Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung
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Essay<br />
Übersetzungen vonKlassikern boomen. Worin liegt der Reiz, sich<br />
jahrelang mit einer Lyrikerin zu beschäftigen?Unter anderem darin, sich<br />
der Verführungskrafteines grossartigen Werksauszusetzen, schreibt die<br />
Emily-Dickinson-Übersetzerin Gunhild Kübler<br />
Endlose<br />
Knobeleien<br />
Am Anfang war die Freude am Original: ein<br />
verblüfftes Aufhorchen, dann Begeisterung,<br />
eine Art Erhebung –oder, umesmit dem Titel<br />
eines Gedichtbands von Niklaus Meienberg zu<br />
sagen: «Die Erweiterung der Pupillen beim Eintritt<br />
ins Hochgebirge». Wobei das Hochgebirge<br />
in meinem Fall ein orangerotes Reclam-Bändchen<br />
mit etwas über hundert Gedichten der<br />
amerikanischen Lyrikerin Emily Dickinson<br />
(1830–1886) war.<br />
Bald fünfzehn Jahreist das nun her.Einer der<br />
Freunde in einem Lesezirkel, dem ich seit Jahrzehnten<br />
angehöre, hatte vorgeschlagen, Emily<br />
Dickinsons Lyrik auf unser monatliches Lektüreprogramm<br />
zu setzen. Auf diese Idee wäre ich<br />
selbst nie gekommen. Während meines Anglistikstudiums<br />
hatte ich nichts von dieser Dichterin<br />
gehört, was damit zusammenhängen mag,<br />
dass sie zu Lebzeiten von den rund 1800 Gedichten<br />
ihres Gesamtwerks nur 10 anonym veröffentlicht<br />
hat und die spätere Edition ihrer<br />
Lyrik mehr als ein halbes Jahrhundert lang von<br />
Familienfehden behindert war. Auch fand ihre<br />
feministische Entdeckung erst statt, als ich<br />
schon nicht mehr an der Universität war. Und<br />
zudem war mit den Jahren mein früher intensivesInteresse<br />
an Lyrik abgekühlt. Ichkonntemir<br />
nicht vorstellen, dass esnoch einmal aufflammen<br />
würde.<br />
Gewagte Bilder<br />
Unlustig öffneteich also das Reclam-Bändchen<br />
in der ersten Hälfte, und mein Blick fiel auf ein<br />
Gedicht, von dem ich heute weiss, dass esin<br />
Dickinsons Werk nicht gerade zu den bedeutenden<br />
gehört. «If Ishould’nt be alive /When<br />
the Robins come /Give the one in Red Cravat,<br />
/AMemorial crumb», hiess esdainkraftvollen,<br />
gereimten Versen. Rechts davon in umständlicher<br />
deutscher Prosa: «Wenn ich nicht<br />
am Leben sein sollte/Wenn die Drosseln kommen<br />
/Gib der einen in roter Krawatte /Einen<br />
Erinnerungskrumen.»<br />
Ich weiss noch, dass mir diese Vogel-Fütter-<br />
Szene als Ritual des Andenkens an eine verstorbene<br />
Freundin sentimental vorkam –solange,<br />
12 ❘ NZZamSonntag ❘ 24.Februar 2013<br />
bis ich die zweite und letzte Strophe gelesen<br />
hatte: «If Icould’nt thank you, /Being fast asleep,/You<br />
will knowI’m trying /With my Granite<br />
lip!»<br />
Vonseinem Schlussvers her wird der Achtzeiler<br />
wie unter Strom gesetzt. Starkes Zooming<br />
reisst einen beim Lesen plötzlich unter<br />
den Boden, wo die jetzt noch lebendige Freundin<br />
einst mit geschlossenen Augen ruhen wird<br />
wie eine Statue. Riesig vergrössert erscheint ihr<br />
Mund und zeigt sie für immer unerreichbar und<br />
radikal verwandelt, nämlich in Granit –aber<br />
«Metrum, Rhythmus und<br />
Reim bringen den Text im<br />
Original in ein weiches<br />
Wiegen und Ziehen, laden<br />
ihn auf mit Leiden und<br />
mit Leidenschaft.»<br />
trotzdem noch der angeredeten Person liebevoll<br />
zugetan. Anders ist nicht zu erklären, dass<br />
sie auch noch als Tote versucht, mit ihr zu<br />
reden. Der kleine, von seinem Ende her herzzerreissende<br />
Text inszeniert prägnant die brutale<br />
Endgültigkeit des Tods und zugleich den<br />
hinfälligen Versuch eines Einspruchs der Liebe.<br />
Gleich darauf las ich mich fest an einem Liebesgedicht.<br />
Darin gesteht eine Frau, dass sie<br />
alle beneidet, die an ihrer Statt mit dem abgereisten<br />
Geliebten zusammen sein dürfen: das<br />
Meer, auf dem er fortsegelt, die Räder seines<br />
Wagens, die ihm nachblickende Landschaft,<br />
Spatzen auf seinem Dach, Fliegen am Fenster,<br />
zuletzt sogar das pureTageslicht um ihn herum<br />
und ganz besonders die Mittagsglocken. Sie<br />
selbst wolle ihm Mittag sein, heisst es mysteriös.<br />
Ein gewagtes Bild. Wergenauer hinsieht,<br />
erkennt weit mehr als die beiden mittags aufeinanderliegenden<br />
Zeiger einer Turmuhr.<br />
Im Original beginnt das Ganze so: «I envy<br />
Seas, whereon He rides –/Ienvy Spokes of<br />
Wheels /OfChariots, thatHim convey –Ienvy<br />
Crooked Hills // That gaze opon His journey–/<br />
HoweasyAll can see /Whatisforbidden utterly<br />
/AsHeaven –unto me!»<br />
Und soweiter über sechs Strophen hin. Metrum,<br />
Rhythmus und Reim bringen den Text im<br />
Original in ein weiches Wiegen und Ziehen,<br />
laden ihn auf mit Leiden und Leidenschaft. Die<br />
deutsche Version jedoch bleibt bei Prosa und<br />
beginnt mit einem unfreiwilligen Witz: «Ich beneide<br />
das Meer, auf dem er schifft.»<br />
Ihre Stimme zum Leuchten bringen<br />
Trotzdem hat die Lektüre dieses Reclam-Bändchens<br />
–feierlich gesagt –mein Leben verändert.<br />
Nicht nur <strong>weg</strong>enmeiner Freude am Original,<br />
sondern sicher auch weil die Übersetzung<br />
so unbefriedigend war. Hätte ich damals gleich<br />
das Bändchen von Lola Gruenthal in der Hand<br />
gehabt, die mit viel Sinn für den Klang deutscher<br />
Verse circa hundert Gedichte übersetzt<br />
hat, oder die Ausgabe vonWerner vonKoppenfels,<br />
der mehr als dreihundert Gedichte vorlegte<br />
–wer weiss, ob ich selber hätte in Aktion<br />
treten wollen.<br />
So aber drängteesmich, meine Begeisterung<br />
produktiv zumachen, das heisst, diese Dichterin<br />
und ihre Zeit so gründlich wie nur möglich<br />
kennenzulernen und gleichzeitig auszuprobieren,<br />
ob sich das, wasdiese wunderbareGeistesstimme<br />
aus der Vergangenheit einst zum Ausdruck<br />
gebracht hatte,auf Deutsch mit ähnlicher<br />
Leuchtkraft würde sagen lassen. Mehrere<br />
Schulhefte füllten sich nun mit meinen metrisch<br />
strengen und gereimten Versionen des<br />
Reclam-Bändchens: «Ich neid dem Meer, dass<br />
es Ihn trägt –/Beneid des Rades Speichen /An<br />
Wagen, die ihn fahren –/Beneid die Hügelreiche<br />
// Landschaft die Seine Reise sieht –/Wie<br />
leicht fällt jeder Blick /Auf das was ganz verborgen<br />
ist –/Für mich –wie Himmelsglück!»<br />
und so weiter.<br />
Zurgleichen Zeit erschien bei HarvardPress<br />
eine neue dreibändige Dickinson-Ausgabe. Es<br />
war die erste, die auf Grund der Originalhandschriften<br />
eine Chronologie ihrer Lyrik fest-<br />
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