18.01.2014 Aufrufe

Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung

Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung

Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Belletristik<br />

Roman Im Buch des Kongolesen Alain Mabanckou wirdeine Bar in Brazzaville zur Bühne der Welt<br />

Schlussmit allden<br />

Afro-Klischees!<br />

Alain Mabanckou: Zerbrochenes Glas.<br />

Ausdem Französischen vonHolger Fock<br />

und Sabine Müller.Liebeskind,<br />

München 2013. 224Seiten, Fr.27.50.<br />

VonDavid Signer<br />

Afrikanische Literatur hat hierzulande<br />

einen schwerenStand. Die Begeisterung<br />

für «Dritte Welt»-Literatur ist verflogen.<br />

Kommt hinzu, dass auch die Situation<br />

in Afrika selbst für Schriftsteller<br />

desolat ist. In einer Zehn-Millionen-<br />

Stadt wie Kinshasa gibt es inzwischen<br />

keinen einzigen Buchverlag mehr. Die<br />

meisten der zeitgenössischen Autoren<br />

schreiben aus dem Exil, in ihren Texten<br />

geht es nicht mehr um «Authentizität»,<br />

um Palmwein, Strohhütten, Urwald,<br />

Löwen und Trommeln, sondern um Migration,<br />

Modernisierung, Subkulturen,<br />

Rassismus und hybride Identitäten. Im<br />

Allgemeinen wollen sie nicht als «Afrikaner»<br />

etikettiert und schubladisiert,<br />

sondern einfach als Schriftsteller und<br />

Individuen ernstgenommen werden.<br />

Tatsächlich: Schafft es heute ein solcher<br />

Autor ineinen deutschsprachigen Verlag,<br />

dann nicht dank, sondern eher trotz<br />

der Tatsache, dass eraus Afrika kommt.<br />

Auch die Biografie und das Werk von<br />

Alain Mabanckou stehen im Zeichen der<br />

Globalisierung. 1966 in der Republik<br />

Kongo geboren, ging er zum Jurastudium<br />

nach Paris. Im Folgenden war er<br />

zehn Jahre lang als Berater in einem<br />

französischen Wirtschaftskonzern tätig<br />

und veröffentlichte die Romane «African<br />

Psycho», «Black Bazar» und «Stachelschweins<br />

Memoiren». Letztes Jahr<br />

wurde ervon der Académie française<br />

für sein Gesamtwerk mit dem Grand<br />

Prix de Littératureausgezeichnet. Heute<br />

lebt Mabanckou in Santa Monica und<br />

unterrichtet an der University ofCalifornia<br />

in Los Angeles.<br />

Bar in Brazzaville,<br />

Kongo, wie sie im<br />

neuen Roman von<br />

Alain Mabanckou als<br />

Schauplatz auftaucht.<br />

Den Spiegel vorgehalten<br />

Seinen Roman «Zerbrochenes Glas»<br />

könnteman nach den ersten paar Seiten<br />

leicht unterschätzen. Da schwatzt ein<br />

Mann namens «Zerbrochenes Glas»,<br />

Stammgast in der Bar «Angeschrieben<br />

wird nicht» in Brazzaville, drauflos,<br />

ohne Punkt und Absatz, unzensiert,<br />

wild, vulgär.Hellhörig wirdman spätestens<br />

bei der Stelle, woesheisst: «Der<br />

Wirt des ‹Angeschrieben wird nicht›<br />

kann Binsenwahrheiten von der Art<br />

‹Wenn in Afrika ein Greis stirbt, verbrennt<br />

eine Bibliothek› nicht leiden, und<br />

wenn er dieses ausgelatschte Klischee<br />

hört, wirdermehr als sauer und schiesst<br />

sofort zurück: ‹Hängt doch ganz davon<br />

ab, welcher Greis, also hört auf mit dem<br />

Stuss›.» Offensichtlich geht es nicht<br />

mehr um eine Ehrenrettung des afrikanischen<br />

Erbes wie seinerzeit beim malischen<br />

Schriftsteller Hampâté Bâ, von<br />

dem das Greis-Diktum stammt, sondern<br />

darum, den Leuten inBrazzaville schonungslos<br />

den Spiegel vorzuhalten.<br />

Nach und nach werden die Bargäste<br />

vorgestellt. Da ist der «Pampers-Typ»,<br />

der <strong>weg</strong>en seiner Inkontinenz Windeln<br />

tragen muss, von seiner Frau mit dem<br />

Priester betrogen, um Haus und Habe<br />

gebracht und schliesslich sogar ins Gefängnis<br />

abgeschoben wurde. Oder der<br />

«Drucker», der es bis nach Paris schaffte,<br />

eine Französin heiratete, einen guten<br />

Job ergatterte, seinen unehelichen Sohn<br />

zu sich holte, der dann jedoch eine Liaison<br />

mit seiner Stiefmutter begann, was<br />

den armen «Drucker» ins Irrenhaus<br />

brachte, von woaus er schliesslich in<br />

seine Heimat verfrachtet wurde. Eher<br />

als an Bâ erinnert Mabanckou hier an<br />

Céline, und wohl nicht zufällig trägt die<br />

Ehefrau des «Druckers» den Namen des<br />

berühmt-berüchtigten Autors. Jedes<br />

Porträt in «Zerbrochenes Glas» ist eine<br />

kleine Reise ans Ende der Nacht.<br />

Allerdings ändert sich die Perspektive<br />

in der zweiten Hälfte des Buches.<br />

Stellte sich der Ich-Erzähler anfangs<br />

noch als getreuer und relativnüchterner<br />

Chronist des Treibens dar, erzählt er<br />

nun von seinen eigenen Odysseen in<br />

den Bars und Bordellen des Rotlichtviertels<br />

Rex, und je mehr er sich als<br />

armes Opfer seiner bösen Ehefrau darstellt,<br />

umso mehr ahnen wir, dass erals<br />

objektiver Berichterstatter vielleicht<br />

doch nicht über alle Zweifel erhaben ist.<br />

So erscheinen auf einmal auch die<br />

Schicksale im ersten Teil des Buches in<br />

einem anderen Licht. Spätestens bei diesen<br />

Passagenwirdklar,was für ein raffinierter<br />

Autor Mabanckou ist, trotz seines<br />

schnoddrigen Erzählstils. Am Ende<br />

des Buches, wenn man weiss, wer daeigentlich<br />

spricht, hätte man Lust, nochmals<br />

vonvorne zu beginnen. Man würde<br />

die Schilderungen dann nämlich ganz<br />

anders lesen, in Hinblick darauf, was<br />

verdreht oder verschwiegen wird.<br />

Hinreissende Schwadroneure<br />

In einer selbstironischen Wendung<br />

gerät das Notizheft des Ich-Erzählers<br />

kurz vordessen Selbstmorddem Wirt in<br />

die Hände. Er findet, die Geschichten<br />

seien unlesbar: «Das ist nicht normal,<br />

du musst das ein bisschen ins Reine<br />

bringen… du musst noch einmal von<br />

vorne anfangen.» Das kann er nicht.<br />

«Hat man schon einmal gesehen, dass<br />

jemand ein zerbrochenes Glas wieder<br />

reparieren konnte?», fragt er.Zum Glück<br />

hat er das Buch nicht «ins Reine gebracht».<br />

Dessen Faszination besteht gerade<br />

in den Ungereimtheiten und «Fehlern».<br />

Und soberührend all die tragikomischen<br />

Geschichten sind, wird man<br />

doch auch an Mabanckous kontroversen<br />

Essay «Le sanglot de l’homme noir» erinnert,<br />

in dem er sich über die «Wir<br />

armen Opfer»-Jeremiaden vieler Afrikaner<br />

mokiert. Die hinreissenden Schwadroneure<br />

aus der «Angeschrieben wird<br />

nicht»-Bar würden dort gutals anschauliche<br />

Exempel hineinpassen. l<br />

HECTOR MEDIAVILLA /POLARIS /DUKAS<br />

10 ❘ NZZamSonntag ❘ 24.Februar 2013

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!