18.01.2014 Aufrufe

Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung

Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung

Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Essay<br />

Übersetzungen vonKlassikern boomen. Worin liegt der Reiz, sich<br />

jahrelang mit einer Lyrikerin zu beschäftigen?Unter anderem darin, sich<br />

der Verführungskrafteines grossartigen Werksauszusetzen, schreibt die<br />

Emily-Dickinson-Übersetzerin Gunhild Kübler<br />

Endlose<br />

Knobeleien<br />

Am Anfang war die Freude am Original: ein<br />

verblüfftes Aufhorchen, dann Begeisterung,<br />

eine Art Erhebung –oder, umesmit dem Titel<br />

eines Gedichtbands von Niklaus Meienberg zu<br />

sagen: «Die Erweiterung der Pupillen beim Eintritt<br />

ins Hochgebirge». Wobei das Hochgebirge<br />

in meinem Fall ein orangerotes Reclam-Bändchen<br />

mit etwas über hundert Gedichten der<br />

amerikanischen Lyrikerin Emily Dickinson<br />

(1830–1886) war.<br />

Bald fünfzehn Jahreist das nun her.Einer der<br />

Freunde in einem Lesezirkel, dem ich seit Jahrzehnten<br />

angehöre, hatte vorgeschlagen, Emily<br />

Dickinsons Lyrik auf unser monatliches Lektüreprogramm<br />

zu setzen. Auf diese Idee wäre ich<br />

selbst nie gekommen. Während meines Anglistikstudiums<br />

hatte ich nichts von dieser Dichterin<br />

gehört, was damit zusammenhängen mag,<br />

dass sie zu Lebzeiten von den rund 1800 Gedichten<br />

ihres Gesamtwerks nur 10 anonym veröffentlicht<br />

hat und die spätere Edition ihrer<br />

Lyrik mehr als ein halbes Jahrhundert lang von<br />

Familienfehden behindert war. Auch fand ihre<br />

feministische Entdeckung erst statt, als ich<br />

schon nicht mehr an der Universität war. Und<br />

zudem war mit den Jahren mein früher intensivesInteresse<br />

an Lyrik abgekühlt. Ichkonntemir<br />

nicht vorstellen, dass esnoch einmal aufflammen<br />

würde.<br />

Gewagte Bilder<br />

Unlustig öffneteich also das Reclam-Bändchen<br />

in der ersten Hälfte, und mein Blick fiel auf ein<br />

Gedicht, von dem ich heute weiss, dass esin<br />

Dickinsons Werk nicht gerade zu den bedeutenden<br />

gehört. «If Ishould’nt be alive /When<br />

the Robins come /Give the one in Red Cravat,<br />

/AMemorial crumb», hiess esdainkraftvollen,<br />

gereimten Versen. Rechts davon in umständlicher<br />

deutscher Prosa: «Wenn ich nicht<br />

am Leben sein sollte/Wenn die Drosseln kommen<br />

/Gib der einen in roter Krawatte /Einen<br />

Erinnerungskrumen.»<br />

Ich weiss noch, dass mir diese Vogel-Fütter-<br />

Szene als Ritual des Andenkens an eine verstorbene<br />

Freundin sentimental vorkam –solange,<br />

12 ❘ NZZamSonntag ❘ 24.Februar 2013<br />

bis ich die zweite und letzte Strophe gelesen<br />

hatte: «If Icould’nt thank you, /Being fast asleep,/You<br />

will knowI’m trying /With my Granite<br />

lip!»<br />

Vonseinem Schlussvers her wird der Achtzeiler<br />

wie unter Strom gesetzt. Starkes Zooming<br />

reisst einen beim Lesen plötzlich unter<br />

den Boden, wo die jetzt noch lebendige Freundin<br />

einst mit geschlossenen Augen ruhen wird<br />

wie eine Statue. Riesig vergrössert erscheint ihr<br />

Mund und zeigt sie für immer unerreichbar und<br />

radikal verwandelt, nämlich in Granit –aber<br />

«Metrum, Rhythmus und<br />

Reim bringen den Text im<br />

Original in ein weiches<br />

Wiegen und Ziehen, laden<br />

ihn auf mit Leiden und<br />

mit Leidenschaft.»<br />

trotzdem noch der angeredeten Person liebevoll<br />

zugetan. Anders ist nicht zu erklären, dass<br />

sie auch noch als Tote versucht, mit ihr zu<br />

reden. Der kleine, von seinem Ende her herzzerreissende<br />

Text inszeniert prägnant die brutale<br />

Endgültigkeit des Tods und zugleich den<br />

hinfälligen Versuch eines Einspruchs der Liebe.<br />

Gleich darauf las ich mich fest an einem Liebesgedicht.<br />

Darin gesteht eine Frau, dass sie<br />

alle beneidet, die an ihrer Statt mit dem abgereisten<br />

Geliebten zusammen sein dürfen: das<br />

Meer, auf dem er fortsegelt, die Räder seines<br />

Wagens, die ihm nachblickende Landschaft,<br />

Spatzen auf seinem Dach, Fliegen am Fenster,<br />

zuletzt sogar das pureTageslicht um ihn herum<br />

und ganz besonders die Mittagsglocken. Sie<br />

selbst wolle ihm Mittag sein, heisst es mysteriös.<br />

Ein gewagtes Bild. Wergenauer hinsieht,<br />

erkennt weit mehr als die beiden mittags aufeinanderliegenden<br />

Zeiger einer Turmuhr.<br />

Im Original beginnt das Ganze so: «I envy<br />

Seas, whereon He rides –/Ienvy Spokes of<br />

Wheels /OfChariots, thatHim convey –Ienvy<br />

Crooked Hills // That gaze opon His journey–/<br />

HoweasyAll can see /Whatisforbidden utterly<br />

/AsHeaven –unto me!»<br />

Und soweiter über sechs Strophen hin. Metrum,<br />

Rhythmus und Reim bringen den Text im<br />

Original in ein weiches Wiegen und Ziehen,<br />

laden ihn auf mit Leiden und Leidenschaft. Die<br />

deutsche Version jedoch bleibt bei Prosa und<br />

beginnt mit einem unfreiwilligen Witz: «Ich beneide<br />

das Meer, auf dem er schifft.»<br />

Ihre Stimme zum Leuchten bringen<br />

Trotzdem hat die Lektüre dieses Reclam-Bändchens<br />

–feierlich gesagt –mein Leben verändert.<br />

Nicht nur <strong>weg</strong>enmeiner Freude am Original,<br />

sondern sicher auch weil die Übersetzung<br />

so unbefriedigend war. Hätte ich damals gleich<br />

das Bändchen von Lola Gruenthal in der Hand<br />

gehabt, die mit viel Sinn für den Klang deutscher<br />

Verse circa hundert Gedichte übersetzt<br />

hat, oder die Ausgabe vonWerner vonKoppenfels,<br />

der mehr als dreihundert Gedichte vorlegte<br />

–wer weiss, ob ich selber hätte in Aktion<br />

treten wollen.<br />

So aber drängteesmich, meine Begeisterung<br />

produktiv zumachen, das heisst, diese Dichterin<br />

und ihre Zeit so gründlich wie nur möglich<br />

kennenzulernen und gleichzeitig auszuprobieren,<br />

ob sich das, wasdiese wunderbareGeistesstimme<br />

aus der Vergangenheit einst zum Ausdruck<br />

gebracht hatte,auf Deutsch mit ähnlicher<br />

Leuchtkraft würde sagen lassen. Mehrere<br />

Schulhefte füllten sich nun mit meinen metrisch<br />

strengen und gereimten Versionen des<br />

Reclam-Bändchens: «Ich neid dem Meer, dass<br />

es Ihn trägt –/Beneid des Rades Speichen /An<br />

Wagen, die ihn fahren –/Beneid die Hügelreiche<br />

// Landschaft die Seine Reise sieht –/Wie<br />

leicht fällt jeder Blick /Auf das was ganz verborgen<br />

ist –/Für mich –wie Himmelsglück!»<br />

und so weiter.<br />

Zurgleichen Zeit erschien bei HarvardPress<br />

eine neue dreibändige Dickinson-Ausgabe. Es<br />

war die erste, die auf Grund der Originalhandschriften<br />

eine Chronologie ihrer Lyrik fest-<br />

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!