18.01.2014 Aufrufe

Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung

Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung

Jonathan Franzen Weiter weg - Neue Zürcher Zeitung

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Nr.2|24. Februar 2013<br />

<strong>Jonathan</strong> <strong>Franzen</strong> <strong>Weiter</strong> <strong>weg</strong>|Shereen El Feki Sexund dieZitadelle |<br />

AmyWaldman Der amerikanische Architekt | David Grossman Aus der Zeit<br />

fallen |Übersetzerin Gunhild Kübler über die Lyrik von Emily Dickinson |<br />

<strong>Neue</strong> Bücher zu RichardWagner |<strong>Weiter</strong>e RezensionenzuFidel Castro,<br />

Andrej Tarkovskij, Verena Stössinger,Wilhelm Genazino und anderen


10CFWMIQ7DQAwEX-TTrn0-JzGMwqKCqtykKu7_UXthkWbZ7JxnesO1_Xi8jmcS6C5cghzpqzeNkYtqQ4-EIhS0jSC7etx0AddhsJqKQAVRhPxRK3Mv2gzUPEPb9_35ASY9BAl_AAAA<br />

10CAsNsjY0MDAx1TW0MDc0NAMA7dlSjA8AAAA=<br />

Winterzeit, Lesezeit!<br />

Unsere Buchtipps –wärmstens empfohlen für kalte Tage<br />

Alle Preise inkl. MwSt. und ohne Gewähr.<br />

Auchals<br />

eBook<br />

BUCH |gebunden<br />

Linus Reichlin<br />

Das Leuchten in<br />

der Ferne<br />

CHF 27.50<br />

BUCH |gebunden<br />

Astrid Rosenfeld<br />

Elsa ungeheuer<br />

CHF 29.90<br />

BUCH |gebunden<br />

Andrea Camilleri<br />

Die Sekte<br />

der Engel<br />

CHF 26.90<br />

Auchals<br />

eBook<br />

BUCH |gebunden<br />

Franz Hohler<br />

Der Geisterfahrer<br />

CHF 28.50<br />

BUCH |gebunden<br />

Eveline Hasler<br />

Mit dem letzten<br />

Schiff<br />

CHF 27.90<br />

BUCH |gebunden<br />

Hans Küng<br />

Was bleibt.<br />

Kerngedanken<br />

CHF 28.90<br />

Service pur:<br />

Schnelle &zuverlässige Lieferung<br />

Kostenloser Geschenkservice<br />

Unverbindlich bestellen<br />

Zahlung per Rechnung möglich<br />

www.buch.ch


Inhalt<br />

VonBrazzaville<br />

bis<br />

Massachusetts<br />

<strong>Jonathan</strong> <strong>Franzen</strong><br />

(Seite19).<br />

Illustration von<br />

André Carrilho<br />

Wenn ein Stammgast «Zerbrochenes Glas» heisst und der Wirt «Sture<br />

Schnecke»; wenn die Kneipe den Namen trägt «Hier wirdnicht<br />

angeschrieben» und sich dort Leute wie der «Pampers-Typ» oder der<br />

«Drucker» aus dem Irrenhaus ein Stelldichein geben –dann befinden<br />

wir uns in Brazzaville und beim kongolesischen AutorAlain<br />

Mabanckou. Der 42-jährigeinParis ausgebildeteJurist, der zehn Jahre<br />

für einen französischen Wirtschaftskonzern arbeitete, wurdefür seine<br />

Romane mehrfach ausgezeichnet, so mit dem «Grand Prix littérairede<br />

l’Afrique noir». In seinem neusten, furiosen Buch, das David Signer<br />

bespricht, treten Schwadroneureund Dandys aus den Slums auf und<br />

machen den Stammtisch zur Bühne (Seite10). Kurzum: lebenspralle,<br />

witzigeund selbstbewusste Literatur aus Schwarzafrika.<br />

In der Heftmitte nimmt SieGunhild Kübler auf ihreEntdeckungsreise<br />

zu EmilyDickinson (1830–1886) mit, einer amerikanischen Lyrikerin,<br />

die zu Lebzeiten blosszehn Gedichteveröffentlicht hat. Begeistert<br />

erzählt Kübler vonihrer Neuübersetzung der elektrisierenden Verse,<br />

einer Beschäftigung, die ihr Leben verändert habe (S. 12).<br />

Lassen Siesich anstecken vonMabanckou, vonDickinson –oder von<br />

30 weiteren Autorinnen und Autoren, die wir Ihnen in dieser Nummer<br />

vorstellen. Zögern Sienicht, sich in der Bar der Weltliteratur einen zu<br />

genehmigen: Hier wird(an)geschrieben! UrsRauber<br />

Belletristik<br />

4 David Grossman: Ausder Zeit fallen<br />

VonKlaraObermüller<br />

6 Verena Stössinger: Bäume fliehen nicht<br />

VonMartin Zingg<br />

Mitra Devi: Der Blutsfeind<br />

VonCharlotte Jacquemart<br />

7 AmyWaldman: Der amerikanische<br />

Architekt<br />

VonSimone vonBüren<br />

8 AndrejBitow:Der Symmetrielehrer<br />

VonSieglinde Geisel<br />

9 Wilhelm Genazino: Tarzan am Main<br />

VonSandraLeis<br />

Juerg Judin: UweWittwer –Paintings<br />

VonGerhardMack<br />

10 Alain Mabanckou: Zerbrochenes Glas<br />

VonDavid Signer<br />

Kurzkritiken Belletristik<br />

11 Johann Nestroy:Historisch-kritische<br />

Ausgabe<br />

VonManfred Papst<br />

Katherine Mansfield: In einer deutschen<br />

Pension<br />

VonRegula Freuler<br />

Techno der Jaguare<br />

VonRegula Freuler<br />

RobertGernhardt: Hinter der Kurve<br />

VonManfred Papst<br />

E-Krimi des Monats<br />

11 KeigoHigashino: VerdächtigeGeliebte<br />

VonChristine Brand<br />

Essay<br />

12 Endlose Knobeleien<br />

GunhildKübler überdie Schwierigkeiten<br />

des Übersetzens vonLyrik –amBeispiel des<br />

Werksvon EmilyDickinson<br />

Kolumne<br />

15 Charles Lewinsky<br />

Das Zitat vonIsaak Babel<br />

Kurzkritiken Sachbuch<br />

15 Thomas Sprecher: Schweizer Monat1921–<br />

2012<br />

VonUrs Rauber<br />

Toby Lester: Die Symmetrie der Welt<br />

VonKathrin Meier-Rust<br />

RitchiePogorzelski: Die Traianssäule in Rom<br />

VonGenevièveLüscher<br />

Christoph Zürcher: Wieich Kannibalen, die<br />

Taliban und die stärkstenFrauen überlebte<br />

VonUrs Rauber<br />

Sachbuch<br />

16 Udo Bermbach: Mythos Wagner<br />

Friedrich Dieckmann: DasLiebesverbotund<br />

die Revolution<br />

Jens MalteFischer: RichardWagner und seine<br />

Wirkung<br />

VonFritz Trümpi<br />

18 Shereen El Feki: Sexund die Zitadelle<br />

VonSusanne Schanda<br />

19 <strong>Jonathan</strong> <strong>Franzen</strong>: <strong>Weiter</strong> <strong>weg</strong><br />

VonUrs Rauber<br />

20 Horst Bienek: Workuta<br />

VonAnjaHirsch<br />

PhilippBlom, Veronica Buckley: Dasrussische<br />

Zarenreich<br />

VonGenevièveLüscher<br />

21 AndrejTarkovskij: Leben und Werk<br />

VonChristian Jungen<br />

22 Florian Homm: Kopf Geld Jagd<br />

VonSebastian Bräuer<br />

Rolf Mösli: EugenBleuler –Pionier der<br />

Psychiatrie<br />

VonWilli Wottreng<br />

23 GeorgPichler: Gegenwart der Vergangenheit<br />

VonTobias Kaestli<br />

24 Conradin A. Burga: Oswald Heer 1809–1883<br />

VonGenevièveLüscher<br />

25 Michael Hardt, Antonio Negri: Demokratie!<br />

VonMichael Holmes<br />

Carlos Widmann: DasletzteBuch über Fidel<br />

Castro<br />

VonReinhardMeier<br />

26 Ilma Rakusa: Aufgerissene Blicke<br />

VonIna Boesch<br />

Dasamerikanische Buch<br />

Sonia Sotomayor: My BelovedWorld<br />

VonAndreas Mink<br />

Agenda<br />

27 Pascal Ruedin: Die Schule vonSavièse<br />

VonManfred Papst<br />

Bestseller Februar 2013<br />

Belletristik und Sachbuch<br />

Agenda März2013<br />

Veranstaltungshinweise<br />

Shereen El Feki hält eine Neubewertung der Sexualität in<br />

arabischen Ländern für unabdingbar (Seite18).<br />

KRISTOFARASIM<br />

Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion UrsRauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), GenevièveLüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)<br />

StändigeMitarbeit UrsAltermatt,Urs Bitterli, Manfred Koch, Gunhild Kübler,SandraLeis, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer,Andreas Mink, KlaraObermüller,AngelikaOverath,<br />

Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hans PeterHösli (Art Director), UrsSchilliger (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG<br />

Verlag NZZamSonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 044258 11 11, Fax04426170 70, E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch<br />

24.Februar 2013 ❘NZZamSonntag ❘ 3


Belletristik<br />

Versepos Das neue Buch des israelischen SchriftstellersDavid Grossman ist Totenklageund<br />

Wiederaneignung des Lebens in einem<br />

EinMannsucht<br />

seinen totenSohn<br />

ATEF SAFADI /EPA<br />

David Grossman: Ausder Zeit fallen.<br />

Ausdem Hebräischen vonAnne<br />

Birkenhauer.Hanser,München 2013.<br />

128 Seiten, Fr.23.90.<br />

VonKlaraObermüller<br />

Wenn einen ein grosses Unglück treffe,<br />

sagte David Grossman, als er vor zwei<br />

Jahren in Frankfurt den Friedenspreis<br />

des Deutschen Buchhandels entgegennahm,<br />

dann sei das ein Gefühl, als ob<br />

man aus dem Leben «ins Exil» vertrieben<br />

werde.<br />

David Grossman wusste, wovon er<br />

sprach. Er hatte es selber erlebt, nachdem<br />

sein Sohn Uri am12. August 2006<br />

auf dem Rückzug aus Libanon voneiner<br />

Rakete tödlich getroffen worden war.<br />

Mit einem Schlag hatte er damals alles<br />

David Grossman<br />

1954 in Jerusalem geboren, arbeitete<br />

David Grossman als Radiojournalist,<br />

bevorerRomane und Jugendbücher veröffentlichte.<br />

Journalistische Arbeiten wie<br />

«Der gelbe Wind» (1988) oder politische<br />

Essays wie «Diesen Krieg kann keiner gewinnen»<br />

(2003) liefen stets neben belletristischen<br />

Werken wie «Das Lächeln des<br />

Lammes» (1988), «Der Kindheitserfinder»<br />

(1994)oder «Eine Frau flieht vor<br />

einer Nachricht» (2009) einher.Erist<br />

auch ein bekannter Friedensaktivist.<br />

4 ❘NZZamSonntag ❘ 24.Februar 2013<br />

verloren, worauf er bislang hatte bauen<br />

können: alle Gewissheit, alles Vertrauen,<br />

ja selbst das natürliche Recht, sich<br />

im Leben zuhause zu fühlen. Aber er<br />

waraus dem Exil auch wieder zurückgekehrt:<br />

zurück an die Arbeit und zurück<br />

ins Leben. Einen Tagnach der Trauerwoche,<br />

so berichtete er, habe er sich<br />

wieder an seinen Schreibtisch gesetzt,<br />

um an dem Roman weiterzuschreiben,<br />

den er in Arbeit hatte.Und sei sich dabei<br />

vorgekommen wie einer,der nach einem<br />

Erdbeben aus den Trümmern seines<br />

Hauses kriecht, sich umschaut, hinsetzt<br />

und «beginnt, wieder Steine aufeinanderzulegen».<br />

Oder eben Wörter. Zwei Jahre nach<br />

dem Toddes Sohnes erschien in Israel<br />

der Roman «Eine Frau flieht vor einer<br />

Nachricht»: das Buch, in dem der Autor<br />

von den Ängsten einer israelischen<br />

Mutter erzählte, deren Sohn Militärdienst<br />

leistet, und in dem er auf fast<br />

schon prophetische Weise vor<strong>weg</strong>nahm,<br />

was ihm und seiner Familie zustossen<br />

sollte. Ohne es zu wollen, wurde der<br />

Jahre zuvor begonnene Roman zum Requiem<br />

für den toten Sohn und zum Versuch<br />

des Vaters, sich sein Heimatrecht<br />

im Leben zurückzuholen.<br />

Hohes Mass an Empathie<br />

Dass dies nur zum Teil gelungen war,<br />

macht das Erscheinen eines weiteren<br />

Buches deutlich, das in der hervorragenden<br />

Übersetzung vonAnne Birkenhauer<br />

nunmehr auch auf Deutsch vorliegt.<br />

«Aus der Zeit gefallen» heisst es und ist<br />

für einmal kein Roman und auch keine<br />

Erzählung, sondern eine Art Versepos<br />

oder dramatisches Gedicht. Ein Werk<br />

jedenfalls, das sich jeder Gattungsbezeichnung<br />

entzieht, wie sich auch sein<br />

Inhalt jeder Erfahrung entzieht, die der<br />

Autorbisher gemacht hat. «Aus der Zeit<br />

gefallen» ist Totenklage und Wiederaneignung<br />

des Lebens in einem. Es ist surreal<br />

und furchtbar konkret zugleich.<br />

«Ich muss gehen», sagt ein Mann zu<br />

seiner Frau. «Wohin?», fragt sie. «Zu<br />

ihm. Nach dort», antwortet der Mann.<br />

So beginnt der Text und nimmt ein Bild<br />

wieder auf, das aus einem früheren<br />

Roman des Autors bekannt ist: Auch in<br />

«Stichwort: Liebe» war von einem<br />

«Land Dort» die Rede gewesen.<br />

Die Überlebenden der Shoah verwendeten<br />

den Begriff, wenn sie von den Lagern<br />

sprachen, denen sie entkommen<br />

waren, ohne je wieder im Leben Fuss<br />

fassen zu können. Jetzt ist mit «dort»<br />

das Reich des Todes gemeint, das kein<br />

Lebender je betreten wird. Der Mann<br />

bricht gleichwohl auf. Erkann nicht anders.<br />

Er mussseinen totenSohn suchen,<br />

noch einmal in Kontakt zu ihm treten,<br />

noch einmal den Schmerz kosten, die<br />

Trauer durchleben, um danach vielleicht<br />

tatsächlich aus dem Exil ins Leben<br />

zurückkehren zu können. Grossman<br />

gibt hier einer existenziellen Erfahrung<br />

Ausdruck, die er mit unzähligen israelischen<br />

Eltern teilt. Darin lag von jeher<br />

seine Stärke.<br />

Seit er als blutjunger Autor mit dem<br />

Reportage-Band «Der gelbe Wind» das<br />

Augenmerk seiner Landsleute auf «die<br />

israelisch-palästinensische Tragödie»<br />

gelenkt hatte, ist Grossman immer wieder<br />

durch ein untrügliches Gespür für<br />

die Virulenz verdrängter Gefühle innerhalb<br />

der israelischen Gesellschaftaufgefallen.<br />

Ob er in «Das Lächeln des Lammes»<br />

über die Begegnung zwischen<br />

einem jungen Israeli und einem alten<br />

Araber schrieb oder in «Stichwort:<br />

Liebe» dem Trauma der Shoah aus der<br />

Sicht eines Kindes beizukommen versuchte;<br />

ob er sich in «Der Kindheitserfinder»<br />

mit den Mühen des Erwachsenwerdens<br />

in Zeiten des Krieges befasste<br />

oder in seinem jüngsten Roman die permanenten<br />

Vernichtungsängste israelischer<br />

Eltern thematisierte –immer war<br />

er mit seinem Erzählen ganz nah bei<br />

dem, was die israelische Bevölkerung<br />

be<strong>weg</strong>te.<br />

Dabei zeichnete ersich stets durch<br />

ein hohes Mass anEmpathie auch für<br />

die andere, die arabische Seite aus und<br />

nahm Autobiografisches allenfalls zum<br />

Anlass, nie jedoch zum Selbstzweck sei-


RINA CASTELNUOVO /REDUX/LAIF<br />

nes Schreibens. Das ist im Falle seines<br />

neuen Buches nicht anders. David<br />

Grossman weiss, dassdie Trauer um ein<br />

totes Kind an keine ethnischen, religiösen<br />

oder familiären Grenzen gebunden<br />

ist, sondern im wahrsten Sinne des Wortes<br />

eine universale Erfahrung darstellt.<br />

Deshalb ist dies auch sein bis anhin persönlichstes<br />

und zugleich am stärksten<br />

verfremdetes Buch geworden.<br />

Es ist sein ganz persönlicher Schmerz,<br />

und es ist der Schmerz der ganzen Welt,<br />

der hier zum Ausdruck kommt. Zwei<br />

Jahre –sosagt es die Datumszeile am<br />

Ende des Textes –hat David Grossman<br />

an diesem Epitaph für seinen gefallenen<br />

Sohn gearbeitet.<br />

Wasesihn gekostet haben muss, die<br />

Wunden noch einmal aufzureissen und<br />

noch einmal allen Schmerz zu durchleben,<br />

den die Todesnachricht auslöste,<br />

das kann man bei der Lektüre des<br />

schwierigen und streckenweise hermetischen<br />

Textes nur ahnen. Die archaisch<br />

anmutende, hoch artifizielle Form, die<br />

der Autor für seine Totenklage gewählt<br />

hat, war aber wohl nötig, um die Verzweiflung<br />

in Schach halten und überhaupt<br />

schreiben zu können.<br />

Im Gegensatz zu seinen bisherigen<br />

Werken kennt «Aus der Zeit gefallen»<br />

keine Individuen, sondern nur Typen:<br />

den Gehenden Mann und seine Frau,<br />

den Schuster und die Hebamme, die<br />

Netzflickerin, den Greisen Rechenlehrer,<br />

den Zentauren, den Chronisten und<br />

seine Frau, den Herzog. Sie alle –das<br />

kristallisiert sich nach und nach heraus<br />

–sind vereint in der Trauer über den<br />

Verlust eines Kindes. Sie geben dem<br />

Mann Geleit. Siesind, wie er,unter<strong>weg</strong>s<br />

«nach dort», um in Kontakt zu treten zu<br />

ihren toten Kindern: ein vielstimmiger<br />

Chor von Trauernden, der Sprache zu<br />

finden sucht für seine Qual. Grossman<br />

schafft mit seinem Text eine Art Echoraum<br />

für Geschichten, die, zu lange<br />

schon totgeschwiegen, endlich nach<br />

Ausdruck verlangen und nach Erlösung.<br />

<strong>Neue</strong> Poetik des Lebens<br />

In immer wieder neuen Schüben werden<br />

Erinnerungen wach und Bilder lebendig,<br />

die irgendwo in den Tiefen des<br />

Gedächtnisses verschüttet gewesen waren.<br />

Menschen, die in ihrem Leid verstummt<br />

waren, kehren zurück aus dem<br />

Exil ihrer Sprachlosigkeit und fangen an,<br />

Trauern um ein Kind:<br />

David Grossman hat<br />

2006 einen Sohn im<br />

Krieg verloren. Im Bild<br />

eine trauernde Mutter<br />

2008 im israelischen<br />

MilitärfriedhofMount<br />

Herzl in Jerusalem.<br />

von ihren Kindern zu erzählen. Und so<br />

wie die Mutter in Grossmans letztem<br />

Roman ihren Sohn durch Erzählen vor<br />

dem Tod zu bewahren versucht, so<br />

holen hier die trauernden Eltern ihre<br />

toten Kinder durch Erzählen noch einmal<br />

ins Leben zurück.<br />

Die Mauer, die das Land der Lebenden<br />

vom Land der Toten trennt, überwinden<br />

sie damit zwar nicht. Aber<br />

indem sie bis an den äussersten Rand<br />

des Menschenmöglichen gehen, beginnen<br />

die Grenzen zwischen hier und dort<br />

sich zu verwischen. Leben und Tod<br />

«pendeln sich aus» und es entsteht ein<br />

«beinah zartes Gleichgewicht», sagt die<br />

Frau des Chronisten und ahnt, dass es<br />

Zeit wird, die Totenruhen zu lassen und<br />

ins Leben zurückzukehren. «Das Kind<br />

ist tot», sagt der Gehende Mann. «Nichts<br />

mehr von dir wollen, auch nicht dich<br />

selbst», sagt der Chronist. «Und mir<br />

bricht es das Herz, mein Augenstern,<br />

wenn ich daran denk, dass ich – ist’s<br />

möglich?! –, dass ich dafür die Worte<br />

fand», sagt der Zentaur. Auch David<br />

Grossman hat sie gefunden und mit dieser<br />

Poetik der Trauer den Wegzueiner<br />

neuen Poetik des Lebens freigelegt. l<br />

24.Februar 2013 ❘NZZamSonntag ❘ 5


Belletristik<br />

Roman In Verena Stössingersberührendem Buch geht es um einen Mann, dessen Biografiesich im<br />

Dunkeln der Geschichteverliert<br />

Aufdas Gedächtnis istkeinVerlass<br />

Verena Stössinger: Bäume fliehen nicht.<br />

Wallimann, Luzern 2012. 189 Seiten,<br />

Fr.29.–.<br />

VonMartin Zingg<br />

Die Reise ist überfällig, und irgendwann<br />

duldet sie keinen Aufschub mehr. Sie<br />

führt einen Mann zurück an die Orte<br />

seiner Kindheit: Jürgen Ramm hat Jahrgang<br />

1934 und ist geboren in Braunsberg,<br />

einer kleinen Stadt ander Ostsee, die<br />

heute Braniewo heisst und zu Polen gehört.<br />

Er ist aufgewachsen in Orten, die<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg zu neuen<br />

Ländern geschlagen wurden und inzwischen<br />

auch andereNamen tragen. Er hat<br />

seine Wurzeln in einer Welt, die längst<br />

eine andere geworden ist.<br />

Die ostpreussische Gegend haterseit<br />

der Flucht nie mehr gesehen, nun will er<br />

auf einer Reise den wenigen Spuren<br />

nachgehen, denen er zu trauen wagt.<br />

Was er in frühen Jahren erlebt hat,<br />

scheint längst geronnen zu einer Handvoll<br />

zeit- und ortloser Geschichten. An<br />

seine Kindheit und frühe Jugend kann<br />

sich Ramm nämlich nur vage erinnern,<br />

was auch darum schwer wiegt, weil ihm<br />

keine Gegenstände geblieben sind, nur<br />

gerade vier Fotografien hat eraus jener<br />

Zeit, mehr nicht.<br />

JürgenRamm und seine Frau Beasind<br />

die zentralen Figuren inVerena Stössingers<br />

berührendem Roman «Bäume fliehen<br />

nicht». Bei ihrer gemeinsamen<br />

Reise zu den Städten, in denen er vor<br />

Kriegsende gelebt hat, wirdesumvieles<br />

gehen, um mehr als nur um Orte, das<br />

steht früh schon fest. Denn vieles in Jürgens<br />

Biografie hat sich im Dunkel der<br />

Geschichte verlaufen. Als er 1945 nach<br />

längerer Irrfahrt in Berlin landet, hat er<br />

Verena Stössinger,geboren 1951 in Luzern, istausgebildeteNordistin,<br />

Mitinitiantin des Literaturhauses Basel und Schriftstellerin.<br />

CLAUDE GIGER<br />

bereits seine Eltern und einen Bruder<br />

verloren. Seine Mutter hat er sogar selber<br />

bestatten müssen, aber immerhin<br />

haterbis zuletzt bei ihr bleiben können.<br />

Von seinem früh verstorbenen Vater<br />

hingegen hat er nur ein undeutliches<br />

Bild vor Augen, der Vater war ein seltener<br />

Gast in der Familie. Geblieben sind<br />

drängende Fragen, die niemand beantworten<br />

kann. Washat er gearbeitet, der<br />

Vater? Und: wo? Wieso kam ernur am<br />

Wochenende nach Hause? War er am<br />

Ende gar mitbeteiligt am Krieg? Und:<br />

Gibt es Zeugen oder Dokumente, die<br />

darüber Aufschluss geben könnten?<br />

VorOrt, unter<strong>weg</strong>s entlang der Ostsee,<br />

wollen sich die ersehnten Klärungen<br />

nur zögernd einstellen. Die beiden<br />

Reisenden sind im Mietwagen unter<strong>weg</strong>s,<br />

aber die Strassen haben inzwischen<br />

andere Namen, vieles ist zerstört<br />

worden, das Gedächtnis gibt lange Zeit<br />

wenig frei. Behutsam be<strong>weg</strong>t sich das<br />

Paar durch das fremde Land, die beiden<br />

fragen und hören und sehen sich um,<br />

offen für alles, was der vagen Erinnerung<br />

helfen könnte. Am ehesten stellen<br />

sich Glücksgefühle ein, wenn der alte<br />

Jürgen auf kulinarische Spezialitäten<br />

stösst, die der junge Jürgen besonders<br />

mochte, etwa «Glumse», bröckeligen<br />

Quark.<br />

Das Essen vermag immer wieder<br />

Kindheitsmomente abzurufen. Daneben<br />

melden sich unvermittelt Liedfetzen,<br />

plötzlich stellen sich kleine, meist randscharfe<br />

Bilder ein, aber es schiessen<br />

auch manche Fragen hoch. So vieles ist<br />

offen und muss wohl offen bleiben. Ein<br />

Glück, das die jüngereFrauinihrem einfühlsamen<br />

Pragmatismus diese Offenheit<br />

schützt.<br />

Auf das Gedächtnis ist bekanntlich<br />

kein Verlass, Präzises steht oft neben<br />

Vagem, und beides infiziert sich wechselseitig.<br />

In ihrer Erzählweise nimmt<br />

Verena Stössinger auf raffinierte Weise<br />

gerade das Unverlässliche der Erinnerung<br />

auf und macht es zu einem tragenden<br />

Moment der Handlung. Bis in deren<br />

Struktur, indie Sätze hinein bildet die<br />

Erzählerin das Instabile ab, und daraus<br />

wird eine lebendige und spannende<br />

Suchbe<strong>weg</strong>ung, die ein Stück weit auch<br />

das Gesuchte selber ist. Denn der ältere<br />

Jürgen, der die Spuren des Jüngeren<br />

sucht, stellt hinter dem eigenen Rücken<br />

auch die Frage nach einem sinnvollen<br />

Leben. Aus einer Existenz, die über ihre<br />

Anfänge nicht genügend wissen kann<br />

und darum mit der Lückenhaftigkeit der<br />

Biografie zurechtkommen muss, wird<br />

hier ein eindrücklicher Lebensroman. l<br />

Kriminalroman Die Zürcher Autorin MitraDevilässt ihrer Privatdetektivin alteFälle lösen<br />

Spannend wiedie TV-Serie «24»<br />

MitraDevi: Der Blutsfeind. Nora Tabanis<br />

fünfterFall. Appenzeller-Verlag, Herisau<br />

2012. 286 S., Fr.38.–, E-Book 17.90.<br />

VonCharlotte Jacquemart<br />

Dass Mord und Totschlag Mitra Devi<br />

faszinieren, ist bekannt. In ihrem fünften<br />

Kriminalroman mit dem Titel «Der<br />

Blutsfeind» gelingt es der Zürcher Autorin,<br />

aktuelle Tatund Vergangenheit so<br />

zu verbinden, dass ungeklärte Fragen<br />

der letzten Krimis beantwortet werden.<br />

So kommt endlich zu Tage, wer für den<br />

gewaltsamen Toddes Vaters der Protagonistin,<br />

der Privatdetektivin Nora Tabani,<br />

verantwortlich ist. Jahrezuvor war<br />

er ermordet worden –eine Tat, die Nora<br />

bis heute nicht verarbeitet hat.<br />

6 ❘ NZZamSonntag ❘ 24.Februar 2013<br />

In «Der Blutsfeind» gerät die leicht<br />

chaotisch veranlagte Privatdetektivin<br />

vermeintlich zufällig an den Tatort.<br />

Aber eben nur vermeintlich: Sie wird<br />

aus ganz bestimmten Gründen in die<br />

Zürich Credit Bank bestellt, in der sich<br />

in der Folge ein Banküberfall abspielt,<br />

der übel endet. Nora löst den Fall nicht<br />

wirklich, sondern ist Teil des makaberen<br />

Geschehens, das sich zwischen sieben<br />

Uhr morgens und sieben Uhr abends an<br />

nur einem Tage abspielt. Werdie Fernsehserie<br />

«24» kennt, weiss, wie unstimmig<br />

die Handlungen in einem solch<br />

engen Zeitkorsett wirken können. Devi<br />

jedoch gelingt der Zeitraffer hervorragend:<br />

Nie wirken Szenerie oder Aktionen<br />

bemüht. Der Banküberfall in der<br />

Mitte Zürichs, mit dramatischer Geiselnahme<br />

und sich in die Haaregeratenden<br />

Gangstern, fesselt selbst abgebrühte<br />

Krimi-Leser.<br />

Der Sinn des Buchtitels «Blutsfeind»<br />

erschliesst sich dabei den Lesern erst<br />

auf den letzten Seiten des Krimis. Die<br />

Wende, die das Buch zum Schluss<br />

nimmt, kommt zwar überraschend und<br />

mag auf den ersten Blick etwas konstruiert<br />

wirken. Devis gelungene Schreibe<br />

jedoch lässt dies in den Hintergrund treten.<br />

Auch lässt das Ende von«Der Blutsfeind»<br />

der Autorin alle Möglichkeiten<br />

offen für die Zukunft: Sie könnte sich<br />

von Nora ein für allemal verabschieden<br />

Ωoder der Privatdetektivin einen sechsten<br />

Fall bescheren. Auch wenn Mitra<br />

Devi an Lesungen in jüngster Zeit ein<br />

mögliches Ende von Nora inden Raum<br />

stellte, deutet der Epilog eher darauf<br />

hin, dass bald ein weiteres Buch folgt. l


Roman Im mehrfach ausgezeichneten Debüt vonAmy Waldman geht es um den Umgang mit 9/11<br />

Wenn eigene Positionen<br />

insWankengeraten<br />

AmyWaldman: Der amerikanische<br />

Architekt. Ausdem Amerikanischen von<br />

Brigitte Walitzek. Schöffling &Co.,<br />

Frankfurt 2013. 512Seiten, Fr.35.50.<br />

VonSimone vonBüren<br />

2003 wurden beim internationalen<br />

Wettbewerb für die 9/11-Gedenkstätte in<br />

Manhattan 5000 Entwürfe aus 63 Ländern<br />

eingereicht. Ausgewählt wurde<br />

«Reflecting Absence» des in Israel geborenen<br />

Architekten Michael Arad und<br />

des amerikanischen Landschaftsarchitekten<br />

Peter Walker: eine riesige baumbepflanzte<br />

Fläche mit zwei Wasserbecken<br />

an der Stelle der zusammengestürzten<br />

Twin Towers.<br />

Bäume und Wasser dominieren auch<br />

den Entwurf, für den sich die Jury in<br />

AmyWaldmans Debütroman «Der amerikanische<br />

Architekt» entscheidet, der<br />

den Wettbewerb für die Gedenkstätte<br />

als Ausgangspunkt nimmt. «Der Garten»<br />

ist ein geometrischer Raum mit<br />

Wasserkanälen sowie echten und aus<br />

den Stahlüberresten der Türme geformten<br />

Bäumen. Für alles <strong>Weiter</strong>e weicht<br />

Waldman von der jüngsten amerikanischen<br />

Geschichte ab. Denn in ihrem<br />

vielfach ausgezeichneten Roman gerät<br />

der demokratisch gefällte Juryentscheid<br />

ins Wanken, als die Identität des Architekten<br />

bekannt wird: Mohammad Khan,<br />

kurz Mo genannt, Sohn indischer Eltern,<br />

in den USA aufgewachsen, ein attraktiver<br />

Enddreissiger, «ein aufsteigender<br />

Stern am Architektenhimmel» – und<br />

Muslim, wenn auch kein gläubiger. Der<br />

Versuch, den Entwurf unter anderem<br />

Namen zu veröffentlichen, scheitert, als<br />

die brisante Information versehentlich<br />

an die Presse gelangt.<br />

Darf ein Muslim den<br />

Ground Zero (im<br />

Bild) gestalten?Um<br />

diese Fragekreistdas<br />

Buch der «NewYork<br />

Times»-Journalistin<br />

AmyWaldman.<br />

Ambitiöse Reporterin<br />

Sofort instrumentalisieren verschiedene<br />

Gruppen und Individuen die Situation<br />

für ihreeigenen Anliegen: Die Gouverneurin<br />

nutzt die Popularität islamfeindlicher<br />

Argumente für ihren Wahlkampf.<br />

Die ambitiöse Reporterin kennt<br />

keine Skrupel in ihrer Jagd auf eine explosive<br />

Exklusivstory.Die Angehörigen-<br />

Vertreterin in der Jury, die für den Gartengekämpft<br />

hatte,gerät unter Beschuss<br />

von Angehörigen, die in einer unguten<br />

Koalition mit der extremistischen Organisation<br />

«Save America from Islam»<br />

gegeneine voneinem Muslim entworfene<br />

Gedenkstätte kämpfen.<br />

Die einen finden, «der Mohammedaner»<br />

sei per definitionem ungeeignet.<br />

Die anderen projizieren ihre Bedenken<br />

gegenüber der Person auf den Entwurf,<br />

indem sie den Garten –vom Historiker<br />

in der Jury als «Fetisch der europäischen<br />

Aristokratie» bezeichnet –als islamische<br />

Tradition und «Märtyrerparadies»<br />

auslegen, mit dem man islamistischen<br />

Extremisten signalisieren würde,<br />

sie hätten gewonnen.<br />

Politische und persönliche Be<strong>weg</strong>gründe<br />

vermischen sich, Haltungen verfestigen<br />

sich, Prinzipien geraten ins<br />

Wanken, Anwältekommen ins Spiel. Die<br />

Situation eskaliert: Es gibt abgerissene<br />

Kopftücher, Drohungen, Demonstrationen,<br />

eine öffentliche Anhörung, einen<br />

Mord. Wie ein «Kind in einem Sorgerechtsstreit<br />

oder wie die Falkland-Inseln»<br />

kann es Mo nicht allen recht machen.<br />

Man wirft ihm vor, den Wettbewerb<br />

als Karriereschritt zunutzen, und<br />

unterstellt ihm «einen verdeckten Versuch<br />

der Islamisierung». Man beschuldigt<br />

ihn, Amerikazuspalten, und erwartet,<br />

dass erfür dessen Prinzip einsteht,<br />

dass«allein die Leistung zählt und nicht<br />

Namen, Religion oder Herkunft». Irritiert<br />

erkennt er, dass sein Bemühen,<br />

nicht wie ein Verbrecher zu wirken,<br />

dazu führt, «dass ersich wie einer verhielt,<br />

sich wie einer fühlte». Er weigert<br />

sich in der Folge, seinen Entwurf zu erklären,<br />

lässt sich einen Bart wachsen,<br />

rasiert sich wieder und fastet zum erstenMal<br />

in seinem Leben, ohne genau zu<br />

wissen, wieso.<br />

Amy Waldman hat als Reporterin der<br />

«New York Times» über 9/11 und dessen<br />

Folgen berichtet. Sie kennt ihr Material<br />

ausgezeichnet und legt das breite Spektrum<br />

der Argumente und Dilemmata in<br />

intellektueller Schärfe offen. Siespiegelt<br />

die kollektive Verunsicherung anhand<br />

individueller Schicksale und bleibt<br />

dabei nahe an der Realität –abgesehen<br />

von der amüsanten Karikierung von Reportern<br />

der Klatschpresse und rechtspolitischen<br />

Aktivisten. IhreFiguren entfalten<br />

sich weniger in der Beschreibung<br />

von Befindlichkeiten und narrativen<br />

Konstrukten –esgibt einige unglaubwürdige<br />

Affären –als in den lebendigen<br />

Dialogen, die die unterschiedlichen Haltungen<br />

in schnörkelloser Sprache auf<br />

den Punkt bringen.<br />

Wer sich wem unterwirft<br />

Geschickt nutzt die 43-jährige Autorin<br />

eine konkrete fiktive Situation, um Konflikte<br />

und Themen freizulegen, die unsere<br />

Gesellschaft verunsichern und die<br />

dem Leser vertraut sind. Der Roman<br />

wirft komplexe Fragen auf über das<br />

westliche Verhältnis zum Islam, über<br />

den Status der Muslime nach 9/11. Aber<br />

auch über kollektives und individuelles<br />

Trauern, privates und öffentliches Erinnern.<br />

Ist der Trauernde moralisch überlegen?<br />

Wie kann ein kollektiver Verlust<br />

erinnert werden? Wer hat welche Ansprüche<br />

an dieses Gedenken? Wer<br />

schlägt Nutzen daraus?<br />

Das Aufräumen der Geschichte im<br />

Epilog maskiert geschickt eine bleibende<br />

Unsicherheit. Auf Letztere weist<br />

auch der Originaltitel «The Submission»<br />

hin: «Submission» bedeutet sowohl<br />

«Eingabe» für einen Wettbewerb<br />

wie «Unterwerfung» und spielt zudem<br />

an auf die Etymologie des arabischen<br />

Wortes «Muslim» als «der sich Gottunterwirft».<br />

Wer sich wem unterwirft,<br />

bleibt als grosse Frage amEnde des Romans<br />

stehen. Und die eigene liberale<br />

Position, aus der man als Leser bestens<br />

unterhalten die Turbulenzen im Text<br />

verfolgt hat, gerät unter Umständen<br />

doch noch ein wenig ins Wanken. l<br />

GÜNTER GOLLNICK /OKAPIA<br />

24.Februar 2013 ❘NZZamSonntag ❘ 7


Belletristik<br />

Roman Andrej Bitow treibt mit seinen Lesern ein raffiniertes Spiel. Beim Lesen schwankt man<br />

zwischen Frustration und Vergnügen<br />

Nichtschreiben darf manalles<br />

Andrej Bitow:Der Symmetrielehrer.<br />

Ein Echoroman. Ausdem Russischen<br />

vonRosemarie Tietze. Suhrkamp,Berlin<br />

2012. 333 Seiten, Fr.36.90.<br />

VonSieglinde Geisel<br />

Washeisst lesen, was heisst verstehen?<br />

Beim Versuch der Lektüre von Andrej<br />

Bitows Roman «Der Symmetrielehrer»<br />

kann man an solchen Fragen verzweifeln.<br />

Der Autor gibt sich als Übersetzer<br />

eines verschollenen Romans mit dem<br />

Titel «The Symmetry Teacher» aus. Bereits<br />

«in vorschriftstellerischen Jugendjahren»,<br />

so Bitow in der Vorbemerkung,<br />

habe er diesen Text «aus dem Ausländischen»<br />

ins Russische übersetzt, wobei<br />

er längst nicht alles verstanden habe; die<br />

Übersetzung sei verloren gegangen,<br />

doch Jahre später habe sich dieses vergessene<br />

Buch wieder seiner Phantasie<br />

bemächtigt, so dass eraufgeschrieben<br />

habe, anwas er sich erinnerte. «Zurückverfolgen<br />

lässt sich nun kaum mehr<br />

etwas», so das Fazit dieser (traditionsreichen)<br />

literarischen Verdunkelungsstrategie.<br />

In «Anm. d. Ü.» wendet sich<br />

der Übersetzer-Autor gerne direkt an<br />

den Leser, bisweilen tut das auch die<br />

Übersetzerin aus dem Russischen, Rosemarie<br />

Tietze.<br />

Unmöglich zu sagen, worum es in<br />

diesem Buch geht. In seinem «Vorwort<br />

des Übersetzers» gibt uns Bitow Einblick<br />

in eine ausgetüftelte Konstruktion<br />

aus Symmetrien, Zeitebenen und Paradoxien,<br />

samt entsprechenden Tabellen.<br />

Und in der Tat: Spiegeleffekte finden<br />

sich sowohl auf der Ebene der Figuren<br />

wie der einzelnen Sätze. So erweist sich<br />

etwa der Ich-Erzähler Urbino Vanoski<br />

(«ein englischer Dichter von gemischt<br />

polnisch-holländisch-japanischer Herkunft»)<br />

als Autor und Romanfigur zugleich.<br />

Man stösst auf symmetrisch formulierte<br />

Meta-Sentenzen wie: «Verstehen<br />

Sie, Leben ist Text. (…) Aber auch<br />

Text ist Leben!», oder: «Was zuerst da<br />

war, weiss ich nicht. Ob die Romanidee<br />

die Ereignisse modellierte oder die Ereignisse<br />

die Romanidee vorantrieben.»<br />

Dickicht von Bezügen<br />

Eine literarische Anspielung jagt die andere<br />

indiesem «Echoroman». So verdankt<br />

etwa der «Tristram-Club» dem<br />

«Tristram Shandy» vonLaurenceSterne<br />

seinen Namen, diesem Urroman der<br />

ausschweifenden Abschweifung; das abgründig<br />

ironische Kapitel «Die posthumen<br />

Papiere des Tristram-Clubs» (oder<br />

«The Inevitability of the Unwritten»)<br />

handelt von scheiternden Schriftstellern<br />

und somit nicht vom Schreiben,<br />

sondern vom Nichtschreiben: «Nichtschreiben<br />

darf man alles, was man<br />

möchte. Schreiben darfman nur,was gelingt»,<br />

so zwei der Regeln der Satzungen<br />

dieses Clubs, der sich schliesslich in<br />

8 ❘ NZZamSonntag ❘ 24.Februar 2013<br />

Der russische AutorAndrej Bitow,75, hier im Juli 2009 am<br />

Internationalen Literaturfestival in Leukerbad.<br />

«Verein zum Schutz literarischer Helden<br />

vor ihren Autoren» umbenennt.<br />

Es brauche Leser, «die sich unerschrocken<br />

ins akustische Spiegelkabinett»<br />

dieses Romans hineinwagen, heisst es<br />

im Verlagstext. Denn so brillant, ironisch<br />

und vielstimmig die einzelnen Novellen,<br />

Dialogszenen und Miniatur-Essays<br />

mitunter sind –über weiteStrecken<br />

hin<strong>weg</strong> müht sich der «unerschrockene<br />

Leser» (Kommentar des Verlags) vergeblich,<br />

aus dem Dickicht der Bezüge<br />

klug zu werden. Denn natürlich ist die<br />

vermeintlich raffinierte Konstruktion<br />

nur ein Spiel, und zwar eins auf Kosten<br />

des Lesers, dessen Entzifferungs- und<br />

BEATSCHWEIZER<br />

Decodierungsbemühungen vom Autor-<br />

Übersetzer ignoriert, wenn nicht sabotiert<br />

werden. Lauterlose Enden, die sich<br />

nicht zu einem Ganzen fügen lassen.<br />

Wasmachen wir, zum Beispiel, mit<br />

der Insel-Episode? Vanoski strandet auf<br />

einer Insel, die sich, wie es in Mythen<br />

vorkommen kann, als Rücken eines<br />

Wals entpuppt –wenn dieser auch in<br />

den vergangenen fünfzig Jahren kein<br />

einziges Mal abgetaucht sei; ausserdem<br />

ist von Tsunamis die Rede. Zwei weibliche<br />

Wesen hausen auf dieser einsamen<br />

Insel, Lili und Marleen, sie entpuppen<br />

sich als Zwillingsschwestern, und in<br />

beide verliebt sich Vanoski, obwohl eine<br />

von ihnen ein Hund ist, normalerweise<br />

angekettetimKeller.Dann wieder heisst<br />

es, die beiden seien ein einziges Wesen,<br />

doch keines<strong>weg</strong>s eines namens Lili Marleen,<br />

denn: «Das ist ein Lied, kein<br />

Mensch», so die empörte Lili.<br />

Der gebildete Leser mag an Odysseus<br />

auf Ogygia bei der Nymphe Kalypso<br />

denken, doch was bringt’s? Liegt es in<br />

der Verantwortung des Lesers, Sinn zu<br />

finden, oder in der Verantwortung des<br />

Autors,Sinn zu stiften? Haben wir es mit<br />

blossem l’art pour l’art zu tun, oder gibt<br />

es Nachrichten zu entschlüsseln, über<br />

das Leben und die Liebe,ander Vanoski<br />

auf so viele Arten scheitert?<br />

Brillante Formulierungen<br />

Beides dürfte der Fall sein, und deshalb<br />

ist die Lektüreein Wechselbad zwischen<br />

Frustration und luzidem Vergnügen.<br />

Vanoski verzweifelt angesichts der<br />

«schwindelerregend unverständlichen»<br />

auf Englisch radegebrechten Erzählungeneines<br />

Russen, der Anton heisst –wie<br />

Tschechow, natürlich! –und der bei der<br />

Südpol-Expedition von Robert Scott die<br />

Ponysbetreuthaben soll. Vergnügen bereiten<br />

anderseits Sätze wie: «The more<br />

we live –/The more weleave. /The<br />

morewechoose –/The moreweloose.»<br />

Manches gelingt phänomenal, und manches<br />

entgleitet dem Autor, denn waswir<br />

in den Händen halten, ist ein work in<br />

progress.<br />

Seit den frühen siebziger Jahren, so<br />

erfährt man in der editorischen Notiz,<br />

habe Andrej Bitow an dem Text gearbeitet<br />

–imGrunde schreibe er sein ganzes<br />

Leben an einem einzigen Roman. Zu den<br />

Sujets dieses Lebensromans, der zugleich<br />

alle Sujets verfolgt und keines,<br />

gehört das Verhältnis von Leben und<br />

Schreiben. «Sie wüssten gern, wie alles<br />

in Wirklichkeit war?», fragt Urbino Vanoski<br />

den Reporter am Ende seines Lebens<br />

und am Anfang des Buchs. «Ich<br />

erinnere mich aber nicht, was ich geschrieben<br />

habe und was gelebt.»<br />

Wenn wir das Leben deuten, sind wir<br />

gleichzeitig Autorund Figur. Wirerkennen<br />

Sinn, wo keiner ist, und oft sind wir<br />

blind für Zusammenhänge, die in unseremLeben<br />

wirksam sind. Doch will man<br />

Bücher lesen wie das Leben? l


Betrachtungen Zu seinem 70. Geburtstag schreibt Wilhelm Genazino ein Buch über Frankfurt<br />

Chronist desdeutschen Alltags<br />

Wilhelm Genazino: Tarzan am Main.<br />

Spaziergänge in der Mitte Deutschlands.<br />

Hanser,München 2013. 139 Seiten,<br />

Fr.23.90.<br />

VonSandraLeis<br />

«Als die Post noch Deutsche Bundespost<br />

hiess und keine Gewinne machen<br />

musste», schreibt Wilhelm Genazino in<br />

seinem neuen Buch, «gab es in den<br />

Stadtteilen schöne, grosse und – im<br />

Winter –auch geheizte Schalterhallen.»<br />

Bis zu ihrer Privatisierung hatte die Post<br />

eine «Tendenz zur Gemeinnützigkeit»:<br />

Mütter machten ihre Säuglinge frisch,<br />

Rentnerinnen verzehrten ihre mitgebrachten<br />

Brote und alte Herren kontrollierten<br />

ihre Brieftaschen. Heute sind die<br />

grossen Posthallen weitgehend verschwunden<br />

–die Post ist zur Untermiete.Man<br />

könne nicht sagen, dassdie Post<br />

ihre Aufgaben vernachlässige, so Genazino,<br />

esgehe alles seinen Gang wie früher.<br />

«Nur: Beeindruckt ist von dieser<br />

Post niemand mehr.»<br />

Wilhelm Genazino nimmt in seinen<br />

Romanen und Essays wie früher auch in<br />

seinen Hörspielen und Sketches das Unscheinbare<br />

und Alltägliche in den Blick;<br />

er fahndet nicht nach dem Spektakulären,<br />

sondern nach dem Zeittypischen.<br />

Den literarischen Durchbruch schaffte<br />

er mit seiner Romantrilogie «Abschaffel»<br />

(1977), «Die Vernichtung der Sorgen»<br />

(1978) und «Falsche Jahre» (1979)<br />

über das Leben des Büroangestellten<br />

Abschaffel: Diesem wird sein Beruf<br />

fremd, und in der sogenannten Freizeit<br />

weiss erjelänger, desto weniger etwas<br />

mit sich anzufangen. Allmählich kommt<br />

er sich abhanden, und Genazino beschreibt<br />

diese Entwicklung nüchtern<br />

und genau.<br />

Seit vielen Jahren lebt der Autor in<br />

Frankfurt am Main, wo er einst als Redaktor<br />

der Satirezeitschrift «Pardon»<br />

anheuerte. In der Stadt, die sich zum<br />

einen in ihrer «hausbackenen Eppelwoi-<br />

Seligkeit» gefällt und zum anderen als<br />

«Mainhattan» gelten will, ist Wilhelm<br />

Genazino daheim. Und so macht er<br />

Frankfurt regelmässig zum Schauplatz<br />

seiner Bücher.<br />

Auch in «Tarzan am Main», seinem<br />

jüngsten Band, der zum 70. Geburtstag<br />

des Autors erschienen ist. In seinen Betrachtungen<br />

schreibt Genazino detailliert<br />

und trotzdem immer kurz und bündig<br />

über Supermärkte und Kleinmarkthallen,<br />

über den Bahnhof und die U-<br />

Bahn, über Pendler und Ausländer, Verwahrloste<br />

und Bettler und über Trinker,<br />

die diskret ihre leeren Flaschen entsorgen<br />

und den Nachschub verschämt im<br />

Rucksack verstauen. Er schreibt über<br />

den «Verdruss der Enge» und über die<br />

oft lieblose Architektur seiner Stadt, die<br />

nach dem Krieg möglichst schnell wieder<br />

aufgebaut werden musste.<br />

In seinen Prosaminiaturen zu Frankfurt<br />

versammelt Genazino kleine Beobachtungen,<br />

Gedanken und Erinnerungen.<br />

In kurzen, präzisen Betrachtungen<br />

reflektiert er Gegenwart und Vergangenheit<br />

und ist, was erimmer ist: ein<br />

Chronist des deutschen Alltags. Nicht<br />

mehr, aber auch nicht weniger. Aufgemotzt<br />

und irreführend wirken deshalb<br />

Sätze aus der Werbeabteilung des Hanser-Verlags,<br />

gemäss denen das gewöhnliche<br />

Deutschland «exotischer» sei «als<br />

die Ferne, die inzwischen jeder kennt».<br />

«Tarzan am Main» ist nicht nur ein<br />

Buch über Frankfurt, es ist genauso ein<br />

Buch über Genazino selbst –über seine<br />

kleinbürgerliche Herkunft, über seine<br />

Angst vor dem nächsten Buch und über<br />

die Frage, ob ein sinnvoll abgeschlossenes<br />

Ende eines Schriftstellerlebens<br />

überhaupt möglich ist. In einem Kapitel<br />

beschreibt er, wie ihn zwei Herren vom<br />

Malerei Von der Unmöglichkeit, sich ein Bild zu machen<br />

DieSonne scheintzwischenkahlen Bäumen hindurch.<br />

Zwei Pferde warten darauf,dass die Männer<br />

ihnen den Befehl geben, einen Stamm <strong>weg</strong>zuziehen.<br />

Eine winterliche Szene aus einer anderen Zeit. Uwe<br />

Wittwer, der 1954 in Zürich geborene Künstler,hat<br />

nach einer Fotografie gemalt. Er sammelt historische<br />

Aufnahmen. Viele vonihnen findet er im Internet. Ein<br />

Konvolut wurde in Ostpreussen zurZeit des Zweiten<br />

Weltkriegsgemacht. Die Familie seines Vaters<br />

stammt aus der Gegend zwischen Berlin und dem<br />

alten Königsberg. Die biografische Assoziation istfür<br />

Wittwerallerdingsnicht entscheidend. Er schätzt<br />

Deutschen Literaturarchiv besuchen,<br />

um seinen Vorlass zu inspizieren. In<br />

mehr als dreissig Ordnern hat Genazino<br />

Entwürfe, Vorstufen und Kapitelskizzen<br />

zu kommenden Romanen aufbewahrt.<br />

Er schreibt: «Die Aufzeichnungen sind<br />

oft nur deshalb entstanden, weil ich<br />

meiner inneren Mutlosigkeit irgendetwas<br />

entgegenhalten musste. Ohne diese<br />

Vor-Notizen wären die ‹eigentlichen›<br />

Werke nie entstanden.»<br />

Das wäre furchtbar für einen, der bereits<br />

mit 14 wusste,dass erSchriftsteller<br />

werden wollte und sonst nichts. Sein<br />

Glück steckt in der Arbeit. Genauer: Der<br />

Augenblick des Glücks ist der «Augenblick<br />

der Verwandlung» –ineinen, der<br />

bald schreiben wird. l<br />

historische Vorlagen –gerne dürfen es auch Gemälde<br />

berühmter Vorgänger sein –, weil er mit ihnen<br />

leichter austesten kann, wie ein Bild funktioniert. Wie<br />

es sich verändert, wenn man Lichtpunkteund<br />

Schatten setzt. Und vorallem wie ein Bild verblasst,<br />

so dass es eher dem Versinken als dem Wecken einer<br />

Erinnerung gleicht. Denn Wittwerist der Maler des<br />

zerbrechlichen Gedächtnisses. Er führtuns die<br />

Notwendigkeit und die Unmöglichkeit vor, sich ein<br />

Bild zu machen. GerhardMack<br />

JuergJudin u.a. (Hrsg.): UweWittwer –Paintings.<br />

Hatje Cantz, Ostfildern 2012. 208Seiten, Fr.69.90.<br />

24.Februar 2013 ❘NZZamSonntag ❘ 9


Belletristik<br />

Roman Im Buch des Kongolesen Alain Mabanckou wirdeine Bar in Brazzaville zur Bühne der Welt<br />

Schlussmit allden<br />

Afro-Klischees!<br />

Alain Mabanckou: Zerbrochenes Glas.<br />

Ausdem Französischen vonHolger Fock<br />

und Sabine Müller.Liebeskind,<br />

München 2013. 224Seiten, Fr.27.50.<br />

VonDavid Signer<br />

Afrikanische Literatur hat hierzulande<br />

einen schwerenStand. Die Begeisterung<br />

für «Dritte Welt»-Literatur ist verflogen.<br />

Kommt hinzu, dass auch die Situation<br />

in Afrika selbst für Schriftsteller<br />

desolat ist. In einer Zehn-Millionen-<br />

Stadt wie Kinshasa gibt es inzwischen<br />

keinen einzigen Buchverlag mehr. Die<br />

meisten der zeitgenössischen Autoren<br />

schreiben aus dem Exil, in ihren Texten<br />

geht es nicht mehr um «Authentizität»,<br />

um Palmwein, Strohhütten, Urwald,<br />

Löwen und Trommeln, sondern um Migration,<br />

Modernisierung, Subkulturen,<br />

Rassismus und hybride Identitäten. Im<br />

Allgemeinen wollen sie nicht als «Afrikaner»<br />

etikettiert und schubladisiert,<br />

sondern einfach als Schriftsteller und<br />

Individuen ernstgenommen werden.<br />

Tatsächlich: Schafft es heute ein solcher<br />

Autor ineinen deutschsprachigen Verlag,<br />

dann nicht dank, sondern eher trotz<br />

der Tatsache, dass eraus Afrika kommt.<br />

Auch die Biografie und das Werk von<br />

Alain Mabanckou stehen im Zeichen der<br />

Globalisierung. 1966 in der Republik<br />

Kongo geboren, ging er zum Jurastudium<br />

nach Paris. Im Folgenden war er<br />

zehn Jahre lang als Berater in einem<br />

französischen Wirtschaftskonzern tätig<br />

und veröffentlichte die Romane «African<br />

Psycho», «Black Bazar» und «Stachelschweins<br />

Memoiren». Letztes Jahr<br />

wurde ervon der Académie française<br />

für sein Gesamtwerk mit dem Grand<br />

Prix de Littératureausgezeichnet. Heute<br />

lebt Mabanckou in Santa Monica und<br />

unterrichtet an der University ofCalifornia<br />

in Los Angeles.<br />

Bar in Brazzaville,<br />

Kongo, wie sie im<br />

neuen Roman von<br />

Alain Mabanckou als<br />

Schauplatz auftaucht.<br />

Den Spiegel vorgehalten<br />

Seinen Roman «Zerbrochenes Glas»<br />

könnteman nach den ersten paar Seiten<br />

leicht unterschätzen. Da schwatzt ein<br />

Mann namens «Zerbrochenes Glas»,<br />

Stammgast in der Bar «Angeschrieben<br />

wird nicht» in Brazzaville, drauflos,<br />

ohne Punkt und Absatz, unzensiert,<br />

wild, vulgär.Hellhörig wirdman spätestens<br />

bei der Stelle, woesheisst: «Der<br />

Wirt des ‹Angeschrieben wird nicht›<br />

kann Binsenwahrheiten von der Art<br />

‹Wenn in Afrika ein Greis stirbt, verbrennt<br />

eine Bibliothek› nicht leiden, und<br />

wenn er dieses ausgelatschte Klischee<br />

hört, wirdermehr als sauer und schiesst<br />

sofort zurück: ‹Hängt doch ganz davon<br />

ab, welcher Greis, also hört auf mit dem<br />

Stuss›.» Offensichtlich geht es nicht<br />

mehr um eine Ehrenrettung des afrikanischen<br />

Erbes wie seinerzeit beim malischen<br />

Schriftsteller Hampâté Bâ, von<br />

dem das Greis-Diktum stammt, sondern<br />

darum, den Leuten inBrazzaville schonungslos<br />

den Spiegel vorzuhalten.<br />

Nach und nach werden die Bargäste<br />

vorgestellt. Da ist der «Pampers-Typ»,<br />

der <strong>weg</strong>en seiner Inkontinenz Windeln<br />

tragen muss, von seiner Frau mit dem<br />

Priester betrogen, um Haus und Habe<br />

gebracht und schliesslich sogar ins Gefängnis<br />

abgeschoben wurde. Oder der<br />

«Drucker», der es bis nach Paris schaffte,<br />

eine Französin heiratete, einen guten<br />

Job ergatterte, seinen unehelichen Sohn<br />

zu sich holte, der dann jedoch eine Liaison<br />

mit seiner Stiefmutter begann, was<br />

den armen «Drucker» ins Irrenhaus<br />

brachte, von woaus er schliesslich in<br />

seine Heimat verfrachtet wurde. Eher<br />

als an Bâ erinnert Mabanckou hier an<br />

Céline, und wohl nicht zufällig trägt die<br />

Ehefrau des «Druckers» den Namen des<br />

berühmt-berüchtigten Autors. Jedes<br />

Porträt in «Zerbrochenes Glas» ist eine<br />

kleine Reise ans Ende der Nacht.<br />

Allerdings ändert sich die Perspektive<br />

in der zweiten Hälfte des Buches.<br />

Stellte sich der Ich-Erzähler anfangs<br />

noch als getreuer und relativnüchterner<br />

Chronist des Treibens dar, erzählt er<br />

nun von seinen eigenen Odysseen in<br />

den Bars und Bordellen des Rotlichtviertels<br />

Rex, und je mehr er sich als<br />

armes Opfer seiner bösen Ehefrau darstellt,<br />

umso mehr ahnen wir, dass erals<br />

objektiver Berichterstatter vielleicht<br />

doch nicht über alle Zweifel erhaben ist.<br />

So erscheinen auf einmal auch die<br />

Schicksale im ersten Teil des Buches in<br />

einem anderen Licht. Spätestens bei diesen<br />

Passagenwirdklar,was für ein raffinierter<br />

Autor Mabanckou ist, trotz seines<br />

schnoddrigen Erzählstils. Am Ende<br />

des Buches, wenn man weiss, wer daeigentlich<br />

spricht, hätte man Lust, nochmals<br />

vonvorne zu beginnen. Man würde<br />

die Schilderungen dann nämlich ganz<br />

anders lesen, in Hinblick darauf, was<br />

verdreht oder verschwiegen wird.<br />

Hinreissende Schwadroneure<br />

In einer selbstironischen Wendung<br />

gerät das Notizheft des Ich-Erzählers<br />

kurz vordessen Selbstmorddem Wirt in<br />

die Hände. Er findet, die Geschichten<br />

seien unlesbar: «Das ist nicht normal,<br />

du musst das ein bisschen ins Reine<br />

bringen… du musst noch einmal von<br />

vorne anfangen.» Das kann er nicht.<br />

«Hat man schon einmal gesehen, dass<br />

jemand ein zerbrochenes Glas wieder<br />

reparieren konnte?», fragt er.Zum Glück<br />

hat er das Buch nicht «ins Reine gebracht».<br />

Dessen Faszination besteht gerade<br />

in den Ungereimtheiten und «Fehlern».<br />

Und soberührend all die tragikomischen<br />

Geschichten sind, wird man<br />

doch auch an Mabanckous kontroversen<br />

Essay «Le sanglot de l’homme noir» erinnert,<br />

in dem er sich über die «Wir<br />

armen Opfer»-Jeremiaden vieler Afrikaner<br />

mokiert. Die hinreissenden Schwadroneure<br />

aus der «Angeschrieben wird<br />

nicht»-Bar würden dort gutals anschauliche<br />

Exempel hineinpassen. l<br />

HECTOR MEDIAVILLA /POLARIS /DUKAS<br />

10 ❘ NZZamSonntag ❘ 24.Februar 2013


Kurzkritiken Belletristik<br />

E-Krimi des Monats<br />

Die Fahnder austricksen<br />

Johann Nestroy:Historisch-kritische<br />

Ausgabe. Ergänzungen. Deuticke,<br />

Wien 2012. 652Seiten, Fr.89.90.<br />

Katherine Mansfield: In einer deutschen<br />

Pension. Erzählungen. Illustriert vonJoe<br />

Villion. Büchergilde,2012. 276 S., Fr.35.40.<br />

KeigoHigashino: VerdächtigeGeliebte.<br />

Ausdem Japanischen vonUrsula Gräfe.<br />

Klett-Cotta, Stuttgart 2013. 320 Seiten,<br />

Fr.27.90,E-Book 18.90.<br />

Dass der Ergänzungsband einer historisch-kritischen<br />

Ausgabe dem allgemeinen<br />

Publikum zur Lektüre empfohlen<br />

wird, bedarf der Erklärung. Hier ist sie:<br />

Der Wiener Johann Nestroy ist, Grillparzer<br />

hin, Hebbel her, der bedeutendste<br />

deutsche Dramatiker des 19. Jahrhunderts<br />

nach Goethe, Schiller, Kleist und<br />

Büchner. Ein Komiker von Shakespeare’schem<br />

Format. Deshalb ist er in<br />

einer gründlichen, wenngleich hässlichen<br />

Gesamtausgabe gewürdigt worden.<br />

Nun ist jedoch etwas eingetreten,<br />

das der Albtraum aller Editoren, aber<br />

der Traum der geneigten Leser ist. Just<br />

als die emsigen Germanisten ihreArbeit<br />

für abgeschlossen hielten, sind entscheidende<br />

neue Manuskripte aufgetaucht:<br />

jene der Dramen «Der Weltuntergang»<br />

und «Die schlimmen Buben in der Schule».<br />

Sie erscheinen hier erstmals in<br />

authentischer Gestalt. Lustigeres kann<br />

man schwerlich lesen.<br />

Manfred Papst<br />

Techno der Jaguare. <strong>Neue</strong> Erzählerinnen<br />

aus Georgien. Frankfurter Verlags-Anstalt,<br />

Frankfurt a. M. 2013. 256 Seiten, Fr.28.40.<br />

Ist nicht allein der Titel ein Versprechen?<br />

«Techno»: laut und durchdringend.<br />

«Jaguare»: gefährlich und geschmeidig.<br />

Wirlesen hier vier Erzählungen,<br />

einen Auszug aus einer Erzählung,<br />

einen aus einem Roman –der diesem<br />

Sammelband den Titel lieh –sowie ein<br />

Theaterstück. In den Texten der sieben<br />

georgischen Autorinnen, Jahrgängezwischen<br />

1964 und 1983, finden wir zwar<br />

jenen rauen Exotismus, den wir spontan<br />

mit dem Land am Schwarzen Meer verbinden:<br />

Kriege, patriarchalische Strukturen.<br />

Doch dann erleben die Protagonistinnen<br />

auch ganz ähnliche Dramen<br />

wie wir; oder es geht um die Ausgrenzung<br />

von Behinderten. Was «Techno<br />

der Jaguare» zu einer Bereicherung unserer<br />

angelsächsisch dominierten Lektüre<br />

macht, ist mitunter das Suchende,<br />

Fordernde im Ton. Auf jeden Fall möchte<br />

man mehr aus dieser Fremde lesen.<br />

Regula Freuler<br />

Die gebürtige Neuseeländerin Katherine<br />

Mansfield, die vor 90Jahren erst<br />

34-jährig an Tuberkulose starb, gehört<br />

zu den Wegbereiterinnen der modernen<br />

englischen Shortstory: Kühl und knapp<br />

sind ihre Geschichten. In Anbetracht<br />

der Überschaubarkeit ihres Werks von<br />

73 Storys ist Mansfield eine erstaunlich<br />

kontinuierlich rezipierte Autorin. Erst<br />

letztes Jahr hat der Diogenes-Verlag<br />

sämtliche Erzählungen neu aufgelegt, in<br />

Elisabeth Schnacks Übersetzung von<br />

1980. Von diesen gibt die Edition Büchergilde<br />

jene 13 heraus, mit denen die<br />

Autorin 1909 debütierte. Die deutsche<br />

Künstlerin Joe Villion, eine Schülerin<br />

Henning Wagenbreths, hat sie illustriert:<br />

in Konfekt-Farben und mit Art-<br />

Déco-Anleihen. Bei Diogenes bekommt<br />

man für den doppelten Preis zwar fast<br />

sechsmal so viele Texte, aber Villions<br />

Bilder machen die Büchergilde-Ausgabe<br />

zum zigfach schöneren Geschenk.<br />

Regula Freuler<br />

RobertGernhardt: Hinter der Kurve.<br />

Reisen 1978–2005. S. Fischer,Frankfurt 2012.<br />

302 Seiten, mit Abbildungen, Fr.29.90.<br />

Sechs Jahre sind es nun schon her, seit<br />

uns der grosse Lyriker, Erzähler und Essayist,<br />

Maler und Zeichner Robert Gernhardt<br />

(1937–2006) abhandengekommen<br />

ist. Er fehlt uns nach wie vor. Immerhin<br />

erreichen uns mit schöner Regelmässigkeit<br />

Publikationen aus seinem Nachlass.<br />

Deren jüngsteist ein vonKristina Maidt-<br />

Zinke herausgegebener Band mit Erzählungen,<br />

Zeichnungen und Essays von<br />

Reisen, wie sie sich in grosser Zahl in<br />

Gernhardts «Brunnen-Heften» – 675<br />

Notiz- und Zeichenheften der Marke<br />

«Brunnen» –befinden. Die Sammlung<br />

«Hinter der Kurve» vereint Texte zu<br />

Estland, Österreich, der Schweiz, Italien,<br />

Frankreich, Spanien, Portugal, England,<br />

Kanada, den USA, Brasilien, Indonesien,<br />

Thailand, Südafrika, Botswana.<br />

Gerade inihrer pointierten Skizzenhaftigkeit,<br />

in der unverstellten Neugier des<br />

Autors erweist sich ihr besonderer Reiz.<br />

Manfred Papst<br />

Die alleinerziehende MutterYasuko<br />

Hanaokalebtmit ihrer Tochter in<br />

Tokio ein unauffälliges Leben. Bis eines<br />

Tagesihr Ex-Mann vorder Wohnungstür<br />

steht. Er will Geld. Er will Yasuko<br />

zurück. Er belästigt ihreTochter.Diese<br />

schlägt zu, mit der Vase,auf seinen<br />

Kopf.Der Ex-Mann stürzt sich auf die<br />

Tochter,ausser sich vorWut.Yasuko<br />

schlingt ihm ein Kabel um den Hals<br />

und zieht zu. Er wehrt sich heftig. Die<br />

Tochter hilftihrer Mutter. Undplötzlich<br />

rührt er sich nicht mehr,liegt<br />

regungslos da, tot, mitteninYasukos<br />

Wohnung. Undnun, wastun?Sich<br />

stellen –und riskieren, dassauch die<br />

Tochter nicht unbehelligt davonkommt?<br />

In diesem Moment klingelt das<br />

Telefon. Der Nachbar Ishigami ist am<br />

Apparat.«Frau Hanaoko, es ist sehr<br />

schwer, eine menschliche Leiche verschwinden<br />

zu lassen», sagt er.«Eine<br />

Frau schafft das nicht alleine. Wiewäre<br />

es, wenn ich zu ihnen rüberkäme?»<br />

All dies ereignet sich auf den ersten<br />

dreissig Seiten des Romans «Verdächtige<br />

Geliebte» des japanischen Autors<br />

Keigo Higashino. Von Beginn <strong>weg</strong> ist<br />

klar, wer die Täterin ist. Und es<br />

scheint klar, umwelches Delikt es<br />

geht. Auch wenn am Schluss dann<br />

einiges ganz anders kommt.<br />

Nachbar Ishigami, der Yasuko heimlich<br />

liebt, ist ein Mathe-Genie und ein<br />

Experte des logischen Denkens. Sein<br />

Ziel: Den Totschlag nachträglich so<br />

darzustellen, dass Yasuko nicht als<br />

Täterin überführt werden kann, weil<br />

sie über ein nahezu perfektes Alibi<br />

verfügt. Er lässt die Polizei Spuren finden,<br />

die in Wirklichkeit keine sind. Er<br />

macht sich die Blindheit zunutze, die<br />

durch vorgefasste Überzeugungen entsteht.<br />

Er trickst die Fahnder auf dieselbe<br />

Weise aus wie seine Studenten,<br />

die er glauben lässt, sie müssten eine<br />

geometrische Aufgabe lösen, dabei<br />

geht es um Algebra.<br />

Der Plan könnte gelingen. Wäre<br />

sein Widersacher, ein Helfer der<br />

Polizei, nicht ein ehemaliger<br />

Studienkollege mit fast<br />

ebenso hellem Kopf. Dieser<br />

stellt Ishigami die Frage:<br />

«Was ist schwieriger, ein<br />

unlösbares Problem zu<br />

schaffen oder es zu lösen?»<br />

Nicht nur der Buchtitel,<br />

auch Keigo Higashinos<br />

schnörkelloser Stil erinnert<br />

an seinen weit bekannteren<br />

Landsmann Haruki Murakami.<br />

Wasausschliesslich als Kompliment<br />

zu verstehen ist.<br />

Higashino erzählt eine<br />

aussergewöhnliche<br />

Kriminalgeschichte:<br />

spannend und überaus<br />

intelligent.<br />

VonChristine Brand l<br />

24.Februar 2013 ❘NZZamSonntag ❘ 11


Essay<br />

Übersetzungen vonKlassikern boomen. Worin liegt der Reiz, sich<br />

jahrelang mit einer Lyrikerin zu beschäftigen?Unter anderem darin, sich<br />

der Verführungskrafteines grossartigen Werksauszusetzen, schreibt die<br />

Emily-Dickinson-Übersetzerin Gunhild Kübler<br />

Endlose<br />

Knobeleien<br />

Am Anfang war die Freude am Original: ein<br />

verblüfftes Aufhorchen, dann Begeisterung,<br />

eine Art Erhebung –oder, umesmit dem Titel<br />

eines Gedichtbands von Niklaus Meienberg zu<br />

sagen: «Die Erweiterung der Pupillen beim Eintritt<br />

ins Hochgebirge». Wobei das Hochgebirge<br />

in meinem Fall ein orangerotes Reclam-Bändchen<br />

mit etwas über hundert Gedichten der<br />

amerikanischen Lyrikerin Emily Dickinson<br />

(1830–1886) war.<br />

Bald fünfzehn Jahreist das nun her.Einer der<br />

Freunde in einem Lesezirkel, dem ich seit Jahrzehnten<br />

angehöre, hatte vorgeschlagen, Emily<br />

Dickinsons Lyrik auf unser monatliches Lektüreprogramm<br />

zu setzen. Auf diese Idee wäre ich<br />

selbst nie gekommen. Während meines Anglistikstudiums<br />

hatte ich nichts von dieser Dichterin<br />

gehört, was damit zusammenhängen mag,<br />

dass sie zu Lebzeiten von den rund 1800 Gedichten<br />

ihres Gesamtwerks nur 10 anonym veröffentlicht<br />

hat und die spätere Edition ihrer<br />

Lyrik mehr als ein halbes Jahrhundert lang von<br />

Familienfehden behindert war. Auch fand ihre<br />

feministische Entdeckung erst statt, als ich<br />

schon nicht mehr an der Universität war. Und<br />

zudem war mit den Jahren mein früher intensivesInteresse<br />

an Lyrik abgekühlt. Ichkonntemir<br />

nicht vorstellen, dass esnoch einmal aufflammen<br />

würde.<br />

Gewagte Bilder<br />

Unlustig öffneteich also das Reclam-Bändchen<br />

in der ersten Hälfte, und mein Blick fiel auf ein<br />

Gedicht, von dem ich heute weiss, dass esin<br />

Dickinsons Werk nicht gerade zu den bedeutenden<br />

gehört. «If Ishould’nt be alive /When<br />

the Robins come /Give the one in Red Cravat,<br />

/AMemorial crumb», hiess esdainkraftvollen,<br />

gereimten Versen. Rechts davon in umständlicher<br />

deutscher Prosa: «Wenn ich nicht<br />

am Leben sein sollte/Wenn die Drosseln kommen<br />

/Gib der einen in roter Krawatte /Einen<br />

Erinnerungskrumen.»<br />

Ich weiss noch, dass mir diese Vogel-Fütter-<br />

Szene als Ritual des Andenkens an eine verstorbene<br />

Freundin sentimental vorkam –solange,<br />

12 ❘ NZZamSonntag ❘ 24.Februar 2013<br />

bis ich die zweite und letzte Strophe gelesen<br />

hatte: «If Icould’nt thank you, /Being fast asleep,/You<br />

will knowI’m trying /With my Granite<br />

lip!»<br />

Vonseinem Schlussvers her wird der Achtzeiler<br />

wie unter Strom gesetzt. Starkes Zooming<br />

reisst einen beim Lesen plötzlich unter<br />

den Boden, wo die jetzt noch lebendige Freundin<br />

einst mit geschlossenen Augen ruhen wird<br />

wie eine Statue. Riesig vergrössert erscheint ihr<br />

Mund und zeigt sie für immer unerreichbar und<br />

radikal verwandelt, nämlich in Granit –aber<br />

«Metrum, Rhythmus und<br />

Reim bringen den Text im<br />

Original in ein weiches<br />

Wiegen und Ziehen, laden<br />

ihn auf mit Leiden und<br />

mit Leidenschaft.»<br />

trotzdem noch der angeredeten Person liebevoll<br />

zugetan. Anders ist nicht zu erklären, dass<br />

sie auch noch als Tote versucht, mit ihr zu<br />

reden. Der kleine, von seinem Ende her herzzerreissende<br />

Text inszeniert prägnant die brutale<br />

Endgültigkeit des Tods und zugleich den<br />

hinfälligen Versuch eines Einspruchs der Liebe.<br />

Gleich darauf las ich mich fest an einem Liebesgedicht.<br />

Darin gesteht eine Frau, dass sie<br />

alle beneidet, die an ihrer Statt mit dem abgereisten<br />

Geliebten zusammen sein dürfen: das<br />

Meer, auf dem er fortsegelt, die Räder seines<br />

Wagens, die ihm nachblickende Landschaft,<br />

Spatzen auf seinem Dach, Fliegen am Fenster,<br />

zuletzt sogar das pureTageslicht um ihn herum<br />

und ganz besonders die Mittagsglocken. Sie<br />

selbst wolle ihm Mittag sein, heisst es mysteriös.<br />

Ein gewagtes Bild. Wergenauer hinsieht,<br />

erkennt weit mehr als die beiden mittags aufeinanderliegenden<br />

Zeiger einer Turmuhr.<br />

Im Original beginnt das Ganze so: «I envy<br />

Seas, whereon He rides –/Ienvy Spokes of<br />

Wheels /OfChariots, thatHim convey –Ienvy<br />

Crooked Hills // That gaze opon His journey–/<br />

HoweasyAll can see /Whatisforbidden utterly<br />

/AsHeaven –unto me!»<br />

Und soweiter über sechs Strophen hin. Metrum,<br />

Rhythmus und Reim bringen den Text im<br />

Original in ein weiches Wiegen und Ziehen,<br />

laden ihn auf mit Leiden und Leidenschaft. Die<br />

deutsche Version jedoch bleibt bei Prosa und<br />

beginnt mit einem unfreiwilligen Witz: «Ich beneide<br />

das Meer, auf dem er schifft.»<br />

Ihre Stimme zum Leuchten bringen<br />

Trotzdem hat die Lektüre dieses Reclam-Bändchens<br />

–feierlich gesagt –mein Leben verändert.<br />

Nicht nur <strong>weg</strong>enmeiner Freude am Original,<br />

sondern sicher auch weil die Übersetzung<br />

so unbefriedigend war. Hätte ich damals gleich<br />

das Bändchen von Lola Gruenthal in der Hand<br />

gehabt, die mit viel Sinn für den Klang deutscher<br />

Verse circa hundert Gedichte übersetzt<br />

hat, oder die Ausgabe vonWerner vonKoppenfels,<br />

der mehr als dreihundert Gedichte vorlegte<br />

–wer weiss, ob ich selber hätte in Aktion<br />

treten wollen.<br />

So aber drängteesmich, meine Begeisterung<br />

produktiv zumachen, das heisst, diese Dichterin<br />

und ihre Zeit so gründlich wie nur möglich<br />

kennenzulernen und gleichzeitig auszuprobieren,<br />

ob sich das, wasdiese wunderbareGeistesstimme<br />

aus der Vergangenheit einst zum Ausdruck<br />

gebracht hatte,auf Deutsch mit ähnlicher<br />

Leuchtkraft würde sagen lassen. Mehrere<br />

Schulhefte füllten sich nun mit meinen metrisch<br />

strengen und gereimten Versionen des<br />

Reclam-Bändchens: «Ich neid dem Meer, dass<br />

es Ihn trägt –/Beneid des Rades Speichen /An<br />

Wagen, die ihn fahren –/Beneid die Hügelreiche<br />

// Landschaft die Seine Reise sieht –/Wie<br />

leicht fällt jeder Blick /Auf das was ganz verborgen<br />

ist –/Für mich –wie Himmelsglück!»<br />

und so weiter.<br />

Zurgleichen Zeit erschien bei HarvardPress<br />

eine neue dreibändige Dickinson-Ausgabe. Es<br />

war die erste, die auf Grund der Originalhandschriften<br />

eine Chronologie ihrer Lyrik fest-<br />


Emily Dickinson<br />

Die amerikanische Schriftstellerin Emily<br />

Dickinson (1830–1886) entstammt einer streng<br />

puritanischen Familie des College-Städtchens<br />

Amherst (Massachusetts), das sie zeitlebens<br />

kaum verlassen hat. Sie publizierte zu Lebzeiten<br />

nur 10,hinterliess aber rund 1800 Gedichte.<br />

Lieferbaredeutsche Übersetzungen ihrer Lyrik:<br />

•Gertrud Liepe, Reclam, ca. 100Gedichte.<br />

•Lola Gruenthal, Diogenes, ca. 100Gedichte.<br />

•Werner vonKoppenfels, Dieterich’sche<br />

Verlagsbuchhandlung, ca. 300 Gedichte.<br />

•Wolfgang Schlenker,Engeler,<br />

51 Gedichte.<br />

•Gunhild Kübler,Hanser,ca. 600 Gedichte.<br />

Diese 2008 mit dem Paul-Scheerbart-Preis<br />

ausgezeichneteAusgabe gibt es mittlerweile<br />

auch als Fischer-Taschenbuch.<br />

AMHERSTCOLLEGE ARCHIVESAND SPECIAL COLLECTIONS AND THE EMILYDICKINSON /AP<br />

Links: Die einzigeheutenoch existierende Fotografie<br />

vonEmily Dickinson (um1847/1848). Unten: Das<br />

Haus in Amherst,Massachusetts, wo sie Zeit ihres<br />

Lebens wohnte, istheuteein Museum. Ganz unten: Das<br />

Schlafzimmer der Dichterin.<br />

SUSAN PEASE /ALAMY<br />

JESSICAMESTRE /AP<br />

24.Februar 2013 ❘NZZamSonntag ❘ 13


10CFWMKw4CQRAFT9ST9_qXGVqSdZsVBN-GoLm_IoNDlKuq86wY-HE_rufxKAIewplzacWKMd2LSwfDCkpX0G5MVdLtTxdwpcF6KwIVejNFKbQOZtP2oHcMHZ_X-wtsyfiKfwAAAA==<br />

10CAsNsjY0MDAx1TW0MLOwNAIAFsuL9A8AAAA=<br />

Essay<br />

▼<br />

«Emily Dickinsons Lyrik<br />

ist mutig, frei und radikal,<br />

ver<strong>weg</strong>en bis zur<br />

Blasphemie und mitunter<br />

schockierend rückhaltlos in<br />

ihrer Selbstenthüllung.»<br />

legte und Schluss machte mit der weit verbreiteten<br />

Vorstellung, Dickinson sei eine Dichterin<br />

ohne jede Entwicklung. Ich stürzte mich<br />

drauf. Eswar atemberaubend, zu beobachten,<br />

wie sich dieses riesige Werk inseiner ganzen<br />

Fülle Zug umZug entfaltete. Um meinem Verständnis<br />

auf die Sprünge zuhelfen und mir so<br />

etwaswie eine Vertrautheit aus der Ferne anzueignen,<br />

las ich mich nebenbei durch ganze Regale<br />

von Sekundärliteratur, die ich aus der Zürcher<br />

Zentralbibliothek nach Hause schleppte –<br />

Biografien, Geschichtsbücher und Stapel von<br />

Einzeldarstellungen. Nur die beiden stockfleckigen<br />

Bände eines Websters aus dem Jahr 1832<br />

(fast das gleiche Wörterbuch lag bei Emily Dickinson<br />

ständig auf dem Tisch) mussten im Lesesaal<br />

bleiben.<br />

So viel verstand ich, je mehr ich las: Diese<br />

Dichterin ist weit mehr als hundert Jahre weit<br />

<strong>weg</strong> von der damals von Frauen ihres puritanischen<br />

Milieus geforderten biederen Schicklichkeit.<br />

Ihre Lyrik ist mutig, frei und radikal in der<br />

Erforschung von Lebens- und Liebesfragen,<br />

ver<strong>weg</strong>en bis zur Blasphemie in der Durchleuchtung<br />

von Glaubensinhalten und mitunter<br />

schockierend rückhaltlos im Ausmass der<br />

Selbstenthüllung. Kein Wunder, dass sie ihre<br />

Kühnheiten lebenslang unter Verschluss hielt.<br />

Unerschütterlich ist dabei ihr Vertrauen in<br />

die Bannkraft der poetischen Sprache. Die<br />

akustischen Finessen der lyrischen Tradition<br />

hatte sie von Kirchenliedern her seit Kindertagen<br />

imOhr und setzte sie ein als die zauberischen<br />

Suggestionstechniken, die sie von Alters<br />

her waren –ein das Denken und Sprechen auf<br />

Touren bringendes und seine Logik, Eindringlichkeit<br />

und Schlagkraft erhöhendes Instrument.<br />

Das sollte in meiner Übersetzung hörbar<br />

sein, nahm ich mir vor. Doch genau dagegen<br />

leisten Gedichte, eben weil sie Gedichte sind,<br />

extremen Widerstand. Schillernd vor Vieldeutigkeiten,<br />

spielen sie gleichzeitig auf mehreren<br />

Ebenen. Unmöglich, das alles in einer anderen<br />

Sprache nachzubilden, noch dazu, wenn der<br />

dafür vorgesehene Raum durch Metrum und<br />

Reim so streng eingeengt ist wie sonst nie. Das<br />

Der Grabstein vonEmily Dickinson auf dem Friedhofvon<br />

Amherst (MA), im Nordostender USA.<br />

kann nicht gutgehen. JacobGrimm hatesschon<br />

vorüber 200 Jahren gewusst: «Eine treue Übersetzung<br />

eines wahren Gedichts ist unmöglich,<br />

sie müsste, um nicht schlechter zu sein, mit<br />

dem Original zusammenfallen.»<br />

Also lässt man besser die Finger davon? –<br />

«Impossibility, like Wine /Exhilirates the Man<br />

/Who tastes it» (Unmöglichkeit, wie Wein /<br />

Beschwingt den, der sie kostet) –sobeginnt<br />

eins von Dickinsons Gedichten. Man kann es<br />

auf viele Spielarten der Unmöglichkeit beziehen,<br />

und natürlich sind die hier Angesprochenen<br />

nicht nur Männer. Rechnet man auch die<br />

Unmöglichkeit, Dickinsons Lyrik zu übersetzen,<br />

dazu, dann redet das Gedicht vombelebenden<br />

Bedürfnis, es trotzdem zu tun.<br />

BETH HARPAZ /AP<br />

Dickinson-Liebhaber in aller Welt<br />

Dass esungeachtet aller Hindernisse gelingen<br />

kann, dafür steht kein Geringerer als Paul<br />

Celan. Insgesamt zehn Gedichte von Emily Dickinson<br />

hat er1959 und 1963 mit einer umwerfenden<br />

Prägnanz übersetzt, die mir bewusst<br />

machte, was auf Deutsch möglich ist. Ein Beispiel:<br />

Die Verszeile «We slowly drove – He<br />

knew nohaste» (aus dem Gedicht «Because I<br />

could not stop for Death») übersetzt Celan:<br />

«Ihm gingsauch langsamschnell genug.» Seine<br />

Version mit dem Zusammenprall der antithetischen<br />

Kontraste genau in der Versmitte gefällt<br />

mir noch besser als das Original. Man kann von<br />

ihr lernen. Sie zukopieren, verbietet sich von<br />

selbst. Meine Version desselben Verses ist zwar<br />

näher am Original, aber weniger brillant: «Gemächlich<br />

gings–Ihm eilt es nicht.» Die Ermunterung<br />

durch Celans Version war jedoch beträchtlich.<br />

Sie setzte Massstäbe. Dass man Einfallsreichtum<br />

trainieren kann wie die Fingerfertigkeit<br />

beim Klavierspielen, ist eine alte Übersetzerweisheit.<br />

Weit davon entfernt, meine Tätigkeit<br />

als Dichten einzuschätzen, sehe ich mich<br />

selber als mittlerweile gut trainierte Vermittlerin,<br />

respektvoll hingegeben an eine überwältigende<br />

Arbeit. Die hat mir mit den Jahren auch<br />

ihre elende Seite offenbart, doch will ich hier<br />

nicht jammern. Denn klar steht mir vor Augen,<br />

wasEmilyDickinson mir inzwischen geschenkt<br />

hat zusätzlich zu ihrer Lyrik: ergiebige (wenn<br />

auch oft nur elektronische) Kontakte mit Dickinson-Liebhabern<br />

und -Experten in aller Welt<br />

und viele Freunde, die ich mit meiner Freude<br />

angesteckt habe.<br />

Diese so spät entdeckte Dichterin durchquert<br />

inzwischen Zeiten und Räume. Schon vor<br />

Jahrzehnten ist eine erste japanische Übersetzung<br />

ihrer sämtlichen Gedichte erschienen. Es<br />

gibt italienische und französische Gesamtausgaben.<br />

Zurzeit entsteht eine Übersetzung ins<br />

Chinesische, und in Shanghai wird eine Konferenz<br />

vorbereitet zum Thema «Emily Dickinson<br />

–aWorld Poet».<br />

Skrupulöser geworden<br />

Meine zweisprachige Anthologie mit etwas<br />

über 600 Gedichten ist 2006 bei Hanser erschienen,<br />

und seit zwei Jahren gibt es davon<br />

eine Taschenbuchausgabe bei Fischer.<br />

Doch habe ich mit dem Übersetzen nicht aufgehört<br />

und arbeiteseit Jahren kontinuierlich an<br />

der ersten deutschen Ausgabe sämtlicher Gedichte.<br />

Es geht langsam voran, nicht nur, weil<br />

jetzt auch eine Reihe von fast unlösbar rätselhaften<br />

Gedichten auf dem Programm steht,<br />

sondern auch, weil ich bei der Arbeit in all den<br />

Jahren nicht etwa routinierter,sondern vorsichtiger,skrupulöser<br />

geworden bin. Schier endlose<br />

Knobeleien verfolgen mich weit jenseits vom<br />

Schreibtisch mittlerweile überallhin. Und ich<br />

bin glücklich damit.<br />

EmilyDickinson hat, seit ich ihr Gesamtwerk<br />

in- und auswendig kenne, für mich ein neues<br />

Gesicht bekommen. Jetzt sehe ich den tiefen<br />

Abdruck der Schrecken des amerikanischen<br />

Bürgerkriegs inihren Gedichten. Noch abgründiger<br />

kommt mir nun ihr Reden vom Tod vor,<br />

noch intensiver ihre Diesseitsfreude, noch moderner<br />

ihre Skepsis in religiösen Dingen und<br />

ihre Erforschung der «Keller» unserer Seele.<br />

Und manchmal sehe ich aus dem 19. Jahrhundert<br />

eine Zeitgenossin auf mich zukommen.<br />

Wenn das keine wundersame Erweiterung der<br />

Pupillen ist. l<br />

Gunhild Kübler übersetzt zurzeit sämtliche<br />

1800 Gedichtevon EmilyDickinson. Der<br />

Erscheinungstermin ist noch offen.<br />

14 ❘ NZZamSonntag ❘ 24.Februar 2013


Kolumne<br />

Charles Lewinskys Zitatenlese<br />

Kurzkritiken Sachbuch<br />

Ichwar schon als kleiner<br />

Jungeein Lügner.<br />

Das kamvom Lesen.<br />

Thomas Sprecher: Schweizer Monat<br />

1921-2012. Eine Geschichteder Zeitschrift.<br />

SMH Verlag,Zürich 2013. 272Seiten, Fr.39.–.<br />

Toby Lester: Die Symmetrie der Welt.<br />

Leonardo und seine berühmtesteZeichnung.<br />

Berlin Verlag,Berlin 2012. 287 S., Fr.37.90.<br />

GAËTAN BALLY/KEYSTONE<br />

Der AutorCharles<br />

Lewinskyarbeitet in<br />

den verschiedensten<br />

Sparten. Sein neues<br />

Buch «Schweizen –<br />

vierundzwanzig<br />

Zukünfte»ist soeben<br />

im Verlag Nagel &<br />

Kimche erschienen.<br />

Isaak Babel<br />

«Alle Autoren sind Lügner», sagt ein<br />

chinesisches Sprichwort. (Und fügt,<br />

gegen alle fernöstliche Höflichkeit<br />

hinzu: «Alle Leser sind Idioten, weil sie<br />

die Lügen glauben.») Der Satz hat was.<br />

(Nur der erste Teil natürlich.) Ein Buch<br />

zu schreiben ist eine der wenigen gesellschaftlich<br />

akzeptierten Arten, die<br />

Unwahrheit zu sagen.<br />

Zugegeben, es gibt auch andere Berufe,<br />

bei denen der ökonomische Umgang<br />

mit der Wahrheit zum professionellen<br />

Alltag gehört. Politiker, zum Beispiel,<br />

oder Werbeleute.<br />

Aber die dürfen den mangelnden<br />

Wirklichkeitsbezug ihrer Aussagen<br />

nicht offen zugeben, sondern müssen<br />

im Brustton der Überzeugung behaupten,<br />

immer nur die Wahrheit und nichts<br />

als die Wahrheit zu sagen. Weil sie<br />

sonst nämlich Gefahr laufen, ihr Amt<br />

zu verlieren. Oder, noch viel schlimmer,<br />

ihren Account.<br />

Wir Schreiberlinge hingegen…<br />

Wir dürfen von Heldentaten erzählen,<br />

die nie stattgefunden haben,<br />

dürfen uns Liebesgeschichten mit<br />

bonbonrosafarbigen Happyends ausdenken,<br />

dürfen unsere Protagonisten<br />

Schlachten schlagen lassen, in denen<br />

wir ganz allein über Sieger und Verlierer<br />

entscheiden.<br />

Wir dürfen alles. Manchmal bekommen<br />

wir sogar Preise dafür.<br />

Und der Leser, dieser nette Mensch,<br />

ist stets bereit, uns unsere Lügen zu<br />

glauben. Nicht etwa, weil er ein Idiot<br />

ist –Schande über den unhöflichen<br />

chinesischen Sprichworterfinder! –,<br />

sondern weil er weiss, dass die sonst so<br />

gut bewachte Grenze zwischen Wahrheit<br />

und Erfindung in einem Buch<br />

durchlässig wird. Und weil die literarische<br />

Lüge manchmal viel wahrer sein<br />

kann als die Wirklichkeit, die sie zu<br />

beschreiben vorgibt.<br />

Einmal, ich erinnere mich gern<br />

daran, ist mir so ein perfektes Täuschungsmanöver<br />

gelungen. Als ein<br />

Kritiker «Melnitz» rezensierte und<br />

meinte, manche der Figuren, die darin<br />

vorkämen, müssten wohl ein reales<br />

Vorbild haben. Weil man nämlich,<br />

schrieb er, so lebendige Charaktere<br />

nicht erfinden könne.<br />

Für den schreibenden Berufslügner<br />

ist so eine Bemerkung schon fast der<br />

Münchhausen-Pokal.<br />

Ja, wir dürfen rund um die Uhr nach<br />

Herzenslust lügen und schummeln.<br />

Und nur schon deshalb ist das Schreiberleben<br />

auch immer ein reines Vergnügen<br />

und hat mit wirklicher Arbeit<br />

überhaupt nichts zu tun.<br />

(Was eben, falls Sie es<br />

nicht gemerkt haben<br />

sollten, auch schon<br />

wieder gelogen war.)<br />

Im Oktober 2012 feierte der «Schweizer<br />

Monat» seine 1000. Ausgabe. Nun wirft<br />

Thomas Sprecher,Jurist und Germanist,<br />

einen Blick auf die wechselvolle Geschichte<br />

des Journals, dessen Verlag er<br />

präsidiert. 1921 gegründet, geriet das<br />

Blatt erst unter frontistisch-deutschfreundlichen<br />

Einfluss bis 1934. ImZweiten<br />

Weltkrieg schaffte es die Wende,<br />

seither versteht es sich als intellektueller<br />

Vorposten des Liberalismus mit stark<br />

kultureller Ausrichtung. Zu den Mitarbeitern<br />

zählten Persönlichkeiten wie<br />

Carl J. Burckhardt, Friedrich August von<br />

Hayek, Ludwig Erhard, Herbert Lüthy,<br />

Hugo Loetscher und François Bondy.<br />

Seit 2008 führt eine freche junge Crew<br />

die Publikation zu neuem Erfolg. Auch<br />

wenn ein paar Kürzungen der Chronik<br />

gut getan hätten, illustriert sie doch lebhaft<br />

das Werden einer Zeitschrift, die<br />

der Autor Rolf Dobelli heute «das intelligenteste<br />

Magazin der Schweiz» nennt.<br />

UrsRauber<br />

Ritchie Pogorzelski: Die Traianssäule in<br />

Rom. Nünnerich-Asmus, Mainz 2012.<br />

146Seiten, Fr.40.90.<br />

Aufdem Forum in Romsteht ganz allein<br />

eine fast 40 Meter hohe, innen begehbare<br />

Marmorsäule. Auf ihrer Aussenseite<br />

windet sich ein 200 Meter langer Fries<br />

in die Höhe; wie ein Comicstreifen stellt<br />

er den Sieg Kaiser Traians über die<br />

Daker dar.Der heutigeBesucher vermag<br />

die Bilder kaum noch zu erkennen,<br />

zumal die ätzende Luft Roms vieles bereits<br />

<strong>weg</strong>gefressen hat. Schade,denn die<br />

vielen Details geben das lebendige Bild<br />

eines Heereszuges ab. 1400 neue Fotos<br />

des steinernen Frieses hat der Autor für<br />

das Buch aufgenommen, am Computer<br />

entzerrt und koloriert, denn auch die<br />

Traianssäule war einst farbig bemalt.<br />

2500 Figuren – Legionäre, Offiziere,<br />

Pferde, Wagen –bevölkern die Bilder,<br />

auch kleinste Details wie Schuhe oder<br />

Waffen sind liebevoll dargestellt. Die<br />

Handlung wirdineinem kurzen Begleittext<br />

erläutert. Für Romfans ein Muss!<br />

GenevièveLüscher<br />

Der nackte Mann im Kreis und Quadrat<br />

ziert heute T-Shirts, Euromünzen und<br />

Kaffeetassen. Leonardo da Vinci hat ihn<br />

wohl im Jahr 1490 als Selbstporträt gezeichnet.<br />

Mit diesem «vitruvianischen<br />

Menschen» gelingt dem 38-jährigen Leonardo<br />

die Visualisierung einer Theorie,die<br />

der römische Architekt Vitruvin<br />

Worten dargelegt hatte und die, von der<br />

Antike ins mittelalterliche Christentum<br />

tradiert, über 2000 Jahre lebendig war:<br />

die Idee nämlich, dass der menschliche<br />

Körper einen Mikrokosmos darstelle, in<br />

dem sich die göttliche Ordnung von<br />

Kosmos und Welt im Kleinen darstellt.<br />

Wo diese Idee auftaucht (in den Visionen<br />

der Hildegard von Bingen etwa, in<br />

frühen Weltkarten, in Christus-Darstellungen)<br />

und wie nach anderen Architekten-Künstlern<br />

der Renaissance gerade<br />

Leonardo ihreideale Darstellung gelang<br />

–dies ist das Thema dieses brillanten<br />

und wunderbar illustrierten Buches.<br />

Kathrin Meier-Rust<br />

Christoph Zürcher: Wieich Kannibalen,<br />

die Taliban und die stärkstenFrauen<br />

überlebte. Orell Füssli 2013. 219 S., Fr.26.90.<br />

Eine Expedition zu Menschenfressern.<br />

Skirennen in Afghanistan. Aufder Suche<br />

nach Bin Laden in Pakistan. Besuch<br />

beim Matriarchat in China. Christoph<br />

Zürchers grosse Reisereportagen im<br />

Gesellschafts-Bund der «NZZ am Sonntag»<br />

sind legendär: weil sie polarisieren,<br />

vom Publikum entweder als «ignorant»<br />

und «despektierlich» verdammt oder<br />

als gnadenlos unterhaltender Lesestoff<br />

verschlungen werden. Der Autor pflegt<br />

einen radikal subjektiven, umwerfend<br />

selbstironischen und gleichzeitig gesellschaftskritischen<br />

Journalismus. Man<br />

kann ihn nur lieben –oder hassen. Auch<br />

ich bekenne mich, nach anfänglicher<br />

Skepsis, als Fander blühenden Abenteuergeschichten.<br />

Das Buch versammelt 18<br />

vonihnen in geballter Wucht. Wierecht<br />

hat doch ein Leser: «Christoph Zürcher<br />

ist der Karl May der Gegenwart –nur<br />

authentischer,humorvoller,packender.»<br />

UrsRauber<br />

24.Februar 2013 ❘NZZamSonntag ❘ 15


Sachbuch<br />

Musik Vor200 Jahren wurdeRichardWagner geboren. Die radikale politische Haltung des<br />

deutschen Komponisten und Opernregisseurspolarisiert bis heute<br />

Rauschmusik<br />

fürUnmusikalische<br />

Udo Bermbach: Mythos Wagner. Rowohlt,<br />

Berlin 2013. 336 Seiten, Fr.28.50,<br />

E-Book 20.90.<br />

Friedrich Dieckmann: DasLiebesverbot<br />

und die Revolution. Insel, Berlin 2013.<br />

235 Seiten, Fr.32.90.<br />

JensMalte Fischer: RichardWagner und<br />

seine Wirkung. Zsolnay, Wien 2013.<br />

320 Seiten, Fr.27.90.<br />

VonFritzTrümpi<br />

Dass Richard Wagner (1813-1883) bis<br />

heute polarisiert, wird derzeit wieder<br />

besonders deutlich. Aus der Flut an<br />

neuen Publikationen über den Komponisten<br />

und dessen Werk ist eine betonte<br />

Mehrstimmigkeit herauszuhören, vor<br />

allem Wagners politische Positionen erfahren<br />

grosse Aufmerksamkeit. Sie werden<br />

aber auf sehr unterschiedliche<br />

Weise durchleuchtet, wie an drei ausgewählten<br />

<strong>Neue</strong>rscheinungen unschwer<br />

abzulesen ist.<br />

Udo Bermbach spürt dem «Mythos<br />

Wagner» nach. Dessen Entwicklungsgeschichtesieht<br />

der HamburgerPolitologe<br />

Wagner-Jahr 2013<br />

RichardWagners200.Geburtstagliefert<br />

nicht nur für den Musikbetrieb einen<br />

willkommenen Anlass, dem Opernrevolutionär<br />

zu huldigen. Auch die<br />

Buchproduktion läuftdieses Jahr auf<br />

Hochtouren. Unter den weiteren<br />

<strong>Neue</strong>rscheinungen sind zu erwähnen:<br />

•Dieter Borchmeyer: RichardWagner.<br />

Leben –Werk –Zeit (Reclam 2013,<br />

408 Seiten).<br />

•Enrik Lauer,Regine Müller: Der kleine<br />

Wagnerianer.Zehn Lektionen für Anfänger<br />

und Fortgeschrittene (C.H.Beck<br />

2013, 261Seiten).<br />

•SvenOliver Müller: RichardWagner und<br />

die Deutschen (C.H.Beck 2013,<br />

320Seiten).<br />

16 ❘ NZZamSonntag ❘ 24.Februar 2013<br />

eng mit den politischen Konstellationen<br />

verknüpft –jenen zu WagnersLebzeiten<br />

ebenso wie jenen nach dessen Tod1883.<br />

In chronologischer Folge steckt Bermbach<br />

die wichtigsten Stationen der Mythenbildung<br />

ab: Die ärmliche Existenz<br />

in Paris als «Katharsis», das Zürcher<br />

Exil als Schaffensquell für seine Opernproduktion,<br />

die Münchner Jahreals Verwirklichung<br />

seiner politischen Träume,<br />

sodann das luzernische Tribschen als<br />

idyllischer Kraftort, Bayreuth hingegen<br />

als Festspielmekka und Vollendung des<br />

Mythos. Der Ausgangspunkt für diese<br />

Mythenkonstruktion liegt jedoch im<br />

Dresden der 1840er Jahre –das heisst in<br />

Wagners Revolutionsphase.<br />

Schon früh Antisemit<br />

Zweifellos warWagner bereits in jungen<br />

Jahren ein äusserst politischer Kopf,Revolution<br />

und Kunst gehörten für ihn<br />

schon früh untrennbar zusammen. Es<br />

wardarum kein Zufall, dassder Entwurf<br />

sämtlicher späterer Werke – mit Ausnahme<br />

des «Tristan» –zwischen 1842<br />

und 1849entstanden, während der Phase<br />

der bürgerlichen Revolution in Dresden.<br />

In dieser Zeit, so hebt Bermbach hervor,<br />

sei auch Wagnerszentrale Überzeugung<br />

entstanden, dass «das Leben in der<br />

Kunst und die Kunst im Leben aufgehen<br />

sollen». Doch damit dies gelinge, müsse<br />

das Volk zunächst in seine Rechteeingesetzt<br />

werden, so Bermbach über Wagners<br />

Revolutionsanspruch.<br />

Dieser zunächst emanzipatorisch verstandene<br />

Volksbegriff verwandelte sich<br />

aber bald in einen aggressiven völkischen<br />

Nationalismus. Die Ursachen<br />

dafür sucht Bermbach –und dies ist sein<br />

blinder Fleck –allerdingsnicht bei Wagner<br />

selbst, sondern ausschliesslich bei<br />

den Nachlassverwaltern, die sehr früh<br />

ins nationalsozialistische Fahrwasser<br />

gerieten. «Braune Indienstnahme des<br />

Mythos Wagner» nennt dies der Autor<br />

zu Recht –dassder Wagnerclan bald zur<br />

begeisterten Hitler-Anhängerschaft gehörte,<br />

ist hinlänglich bekannt. Doch<br />

ohne Wagnerseigenes Zutun hätte diese<br />

«Indienstnahme» nicht so ungehindert<br />

verlaufen können. WagnersAntisemitismus,<br />

der schon früh in diversen Schriften<br />

auftaucht und in der hetzerischen<br />

Schmähschrift «Das Judenthum in der<br />

Musik» ihren Höhepunkt findet, erwähnt<br />

Bermbach nur nebenher. Als Erklärungshilfe<br />

dafür, warum die braune<br />

Einfärbung gerade beim «Mythos Wagner»<br />

so leicht gelang, zieht er ihn nicht<br />

herbei. Das ist gelinde ausgedrückt erstaunlich.<br />

Noch erstaunlicher ist allerdings,<br />

dass Friedrich Dieckmann ein ganzes<br />

Buch lang ohne einen einzigen Hinweis<br />

auf WagnersAntisemitismus auskommt.<br />

Und dies, obschon der deutsche Publizist<br />

vermeintlich akribisch analysiert,<br />

inwiefern sich die politische Revolutionsbe<strong>weg</strong>ung<br />

in WagnersOpern abbilde.<br />

Unter beträchtlichem sprachlichem<br />

Verzierungsaufwand erzählt Dieckmann<br />

ausführlich von Wagners Dasein als unerschrockenem<br />

Politaktivisten, der allerdings<br />

stets das Theater imKopf gehabt<br />

habe: «Auch wenn Wagner Handgranaten<br />

bestellt, denkt er zuletzt an<br />

nichts anderes als an die Oper.»<br />

Für Dieckmann bildet sich Wagners<br />

politischer Aktivismus deshalb auch<br />

überdeutlich in dessen Werken ab. Der<br />

Autor belegt dies an zahlreichen Analogien<br />

zwischen biografischen Überlieferungen<br />

und werkimmanenten Figuren<br />

und sucht ausserdem nach Parallelen<br />

zwischen der Person Wagner und anderen<br />

Polit-Künstlern. Das ist ein hochspekulativer,<br />

mitunter aber erkenntnisreicher<br />

Ansatz. Durch<strong>weg</strong>s nachvollziehbar<br />

gestaltet Dieckmann etwa das<br />

Motiv von Wagners unterdrückter Geschwisterliebe,die<br />

er mit dem revolutionären<br />

Gestus des Komponisten kurzschliesst<br />

und zur Gesellschaftskritik gewendet<br />

insbesondereinWagnersfrühen<br />

Opern aufspürt – im «Liebesverbot»<br />

etwa, dann aber auch in den «Feen», ja<br />

noch im «Rienzi» und im «Fliegenden<br />

Holländer».<br />

Doch Dieckmanns Analogiebildungen<br />

greifen manchmal auch gründlich


ins Leere. Die<br />

These über die<br />

grosse Ähnlichkeit<br />

zwischen<br />

Wagner und<br />

Brecht etwa ist<br />

nicht nur aufgrund<br />

inhaltlicher,<br />

sondern<br />

auch allgemein<br />

historischer Unschärfen<br />

nicht<br />

haltbar.<br />

Das Problematischste<br />

andieser<br />

Publikation ist jedoch<br />

das konsequente<br />

Ausblenden<br />

vonWagnersAntisemitismus.<br />

Es ist nicht<br />

nachvollziehbar, dass<br />

der Autor gerade diesen<br />

Aspekt in seiner politischen<br />

Ausdeutung von<br />

Wagners Werk vollständig<br />

ignoriert. Dieckmanns vielfach<br />

spannende Opernanalysen<br />

werden in ihrem Aussagewert<br />

dadurch jedenfalls beträchtlich<br />

beschnitten.<br />

Gesamkunstwerk als Idee<br />

Es braucht einen Jens Malte Fischer, der<br />

diese Lücke schliesst und schonungslos<br />

kenntlich macht, wie eng Wagners antisemitische<br />

Theorieschriften mit seinem<br />

Schaffen als Komponist zusammenhängen.<br />

Die vielfach geäusserte Entschuldigung,<br />

Wagners Antisemitismus sei damals<br />

eine reine Modeerscheinung gewesen,<br />

lässt der renommierte Musikhistoriker<br />

nicht gelten. Im Gegensatz zur<br />

damals weitverbreiteten antijüdischen<br />

Stimmung habe man es bei Wagner<br />

nämlich mit einem Frührassismus zu<br />

tun, der den Juden «unabänderliche Unterschiede»<br />

gegenüber der nichtjüdischen<br />

Bevölkerung unterstelle, womit<br />

Wagner bereits bei einer «rassischen»<br />

Distinktion angelangt sei. VonWagner<br />

seien somit Ideen ausgegangen, die<br />

nicht nur von späteren Antisemiten wie<br />

Houston Stewart Chamberlain, Otto<br />

Weininger oder Adolf Hitler, sondern<br />

auch von der gesamten «völkisch-nationalsozialistischen»<br />

Musikpublizistik<br />

übernommen worden seien.<br />

Wagner redet etwa vom «verfluchten<br />

Judengeschmeiss» und vergleicht die<br />

Juden in seinen Tagebüchern mit «natürlichen<br />

schmarotzenden Parasiten».<br />

Im Pamphlet «Das Judenthum in der<br />

Musik», dessen erste Ausgabe von 1850<br />

noch unter dem Pseudonym K. Freigedank<br />

veröffentlicht wurde, appelliert<br />

«Auch wenn Wagner<br />

Handgranaten<br />

bestellt, denkt er an<br />

nichts anderes als an<br />

die Oper»: Richard<br />

Wagner (1813–1883),<br />

Musikrevolutionär<br />

und Nationalist.<br />

AUSTRIAN ARCHIVES/IMAGNO<br />

der Komponist<br />

an die Assimilationsbereitschaft<br />

der Juden,<br />

hält jedoch<br />

zugleich fest:<br />

«Aber bedenkt,<br />

dass nur Eines<br />

Eure Erlösung<br />

von dem auf<br />

Euch lastenden<br />

Fluche sein<br />

kann, die Erlösung<br />

Ahasvers:<br />

Der Untergang!»<br />

Anhand solcher<br />

Zitate erweist sich<br />

Fischers pointierte<br />

Argumentation<br />

durch<strong>weg</strong>s als stichhaltig.<br />

Obwohl die Auseinandersetzung<br />

mit Wagners<br />

Antisemitismus bei<br />

Fischer eine zentrale Rolle<br />

spielt, hat erauch zu anderen<br />

Aspekten von Wagners<br />

Leben und Werk Gewichtiges<br />

beizutragen. Seine detailreichen<br />

Ausführungen zur Geschichte der<br />

Aufführungspraxis etwa, vom frühen<br />

«Rienzi» über «Tristan und Isolde» bis<br />

zum «Ring des Nibelungen» und des<br />

späten «Parsifal», liefern vielerlei neue<br />

Einsichten in Wagners schillernde Idee<br />

des «Gesamtkunstwerks», das Tanz-,<br />

Ton- und Dichtkunst ebenso umfassen<br />

sollte wie Bau-, Bildhauer- und Malerkunst.<br />

Was Wagner daraus fertigte,<br />

könnte man oberflächlich betrachtet<br />

zwar als «Rauschmusik für Unmusikalische»<br />

abtun. Doch ob aller Kritikbereitschaft<br />

gegenüber dem Phänomen Wagner<br />

attestiert Fischer dem revolutionären<br />

Komponisten eine ungebrochene<br />

Vormachtstellung in der Musikgeschichte:<br />

Kein Komponist habe «bis<br />

heute eine solche sengende Strahlung<br />

(im Positiven wie im Negativen) ausgesendet<br />

wie Richard Wagner.» Dem ist<br />

nichts hinzuzufügen. l<br />

24.Februar 2013 ❘NZZamSonntag ❘ 17


Sachbuch<br />

Arabischer Frühling Während autoritäreRegimes gestürzt wurden, verharren Sexualität und das<br />

Geschlechterverhältnis in alten Strukturen<br />

Gretchenfrageder Revolution<br />

Shereen El Feki: Sexund die Zitadelle.<br />

Liebesleben in der sichwandelnden<br />

arabischen Welt. Hanser,Berlin 2013.<br />

408Seiten, Fr.34.90.<br />

VonSusanne Schanda<br />

Zwei Jahre nach Beginn der Volksaufstände<br />

in der arabischen Welt ist die<br />

Zeit reif für eine Zwischenbilanz. Was<br />

ist aus der euphorischen Aufbruchsstimmung<br />

geworden? Wo ist die Meinungsfreiheit,<br />

wo sind die Frauenrechte?<br />

Bereits wenige Monate nach dem<br />

Sturz Mubaraks wurden in Ägypten erneutDemonstranten<br />

auf der Strassevon<br />

Sicherheitskräften zusammengeschlagen<br />

und brutal gefoltert. An festgenommenen<br />

Demonstrantinnen führten Polizeiärzte<br />

sogenannte Jungfräulichkeitstests<br />

durch. Gegen diese Akte der Gewalt<br />

wird lautstark protestiert und vor<br />

Gericht prozessiert, aber niemand stellt<br />

die gesellschaftliche Funktion der Jungfräulichkeit<br />

in Frage.<br />

An diesem Punkt setzt Shereen El<br />

Feki mit ihrem Buch an. Die ägyptischbritische<br />

Immunologin und Wissenschaftsjournalistin<br />

untersucht die Rolle<br />

der Sexualität, die Beziehung der Geschlechter<br />

und die Machtbeziehungen<br />

innerhalb der Familie vor dem Hintergrund<br />

des politischen Umbruchprozesses<br />

in Ägypten und anderen arabischen<br />

Ländern. Sie weiss, dass die politischen<br />

Revolutionen zum Scheitern verurteilt<br />

sind, wenn sie nicht von sozialen, sexuellen<br />

und kulturellen Veränderungsprozessen<br />

im Bewusstsein begleitet werden.<br />

«Es ist schwer vorstellbar, wie die<br />

Demokratie in einer Gesellschaft florieren<br />

soll, wenn deren konstitutioneller<br />

und kultureller Eckpfeiler in der Familie<br />

so undemokratisch ist», schreibt die Autorin<br />

und stellt fest, dass esfür junge<br />

Frauen und Männer in Ägypten leichter<br />

ist, den Präsidenten zu stürzen, als von<br />

zu Hause auszuziehen.<br />

Doppelmoral im Islam<br />

Shereen El Feki wuchs als Tochter eines<br />

ägyptischen Muslims und einer britischen<br />

Christin, die zum Islam konvertierte,<br />

in Kanada auf. Der Islam wurde<br />

ihr als Kind weder aufgedrängt, noch interessierte<br />

sie sich dafür. Erst mit den<br />

Terroranschlägen vom 11. September<br />

2001 begann sie, sich mit ihrer ägyptisch-muslimischen<br />

Herkunft zu beschäftigen.<br />

Bei ihren Recherchen im<br />

Rahmen einer UN-Kommission über<br />

Aids im arabischen Raum fiel ihr «die<br />

Kluft zwischen dem öffentlichen Anschein,<br />

wie er sich in den Statistiken niederschlug,<br />

und privater Wirklichkeit»<br />

auf. Diese Kluft zwischen Sein und<br />

Schein geht nirgends so tief wie in der<br />

Sexualität. So wird inJemen und Saudi-<br />

Arabien die voreheliche Beziehung zwischen<br />

Jugendlichen nicht toleriert, aber<br />

mit der Verheiratung von Mädchen an<br />

Die ägyptische Nacktfoto-Revolutionärin<br />

Aliaa Elmahdy (Mitte)<br />

protestiertmit zwei<br />

ukrainischen Femen-<br />

Aktivistinnen in<br />

Stockholm gegendie<br />

neue Verfassung in<br />

Ägypten (Dez. 2012).<br />

ältere Männer der institutionalisierten<br />

Pädophilie Vorschub geleistet. Prostitution<br />

ist in Ägypten illegal, funktioniert<br />

aber unter dem Deckmantel von «Vertragsehen»,<br />

wie sie oft von Touristen<br />

aus den Golfstaaten für die Dauer der<br />

Sommerferien mit Ägypterinnen abgeschlossen<br />

werden.<br />

Während fünf Jahren reiste Shereen<br />

El Feki quer durch die arabische Welt,<br />

sprach mit verheirateten, ledigen und<br />

geschiedenen Frauen und Männern,<br />

Bloggerinnen, Salafisten und Muslimbrüdern,<br />

mit einer Fernseh-Sextherapeutin<br />

und Zuhältern, die sich Ehevermittler<br />

nennen. Dabei kommt ihr die<br />

doppelte Identität als Ägypterin und<br />

Aussenstehende zugute. Sie zeigt sowohl<br />

Einfühlungsvermögen wie kritische<br />

Distanz. Die Menschen vertrauen<br />

ihr, weil sie zu ihnen gehört, und sehen<br />

ihr die etwas anrüchige Beschäftigung<br />

mit der Sexualität nach, weil sie eine<br />

Frau aus dem Westen ist. Die Autorin<br />

spannt den historischen Bogen weit zurück<br />

in die heute vergessene Hochzeit<br />

der islamischen Kultur vom 8.bis zum<br />

10. Jahrhundert. Diese war nicht nur<br />

eine Blütezeit der arabischen Wissenschaft,<br />

sondern auch der Sexualität.<br />

In der «Enzyklopädie der Lust» von<br />

Ali ibn Nasr al-Katib aus dem Bagdad<br />

des 10.Jahrhunderts reicht das Themenspektrum<br />

von Bisexualität über Techniken<br />

des Beischlafs, Eifersucht, die Steigerung<br />

der Lust bei Mann und Frau bis<br />

zur Beschreibung des Geschlechtsverkehrsund<br />

vonanzüglichem Sex. All dies<br />

mit der deutlichen Botschaft, dass Sex<br />

ein Geschenk Gottes andie Menschheit<br />

sei und genossen werden soll. Nichts<br />

davon ist übrig geblieben in der Verteufelung<br />

der Sexualität durch die radikalkonservativen<br />

Salafisten. Den Niedergang<br />

der lustvollen Kultur führt El Feki<br />

auf die Kolonisierung im 19. Jahrhundert<br />

zurück, auf die die Araber mit Abschottung<br />

reagierten. Die einstige sexuelle<br />

Freizügigkeit wurde nun als Symptom<br />

von Dekadenz gesehen, als Gegenbe<strong>weg</strong>ung<br />

entstand der islamische Fundamentalismus.<br />

Dieser droht nun die Kinder<br />

der Revolution zu fressen.<br />

Frauen mit Zivilcourage<br />

Shereen El Feki beschönigt nichts in<br />

ihrem Buch. Sie verschweigt weder die<br />

in Ägypten trotz Verbot weit verbreitete<br />

Genitalverstümmelung bei Frauen noch<br />

die gesellschaftliche Stigmatisierung<br />

vongeschiedenen Frauen oder die heimliche<br />

Prostitution aus materieller Not.<br />

Aber sie zeigt auch, wie es in dieser Gesellschaft<br />

brodelt – dank zahlreicher<br />

Frauen mit Zivilcourage, wie der Studentin<br />

Aliaa Elmahdy, die als «Nacktfoto-Revolutionärin»<br />

die Scheinheiligkeit<br />

der Gesellschaft blossgestellt hat,<br />

oder die Radiomacherin Mahasin Sabir,<br />

die geschiedenen Frauen eine Stimme<br />

gibt. Die arabischen Revolten haben<br />

weit mehr als die Korruptheit des politischen<br />

Systems ans Tageslicht gezerrt<br />

und zur Debatte gestellt. An eine sexuelle<br />

Revolution in der arabischen Welt<br />

glaubt Shereen El Feki nicht –wohl aber<br />

an eine sexuelle Neubewertung. Ein<br />

langwieriger Prozess, der jetzt immerhin<br />

begonnen hat. l<br />

Susanne Schanda ist Ägypten-Expertin;<br />

im April erscheint im Rotpunktverlag ihr<br />

Buch «Literatur der Rebellion».<br />

FEMEN<br />

18 ❘ NZZamSonntag ❘ 24.Februar 2013


10CFWMoQ7DQAxDvyinOGlySwOrsmpgKg-phvf_aHdlBTawn30caY1vbfv73D8J5kVomEdPC2vSPRHSunmyjJKhKwQOdekPnhjhylqTIR7xUhCCEVDx8oLOh5prlva7vn-mKlRSgAAAAA==<br />

10CAsNsjY0MDAx0gUSZpbmAGVLn9UPAAAA<br />

Essays Der US-Autor<strong>Jonathan</strong> <strong>Franzen</strong> seziert sein Leben und die Mühen des Schreibens<br />

Mitjedem Buch einneuer Mensch<br />

<strong>Jonathan</strong> <strong>Franzen</strong>: <strong>Weiter</strong> <strong>weg</strong>. Essays.<br />

Rowohlt, Reinbek 2013. 365 Seiten,<br />

Fr.20.90.<br />

VonUrs Rauber<br />

Als <strong>Jonathan</strong> <strong>Franzen</strong> mit «Freiheit»<br />

(2010) seinen letzten grossen Erfolg feierte,<br />

stand neben den klassischen Ingredienzen<br />

Liebe, Familie und Betrug ein<br />

Thema im Mittelpunkt seines Romans:<br />

der Einsatz eines fanatischen Umweltaktivisten<br />

(Walter Berglund) für den<br />

Schutz einer bedrohten Vogelart. Im<br />

neuen Sammelband von21Essays,Reden<br />

und Buchbesprechungen, die <strong>Franzen</strong><br />

zwischen 1998 und 2011 verfasst hat, ist<br />

ebenfalls oft von Tierschutz die Rede.<br />

Im Essay «Der leergefegte Himmel»<br />

erzählt der passionierte Vogelbeobachter<br />

<strong>Franzen</strong> von seinen Exkursionen mit<br />

kombattanten Ornithologen auf Zypern,<br />

Malta und Italien. Dort, wo Vögel trotz<br />

strenger EU-Richtlinien immer noch<br />

häufig auf dem Teller landen –inItalien<br />

zum Beispiel als «pulenta eosei». Anschaulich<br />

schildert er,wie die Auseinandersetzung<br />

mit den Wilderern gelegentlich<br />

in einer Schlägerei mit zerstörten<br />

Kameras und in einer Flucht endet. So<br />

grossartig <strong>Franzen</strong>s Landschafts- und<br />

Tierbeschreibungen sind, so furios lässt<br />

er seinem Hass auf «Vogelmörder» und<br />

Umweltzerstörer freien Lauf.<br />

Doch immer bleibt <strong>Franzen</strong> der sensible,<br />

zweifelnde Reporter, der dem<br />

zwiespältigen Ich viel Raum gibt. Einen<br />

jungen italienischen Jäger lässt er sagen:<br />

«Mein Raubtierinstinkt steht in krassem<br />

Widerspruch zur Vernunft, (doch) die<br />

selektive Jagd ist mein Versuch, diesen<br />

Instinkt zu bändigen.» Selbstkritisch<br />

fragt sich der Autor, ob sein eigenes Engagement<br />

für die Artenvielfalt und das<br />

Wohlergehen der Tiere«nicht vielleicht<br />

eine Art Regression in mein Kinderzimmer<br />

und dessen Gemeinschaft der<br />

Plüschtiere ist». Es ist diese schonungslose<br />

Radikalität auch sich gegenüber,<br />

die uns den vehement-fragilen Zivilisationskritiker<br />

so sympathisch macht.<br />

MICHAEL LOCCISANO /GETTY IMAGES<br />

Ein zweites <strong>Franzen</strong>-Thema ist die<br />

Einsamkeit. Nach jedem grossen Roman<br />

und dem damit verbundenen Lese-Marathon<br />

flüchtet er sich ein paar Monate<br />

in das Alleinsein. Nach seinem letzten<br />

Opus suchte ereine 800 Kilometer vor<br />

der chilenischen Küsteliegende Vulkaninsel<br />

im Südpazifik auf, die von Millionen<br />

Seevögeln und Tausenden Seebären<br />

bevölkert ist. Auf dieser Insel namens<br />

«<strong>Weiter</strong> <strong>weg</strong>» (sie gab dem Buch den<br />

Titel) versuchteermit ausreichend Vorräten,<br />

einem Zelt und dem Buch «Robinson<br />

Crusoe» einige Wochen ohne Laptop,<br />

nur mir einem Satellitentelefon und<br />

einem GPS zu leben. Dort zerstreute er<br />

auch eine Zündholzschachtel voll Asche<br />

seines Schriftsteller-Freundes und Rivalen<br />

David Foster WallaceimAuftrag von<br />

dessen Witwe Karen.<br />

<strong>Jonathan</strong> <strong>Franzen</strong>s Buchrezensionen<br />

über Werke von Alice Munroe, Paula<br />

Fox, Fjodor Dostojewski oder Frank Wedekind<br />

sind derart enthusiastisch geschrieben,<br />

dass man nach der Lektüre<br />

gleich die besprochenen Bücher lesen<br />

möchte. Auf der anderen Seite zeigt der<br />

Romancier, mit welch ungeheurer Anstrengung<br />

sein Handwerk verbunden<br />

ist. «Mit jedem Buch muss man so tief<br />

<strong>Jonathan</strong> <strong>Franzen</strong> ist<br />

auch ein passionierter<br />

Vogelbeobachter.Hier<br />

vorder Premieredes<br />

Films «Birders» im<br />

NewYorker Central<br />

Park (Juni 2012).<br />

wie möglich graben und so weit wie<br />

möglich ausholen.» Und wenn einem<br />

dann ein halb<strong>weg</strong>s gutes Buch gelinge,<br />

müsse man beim nächsten noch tiefer<br />

graben und noch weiter ausholen. Für<br />

jedes neue Buch müsse der Autor ein<br />

anderer Mensch werden, weil er «das<br />

beste Buch, das er schreiben konnte, ja<br />

bereits geschrieben hat».<br />

Berührend an <strong>Franzen</strong>s Essaysammlung<br />

sind nicht nur solche Einsichten,<br />

sondern auch die Verletzlichkeit, mit<br />

der er seiner Leserschaft gegenüber<br />

tritt. Er erzählt von seiner Scham und<br />

den Schuldgefühlen, die er nach seiner<br />

Depression und der gescheiterten ersten<br />

Ehe mit einer erfolglosen Schriftstellerin<br />

überwinden musste; von seinem<br />

«schlimmsten Jahr» 1993, als sein<br />

Vater imSterben lag und ihm das Geld<br />

ausging. «Mitte dreissig schämte ich<br />

mich für so ziemlich alles, wasich in den<br />

fünfzehn vorangegangenen Jahren meines<br />

Lebens getan hatte», schreibt der<br />

heute 53-Jährige. Vielleicht gerade des<strong>weg</strong>en<br />

entstand in jener Zeit sein Meisterwerk<br />

«Die Korrekturen», für das er<br />

2001 mit dem National Book Award geehrt<br />

wurde und das in der Folge zu<br />

einem Welt-Bestseller wurde. l<br />

24.Februar 2013 ❘NZZamSonntag ❘ 19


Sachbuch<br />

Gulag Posthum erscheinen die Erinnerungen vonHorst Bienek über seine Zeit in Lagerhaft<br />

«Meine Seelewar wieaus Blei»<br />

Horst Bienek: Workuta. Wallstein,<br />

Göttingen 2013. 80 Seiten, Fr.21.90.<br />

VonAnja Hirsch<br />

Arbeit. Hunger. Liebe/Sex. Beschreibung<br />

der Mithäftlinge. Das waren die<br />

ersten Stichworte, unter denen der<br />

Schriftsteller Horst Bienek (1930–1990),<br />

angeregt von seinem Lektor, dem Hanser-Verleger<br />

Michael Krüger,seine Erinnerung<br />

aufwecken sollte, vierzig Jahre<br />

danach. Mit 22 Jahren war Horst Bienek,<br />

der als Vertriebener aus Oberschlesien<br />

in der damaligen DDR eine neue Heimat<br />

gefunden hatte, indas Lager Workuta<br />

Fotografie Schnappschüsse aus dem Zarenreich<br />

1905 verspürte der russische ZarNikolaus II. den<br />

Wunsch, sein riesiges Land besser kennenzulernen.<br />

Eine Reise warihm aber zu beschwerlich und so<br />

schickteereinen Fotografen los, der ihm Landschaftenund<br />

Menschen bequem in den Palastliefern<br />

sollte. 10 Jahrewar SergeiProkudin-Gorski (1863–<br />

1944) in einem Spezialzug inklusiveDunkelkammer<br />

unter<strong>weg</strong>s, 10000 mit einer eigens entwickelten<br />

Kameraaufgenommene Farbbilder warenseine<br />

Ausbeute. Die Drei-Farben-Fotografien, heuteinder<br />

Library of Congress in Washington archiviert, galten<br />

langeals Geheimtipp. Zusammen mit Schwarz-Weiss-<br />

Fotosanderer zeitgenössischer Fotografen sind nun<br />

20 ❘ NZZamSonntag ❘ 24.Februar 2013<br />

die schönstenunter ihnen erstmals im deutschsprachigen<br />

Raum veröffentlicht. DasPanorama zeigt<br />

das Zarenreich kurz vorseinem Zusammenbruch, mit<br />

seinen schönen und auch weniger schönen Seiten.<br />

Die Reise der AutorenVeronica Buckleyund Philipp<br />

Blom beginnt in St.Petersburg, führtinden Westen<br />

und Nordwesten, dann nach Zentralasien (im Bild:<br />

jüdische Kinder mit ihrem Lehrer in Samarkand,<br />

1911), erreicht den fernen Osten, Sibirien, den Ural<br />

und endet in Moskau. GenevièveLüscher<br />

Philipp Blom, Veronica Buckley(Hrsg.): Das<br />

russische Zarenreich. Eine fotografische Reise 1855–<br />

1918. Brandstätter, Wien 2012. 248Seiten, Fr.66.90.<br />

gebracht worden –ins Polargebiet, wo<br />

grosse Kohlevorkommen unter der Erde<br />

ruhten.<br />

Unter Stalin arbeiteten hier zeitweise<br />

über eine Million Gefangene, oft <strong>weg</strong>en<br />

einer Lappalie als Vorwand verurteilt –<br />

wie Bienek, dem unter anderem ein Telefonbuch,<br />

das er in den Westen brachte,<br />

zum Verhängnis wurde. Das Urteil über<br />

zwanzig Jahre Zwangsarbeit <strong>weg</strong>en<br />

Spionage wurde inzwischen aufgehoben.<br />

Vier Jahre, von 1952 bis 1955, verbrachte<br />

Bienek in Workuta, von einem<br />

Tagauf den anderen herausgerissen aus<br />

dem Leben. Er wollte sich gerade als<br />

Künstler etablieren. Bertolt Brecht hatte<br />

ihn als Schauspielschüler in sein Ensemble<br />

geholt. Nach der skandalösen Verhaftung<br />

rührte Brecht jedoch keinen<br />

Finger für ihn.<br />

Der Autor, Lektor und Kulturredaktor<br />

Horst Bienek, heute bekannt vor allem<br />

durch die literarische Verarbeitung seiner<br />

oberschlesischen Kindheit, hatte<br />

zwar in seinen ersten Roman «Die<br />

Zelle» (1968) schon eigene Erfahrungen<br />

einfliessen lassen, verstand sein damaliges<br />

Buch aber allgemeiner: Die Zelle<br />

war ihm der herausragende Ort des<br />

20. Jahrhunderts schlechthin.<br />

Wieaber wareswirklich?Das erzählt<br />

er in «Workuta»mit grosser Klarheit. Er<br />

schafft allein durch die Chronologie der<br />

Details eine schockierende Nähe. Am<br />

Anfang steht die Ohnmacht in ersten,<br />

nächtlichen Verhören, die mit Willkür<br />

als zermürbender Strategie arbeiten.<br />

«Als ich einmal fragte, warum ich nicht<br />

verhört würde, schob er meine Worte<br />

mit der Hand zurück. Hier hatte nur<br />

einer zu fragen, und das war er. In der<br />

dritten Nacht fing ich an zu schreien.»<br />

Bis Workuta folgt man dem Wirken<br />

dieses Gifts der Mächtigen. Bienek, zeitweise<br />

in der Einzelzelle, beginnt mit absurden<br />

Selbstbefragungen auf der Suche<br />

nach der ihm unterstellten Schuld –weil<br />

er in Berlin eine surrealistische Gruppe<br />

mitgründete? Weil der Mitbegründer als<br />

Trotzkist gebrandmarkt war oder Kontakt<br />

zu einem Jugendfreund bestand, der<br />

sich rühmte, CIA-Agent zu sein?«Meine<br />

Seele war wie aus Blei.»<br />

Man begleitet Bienek mit anderen<br />

Häftlingen auf Transporteins Zwischenlager.<br />

Das anfängliche Abkapseln verschwindet<br />

schnell: «Ich hörte zu, und<br />

ich merkte, ich gehörteschon zu ihnen.»<br />

Selten denkt er noch an den Geschmack<br />

der Sahnebonbons, die er als Kind liebte.<br />

Zwischen die sich immer wiederholenden<br />

Erzählrituale, mit denen man<br />

gegen die Wartezeit angeht, mischt sich<br />

anfangs noch vage Hoffnung. Lieber ein<br />

deutsches Gefängnis als Sibirien. Undes<br />

gibt auch «Humor, der uns überleben<br />

half und der die Zeit verkürzte». Oder<br />

jenen namenlosen Litauer, der den<br />

Schwächeren unter die Fittiche nimmt<br />

und «für zwei schuftete».<br />

Doch der lange, unaufhaltsame Weg<br />

nach Workuta, wo Zehn-Stunden-<br />

Schichten auf Kohleschacht 29 die Regel<br />

sind, ist eine Fallstrecke. Irgendetwas<br />

zerbricht. Das hat sich diesem Erinnerungstext<br />

von Horst Bienek tief eingebrannt,<br />

gerade weil es selten direkt benannt<br />

wird.<br />

Schwierigkeiten bei der Sichtung des<br />

Nachlasses sind auch ein Grund dafür,<br />

warum dieser Text erst heute veröffentlicht<br />

wird. In einem sehr persönlichen<br />

Nachwort schreibt Michael Krüger, wie<br />

er Bienek, der anfangs konsequent alles<br />

klein schrieb, zu normaler Schreibweise<br />

überredete: Inhalt und Form schienen<br />

abstrakt genug; warum unnötig das<br />

Lesen erschweren? Bienek aber wollte<br />

das «Eingesperrtsein» im Vordergrund<br />

haben. Er starb 1990 über den Aufzeichnungen<br />

zu «Workuta», die das abgrundtief<br />

vermitteln. l


Werkbiografie Die Filme Andrej Tarkovskijs sind wuchtige, aber enigmatische Meisterwerke.Eine<br />

Monografieerschliesst nun das grandiose Werk<br />

Russischer Bildmagier<br />

Andrej Tarkovskij, Leben und Werk: Filme,<br />

Schriften, Stills &Polaroids. Schirmer/<br />

Mosel, München 2012. 320 Seiten,<br />

Fr.88.90.<br />

VonChristian Jungen<br />

In den Sechzigerjahren begannen Filmregisseure<br />

sich als Künstler zu verstehen<br />

und prägten mit unverwechselbaren<br />

Handschriften ihre Werke. Ihre Erneuerungen<br />

gingen als neue Wellen in die<br />

Filmgeschichte ein. Aus dieser Epoche<br />

ragen jedoch Monumenten gleich drei<br />

Regisseureheraus, die sich kaum schubladisieren<br />

lassen und die kraft ihrer philosophischen<br />

Durchdringung der Filmkunst<br />

einen ebenso aufmerksamen wie<br />

demütigen Zuschauer erfordern: Ingmar<br />

Bergman, Jean-Luc Godard und Andrej<br />

Tarkovskij. Ihre Œuvres widersetzen<br />

sich der schnellen Aneignung.<br />

Szene aus dem<br />

Filmklassiker<br />

«Stalker» vonAndrej<br />

Tarkovskij (1978), der<br />

sich der rationalen<br />

Analyse entzieht.<br />

Vorbild Ikonenmalerei<br />

Das Werk des russischen Bildmagiers<br />

Tarkovskij (1932–1986) ist für westliche<br />

Filmfreunde vielleicht das schwierigste<br />

der drei, weil unsere rationale Art der<br />

Analyse bei ihm zum Scheitern verurteilt<br />

ist. Im Science-Fiction-Klassiker<br />

«Stalker» (1978) führt der Titelheld<br />

einen Schriftsteller und einen Wissenschafter<br />

in eine geheimnisvolle Zone,<br />

wo es ein Zimmer geben soll, in dem alle<br />

Wünsche in Erfüllung gehen. Kritiker<br />

rätselten vergebens über den Sinn dieser<br />

in Bildern von archaischer Wucht<br />

erzählten Odyssee. «Häufig wurde ich<br />

gefragt, was denn nun eigentlich die<br />

Zone in Stalker symbolisiert», schrieb<br />

Tarkovskij einst. «Derlei Fragen bringen<br />

mich jedes Mal in Verzweiflung und Raserei.<br />

In keinem meiner Filme wird irgendetwas<br />

symbolisiert. Und auch die<br />

Zone tut das nicht. Die Zone ist einfach<br />

die Zone.»<br />

All jenen, die das Schaffen Tarkovskijs<br />

besser verstehen wollen, ist die herausragende<br />

Monografie empfohlen, die<br />

der Filmhistoriker Hans-Joachim Schlegelzusammen<br />

mit Tarkovskijs Sohn Andrej<br />

kuratiert hat. Schlegel ist einer der<br />

profundesten Kenner des osteuropäischen<br />

Kinos. Er hat Tarkovskij persönlich<br />

gekannt und seine Tagebücher wie<br />

auch seine filmtheoretischen Schriften<br />

ins Deutsche übersetzt.<br />

In einem luziden Essay führt er aus,<br />

dass Filme wie «Ivans Kindheit» oder<br />

«Solaris» weniger einen analytisch fragenden<br />

Zuschauer als vielmehr einen<br />

naiven Beobachter erforderten. Denn<br />

Tarkovskij wollte mit seinen Filmen das<br />

eigene Denken transzendieren, die<br />

Suche nach einem filmischen Stil war<br />

ihm Mittel, seine Gefühle auszudrücken<br />

und beim Zuschauer über die ästhetische<br />

Bildwirkung seine Sicht der Welt<br />

fassbarzumachen. Eine wichtigeQuelle<br />

von Tarkovskijs Streben sei das spirituelle<br />

Bildverständnis der Ostkirche gewesen,<br />

insbesonderedie Ikonenmalerei,<br />

die eine Ahnung des Göttlichen gebe.<br />

Schlegel skizziert auch, wie Tarkovskij<br />

früh Probleme mit der Sowjetzensur<br />

bekam. Tarkovskij polemisierte nicht<br />

nur gegen die intellektuelle Montagetheorie<br />

von Sergej Eisenstein, er wehrte<br />

sich auch gegen schulmeisterliche Einwände<br />

der staatlichen Studios: «Eine<br />

dogmatische Sprache kann nicht sprechen.»<br />

Deren Auflagen unterlief er unter<br />

anderem, indem er in seinen Filmen ein<br />

poetisches Ichauftreten liess. Der gegen<br />

die Kirche rebellierende Ikonenmaler in<br />

«Andrej Rubljov» (1969) ist auch ein<br />

Alter ego des Regisseurs, der indirekt<br />

von seinen eigenen Schwierigkeiten<br />

kündet, in einem ideologisch starrsinnigen<br />

Umfeld kreativ zusein.<br />

<strong>Neue</strong> Sehgewohnheiten<br />

Man merkt, dass Schlegel die Schriften<br />

Tarkovskijs übersetzt hat. Er nimmt den<br />

Regisseur oft beim Wort, etwa wenn er<br />

erläutert, warum Tarkovskij sich im<br />

Westen nicht wohl fühlte. «Der Osten<br />

warder ewigen Wahrheit stets näher als<br />

der Westen», schrieb Tarkovskij dazu.<br />

«Man vergleiche nur einmal östliche<br />

Musik und westliche Musik. Der Westen<br />

schreit: Hier –das bin ich! Schaut auf<br />

mich! Hört, wie ich zu leiden und zu lieben<br />

verstehe! Wie unglücklich und<br />

glücklich ich sein kann! Ich! Ich! Ich!!!<br />

Der Osten sagt kein einziges Wort über<br />

sich selbst! Er verliert sich völlig in Gott,<br />

in der Natur, inder Zeit, und er findet<br />

sich in all dem wieder.»<br />

Der Band verdeutlicht, dass Tarkovskijs<br />

grösste Leistung in der Schöpfung<br />

einer eigenen filmischen Zeit war, die<br />

den Betrachter von seiner utilitaristischen,<br />

auf der Einstellung «Zeit ist<br />

Geld» basierenden Sehgewohnheit des<br />

westlichen Kulturkonsums herausreisst.<br />

Nebst Kommentaren zu Filmen, Auszügen<br />

aus Tarkovskijs Schriften und<br />

einer Biografie des Regisseurs enthält<br />

das Buch Zeugnisse von Intellektuellen<br />

wie Jean-Paul Sartre, der 1962 Tarkovskij<br />

gegen schlechte Kritiken verteidigte,<br />

oder von Ingmar Bergman, der 1986<br />

festhielt: «Tarkovskij ist für mich der<br />

Grösste, weil er dem Kino eine neue,besondereSprache<br />

gegeben hat, die es ihm<br />

erlaubt, das Leben als Vision, als ein<br />

Traumbild zu erfassen.»<br />

Die Quellenausschnitte widerspiegeln<br />

die Debatten, welche die Filme Andrej<br />

Tarkovskijs auslösten. Ein Manko<br />

ist, dass die Herausgeber nicht erklären,<br />

wer die Autoren sind. Wernicht weiss,<br />

dassErland Josephson ein schwedischer<br />

Schauspieler ist, der in «Nostalghia»<br />

und «Opfer» für Tarkovskij vor der Kamera<br />

stand, dem hilft das Buch nicht<br />

weiter.<br />

Abgesehen davon ist das Werk allgemeinverständlich.<br />

Es wirddem Schaffen<br />

des Regiepoeten auch insofern gerecht,<br />

als es nebst fundierten Essays auf fast<br />

300 Seiten Filmstills und Polaroidaufnahmen<br />

enthält, die Tarkovskij von<br />

Dreharbeiten und seiner Familie machte.<br />

Und nur über die Bilder lässt sich<br />

dieses Schaffen letztlich ergründen. l<br />

24.Februar 2013 ❘NZZamSonntag ❘ 21


Sachbuch<br />

Autobiografie Das exzentrische Leben des untergetauchten deutschen Hedge-Fund-Managers<br />

Florian Homm, vonihm selbst erzählt<br />

Rauchzeicheneines Phantoms<br />

Florian Homm: Kopf Geld Jagd. Wieich in<br />

Venezuela niedergeschossen wurde,<br />

während ich versuchte, Borussia<br />

Dortmund zu retten. Finanzbuch,<br />

München 2013. 362 Seiten, Fr.29.90,<br />

E-Book 19.30.<br />

VonSebastian Bräuer<br />

Inbegriffder<br />

Heuschrecke: der<br />

Hedge-Fund-Manager<br />

Florian Homm. Hier<br />

als Grossaktionär von<br />

Borussia Dortmund,<br />

16.November 2004.<br />

Dies ist kein normales Buch. «Wichtiger<br />

Hinweis: Der Verlag und alle an diesem<br />

Buch beteiligten Personen wissen nicht,<br />

wo sich Florian Homm aufhält», heisst<br />

es noch vor dem Inhaltsverzeichnis in<br />

fett gedruckten Buchstaben, und wer<br />

das für merkwürdig hält, dem sei gesagt:<br />

Auf den folgenden 362 Seiten ist einiges<br />

noch viel merkwürdiger.<br />

Der deutsche Hedge-Fund-Manager<br />

Homm, heute 53 Jahre alt, ist seit September<br />

2007 verschwunden. So lange<br />

vonkeiner Behörde entdeckt zu werden,<br />

wäre schon für einen weniger gefragten<br />

Menschen ein Kunststück. Aber Homm,<br />

mit seinen 2,03 Metern ein Hüne, ausgestattetmit<br />

markanten Gesichtszügen, ist<br />

von der amerikanischen Börsenaufsicht<br />

angeklagt, Bilanzen gefälscht zu haben.<br />

Private Investoren verlangen Schadensersatz:<br />

sie haben viel Geld verloren. Und<br />

sogar die US-Drogenpolizei DEA sucht<br />

Homm, angeblich unterhält er Kontakte<br />

zu südamerikanischen Drogenbossen.<br />

Als würde das nicht reichen, hat vor<br />

einigen Monaten auch noch ein kaum<br />

weniger obskurer Gegenspieler ein<br />

Kopfgeld von 1,5 Millionen Euro auf den<br />

Unternehmer ausgesetzt. Der Mann<br />

meint es ernst: Er hat ein Video ins Internet<br />

gestellt, in dem er das Geld in dicken<br />

Bündeln auf den Tisch legt.<br />

Schon vor seinem Verschwinden galt<br />

er in Deutschland als Inbegriffder skrupellosen<br />

Heuschrecke. Er verdiente an<br />

der Zerschlagung von Firmen und an<br />

fallenden Aktienkursen. Wobei er nicht<br />

davor zurückschreckte, mit der Verbreitung<br />

negativer Analysen dafür zu sorgen,<br />

dass die Kurse auch wirklich in die<br />

Tieferauschen. Am Ende rissermit seinem<br />

abrupten Abgang auch noch die eigene<br />

Firma ACMH in den Abgrund. Und<br />

verschwand mit 500000 Dollar in Aktenkoffer,<br />

Zigarrenkiste und Unterhose.<br />

Dass sojemand aus dem Untergrund<br />

heraus eine Autobiografie schreibt, in<br />

der er mit geschäftlichen und persönlichen<br />

Erfolgen prahlt, ist eine gewaltige<br />

Provokation gegenüber Anlegern und<br />

Mitarbeitern. Dasserdabei auch Details<br />

über seine Flucht verrät, zeugt von seiner<br />

Überheblichkeit. Es ist auch nicht zu<br />

beurteilen, ob sich sämtliche der teils<br />

schrillen Anekdoten wirklich so zugetragen<br />

haben. Homm schreibt im Vorwort,<br />

die Geschichte beruhe auf Tatsachen,<br />

er habe lediglich gewisse Namen<br />

und Orte geändert, um juristische Auseinandersetzungen<br />

zu vermeiden. In<br />

einer früheren Version soll allerdings<br />

auch noch gestanden haben, er habe ein<br />

paar Dingeerfunden, um den «allgemeinen<br />

Unterhaltungswert» zu steigern.<br />

Das wäre nicht schlimm. Es ist nämlich<br />

unterhaltsam, wie sich Homm zeitlebens<br />

aus Prinzip nicht an gesellschaftliche<br />

Konventionen hält. Wie erals Jugendlicher<br />

bei einem Kurzbesuch in<br />

einer Nervenheilanstalt die teils schwerkranken<br />

Patienten dazu gebracht haben<br />

will, «Scheissfaschisten, Psychoterroristen»<br />

zu skandieren. Oder wie er, injungen<br />

Jahren ein begnadeter Basketballer,<br />

angeblich bei einem Freundschaftsspiel<br />

in Detroit zusammen mit der NBA-Legende<br />

Earvin «Magic» Johnson aufläuft.<br />

Wobei sie das gegnerische Team natürlich<br />

nicht besiegen, sondern demütigen.<br />

Die Elite-Uni Harvard absolviert er, obwohl<br />

in dieser Zeit mit Drogengeschäften<br />

beschäftigt, praktisch im Schlaf.<br />

LARS BARON/GETTY IMAGES<br />

Medizin Streiflichter auf Leben und Werk vonBurghölzli-Direktor Eugen Bleuler (1857–1939)<br />

Psychiatrie-Pionierwärenochzuentdecken<br />

Rolf Mösli (Hrsg.): EugenBleuler –Pionier<br />

der Psychiatrie. Römerhof, Zürich 2012.<br />

228 Seiten, Fr.44.–.<br />

VonWilli Wottreng<br />

Der Schweizer PsychiaterEugen Bleuler<br />

(1857–1939) war eine komplexe, spannende<br />

Persönlichkeit. Ein Arzt, der aus<br />

der Praxis lernte und Theorien suchte,<br />

die dem Erlebten entsprachen. Ein<br />

Mensch, der zugleich in sich verschlossen<br />

war, aber offen für das Leiden der<br />

Mitmenschen in seinen Kliniken. Bleuler<br />

hat den Begriff der Schizophrenie<br />

22 ❘ NZZamSonntag ❘ 24.Februar 2013<br />

entwickelt, welcher die Patienten in<br />

ihrem Leiden widerspiegeln sollte und<br />

der sie nicht wie der bisherigeAusdruck<br />

Demenz abqualifizierte. Doch in der<br />

Praxis hat erBehandlungsmethoden –<br />

etwa die Malaria-Fieberkur – zugelassen,<br />

die den Charakter von Menschenversuchen<br />

hatten.<br />

Die Persönlichkeit Bleulershätte eine<br />

bessereBiografieverdient als das vorliegende<br />

Werk. Genau genommen handelt<br />

es sich nicht um eine Biografie, auch<br />

nicht um eine Darstellung seines Wirkens,<br />

sondern um Textelemente und<br />

Dokumente, die einzeln für sich Interesse<br />

beanspruchen können, aber sich<br />

weder zu einer Biografie noch zu einem<br />

impressionistischen Panoramabild der<br />

psychiatrischen Welt fügen.<br />

Da findet sich etwa ein subtiler Text<br />

des einstigen «Burghölzli»-Direktors<br />

Daniel Hell über Herkunft und junge<br />

Jahre Bleulers, der Neugier weckt über<br />

den weiteren Lebens<strong>weg</strong>–welcher dann<br />

nicht geschildert wird. Denn über weite<br />

Strecken wird die Person Bleulers verlassen<br />

und das Gewicht auf die Wiedergabe<br />

von Pflegerberichten über ihr Tun<br />

in der Klinik gelegt. Eingestreutsind ansprechende<br />

Fotodokumente. Anschaulich<br />

auch die Ausführungen über die<br />

Ehefrau Hedwig Bleuler-Waser, die eine


Operettenhafter<br />

Putschversuch der<br />

Franquistenam<br />

23.Februar 1981:<br />

Oberst Antonio<br />

Tejeromit Pistole<br />

und bewaffneten<br />

Putschistenimspanischen<br />

Parlament.<br />

Aber auch auf einer ernsthafteren<br />

Ebene gibt es sehr gute Gründe, das<br />

Buch zu lesen. Florian Homm geht gnadenlos<br />

mit sich selbst ins Gericht. Er reflektiert<br />

seinen rasanten Auf- und Abstieg<br />

mit einer Radikalität, die seinem<br />

Charakter entsprechen mag, die aber<br />

selbst in seiner von Exzentrikern bestimmten<br />

Branche ihresgleichen sucht.<br />

Homms Leben ist eine Abfolge von<br />

Exzessen. In teils derber Sprache berichtet<br />

er von Prügeleien, Drogen- und<br />

Sexeskapaden. Immer auf der Suche<br />

nach dem nächsten Kick, mit immer<br />

mehr Geld um sich schmeissend. Aber<br />

eines will sich einfach nicht einstellen:<br />

innere Zufriedenheit. «Mein Leben war<br />

äusserst intensivund technisch betrachteterfolgreich»,<br />

schreibt Homm. «Dabei<br />

fühlte ich mich leerer als eine aufgeblasene<br />

Sexpuppe.»<br />

Alles ist dem Ziel untergeordnet, die<br />

Milliarde zu schaffen. Auch eine Ehe<br />

hält so etwas auf Dauer nicht aus, so<br />

dass esschliesslich zu einer hässlichen<br />

Scheidung kommt, bei der ihm seine<br />

Frau die gemeinsame Kunstsammlung<br />

sprichwörtlich vor der Nase <strong>weg</strong>reisst.<br />

Und damit einmal in ihrem Leben<br />

schneller ist als er: Homm hatte dasselbe<br />

vor. WenigeMonate später kommt es<br />

in ihrer Beziehung zu einer weiteren<br />

eindrücklichen Szene. Homm wird in<br />

Venezuela angeschossen und schwer<br />

verletzt, wobei unklar bleibt, ob es sich<br />

um einen Raubüberfall oder ein gezieltes<br />

Attentat handelt. Er fürchtet zu verbluten.<br />

Daher ruft erseine Ex-Frau an.<br />

Undrät ihr,die Aktien seines Unternehmens<br />

zu verkaufen, bevor die Todesnachricht<br />

in den Nachrichten kommt.<br />

«Ich bin nicht völlig psychotisch und gefühlskalt»,<br />

meint Florian Homm rückblickend.<br />

«Ich war zu dem Zeitpunkt<br />

nur stark auf Finanzen fokussiert.»<br />

Das Buch enthält die implizite Botschaft,<br />

dass Geld niemals glücklich<br />

macht –wenn der Rest nicht stimmt. l<br />

wissenschaftliche Karriere schmiss, um<br />

als Ehefrau da zu sein und an der Klinik<br />

Weihnachtsveranstaltungen zu organisieren.<br />

Und zum Schluss eine Würdigung<br />

der wissenschaftlichen Leistungen<br />

Bleulers durch den Chefarzt der Psychiatrischen<br />

Uniklinik Zürich, Paul Hoff,<br />

die Thesen vorlegt, ohne dass zuvor das<br />

Material ausgebreitet worden ist, das<br />

analysiert wird. Das betrifft etwa den<br />

heiklen Punkt der Degenerationslehre.<br />

Der Herausgeber des Buches hatte<br />

seinerzeit als Pfleger im Burghölzli gearbeitet<br />

und ein kleines Hausmuseum<br />

aufgebaut. Nun hat erseine gesammelten<br />

Funde in ein Buch überführt. l<br />

Spanien Opferdes Franquismus fordern eine historische Aufarbeitung<br />

Verdrängte Erinnerung<br />

GeorgPichler: Gegenwart der<br />

Vergangenheit. Die Kontroverseum<br />

Bürgerkrieg und Diktatur in Spanien.<br />

Rotpunktverlag, Zürich 2013.<br />

250Seiten, Fr.33.90.<br />

VonTobias Kaestli<br />

ULLSTEIN<br />

Spanien leidet nicht nur an ökonomischen<br />

Problemen, sondern auch an seiner<br />

verdrängten Geschichte. Die Regierungszeit<br />

Francos (1939–1975) hatgesellschaftliche<br />

Beschädigungen hinterlassen,<br />

von denen man im Ausland kaum<br />

etwas weiss. Das Buch von Georg Pichler<br />

gibt dazu präzise Auskünfte. Der in<br />

Graz geborene Autor ist Professor für<br />

deutsche Sprache und Literatur in Madrid.<br />

Sein Interesse für die literarische<br />

Verarbeitung politischer Kämpfe zwischen<br />

links und rechts hat ihn dazu motiviert,<br />

ein Buch über die vergangene<br />

Zeit des Franquismus, die danach beginnende<br />

Zeit der «Transición» und die gegenwärtigeVeränderung<br />

des kollektiven<br />

Gedächtnisses zu schreiben. Einen<br />

gutenTeil des Buches machen die eingestreuten<br />

Interviews mit Menschenrechtsaktivisten,<br />

Juristen und Angehörigen<br />

von Opfern des Franquismus aus.<br />

Das Ende eines Unrechtsregimes bedeutet<br />

invielen Fällen, dass früher oder<br />

später die Hauptverantwortlichen für<br />

ihremenschenrechtswidrigePolitik verurteilt<br />

werden. Nicht so in Spanien. General<br />

Franco, der im Juli 1936 mit seinen<br />

nordafrikanischen Truppen gegen die<br />

gewählte links-republikanische Regierung<br />

rebelliert und in einem blutigen<br />

Bürgerkrieg die Macht erobert hatte,<br />

blieb solange ander Spitze des Staates,<br />

dass erzuerst alle linken Gruppierungen<br />

blutig unterdrücken oder ins Exil<br />

treiben konnte, um dann zumindest dem<br />

Anschein nach sein Gewaltregime ein<br />

wenig zu mildern. So blieb ervon der<br />

Justiz unbehelligt.<br />

Der Übergang zu einer parlamentarischen<br />

Monarchie warschon vorbereitet,<br />

als er im November 1975starb.Inder Periode<br />

der «Transición» blieben die Franquisten<br />

vorerst ander Macht und verhinderten<br />

eine neue Sicht auf die von<br />

ihnen schöngeredete Vergangenheit.<br />

1977 verabschiedeten sie das Amnestiegesetz,<br />

das ihnen Straffreiheit für alle<br />

zuvor geschehenen politischen (Un-)<br />

Taten garantierte. Doch die Opfer des<br />

Franquismus bauten zunehmend Druck<br />

auf und forderten Gerechtigkeit. Die<br />

linke Opposition erstarkte. Da drang am<br />

23. Februar 1981 der franquistische<br />

Oberst Antonio Tejero ins spanische<br />

Parlament ein und fuchtelte mit seiner<br />

Pistole herum. Der Putschversuch misslang,<br />

doch die Linken waren gewarnt:<br />

Rührt nicht an die Vergangenheit,<br />

schweigt über die Verbrechen des Franquismus,<br />

sonst droht ein Rückfall in die<br />

blutigen Auseinandersetzungen der<br />

Bürgerkriegszeit!<br />

Viele Gegner Francos waren nach<br />

pauschalen Urteilen erschossen und irgendwo<br />

in Massengräbern verscharrt<br />

worden. Viele Angehörigen verlangten,<br />

dass die Leichen gesucht und anständig<br />

begraben würden. Im Jahr 2000 wurde<br />

ein Verein gegründet, der die Exhumierungen<br />

und die DNA-Analyse der sterblichen<br />

Überresteorganisierteund finanzierte.<br />

Was zuerst als private Angelegenheit<br />

aufgefasst wurde, entwickelte<br />

sich zu einer politischen Be<strong>weg</strong>ung, die<br />

endlich die verdrängte Erinnerung hervorholte<br />

und die historische Aufarbeitung<br />

des Franquismus ermöglichte.<br />

«Memoria histórica» nennen das die<br />

Spanier. Doch das Amnestiegesetz ist<br />

weiterhin in Kraft, wasder mutigeRichterBaltasar<br />

Garzón, der seinerzeit gegen<br />

Pinochet Klage einreichte, schmerzhaft<br />

zu spüren bekam. Als er gegen Franco<br />

und seine Gehilfen posthum Klageerheben<br />

wollte, wurde erimMai 2010 in seinem<br />

Amt suspendiert.<br />

PichlersBuch ist reich an Informationen<br />

über die jüngste Geschichte Spanien,<br />

macht gesellschaftliche Widersprüche<br />

sichtbar und öffnet den Blick für<br />

ähnliche Probleme in anderen Ländern.<br />

Wersich für Spanien oder für Erinnerungspolitik<br />

interessiert, sollte esunbedingt<br />

lesen. l<br />

24.Februar 2013 ❘NZZamSonntag ❘ 23


Sachbuch<br />

Paläontologie Der Naturforscher Oswald Heer (1809 bis<br />

1883) warLehrer Alfred Eschers, Doppelprofessor und<br />

erster Direktor des Botanischen Gartens Zürich<br />

Darwins<br />

kleiner Bruder<br />

Conradin A. Burga(Hrsg.): Oswald Heer<br />

1809–1883. Paläobotaniker,Entomologe,<br />

Gründerpersönlichkeit. NZZLibro,<br />

Zürich 2013. 511Seiten, Fr.64.90.<br />

VonGenevièveLüscher<br />

Sie hatten den gleichen Jahrgang –1809<br />

–und kannten einander. Während aber<br />

der eine zu Weltruhm gelangte, geriet<br />

der andere inVergessenheit. Natürlich<br />

sind die wissenschaftlichen Verdienste<br />

des Schweizers Oswald Heer mit denen<br />

von Charles Darwin nicht vergleichbar.<br />

Aber auch Heer beschäftigte sich mit<br />

der Erdgeschichte, der Evolution, auch<br />

er war, wie Darwin, zuerst Theologe.<br />

Beide lieferten Argumente und fossile<br />

Belege für eine Abfolge von ausgestorbenen<br />

und neu entstandenen Tier- und<br />

Pflanzenarten im Lauf der Zeit. Mehrfach<br />

verwies Darwin in seinen Werken<br />

auf die Funde aus Schweizer Pfahlbausiedlungen<br />

und gabdabei Heer als Informationsquelle<br />

an. Weralso war Oswald<br />

Heer?<br />

Conradin A. Burga, Dozent an der<br />

Universität Zürich, versucht unter Mithilfe<br />

zahlreicher Spezialisten und Spezialistinnen,<br />

eine Antwort auf diese<br />

Frage zugeben. Über 500 Seiten schwer<br />

ist die Biografie geworden und in ihrem<br />

Detailreichtum bisweilen verwirrend.<br />

Von Gott zu den Käfern<br />

1809 kommt Oswald Heer als zweites<br />

von neun Geschwistern im sanktgallischen<br />

Niederuzwil zur Welt. Der Vater<br />

ist Pfarrer und amtet ab 1817 inMatt im<br />

Kanton Glarus, wo Oswald seine Kindheit<br />

verbringt. Vater Heer betreibt<br />

neben dem Pfarramt eine Art privates<br />

Gymnasium, wo er seine Kinder und<br />

auch auswärtige Schüler unterrichtet.<br />

Schon als Kind sammelt Oswald eifrig<br />

Pflanzen, legt Herbarien an, unternimmt<br />

Exkursionen in die Bergwelt. Ab 1828<br />

studiert er Theologie in Halle. Neben<br />

Kirchengeschichte, Exegese und Psalmenstudium<br />

besucht er Vorlesungen in<br />

Entomologie (Insektenkunde), Mineralogie,<br />

Botanik und Zoologie. In Halle<br />

begegnet er auch Arnold Escher vonder<br />

Linth, mit dem ihn eine lebenslange<br />

Freundschaft verbinden wird.<br />

Der Botaniker Oswald<br />

Heer um 1835.<br />

DasAquarell soll<br />

Clementine Stockar-<br />

Escher gemalt haben,<br />

die Schwester von<br />

Alfred Escher.<br />

1831 folgt die Ordination. Heer kehrt<br />

aber der Theologie den Rücken und<br />

nimmt in Zürich eine Stelle als Konservator<br />

der Käfersammlung von Heinrich<br />

Escher an. Gleichzeitig ist er Hauslehrer<br />

der beiden Sprösslinge Alfred und Clementine;<br />

der später sehr einflussreiche<br />

Alfred Escher wird seinen Lehrer Zeit<br />

seines Lebens fördern. 1838 heiratet<br />

Heer Margarethe Trümpy, sie wird ihm<br />

vier Kinder schenken. Er doktoriert und<br />

habilitiert an der neugegründeten Zürcher<br />

Universität, steigt rasch vomExtraordinarius<br />

zum Professor auf und wird<br />

gleichzeitig Direktor des Botanischen<br />

Gartens. 1855 kommt noch die Professur<br />

für Botanik, Paläobotanik und Entomologie<br />

an der neugegründeten ETH dazu.<br />

Erst spät, mit 72 Jahren, tritt eraus gesundheitlichen<br />

Gründen zurück. Zwei<br />

Jahre später, 1883, stirbt er.<br />

Das Hauptinteresse Heers gehörte –<br />

nach den frühen Forschungen zur Höhenverbreitung<br />

von Insekten und Pflanzen–der<br />

paläobotanischen Erforschung<br />

der Schweiz und Europas im Tertiär. Er<br />

schuf dazu die Grundlagen, er entwickelteneue<br />

Bestimmungsmethoden fossiler<br />

Pflanzen und leistete Pionierarbeit<br />

in der Erforschung fossiler Früchte und<br />

Samen. Heer interessierte sich darüber<br />

hinaus auch für die Botanik im Eiszeitalter,<br />

für die Pflanzenfunde aus den prähistorischen<br />

Pfahlbausiedlungen und<br />

sogar für die Landwirtschaft. Seine Publikationen<br />

füllen Regale. Populär wurde<br />

er 1865 mit dem Buch «Die Urwelt der<br />

Schweiz», wo er als erster die Funde aus<br />

300 Millionen Jahren epochenweise zu<br />

anschaulichen Lebensbildern zusammenstellte.<br />

Für sein Werk wurdeervielfach<br />

auch international geehrt.<br />

Der Gelehrte war ein passionierter<br />

Briefschreiber. Die neue Biografie hat<br />

sich verdankenswerterweise dieser<br />

noch kaum angetasteten Quelle besonders<br />

intensiv angenommen und zitiert<br />

zahlreiche Briefpassagen. Die Korrespondenz<br />

in verschiedenen in- und ausländischen<br />

Archiven richtete sich an<br />

über 650Adressaten! Zu den berühmtesten<br />

zählen Alexander von Humboldt<br />

und Charles Darwin, dessen Evolutionstheorie<br />

Heer scharfkritisierte. Heer war<br />

ein vehementer Verfechter der «Umprägungstheorie»,<br />

die von einer unregelmässigen<br />

und sprunghaften Entwicklung<br />

der Organismen ausging. Als gläubiger<br />

Mensch suchte er damit einen<br />

Kompromisszwischen Schöpfungslehre<br />

und Evolutionstheorie. «Ich halte dafür,<br />

dass Gesetze auch einen Gesetzgeber<br />

voraussetzen», schrieb er1859. Mit der<br />

Ablehnung der zukunftsweisenden Evolutionstheorie<br />

hatte sich Heer aber ins<br />

Abseits manövriert, sicher mit ein<br />

Grund, weshalb er heute in Vergessenheit<br />

geraten ist.<br />

Überfülle an Fachlichem<br />

Heer kannte zahlreiche Persönlichkeiten<br />

und gründete etliche Institutionen.<br />

Viele werden im vorliegenden Buch in<br />

aller Breite vorgestellt. Manchmal geht<br />

das so weit, dassbeim Botanischen Garten<br />

auch noch die Obergärtner porträtiert<br />

werden. Unter der überbordenden<br />

Fülle an Informationen, die <strong>weg</strong>en der<br />

Aufsplitterung des Stoffs in zahllose Kapitel<br />

bisweilen redundant sind, droht<br />

der Leser den roten Faden zu verlieren.<br />

Das Ausbreiten von Fachdetails im entsprechenden<br />

Jargon überfordert den<br />

Laien, was insofern schade ist, als damit<br />

die Chance, Heers Werk einem breiten<br />

Publikum bekannt zu machen, verpasst<br />

worden ist. Auf der anderen Seite erfährt<br />

man fast nichts über Heers Leben<br />

ausserhalb der Forschung, zum Beispiel<br />

über sein Wirken imZürcher Kantonsrat,<br />

dem er immerhin von 1850 bis 1868<br />

angehörte. Eine Einbettung in die damalige<br />

Zeit findet kaum statt.<br />

Insgesamt wäre weniger Fachliches<br />

mehr gewesen; eine straffe Lektorierung<br />

und das Beiziehen eines versierten Historikers<br />

hätten dem Werk sicher gut<br />

getan. Dem Laien bleibt aber zum<br />

Schmökern eine Fülle an Wissenswertem<br />

aus dem Leben des grossen Paläontologen<br />

Oswald Heer. l<br />

LANDESARCHIV DESKANTONS GLARUS,FOTOSAMMLUNG 2.1HEER<br />

24 ❘ NZZamSonntag ❘ 24.Februar 2013


10CFWMsQ4CMQxDvyiVnTS5Cx3RbacbEHsWxMz_T7RsDPZgP_s8hzf8dD-u5_EYBLrKtMh9eHrTLQZT2-YxoLME7UZl0PfIP17ADIPVYgQz7kUVulgvhBdtPdRaQ9vn9f4CVae-AYAAAAA=<br />

10CAsNsjY0MDAx0gUSZpYWAPRWIEUPAAAA<br />

Utopie Das linksradikale Philosophenduo Hardt/Negri kämpft weiter für die echteDemokratie<br />

Alle Machtden Ferienlagern!<br />

Michael Hardt, Antonio Negri:<br />

Demokratie! Wofür wir kämpfen.<br />

Campus, Frankfurt a. M. 2013.<br />

127 Seiten, Fr.18.90.<br />

VonMichael Holmes<br />

Zelte und Feuer, Fahnen und Lieder. Am<br />

Tage wird Räuber und Gendarm gespielt.<br />

Abends erzählt man Geschichten<br />

von tapferen Superhelden, die fest zusammenhalten,<br />

um die Bösewichter zu<br />

vernichten und die Welt zu retten.<br />

WieFerienlager schildert das linksradikale<br />

Philosophenduo Antonio Negri<br />

und Michael Hardt die Protestcamps<br />

der Be<strong>weg</strong>ungen, die sie zur revolutionären<br />

Avantgarde erkoren haben. Ihr<br />

Hauptwerk «Empire» wurde als die<br />

Bibel der Globalisierungsgegner gefeiert.<br />

Ihre neue Kampfschrift «Demokratie!»<br />

glorifiziert die Occupy-Proteste,<br />

die arabischen Aufstände sowie die Unruhen<br />

in Frankreich und England als<br />

Spielarten einer authentischen, tiefen,<br />

lebendigen Demokratie – der «Herrschaft<br />

der Multitude».<br />

Hinter einem Wirrwarr aus Angeberwörtern<br />

verbirgt sich die alte Mär: Die<br />

repräsentativeDemokratie und der liberale<br />

Rechtsstaat verschleierten die<br />

«Kontrolle des gesamten Lebens durch<br />

den Finanzmarkt» und müssten überwunden<br />

werden. Das Kapital habe den<br />

«dauernden Ausnahmezustand» und<br />

«totalen Überwachungsstaat», ja einen<br />

«absoluten Despotismus» geschaffen,<br />

der die Gesellschaftineine Fabrik, einen<br />

Alptraum, ein Gefängnis verwandle. Die<br />

Bürgerseien hypnotisiert, korrupt, blind<br />

für ihre «unsichtbaren Ketten».<br />

Echte Demokratie lässt sich den Autoren<br />

zufolge «nur von einer Multitude<br />

verwirklichen, die in der Lage ist, sie zu<br />

verstehen.» Die Be<strong>weg</strong>ungen kommunizieren<br />

mittels Gebärden und Zurufen<br />

und erfassen «Frequenzen, die Menschen<br />

ausserhalb des Kampfes weder<br />

hören noch verstehen können». Da ihre<br />

kollektive Intelligenz das Wissen aller<br />

nutze, müsse kein Andersdenkender um<br />

seine Stimme bangen.<br />

Michael Hardt und Antonio Negriunterstreichen,<br />

dassdie Multitude Zwangsmittel<br />

gegen Konzerne und Nationalstaaten<br />

einsetzen müsse, um einen<br />

eigentumsfreien Kommunismus zu verwirklichen.<br />

Ihre Macht äussert sich in<br />

Brandstiftungen, Plünderungen und<br />

Guerillakriegen.<br />

Bleibt die Frage, warum sich der Campus-Verlag<br />

in Frankfurt dazu hergibt, die<br />

Hetzschriften dieser militanten Extremisten<br />

zu publizieren. Demokratie ist<br />

kein Kinderspiel. l<br />

Kuba Der deutsche Journalist Carlos Widmann analysiert das Phänomen Fidel Castro<br />

DerVerehrungfolgt dieAbrechnung<br />

Carlos Widmann: DasletzteBuch über<br />

Fidel Castro. Hanser,München2012.<br />

335 Seiten, Fr.27.90,E-Book 19.30.<br />

VonReinhardMeier<br />

An Fidel Castro scheiden sich die Geister<br />

–schon seit einem halben Jahrhundert.<br />

Die heutige kubanische Jugend,<br />

schreibt Carlos Widmann, habe vomRegime<br />

des alten Zuchtmeisters «die<br />

Schnauze voll». In Venezuela und in anderen<br />

lateinamerikanischen Ländern<br />

dagegen wird der Mythos des Revolutionärs<br />

und Herausforderers Amerikas<br />

von linken Populisten neu beschworen.<br />

Widmann, in Argentinien geboren und<br />

aufgewachsen, ist als welterfahrener<br />

Korrespondent mit dem Phänomen Castro<br />

und dessen streckenweise dramatischer<br />

Ausstrahlung weit über die Karibik-Insel<br />

hinaus eng vertraut. Der Titel<br />

seines Buches ist offenbar eine ironische<br />

Anspielung darauf, dass Castros<br />

Herrschaftsexperiment historisch eigentlich<br />

abgelaufen ist, auch wenn der<br />

inzwischen 86-jährige, kranke Revolutionsführer<br />

weiterhin als «charismatisches<br />

Gespenst» umhergeistert. Zeit<br />

also, für eine Abrechnung.<br />

Widmann geht es bei seiner Bilanz<br />

nicht um ideologisches Schwarz-Weiss.<br />

Er schildert packend und mit dem sicheren<br />

Blick des gewieften Reporters für<br />

signifikante Einzelheiten Kernelemente<br />

von Fidel Castros flamboyanter Persönlichkeit.<br />

Dazu gehören seine privilegierte<br />

Herkunft aus einer Grossgrundbesitzerfamilie<br />

und seine skrupellosen, mitunter<br />

stalinistischen Methoden bei der<br />

Durchsetzung seiner Machtansprüche.<br />

Der Autor verhehlt bei seiner Abrechnung<br />

nicht frühere eigene Anfälligkeiten<br />

für die romantische Verklärung<br />

der Diktatur in Kuba. Erberichtet, dass<br />

er 1969 als junger Reporter für die «Süddeutsche<br />

<strong>Zeitung</strong>» die später zum Evangelium<br />

(«Die Geschichtewirdmich freisprechen»)<br />

aufbereitete Verteidigungsrede<br />

Castros von1953 nach dem gescheiterten<br />

Sturm auf eine Kaserne «als eine<br />

der grössten rhetorischen Leistungen<br />

spanischer Sprache im 20. Jahrhundert»<br />

gefeiert hatte. Jetzt fragt sich Carlos<br />

Widmann selbstkritisch, welcher Dämon<br />

ihn damals geritten habe, denn «in<br />

Wirklichkeit troff Fidel Castros 100-mal<br />

nachgebessertes Plädoyer von Eigenlob,<br />

Opportunismus und Klischees…». Ausser<br />

Kraftmeierei sei nichts an dieser<br />

Rhetorik zu finden, «vor allem keine<br />

Substanz». l<br />

24.Februar 2013 ❘NZZamSonntag ❘ 25


Sachbuch<br />

Berlin Ilma Rakusahat ein Journal über ihren Aufenthalt in der deutschen Hauptstadtgeführt<br />

Ebenso lebendig wiegeschichtsträchtig<br />

Ilma Rakusa: Aufgerissene Blicke. Berlin-<br />

Journal. Droschl, Graz 2013. 112 Seiten,<br />

Fr.24.90.<br />

VonIna Boesch<br />

Die «Vorbemerkung» ist eine Liebeserklärung<br />

an Berlin. Siesei vonBerlin «berührt»,<br />

bekennt die Schriftstellerin Ilma<br />

Rakusa auf der ersten Seite, «gerade<br />

weil die Stadtweh tut». Weil Geschichte<br />

nicht «<strong>weg</strong>retuschiert» wird. Weil Berlin<br />

ein «Scharnier zwischen Ost und<br />

West» ist. Und <strong>weg</strong>en seiner Vitalität:<br />

«Mit Phantasie werden triste Höfe umgenutzt,<br />

Brachen bebaut,marode Räume<br />

in quirlige Galerien verwandelt.»<br />

Tatsächlich ist es dieser lebendige,<br />

widerspenstige und geschichtsträchtige<br />

Charakter, der für viele treue Besucher<br />

den unwiderstehlichen Charme Berlins<br />

ausmacht. Entsprechend hoch sind die<br />

Erwartungen an die Lektüre des Journals,<br />

das die Autorin während ihres Berlin-Aufenthalts<br />

(Oktober 2010 bis Juli<br />

2011) als Fellow amWissenschaftskolleg<br />

geführt hat.<br />

Gleich zu Beginn nimmt die Autorin<br />

uns mit zum S-Bahnhof Grunewald, zu<br />

Gleis 17, von wo Juden deportiert<br />

wurden, schlendert weiter durchs Villenviertel,<br />

erzählt von einer witzigen<br />

Begegnung mit einem Deux-Cheveaux-<br />

Besitzer, umschliesslich den Tagebucheintrag<br />

mit einer Reflexion über ihre<br />

Arbeit am Wissenschaftskolleg zu beenden.<br />

In wenigen Sätzen bringt Rakusa<br />

zusammen, was inder Stadt ebenfalls<br />

auf knappem Raum zu erfahren ist: der<br />

Schrecken des Nationalsozialismus, der<br />

Reichtum Weniger, die Begegnung mit<br />

einem Original, das intellektuelle Leben.<br />

Solche Verdichtungen sind rar, leider.<br />

Auf den folgenden Seiten des schmalen<br />

Bändchens hält Rakusa fest, was sie<br />

an ausgewählten Tagen be<strong>weg</strong>t oder erfahren<br />

hat: Sie notiert, wie das Wetter<br />

war und ob es sie gesundheitlich beeinträchtigt<br />

hat; sie berichtet von Theater-,<br />

Kino-, Konzert- und Ausstellungsbesuchen;<br />

sie erzählt von Begegnungen mit<br />

der internationalen, vor allem osteuropäischen<br />

Kulturprominenz, vom Gulasch-Essen<br />

mit den Ehepaaren Esterhàzy<br />

und Kertèsz oder von Gesprächen<br />

mit dem libanesischen Autor Elias<br />

Khoury.<br />

Ilma Rakusa zitiert auch andere Journale<br />

(beispielsweise von Emine Sevgi<br />

Özdamar) oder was andere Schriftstellerinnen<br />

(zum Beispiel Ingeborg Bachmann)<br />

über Berlin geschrieben haben.<br />

Sieholt die weiteWelt –die Katastrophe<br />

von Fukushima –mittels <strong>Zeitung</strong>slektüre<br />

in ihreStudierstube. Zu selten hält sie<br />

Episoden fest, die Berlin-spezifisch und<br />

berührend sind wie diese: Mit dünner<br />

Stimme preist ein Obdachloser in der U-<br />

Bahn sein Magazin an, doch keiner<br />

blickt auf, worauf er sich verzweifelt<br />

fragt: Mache ich etwas falsch? l<br />

Dasamerikanische Buch Ausder Bronx ins ObersteGericht der USA<br />

«Kleine,stetigeSchritte»haben sie<br />

einen denkbar langen Weggetragen,<br />

schreibt Sonia Sotomayor in ihren<br />

Memoiren My BelovedWorld (Alfred A.<br />

Knopf, 315Seiten): Er führteaus der Armutpuerto-ricanischer<br />

Einwanderer in<br />

der Bronx bis hinter die Marmorsäulen<br />

des amerikanischen Verfassungsgerichts.<br />

VonPräsident Barack Obama<br />

ausgewählt, nahm Sotomayor2009 als<br />

erstePersönlichkeit lateinamerikanischer<br />

HerkunftEinsitz am obersten<br />

Gericht der USA. Siewurde damit eine<br />

historische Figur. Aber dies scheint erst<br />

heute wirklich in der breiten Öffentlichkeit<br />

und auch in ihrer eigenen<br />

«Community» anzukommen. Dafür<br />

spricht das enorme Echo auf «MyBelovedWorld».<br />

Das Buch ist umgehend<br />

an die Spitzeder Bestsellerlisten gesprungen<br />

und die Lesereise der Richterin<br />

im Februar geriet zu einem<br />

Triumphzug mit begeistertem Publikum<br />

in überfüllten Hallen.<br />

Die durch<strong>weg</strong>s positivenKritiken nahmen<br />

diesen Erfolg vor<strong>weg</strong>. Das Buch<br />

endet zwar bereits 1992,als Sotomayor<br />

an das Bundesgericht für den südlichen<br />

Bezirkihrer Heimatstadtberufen<br />

wurde. So vermeidet die Juristin<br />

Diskussionen ihrer vonRepublikanern<br />

bekämpften Nominierung für den<br />

Supreme Court und ihrer Haltung zu<br />

aktuellen Fällen. Dafür wirdder Leser<br />

mit einer packenden und anrührenden<br />

Lebensgeschichtebelohnt. Diese zieht<br />

ihreemotionale Kraftebenso aus der<br />

Offenheit der Autorin, wie aus den<br />

Prüfungen, die sie auf ihrem Wegzu<br />

bestehen hatte.<br />

1955 geboren, wuchs Sotomayormit<br />

einer distanzierten Mutterund einem<br />

alkoholsüchtigen Vaterauf,der nach<br />

Sonia Sotomayor<br />

feiertihren vierten<br />

Geburtstag(1959).<br />

Heuteist sie die<br />

ersteRichterin mit<br />

puerto-ricanischen<br />

Wurzeln am US-<br />

Verfassungsgericht<br />

(unten).<br />

REUTERS<br />

ihrem neunten Geburtstag verstarb.<br />

Erschwert wurdeihreKindheit durch<br />

Diabetes, die sie bereits als Siebenjährigeallein<br />

meistern musste. Die Kleine<br />

lernte, sich selbst die tägliche Insulinspritzezusetzen,<br />

und realisierte, dass<br />

sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen<br />

musste. Rückschlägenahm das mit<br />

einer scharfenIntelligenz begabteMädchen<br />

fortan als Lektionen wahr,die sie<br />

mit Fleissund Beharrlichkeit bewältigenkonnte.<br />

WieSotomayordankbar<br />

hervorhebt, standen ihr dabei an jeder<br />

Station Mentoren zur Seite. Niescheute<br />

sie sich, um Ratzufragen. So gewann sie<br />

an der Princeton Universityund danach<br />

an der Yale LawSchool, bei der New<br />

YorkerStaatsanwaltschaftund schliesslich<br />

als jungePartnerin einer renomiertenKanzlei<br />

in Manhattan lebenslange<br />

PRIVAT<br />

Freunde. Dazu zählt der einflussreiche<br />

Jurist José Cabranes, der heute am Berufungsgericht<br />

für den amerikanischen<br />

Nordosten wirkt.<br />

Sotomayornotiert zudem, dassihre<br />

Karrierenur deshalb möglich war, weil<br />

Institutionen in Staatund Gesellschaft<br />

der USAwährend der 1970er Jahreallmählich<br />

Türen für ehrgeizige«Hispanics»<br />

öffneten. Sieverteidigt die bis<br />

heute umstrittene «affirmative action»,<br />

also die gezielteFörderung vonAngehörigen<br />

farbiger Minoritäten, stellt<br />

aber selbstbewusstfest: «Meine Herkunftmag<br />

mir ein Princeton-Stipendium<br />

ermöglicht haben. Aber den<br />

Abschlusssumma cum laude habe ich<br />

mir aus eigener Kraftverdient!»<br />

Doch, obwohl ihr Buch zu einem Zeitpunkt<br />

erscheint, an dem die Hispanics<br />

auch als politischer Faktor den endgültigen<br />

Durchbruch erzielt haben, ist<br />

«MyBelovedWorld» keines<strong>weg</strong>s eine<br />

Streitschriftauf dem Schlachtfeld der<br />

Identitätspolitik in den USA. SotomayormöchteBeispiel<br />

sein für die Möglichkeit<br />

des klassisch-amerikanischen<br />

Aufstiegsund plädiert für schrittweise<br />

Reformen: Aufgewachsen in Chaos und<br />

Not, hält die Richterin das Recht als<br />

Regelwerk hoch, das speziell Bürgern<br />

aus benachteiligten Milieus Sicherheit<br />

und Chancen gewähren sollte.<br />

Dabei hält sie an ihren Wurzeln fest.<br />

Dazu zählt eine afrokaribische Spiritualität,<br />

die sie an ihrer Grossmutter<br />

Mercedes aus PuertoRicofestmacht.<br />

So würdigt Sotomayorauch den Geist<br />

der geliebten «Abuelita» als Beistand,<br />

der sie auf ihrer imponierenden Lebensreise<br />

mit Ratund Tatbegleitet hat.<br />

VonAndreas Mink l<br />

26 ❘ NZZamSonntag ❘ 24.Februar 2013


Agenda<br />

Künstlerkolonie Die Schule von Savièse<br />

Agenda März 2013<br />

Basel<br />

Freitag, 1.März, 20 Uhr<br />

Emil Steinberger: Drei Engel. Bühnenprogramm<br />

mit Lesung. TheaterFauteuil,<br />

Spalenberg12. Info: www.fauteuil.ch.<br />

Freitag, 8.März, 19 Uhr<br />

Rafik Schami: Poetischer Spaziergang<br />

durch Damaskus. Lesung, Fr.25.–.<br />

Literaturhaus, Barfüssergasse3,<br />

Tel. 061 261 29 50.<br />

M. MARTINEZ /WALLISER KUNSTMUSEUM<br />

UmsJahr1900wurde dasländliche Wallis durch<br />

Künstler aus der Stadt bevölkert, die auf der Suche<br />

nach einer unversehrtenalpinen Welt waren. Als<br />

«Schule vonSavièse»kolonisiertensie die Berglandschaftund<br />

schildertensie als verlorenes<br />

Paradies. Paul Virchaux (1862–1930) stellt auf einem<br />

1901entstandenen Ölgemälde Älplerinnen und Älpler<br />

auf der Heimkehr vonder Messe in Evolène dar.Drei<br />

jungeFrauen führen den Zugan, der in der prallen<br />

Mittagssonne aus der Kirche kommt. Landschaftund<br />

Bestseller Februar 2013<br />

Belletristik<br />

1<br />

2<br />

Paulo<br />

3<br />

Jonas<br />

4<br />

Eveline<br />

5<br />

SandraBrown:<br />

6<br />

Vina<br />

7<br />

MartinSuter:<br />

8<br />

Vina<br />

9<br />

Camilla<br />

10<br />

Jussi Adler-Olsen: DasWashington-Dekret.<br />

Dtv. 656Seiten, Fr. 27.90.<br />

Coelho: Die Schriftenvon Accra.<br />

Diogenes. 192 Seiten, Fr. 25.90.<br />

Jonasson: Der Hundertjährige.<br />

Carl’sBooks.412 Seiten, Fr. 21.90.<br />

Hasler: Mit dem letzten Schiff.<br />

Nagel&Kimche.224 Seiten, Fr. 27.90.<br />

Blinder Stolz.<br />

Blanvalet. 544 Seiten, Fr. 28.50.<br />

Jackson: 80 Days –Die Farbe der Lust.<br />

Carl's Books. 366 Seiten, Fr. 18.90.<br />

Die Zeit, die Zeit.<br />

Diogenes. 296 Seiten, Fr. 29.90.<br />

Jackson: 80 Days –Die Farbe der Erfüllung.<br />

Carl's Books. 352 Seiten, Fr. 18.90.<br />

Läckberg: Der Leuchtturmwärter.<br />

List. 480Seiten, Fr. 28.90.<br />

Timur Vermes: Er istwieder da.<br />

Eichborn. 396 Seiten, Fr. 27.90.<br />

Sachbuch<br />

Erhebung Media Control im Auftragdes SBVV; 12.2.2013. Preise laut Angaben vonwww.buch.ch.<br />

Menschen feiern in realistischer Manier die Heimat.<br />

DasBild istein Beispiel für die Ideologie der heilen<br />

Welt, welche die damaligeKolonie prägte. Im Spannungsfeld<br />

mit anderen künstlerischen Be<strong>weg</strong>ungen<br />

wie jener weit farbigeren und anarchischeren auf dem<br />

MonteVerità im Tessin gewinnt diese Strömung ihre<br />

besondereBedeutung. Manfred Papst<br />

Pascal Ruedin u.a. (Hrsg.): Die Schule vonSavièse.<br />

Eine Künstlerkolonie in den Alpen um 1900.<br />

Kunstmuseum Wallis, Sitten2012. 296S., Fr.59.–.<br />

1<br />

2<br />

Rolf<br />

3<br />

Florian<br />

4<br />

Pola<br />

5<br />

Christoph<br />

6<br />

Rolf<br />

7<br />

Isabelle<br />

8<br />

Guinness<br />

9<br />

Beat<br />

10<br />

Thomas Jaenisch, Felix Rohland: myboshi –<br />

mützenundmehr. Frech. 111 Seiten, Fr. 21.90.<br />

Dobelli: Die Kunst des klarenDenkens.<br />

Hanser. 246 Seiten, Fr. 24.90.<br />

Illies: 1913 –der Sommer des Jahrhunderts.<br />

Fischer.319 Seiten, Fr. 28.90.<br />

Kinski: Kindermund.<br />

Insel.267 Seiten, Fr. 28.40.<br />

Stockar: Der Schweizer Knigge.<br />

Beobachter. 228 Seiten, Fr. 38.90.<br />

Dobelli: Die Kunst des klugenHandelns.<br />

Hanser. 248 Seiten, Fr. 24.90.<br />

Neulinger: Meinen Sohn bekommt<br />

ihr nie. Nagel&Kimche.204 Seiten, Fr. 25.90.<br />

World Records2013.<br />

Bibliographisches Institut. 285S., Fr. 32.40.<br />

Kuhn: Ziemlich wild.<br />

Gassmann. 128 Seiten, Fr. 39.90.<br />

Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 25.<br />

Aufl. Bibliogr.Institut. 1216 Seiten, Fr. 35.90.<br />

Montag, 25.März, 19 Uhr<br />

Ursula Krechel: Landgericht.<br />

Lesung, Fr.17.–. Literaturhaus,<br />

Barfüssergasse3,<br />

Tel. 061 261 29 50.<br />

Bern<br />

Mittwoch, 13.März, 20 Uhr<br />

PedroLenz: Liebesgschichte. Lesung,<br />

Fr.15.–.Buchhandlung Stauffacher,<br />

<strong>Neue</strong>ngasse 25/27, Tel. 031 313 63 63.<br />

Montag, 25.März, 19 Uhr<br />

Ulrich Beseler empfiehlt Bücher zu<br />

Ostern. Lesung, Eintrittfreiinkl. Apéro.<br />

Buchhandlung Haupt, Falkenplatz 14.<br />

Info: www.haupt.ch.<br />

Mittwoch, 27.März, 19 Uhr<br />

7. Bund-Essay-Wettbewerb unter dem<br />

Motto:Der Mutterund die Vaterin;<br />

Preisverleihung und Lesungen. Dampfzentrale,Marzilistrasse<br />

47.Eintrittund<br />

Reservation: www.essay.derbund.ch.<br />

Zürich<br />

Mittwoch, 6.März, 19.30Uhr<br />

KatjaFusek, Valentin Herzog und<br />

Gabriele Markus lesen aus ihren Werken.<br />

ZSVForum im Gartensaal, Cramerstr.7.<br />

Info: www.zsv-online.ch.<br />

Dienstag, 12.März, 20 Uhr<br />

Joey Goebel: Ichgegen Osborne. Lesung,<br />

Fr.25.–. Kaufleuten, Festsaal,<br />

Pelikanplatz 1, Tel. 044225 33 77.<br />

Montag, 18.März, 19.30Uhr<br />

Jonas Lüscher: Frühling der Barbaren.<br />

Lesung, Fr.18.– inkl. Apéro. Literaturhaus,<br />

Limmatquai 62, Tel. 044254 50 00.<br />

Montag, 25.März, 19.30Uhr<br />

Corina Caduff: Szenen des<br />

Todes. Lesung, Fr.18.– inkl.<br />

Apéro. Literaturhaus<br />

(s. oben).<br />

Mittwoch, 27.März, 19.30Uhr<br />

Zebraoder weisser Tigerund Fledermaus<br />

au Chocolat. Die Lesung zum Tier.Erfundenes<br />

und Erfahrbares aus dem Tierreich.<br />

Restaurant Zeughaushof, Kanonengasse20.<br />

Info: www.zeughaushof.ch.<br />

Bücher am Sonntag Nr.3<br />

erscheint am 31.3.2013<br />

<strong>Weiter</strong>eExemplare der Literaturbeilage«Bücher am<br />

Sonntag» können bestellt werden per Fax044 2581360<br />

oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind –solange<br />

Vorrat –beim Kundendienstder NZZ, Falkenstrasse 11,<br />

8001Zürich, erhältlich.<br />

EPA<br />

24.Februar 2013 ❘NZZamSonntag ❘ 27


MIT UNTERSTÜTZUNG VON<br />

Ausgabe Nr.1<br />

IN KOOPERATION MIT<br />

MIT UNTERSTÜTZUNG VON<br />

Ausgabe Nr.2<br />

IN KOOPERATION MIT<br />

MIT UNTERSTÜTZUNG VON<br />

Ausgabe Nr.3<br />

IN KOOPERATION MIT<br />

MIT UNTERSTÜTZUNG VON<br />

Ausgabe Nr.4<br />

IN KOOPERATION MIT<br />

MIT UNTERSTÜTZUNG VON<br />

Ausgabe Nr.5<br />

IN KOOPERATION MIT<br />

10CFWMKw7DMBAFT7TW26_tLozCooCqfElVnPujyGUBw2bmONIb_mz7-dnfyYA58ehTIn16kx45RBqsJ4RdwPpi8y5z-EMn8AyF1lIIQuzFRh5kqBharGtQK4a06_u7AV_gDCt_AAAA<br />

10CAsNsjY0MDAx1TW0MLc0MgMAlttsqQ8AAAA=<br />

MIT UNTERSTÜTZUNG VON<br />

Ausgabe Nr.6<br />

IN KOOPERATION MIT<br />

MIT UNTERSTÜTZUNG VON<br />

Ausgabe Nr.7<br />

IN KOOPERATION MIT<br />

MIT UNTERSTÜTZUNG VON<br />

Ausgabe Nr.8<br />

IN KOOPERATION MIT<br />

MIT UNTERSTÜTZUNG VON<br />

Ausgabe Nr.9<br />

IN KOOPERATION MIT<br />

MIT UNTERSTÜTZUNG VON<br />

Ausgabe Nr.10<br />

IN KOOPERATION MIT<br />

Probe-Abo<br />

bestellen!<br />

SMS mit «NZZ26»<br />

an 880<br />

TomBuchananholte kurz und<br />

gezielt aus und brach ihr mit<br />

derflachenHanddie Nase.<br />

Knack.<br />

Aus «Der grosse Gatsby» von F.Scott Fitzgerald<br />

Weltliteratur in Kurzform<br />

10 Klassiker der Weltliteratur, zusammengefasst auf 16Seiten.<br />

Vom 31. März bis 2. Juni 2013 exklusiv in der «NZZ am Sonntag» als kostenlose Beilage.<br />

Jetzt 10 Wochen für nur 25 Franken Probe lesen: SMS mit Keyword NZZ26 sowie<br />

Namen und Adresse an die Nummer 880 (20 Rp./SMS) oder auf nzz.ch/klassiker.<br />

WELTLITERATUR<br />

klassiker kompakt<br />

WELTLITERATUR<br />

klassiker kompakt<br />

WELTLITERATUR<br />

klassiker kompakt<br />

WELTLITERATUR<br />

klassiker kompakt<br />

WELTLITERATUR<br />

klassiker kompakt<br />

WELTLITERATUR<br />

klassiker kompakt<br />

WELTLITERATUR<br />

klassiker kompakt<br />

WELTLITERATUR<br />

klassiker kompakt<br />

WELTLITERATUR<br />

klassiker kompakt<br />

WELTLITERATUR<br />

klassiker kompakt<br />

Unbekannt<br />

Die Erzählungen<br />

aus den Tausendundein<br />

Nächten<br />

Unbekannt<br />

Nibelungenlied<br />

Schi Nai An<br />

Die Räuber<br />

vomLiang<br />

Schan Moor<br />

Jane Austen<br />

Verstand und<br />

Gefühl<br />

Victor Hugo<br />

Die Elenden<br />

Leo Tolstoi<br />

Anna Karenina<br />

Marcel Proust<br />

Auf der Suche<br />

nachder verlorenen<br />

Zeit<br />

Virginia Woolf<br />

MrsDalloway<br />

F. Scott Fitzgerald<br />

Der grosse<br />

Gatsby<br />

Robert Musil<br />

Der Mann ohne<br />

Eigenschaften<br />

In Kooperation mit:<br />

Mit Unterstützung von:

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!