Entwicklung. Ich stürzte mich<br />

drauf. Eswar atemberaubend, zu beobachten,<br />

wie sich dieses riesige Werk inseiner ganzen<br />

Fülle Zug umZug entfaltete. Um meinem Verständnis<br />

auf die Sprünge zuhelfen und mir so<br />

etwaswie eine Vertrautheit aus der Ferne anzueignen,<br />

las ich mich nebenbei durch ganze Regale<br />

von Sekundärliteratur, die ich aus der Zürcher<br />

Zentralbibliothek nach Hause schleppte –<br />

Biografien, Geschichtsbücher und Stapel von<br />

Einzeldarstellungen. Nur die beiden stockfleckigen<br />

Bände eines Websters aus dem Jahr 1832<br />

(fast das gleiche Wörterbuch lag bei Emily Dickinson<br />

ständig auf dem Tisch) mussten im Lesesaal<br />

bleiben.<br />

So viel verstand ich, je mehr ich las: Diese<br />

Dichterin ist weit mehr als hundert Jahre weit<br />

<strong>weg</strong> von der damals von Frauen ihres puritanischen<br />

Milieus geforderten biederen Schicklichkeit.<br />

Ihre Lyrik ist mutig, frei und radikal in der<br />

Erforschung von Lebens- und Liebesfragen,<br />

ver<strong>weg</strong>en bis zur Blasphemie in der Durchleuchtung<br />

von Glaubensinhalten und mitunter<br />

schockierend rückhaltlos im Ausmass der<br />

Selbstenthüllung. Kein Wunder, dass sie ihre<br />

Kühnheiten lebenslang unter Verschluss hielt.<br />

Unerschütterlich ist dabei ihr Vertrauen in<br />

die Bannkraft der poetischen Sprache. Die<br />

akustischen Finessen der lyrischen Tradition<br />

hatte sie von Kirchenliedern her seit Kindertagen<br />

imOhr und setzte sie ein als die zauberischen<br />

Suggestionstechniken, die sie von Alters<br />

her waren –ein das Denken und Sprechen auf<br />

Touren bringendes und seine Logik, Eindringlichkeit<br />

und Schlagkraft erhöhendes Instrument.<br />

Das sollte in meiner Übersetzung hörbar<br />

sein, nahm ich mir vor. Doch genau dagegen<br />

leisten Gedichte, eben weil sie Gedichte sind,<br />

extremen Widerstand. Schillernd vor Vieldeutigkeiten,<br />

spielen sie gleichzeitig auf mehreren<br />

Ebenen. Unmöglich, das alles in einer anderen<br />

Sprache nachzubilden, noch dazu, wenn der<br />

dafür vorgesehene Raum durch Metrum und<br />

Reim so streng eingeengt ist wie sonst nie. Das<br />

Der Grabstein vonEmily Dickinson auf dem Friedhofvon<br />

Amherst (MA), im Nordostender USA.<br />

kann nicht gutgehen. JacobGrimm hatesschon<br />

vorüber 200 Jahren gewusst: «Eine treue Übersetzung<br />

eines wahren Gedichts ist unmöglich,<br />

sie müsste, um nicht schlechter zu sein, mit<br />

dem Original zusammenfallen.»<br />

Also lässt man besser die Finger davon? –<br />

«Impossibility, like Wine /Exhilirates the Man<br />

/Who tastes it» (Unmöglichkeit, wie Wein /<br />

Beschwingt den, der sie kostet) –sobeginnt<br />

eins von Dickinsons Gedichten. Man kann es<br />

auf viele Spielarten der Unmöglichkeit beziehen,<br />

und natürlich sind die hier Angesprochenen<br />

nicht nur Männer. Rechnet man auch die<br />

Unmöglichkeit, Dickinsons Lyrik zu übersetzen,<br />

dazu, dann redet das Gedicht vombelebenden<br />

Bedürfnis, es trotzdem zu tun.<br />

BETH HARPAZ /AP<br />

Dickinson-Liebhaber in aller Welt<br />

Dass esungeachtet aller Hindernisse gelingen<br />

kann, dafür steht kein Geringerer als Paul<br />

Celan. Insgesamt zehn Gedichte von Emily Dickinson<br />

hat er1959 und 1963 mit einer umwerfenden<br />

Prägnanz übersetzt, die mir bewusst<br />

machte, was auf Deutsch möglich ist. Ein Beispiel:<br />

Die Verszeile «We slowly drove – He<br />

knew nohaste» (aus dem Gedicht «Because I<br />

could not stop for Death») übersetzt Celan:<br />

«Ihm gingsauch langsamschnell genug.» Seine<br />

Version mit dem Zusammenprall der antithetischen<br />

Kontraste genau in der Versmitte gefällt<br />

mir noch besser als das Original. Man kann von<br />

ihr lernen. Sie zukopieren, verbietet sich von<br />

selbst. Meine Version desselben Verses ist zwar<br />

näher am Original, aber weniger brillant: «Gemächlich<br />

gings–Ihm eilt es nicht.» Die Ermunterung<br />

durch Celans Version war jedoch beträchtlich.<br />

Sie setzte Massstäbe. Dass man Einfallsreichtum<br />

trainieren kann wie die Fingerfertigkeit<br />

beim Klavierspielen, ist eine alte Übersetzerweisheit.<br />

Weit davon entfernt, meine Tätigkeit<br />

als Dichten einzuschätzen, sehe ich mich<br />

selber als mittlerweile gut trainierte Vermittlerin,<br />

respektvoll hingegeben an eine überwältigende<br />

Arbeit. Die hat mir mit den Jahren auch<br />

ihre elende Seite offenbart, doch will ich hier<br />

nicht jammern. Denn klar steht mir vor Augen,<br />

wasEmilyDickinson mir inzwischen geschenkt<br />

hat zusätzlich zu ihrer Lyrik: ergiebige (wenn<br />

auch oft nur elektronische) Kontakte mit Dickinson-Liebhabern<br />

und -Experten in aller Welt<br />

und viele Freunde, die ich mit meiner Freude<br />

angesteckt habe.<br />

Diese so spät entdeckte Dichterin durchquert<br />

inzwischen Zeiten und Räume. Schon vor<br />

Jahrzehnten ist eine erste japanische Übersetzung<br />

ihrer sämtlichen Gedichte erschienen. Es<br />

gibt italienische und französische Gesamtausgaben.<br />

Zurzeit entsteht eine Übersetzung ins<br />

Chinesische, und in Shanghai wird eine Konferenz<br />

vorbereitet zum Thema «Emily Dickinson<br />

–aWorld Poet».<br />

Skrupulöser geworden<br />

Meine zweisprachige Anthologie mit etwas<br />

über 600 Gedichten ist 2006 bei Hanser erschienen,<br />

und seit zwei Jahren gibt es davon<br />

eine Taschenbuchausgabe bei Fischer.<br />

Doch habe ich mit dem Übersetzen nicht aufgehört<br />

und arbeiteseit Jahren kontinuierlich an<br />

der ersten deutschen Ausgabe sämtlicher Gedichte.<br />

Es geht langsam voran, nicht nur, weil<br />

jetzt auch eine Reihe von fast unlösbar rätselhaften<br />

Gedichten auf dem Programm steht,<br />

sondern auch, weil ich bei der Arbeit in all den<br />

Jahren nicht etwa routinierter,sondern vorsichtiger,skrupulöser<br />

geworden bin. Schier endlose<br />

Knobeleien verfolgen mich weit jenseits vom<br />

Schreibtisch mittlerweile überallhin. Und ich<br />

bin glücklich damit.<br />

EmilyDickinson hat, seit ich ihr Gesamtwerk<br />

in- und auswendig kenne, für mich ein neues<br />

Gesicht bekommen. Jetzt sehe ich den tiefen<br />

Abdruck der Schrecken des amerikanischen<br />

Bürgerkriegs inihren Gedichten. Noch abgründiger<br />

kommt mir nun ihr Reden vom Tod vor,<br />

noch intensiver ihre Diesseitsfreude, noch moderner<br />

ihre Skepsis in religiösen Dingen und<br />

ihre Erforschung der «Keller» unserer Seele.<br />

Und manchmal sehe ich aus dem 19. Jahrhundert<br />

eine Zeitgenossin auf mich zukommen.<br />

Wenn das keine wundersame Erweiterung der<br />

Pupillen ist. l<br />

Gunhild Kübler übersetzt zurzeit sämtliche<br />

1800 Gedichtevon EmilyDickinson. Der<br />

Erscheinungstermin ist noch offen.<br />

14 ❘ NZZamSonntag ❘ 24.Februar 2013

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