Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung
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Kurzkritiken Belletristik<br />
E-Krimi des Monats<br />
Die Fahnder austricksen<br />
Johann Nestroy:Historisch-kritische<br />
Ausgabe. Ergänzungen. Deuticke,<br />
Wien 2012. 652Seiten, Fr.89.90.<br />
Katherine Mansfield: In einer deutschen<br />
Pension. Erzählungen. Illustriert vonJoe<br />
Villion. Büchergilde,2012. 276 S., Fr.35.40.<br />
KeigoHigashino: VerdächtigeGeliebte.<br />
Ausdem Japanischen vonUrsula Gräfe.<br />
Klett-Cotta, Stuttgart 2013. 320 Seiten,<br />
Fr.27.90,E-Book 18.90.<br />
Dass der Ergänzungsband einer historisch-kritischen<br />
Ausgabe dem allgemeinen<br />
Publikum zur Lektüre empfohlen<br />
wird, bedarf der Erklärung. Hier ist sie:<br />
Der Wiener Johann Nestroy ist, Grillparzer<br />
hin, Hebbel her, der bedeutendste<br />
deutsche Dramatiker des 19. Jahrhunderts<br />
nach Goethe, Schiller, Kleist und<br />
Büchner. Ein Komiker von Shakespeare’schem<br />
Format. Deshalb ist er in<br />
einer gründlichen, wenngleich hässlichen<br />
Gesamtausgabe gewürdigt worden.<br />
Nun ist jedoch etwas eingetreten,<br />
das der Albtraum aller Editoren, aber<br />
der Traum der geneigten Leser ist. Just<br />
als die emsigen Germanisten ihreArbeit<br />
für abgeschlossen hielten, sind entscheidende<br />
neue Manuskripte aufgetaucht:<br />
jene der Dramen «Der Weltuntergang»<br />
und «Die schlimmen Buben in der Schule».<br />
Sie erscheinen hier erstmals in<br />
authentischer Gestalt. Lustigeres kann<br />
man schwerlich lesen.<br />
Manfred Papst<br />
Techno der Jaguare. <strong>Neue</strong> Erzählerinnen<br />
aus Georgien. Frankfurter Verlags-Anstalt,<br />
Frankfurt a. M. 2013. 256 Seiten, Fr.28.40.<br />
Ist nicht allein der Titel ein Versprechen?<br />
«Techno»: laut und durchdringend.<br />
«Jaguare»: gefährlich und geschmeidig.<br />
Wirlesen hier vier Erzählungen,<br />
einen Auszug aus einer Erzählung,<br />
einen aus einem Roman –der diesem<br />
Sammelband den Titel lieh –sowie ein<br />
Theaterstück. In den Texten der sieben<br />
georgischen Autorinnen, Jahrgängezwischen<br />
1964 und 1983, finden wir zwar<br />
jenen rauen Exotismus, den wir spontan<br />
mit dem Land am Schwarzen Meer verbinden:<br />
Kriege, patriarchalische Strukturen.<br />
Doch dann erleben die Protagonistinnen<br />
auch ganz ähnliche Dramen<br />
wie wir; oder es geht um die Ausgrenzung<br />
von Behinderten. Was «Techno<br />
der Jaguare» zu einer Bereicherung unserer<br />
angelsächsisch dominierten Lektüre<br />
macht, ist mitunter das Suchende,<br />
Fordernde im Ton. Auf jeden Fall möchte<br />
man mehr aus dieser Fremde lesen.<br />
Regula Freuler<br />
Die gebürtige Neuseeländerin Katherine<br />
Mansfield, die vor 90Jahren erst<br />
34-jährig an Tuberkulose starb, gehört<br />
zu den Wegbereiterinnen der modernen<br />
englischen Shortstory: Kühl und knapp<br />
sind ihre Geschichten. In Anbetracht<br />
der Überschaubarkeit ihres Werks von<br />
73 Storys ist Mansfield eine erstaunlich<br />
kontinuierlich rezipierte Autorin. Erst<br />
letztes Jahr hat der Diogenes-Verlag<br />
sämtliche Erzählungen neu aufgelegt, in<br />
Elisabeth Schnacks Übersetzung von<br />
1980. Von diesen gibt die Edition Büchergilde<br />
jene 13 heraus, mit denen die<br />
Autorin 1909 debütierte. Die deutsche<br />
Künstlerin Joe Villion, eine Schülerin<br />
Henning Wagenbreths, hat sie illustriert:<br />
in Konfekt-Farben und mit Art-<br />
Déco-Anleihen. Bei Diogenes bekommt<br />
man für den doppelten Preis zwar fast<br />
sechsmal so viele Texte, aber Villions<br />
Bilder machen die Büchergilde-Ausgabe<br />
zum zigfach schöneren Geschenk.<br />
Regula Freuler<br />
RobertGernhardt: Hinter der Kurve.<br />
Reisen 1978–2005. S. Fischer,Frankfurt 2012.<br />
302 Seiten, mit Abbildungen, Fr.29.90.<br />
Sechs Jahre sind es nun schon her, seit<br />
uns der grosse Lyriker, Erzähler und Essayist,<br />
Maler und Zeichner Robert Gernhardt<br />
(1937–2006) abhandengekommen<br />
ist. Er fehlt uns nach wie vor. Immerhin<br />
erreichen uns mit schöner Regelmässigkeit<br />
Publikationen aus seinem Nachlass.<br />
Deren jüngsteist ein vonKristina Maidt-<br />
Zinke herausgegebener Band mit Erzählungen,<br />
Zeichnungen und Essays von<br />
Reisen, wie sie sich in grosser Zahl in<br />
Gernhardts «Brunnen-Heften» – 675<br />
Notiz- und Zeichenheften der Marke<br />
«Brunnen» –befinden. Die Sammlung<br />
«Hinter der Kurve» vereint Texte zu<br />
Estland, Österreich, der Schweiz, Italien,<br />
Frankreich, Spanien, Portugal, England,<br />
Kanada, den USA, Brasilien, Indonesien,<br />
Thailand, Südafrika, Botswana.<br />
Gerade inihrer pointierten Skizzenhaftigkeit,<br />
in der unverstellten Neugier des<br />
Autors erweist sich ihr besonderer Reiz.<br />
Manfred Papst<br />
Die alleinerziehende MutterYasuko<br />
Hanaokalebtmit ihrer Tochter in<br />
Tokio ein unauffälliges Leben. Bis eines<br />
Tagesihr Ex-Mann vorder Wohnungstür<br />
steht. Er will Geld. Er will Yasuko<br />
zurück. Er belästigt ihreTochter.Diese<br />
schlägt zu, mit der Vase,auf seinen<br />
Kopf.Der Ex-Mann stürzt sich auf die<br />
Tochter,ausser sich vorWut.Yasuko<br />
schlingt ihm ein Kabel um den Hals<br />
und zieht zu. Er wehrt sich heftig. Die<br />
Tochter hilftihrer Mutter. Undplötzlich<br />
rührt er sich nicht mehr,liegt<br />
regungslos da, tot, mitteninYasukos<br />
Wohnung. Undnun, wastun?Sich<br />
stellen –und riskieren, dassauch die<br />
Tochter nicht unbehelligt davonkommt?<br />
In diesem Moment klingelt das<br />
Telefon. Der Nachbar Ishigami ist am<br />
Apparat.«Frau Hanaoko, es ist sehr<br />
schwer, eine menschliche Leiche verschwinden<br />
zu lassen», sagt er.«Eine<br />
Frau schafft das nicht alleine. Wiewäre<br />
es, wenn ich zu ihnen rüberkäme?»<br />
All dies ereignet sich auf den ersten<br />
dreissig Seiten des Romans «Verdächtige<br />
Geliebte» des japanischen Autors<br />
Keigo Higashino. Von Beginn <strong>weg</strong> ist<br />
klar, wer die Täterin ist. Und es<br />
scheint klar, umwelches Delikt es<br />
geht. Auch wenn am Schluss dann<br />
einiges ganz anders kommt.<br />
Nachbar Ishigami, der Yasuko heimlich<br />
liebt, ist ein Mathe-Genie und ein<br />
Experte des logischen Denkens. Sein<br />
Ziel: Den Totschlag nachträglich so<br />
darzustellen, dass Yasuko nicht als<br />
Täterin überführt werden kann, weil<br />
sie über ein nahezu perfektes Alibi<br />
verfügt. Er lässt die Polizei Spuren finden,<br />
die in Wirklichkeit keine sind. Er<br />
macht sich die Blindheit zunutze, die<br />
durch vorgefasste Überzeugungen entsteht.<br />
Er trickst die Fahnder auf dieselbe<br />
Weise aus wie seine Studenten,<br />
die er glauben lässt, sie müssten eine<br />
geometrische Aufgabe lösen, dabei<br />
geht es um Algebra.<br />
Der Plan könnte gelingen. Wäre<br />
sein Widersacher, ein Helfer der<br />
Polizei, nicht ein ehemaliger<br />
Studienkollege mit fast<br />
ebenso hellem Kopf. Dieser<br />
stellt Ishigami die Frage:<br />
«Was ist schwieriger, ein<br />
unlösbares Problem zu<br />
schaffen oder es zu lösen?»<br />
Nicht nur der Buchtitel,<br />
auch Keigo Higashinos<br />
schnörkelloser Stil erinnert<br />
an seinen weit bekannteren<br />
Landsmann Haruki Murakami.<br />
Wasausschliesslich als Kompliment<br />
zu verstehen ist.<br />
Higashino erzählt eine<br />
aussergewöhnliche<br />
Kriminalgeschichte:<br />
spannend und überaus<br />
intelligent.<br />
VonChristine Brand l<br />
24.Februar 2013 ❘NZZamSonntag ❘ 11