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Kapitel Einleitung - daniel gutzmann

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Einführung in die Sprachwissenschaft I+II<br />

Daniel Gutzmann<br />

Institut für Linguistik<br />

Wintersemester 2011/12<br />

&<br />

Sommersemester 2012


Daniel Gutzmann<br />

Goethe-Universität Frankfurt<br />

Institut für Linguistik<br />

<strong>gutzmann</strong>@lingua.uni-frankfurt.de<br />

Raum IG 4.256<br />

Sprechstunde: Mo. 12–13h


Inhalt


<strong>Kapitel</strong> 1<br />

<strong>Einleitung</strong><br />

1.1 Organisatorisches<br />

Zu dieser Vorlesung<br />

Kurs: Einführungsveranstaltung<br />

• 2 SWS<br />

• Vorlesungscharakter<br />

• Dauer: 2 Semester (WS und SoSe)<br />

• Abschlussklausur am Ende des 2. Semesters (SoSe)<br />

Tutorium: Übungen zum Kurs<br />

• Tabea Hombach, Termin wird bekanntgegeben<br />

Zielpublikum<br />

• Studierende auf Lehramt Deutsch<br />

• Studierende der Germanistik<br />

• Studierende der empirischen Sprachwissenschaft<br />

• Studierende der Informatik<br />

• Studierende der Kognitiven Linguistik<br />

• Andere ...


2 <strong>Einleitung</strong><br />

Lehrbuch<br />

Diese Vorlesung basiert auf:<br />

• Meibauer, Jörg et al. (2007): Einführung in die germanistische Linguistik. 2., aktualisierte<br />

Auflage. Stuttgart/Weimar: Metzler.<br />

Weitere Literaturhinweise<br />

• Becker-Mrotzek, Michael et al. (Hg.)(2000): Linguistische Berufe: ein Ratgeber zu<br />

aktuellen linguistischen Berufsfeldern. Frankfurt a.M.: Lang.<br />

• Bußmann, Hadumod (2006): Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart: Kröner.<br />

• Grewendorf, Günther & Hamm, Fritz & Sternefeld, Wolfgang (1987): Sprachliches<br />

Wissen. Eine Einführung in moderne Theorien der grammatischen Beschreibung.<br />

Frankfurt a.M.: Suhrkamp (stw 695)<br />

• Steinbach, Markus et al. (2007): Schnittstellen der germanistischen Linguistik. Stuttgart/Weimar:<br />

Metzler.<br />

Kursmaterialien: OLAT<br />

• Online-Ablage von Kursunterlagen (auch auf www.<strong>gutzmann</strong>.org)<br />

• Folien, Skripte, Übungen, Semesterplan, Foren<br />

• Anmeldung obligatorisch<br />

• Zugang mit Username und Login der Goethe-Uni<br />

☞ https://webct.server.uni-frankfurt.de/<br />

Zielsetzung<br />

• Erster Eindruck darüber, womit sich die Linguistik beschäftigt<br />

• Überblick über die Teildisziplinen der Sprachwissenschaft


Sprache in Literatur und Alltag 3<br />

• Erlernen der Fachsprache und der Grundbegriffe, mit denen sprachliche Phänomene<br />

beschrieben werden<br />

• Erlernen von Methoden zur Analyse von Sprache und deren selbstständige Anwendung<br />

1.2 Sprache in Literatur und Alltag<br />

Sprache in Literatur und Alltag<br />

• Wir alle wissen, dass wir fremde Sprachen mühevoll erlernen müssen. Ohne<br />

Grundkenntnisse von Vokabular und Grammatik kommt man nicht weit.<br />

• Warum sollte man sich mit der deutschen Sprache befassen?<br />

• Ist nicht eigentlich nur literarische Sprache untersuchenswert?<br />

Nein! Für Linguistinnen sind grundsätzlich alle sprachlichen Äußerungen oder Texte<br />

Untersuchungsgegenstand. Auch (oder besonders) alltägliche, nicht-literarische<br />

Sprache.<br />

Die erst Histori von Dil Ulenspiegel, frühes 16. Jh.<br />

(1) Da nun Ulenspiegel geteufft ward und sie daz Kind wider wollten geen Knetlingen<br />

tragen, also wolt die Taufgöttel, die daz Kind truge, endlich uber ein Steg gon, daz<br />

zwische Knetlingen und Ampleven ist, und sie hetten dazu vil Birs getruncken<br />

nach der Kindertöffe [...] Also fiel die Göttel in die Lachen und besudelt sich und<br />

das Kind so jämmerlich, das daz Kind schier erstickt was. Da halffen die andern<br />

Frauwen der Badmumen mit dem Kind wider uß und giengen heim in ihr Dorff<br />

und wuschen das Kind in einem Kessel und machten es wider sauber und schon.<br />

Da ward Ulenspiegel eins Tags dreimal geteufft, einmal im Tauff, einmal in der<br />

Lachen und eins im Kessel mit warmen Wasser.<br />

Franz Kafka: Der Prozeß<br />

(2) Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan<br />

hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. Die Köchin der Frau Grubach, seiner<br />

Zimmervermieterin, die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte,<br />

kam diesmal nicht. Das war noch niemals geschehen.<br />

Frank Wedekind: Frühlings Erwachen<br />

(3) Wendla: Warum hast du mir das Kleid so lang gemacht, Mutter?<br />

Frau Bergmann: Du wirst vierzehn Jahre heute!


4 <strong>Einleitung</strong><br />

Wendla: Hätt’ ich gewußt, daß du mir das Kleid so lang machen werdest, ich<br />

wäre lieber nicht vierzehn geworden.<br />

Manufactum Katalog, Frühjahr 2002<br />

(4) Das leichte und schlagfeste, für hohe Stabilität und geräuscharmen Betrieb geformte<br />

Gehäuse ist aus Silumin, eine Legierung aus Aluminium und Silicium.<br />

Hochfliegende Steine können dem aus einem Stück gegossenen Gehäuse nichts<br />

anhaben, eventuell entstehende Dellen können ausgeschlagen werden, und es<br />

rostet nicht.<br />

Wagner 1996, S. 136<br />

(5) Mutter: “Sing doch mal ein Lied!”<br />

Frederik: “Ja!/(singt) Laa-la-Laa!”<br />

Mutter: “Fein!/ ‘O Tannenbaum’ kannst des (=du<br />

das)?”<br />

Frederik: “Ma auch!” (=Mama soll auch singen)<br />

• Text (1), (2), und (3) sind literarische Texte.<br />

• Text (4) und (5) sind nicht-literarische Texte.<br />

• Texte (3) und (5) sind Dialoge.<br />

• All die Texte (1)–(5) lassen sich sprachwissenschaftlich untersuchen.<br />

• Nur die Texte (1)–(3) sind auch Gegenstand der Literaturwissenschaft.<br />

• Authentische Texte wie (5) sind besonders wichtig für die Sprachwissenschaft.<br />

Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache<br />

lautbasiert schriftbasiert<br />

schnell (2,5 Wörter/sec) relativ langsam<br />

Sprecherin & Hörerin anwesend Schreiberin abwesend<br />

flüchtig konserviert<br />

Korrekturen hörbar Korrekturen nicht sichtbar<br />

Natürlicher Erstspracherwerb wird in der Schule erlernt<br />

➞ Gesprochene Sprache ist gegenüber der geschriebenen primär.<br />

• Alle Texte in (1)–(5) sind deutsche Texte.<br />

• Neben Deutsch kennen die meisten von Ihnen zwei bis drei Fremdsprachen (zumindest<br />

nach Studienordnung).<br />

• Auf der Welt gibt es ca. 5500 Sprachen, die man theoretisch alle erlernen könnte.


Eine wichtige Frage der Sprachwissenschaft<br />

Gibt es sprachliche Universalien? Wenn ja, was für welche?<br />

Blickwinkel auf Sprache 5<br />

Die meisten Sprachen der Welt weisen z. B. verschiedene Satztypen auf:<br />

• Deklarativsatz (Aussagesatz)<br />

• Interrogativsatz (Fragesatz)<br />

• Imperativsatz (Aufforderungsatz)<br />

Möglicher Grund:<br />

• Die durch diese Satztypen realisierten Sprechakte spielen in der Kommunikation<br />

eine fundamentale Rolle.<br />

➞ Funktionale Begründung<br />

• Neben funktionalen Erklärungen von Universalien gibt es auch biologische Erklärungen.<br />

• Diese zielen auf die gleiche biologische Ausstattung des Menschen ab.<br />

• Die Fähigkeit zum Erlernen von Sprache wird in solchen Ansätzen mit einer sog.<br />

Universalgrammatik identifiziert.<br />

1.3 Blickwinkel auf Sprache<br />

1.3.1 Sprache als soziales Phänomen<br />

• Wenn wir von ” Deutsch“ reden, meinen wir immer die dt. Standardsprache.<br />

• Neben der Standardsprache gibt es etliche dt. Dialekte.<br />

Unterschiede zwischen Standardsprache und Dialekten<br />

überregional regional gebunden<br />

normiert nicht normiert<br />

schriftsprachliche Basis hauptsächlich gesprochen<br />

• Standardsprache und Dialekt sind (meist) hinreichend ähnlich, so dass Sprecherinnen<br />

der Standardsprache Dialektsprecherinnen verstehen und umgekehrt.<br />

• Viele Sprecherinnen der Standardsprache sprechen zusätzlich auch noch einen<br />

Dialekt.<br />

• Sowohl die Standardsprache als auch Dialekte werden in der Linguistik untersucht.


6 <strong>Einleitung</strong><br />

• Die Gesellschaft, in der wir leben, ist nicht homogen, sondern vielfältig gegliedert<br />

(z. B. Wohnort, sozialer Status, bestimmte Gesellschaftsschichten, Ausbildung,<br />

Beruf, Religionszugehörigkeit, Geschlecht...).<br />

• Sprache dient der Kommunikation in der Gesellschaft und ist somit auch ein<br />

soziales Phänomen.<br />

➞ Es ist folglich zu erwarten, dass auch die Sprache nicht homogen ist, sondern, dass<br />

es Varietäten gibt.<br />

• Solche Varietäten können regional oder sozial bedingt sein (Dialekt bzw. Soziolekt).<br />

Eine besondere Varietät ist die Jugendsprache.<br />

• Jugendsprache dient der sozialen Abgrenzung gegen andere Jugendliche und/oder<br />

gegen Erwachsene.<br />

• Sie ist Mittel zur Ausbildung einer eigenen, gruppenspezifischen Identität.<br />

• Innerhalb der Jugendsprache gibt es Subvarietäten, je nach ” Szene“.<br />

Elemente der Jugendsprache lassen sich auf verschiedenen Ebenen des Sprachsystems<br />

bzw. der Sprachverwendung nachweisen:<br />

• Wortschatz<br />

• Wortbildung<br />

• Phraseologie<br />

• Syntax<br />

• Diskursstrukturen<br />

• ...<br />

Beispiel Wortbildung<br />

• an-: anmachen, angraben, anbaggern, anlabern, ...<br />

• -erei: Ablästerei, Laberei, Klugscheißerei, Prollerei, ...<br />

1.3.2 Sprache als historisches Phänomen<br />

• Sprache ist kein statisches, unveränderliches System, sondern wandelt sich ständig.<br />

• Dies können wir z. B. an älteren Texten wie denen in (1) sehen.<br />

• Je älter ein Text ist, desto größere Probleme haben wir, ihn zu verstehen.<br />

Sprachwandel gibt es auf allen Ebenen linguistischer Beschreibung.


• Das Lautinventar ändert sich.<br />

• Worte gehen verloren – neue kommen hinzu.<br />

• Flexionsformen ändern sich.<br />

• Die Bedeutung von Wörtern ändert sich.<br />

• Der grammatische Status eines Wortes kann sich ändern.<br />

• Satzstrukturen wandeln sich.<br />

• ...<br />

1.3.3 Sprache als biologisches Phänomen<br />

Blickwinkel auf Sprache 7<br />

• Alle Sprachfunktionen sind eine Leistung des menschlichen Gehirns.<br />

• Das sieht man am deutlichsten an Aphasien.<br />

• Aphasien sind zentrale Sprachstörungen nach weitgehend abgeschlossener Sprachentwicklung.<br />

• Ursachen sind spezifische Schädigungen des Gehirns (z. B. aufgrund von Durchblutungsstörungen,<br />

Gehirntumoren, oder Schädel-Hirn- Traumata)<br />

• Man geht davon aus, dass eine der beiden Hälften des Großhirns, der sog. Hemisphären,<br />

bei bestimmten Gehirnfunktionen mehr oder minder dominant ist.<br />

• Durch das Studium von Aphasien hat man erste Indizien für die Arbeitsteilung<br />

zwischen den Großhirnhälften in Bezug auf Sprache.<br />

• Grob lassen sich drei Arten von Aphasien unterscheiden:<br />

Broca-Aphasie<br />

– Broca-Aphasie (expressive A.)<br />

– Wernicke-Aphasie (rezeptive A.)<br />

– Globale Aphasie<br />

• Die Broca-Aphasie ist nach dem französischen Chirurgen Paul Broca (1824–1880)<br />

benannt.<br />

• Grund ist eine Läsion des sog. Broca-Zentrums.<br />

Symptome bei Broca-Aphasie<br />

• Patienten mit Broca-Aphasie sprechen langsam und stockend.<br />

• Die Artikulation ist gestört.


8 <strong>Einleitung</strong><br />

• Die Patienten sprechen im Telegrammstil.<br />

• Sie sind oft unfähig zu komplexen syntaktischen Konstruktionen.<br />

• Einzelne Wörter werden häufig wiederholt.<br />

• Das Sprachverstehen hingegen ist deutlich weniger eingeschränkt.<br />

Interview mit einem Broca-Aphasie-Patienten<br />

(6) I: Was machen Sie denn, wenn Sie nach Hause kommen? P: Nur auftehn, un hier<br />

äh Betten un hier Kaffee un un hier immer so helfen, arbeiten hier ... un immer<br />

hier immer mittag Arbeit, ich weiß nich, das is so schlimm zählen, das genau ...<br />

Frau B. ... ne, Frau L. gut, is gut, auch Arbeit immer... un eins, zwei hier so hier<br />

so Rek, Brett un das so hier so, un hier so Kartoffel un Rüben un alles, alles gut ...<br />

so is gut ... Heinrich auch selber koch, Heinrich prima Essen, ja, nit Mann, gar<br />

nit Mann, un aber Heinrich is gut.<br />

Wernicke-Aphasie<br />

• Die Wernicke-Aphasie ist nach dem deutschen Neuropsychiater Carl Wernicke<br />

(1848–1905) benannt.<br />

• Grund ist eine Läsion des Wernicke-Zentrums.<br />

• Patienten mit Wernicke-Aphasie haben eine flüssige Sprachproduktion.<br />

• Die Artikulation ist nicht behindert (doch kommt es zu unvermuteten Pausen).<br />

Symptome bei Wernicke-Aphasie<br />

• viele stereotype Muster<br />

• unverständliche Sequenzen<br />

• Fehler bei der Auswahl von Wörtern und Lauten<br />

• Das Sprachverstehen der Patienten ist erheblich beeinträchtigt.<br />

Interview mit einem Wernicke-Aphasie-Patienten<br />

(7) I: Sie waren doch Polizist, haben Sie mal einen festgenommen?<br />

P: Naja ... das ist so ... wenn Sie einen treffen draußen abends ... das ist ja ...<br />

und der Mann ... wird jetzt versucht ... als wenn er irgendwas festgestellen<br />

hat ungefähr ... ehe sich macht ich ... ich kann aber noch nicht amtlich ...<br />

jetzt muss er sein Beweis nachweisen ... den hat er nicht ... also ist er fest ...<br />

und wird erst sichergestellt festgemacht ... der wird erst festgestellt werden


Blickwinkel auf Sprache 9<br />

und dann wird festgestellt was sich dort vorgetragen hat ... nicht ... erst<br />

dann ... ist ein Beweis mit seinem Papier dass er nachweisen kann ... ich<br />

kann ihm aber nicht nachweisen ... wird aber bloß festgestellt vorläufig ...<br />

aber er kann laufen.<br />

• Bei der globalen Aphasie entsprechen die Symptome der kombinierten schweren<br />

Broca und Wernicke-Aphasie.<br />

• Fast alle Aspekte der gesprochenen und geschriebenen Sprache sind betroffen.<br />

• Die Ausdrucks- und Kommunikationsfähigkeit der Patienten ist minimal.<br />

1.3.4 Sprache als kognitives Phänomen<br />

• Sprache ist eine der zentralen kognitiven Leistungen des Menschen.<br />

• Die kognitive Linguistik untersucht und beschreibt die menschliche Sprachfähigkeit<br />

als einen wesentlichen Teil der Kognition.<br />

• Die Sprachwissenschaft leistet somit einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des<br />

menschlichen Denkens.<br />

• Die kognitive Linguistik entwickelt Modelle, die alle Sprachfunktionen und ihre<br />

Interaktion mit anderen kognitiven Systemen beschreiben.<br />

• Im Gegensatz zur traditionellen Linguistik interessiert sich die kognitive Linguistik<br />

nicht nur für den strukturellen Aufbau des Sprachsystems, sondern auch dafür,<br />

wie die Sprachfähigkeit erworben und wie sie angewandt wird.<br />

Fragestellungen der kognitiven Linguistik<br />

1. Worin besteht die (spezifische) Sprachkenntnis eines Menschen,<br />

2. wie erwirbt er diese Sprachkenntnis und<br />

3. wie wendet er diese Sprachkenntnis an?


10 <strong>Einleitung</strong><br />

• Psycholinguistische Untersuchungen der Sprachverarbeitung können in zwei Teilbereiche<br />

unterteilt werden:<br />

Versprecher<br />

– Analysen der Sprachproduktion<br />

– Analysen der Sprachrezeption<br />

(8) a. Schlecken Sie den Stüssel ins Loch. ➞ Stecken Sie den Schlüssel ins Loch.<br />

b. Unser Stirbchen bäumt. ➞ Unser Bäumchen stirbt.<br />

c. Wir waren Pilze fangen. ➞ Wir waren Pilze sammeln.<br />

Ein Holzwegsatz<br />

(9) Jetzt trinkt die Frau die Limonade schon immer verabscheut hat.<br />

Keine Holzwegsätze<br />

(10) a. Die Frau, die Limonade schon immer verabscheut hat, trinkt jetzt.<br />

b. Jetzt trinkt der Mann, der Limonade schon immer verabscheut hat.<br />

1.4 Untersuchungsgegenstand Sprache<br />

Sprachen sind Systeme von Zeichen<br />

• Zeichen haben eine bestimmte Form und eine bestimmte Bedeutung<br />

• Zeichen werden nach Regeln zu komplexeren Einheiten kombiniert<br />

Verwendung der Sprache zur Kommunikation<br />

• Übermittlung von Information<br />

• Beeinflussung von Handlungen<br />

Natürliche, menschlicheSprache<br />

• ohne Tiersprachen<br />

• ohne konstruierte Sprachen (Programmiersprachen, Esperanto, formale Sprachen:<br />

z.B. Prädikatenlogik, etc.)


• aber mit Gebärdensprache<br />

Untersuchungsgegenstand Sprache 11<br />

• Natürliche, menschliche Sprache ist eine besondere Eigenschaft des Menschen<br />

• Untersuchung der Sprachfähigkeit erlaubt die Abgrenzung von Menschen gegenüber<br />

anderen Lebensformen<br />

➞ Frage: wie grenzt sich die natürliche, menschliche Sprache von anderen Sprachformen/funktionen<br />

ab?<br />

Eigenschaften menschlicher Sprache<br />

• Zeichensysteme: Zeichen werden übermittelt<br />

• Kommunikationsmodus über Zeichen/Signale (Mittel, mit denen die Signale<br />

übermittelt werden, können sich unterscheiden)<br />

• Zeichen haben Bedeutung<br />

• Funktion des Zeichens ist es,die Handlungen von anderen zu beeinflussen.<br />

Mögliche Gemeinsamkeiten mit Tiersprachen<br />

Lernbarkeit<br />

Das System muss gelernt werden<br />

Arbitrarität (= Beliebigkeit)<br />

Beziehung zwischen Form des Zeichens und seiner Bedeutung ist arbiträr/willkürlich:<br />

Die Bedeutung eines Zeichens ist meist nicht durch allgemeine Prinzipien aus anderen<br />

Eigenschaften des Zeichens herleitbar (z.B. Lautgestalt, Bienen- Tanzfiguren).<br />

Komplexität<br />

Komplexe Nachrichten sind aus kleineren Teilen aufgebaut und diese Teile sind nach<br />

bestimmten Regeln kombinierbar<br />

Kommunikation<br />

Jeder kann Sender und Empfänger einer Nachricht sein<br />

Spezielle Eigenschaften menschlicher Sprache<br />

Abstraktionsgrad<br />

Wir haben die Fähigkeit über Sachverhalte zu sprechen, die nicht unmittelbar gegenwärtig<br />

sind, Ereignisse in der Zukunft, Gegenstände aus der Vergangenheit. Wir können über<br />

hypothetische Sachverhalte sprechen (Displacement).<br />

Kreativität<br />

Wir haben die Fähigkeit eine beliebige Anzahl von Nachrichten auszudrücken und immer<br />

neue zu bilden.


12 <strong>Einleitung</strong><br />

1.5 Semiotik<br />

Semiotik = allgemeine Lehre von den Zeichen<br />

• Zeichenprozesse<br />

• Verbreitung und Wirkung von Zeichen<br />

• Interpretation von Zeichen<br />

• Funktion von Zeichen<br />

• Verstehen von Zeichen<br />

1.5.1 Zeichenarten<br />

Es gibt 3 Arten von Zeichen:<br />

1. Ikone (Bildzeichen)<br />

Zeichen und Objekt stehen in einem Ähnlichkeitsverhältnis<br />

1. Bilder (z.B. Piktogramme): dienen<br />

zur Erleichterung der Kommunikation:<br />

Rauchen verboten!<br />

2. Metapher: Wüstenschiff = Kamel<br />

3. Onomatopoetika: lautmalerische Ausdrücke wie Kuckuck, wau-wau, knistern, krachen<br />

2. Indexe (indexikalische Zeichen/Anzeichen)<br />

Zeichen werden durch eine direkte reale Folgebeziehung zwischen einem “Anzeichen”<br />

und einem Objekt konstituiert:<br />

• Rauch = Anzeichen von Feuer → wenn Rauch aufsteigt, dann ist irgendwo ein<br />

Feuer<br />

• dunkle Wolken = Anzeichen für bevorstehenden Regen → wenn dunkle Wolken<br />

zu sehen sind, steht Regen bevor<br />

• Aua! = Anzeichen für Schmerz<br />

3. Symbole<br />

Zeichen sind Symbole, wenn die Beziehung zwischen ihnen und dem, was sie ausdrücken,<br />

arbiträr oder konventionell ist. In den meisten Fällen sind also die Zeichen, mit welchen<br />

wir es in der Linguistik zu tun haben werden, symbolische Zeichen.


1.5.2 Symbole<br />

Das semiotische Dreieck<br />

Zeichen/<br />

Symbol<br />

Interpretant/ Gegenstand/<br />

Zeichenbenutzer Bezeichnetes<br />

Das sprachliche Zeichen nach Ferdinand de Saussures<br />

Jedes sprachliche Zeichen hat eine Bedeutung:<br />

Schrift-/Lautbild Bedeutung/Vorstellung<br />

Hund/[hunt]<br />

→ signifiant →signifié<br />

• Jedes sprachliche Zeichen hat 2 Seiten, wie eine Münze.<br />

• Es wird daher als bilaterales Zeichen bezeichnet.<br />

1. Seite: signifié = der Zeicheninhalt<br />

2. Seite: signifiant = die Zeichenform, der Zeichenausdruck<br />

Inhaltsseite<br />

Ausdrucksseite<br />

Bedeutung<br />

Schrift-/Lautbild<br />

Das Verhältnis zwischen signifié und signifiant<br />

• ist arbiträr<br />

signifié<br />

signifiant<br />

Bezeichnetes<br />

Bezeichnendes<br />

Semiotik 13<br />

Hund /[hunt]


14 <strong>Einleitung</strong><br />

• ist konventionell<br />

Arbitrarität<br />

= Willkürlichkeit<br />

der Inhalt des Zeichens (<br />

herleitbar, denn:<br />

Konventionalität<br />

) ist nicht durch die Zeichenform (Hund/[hunt])<br />

= dt. Hund engl. dog frz. chien ital. cane türk. köpek<br />

• auch wenn das Verhältnis zwischen der Bedeutung und dem Ausdruck willkürlich<br />

ist, muss der Ausdruck festgelegt werden<br />

• die Zuordnung eines Ausdrucks zu einem Inhalt muss stabil sein<br />

• damit alle Zeichenbenutzer unter demselben Ausdruck denselben Inhalt verstehen<br />

• die Festlegung ist somit eine gesellschaftliche Konvention<br />

Ausnahme<br />

Während das Verhältnis zwischen Ausdruck und Inhalt normalerweise arbiträr und<br />

somit zufällig ist, gibt es Zeichen bei denen der Ausdruck aufgrund des Inhalts entstanden<br />

ist:<br />

• Onomatopoetika: der Kuckuck heißt Kuckuck aufgrund seiner Laute<br />

• Zusammensetzungen: zusammengesetzte Wörter, wie Gurkensalat, sind aus der<br />

Bedeutung beider Einzelwörter erschließbar: Salat aus Gurken<br />

1.6 Kreativität<br />

Kreativität<br />

Mit einer endlichen Zahl von Wörtern kann man unendlich viele noch nie zuvor gehörte<br />

Sätze bilden<br />

(11) Mir ist heute morgen im Palmengarten ein blaues Nilpferd mit rosa Tupfen auf<br />

einem Fahrrad entgegengekommen.


Kreativität: Hinzufügen von Adjektiven<br />

(12) a. Das Nilpferd isst eine Banane.<br />

b. Das blaue Nilpferd isst eine Banane.<br />

c. Das kleine blaue Nilpferd isst eine Banane.<br />

d. Das kleine kleine blaue Nilpferd isst eine Banane.<br />

e. Das freundliche kleine kleine blaue Nilpferd isst eine Banane.<br />

Kreativität: Verknüpfung von Zeichen mit und<br />

(13) [Max geht ins Kino] und<br />

[Maria geht tanzen] und<br />

[Sophie schläft sich aus] und ...<br />

Kreativität: Objektsätze<br />

(14) [Max hat gesagt,<br />

[dass Sophie glaubt,<br />

[dass Maria gesagt hat,<br />

[dass Lisa denkt,<br />

[dass ihre Mutter vermutet,<br />

[dass ...]]]]]]<br />

Diskrete Unendlichkeit<br />

Systemcharakter 15<br />

• Man nennt die Eigenschaft, mit endlichen Mitteln eine unendliche Zahl unterschiedlicher<br />

sprachlicher Einheiten bilden zu können diskrete Unendlichkeit (discrete<br />

infinity)<br />

• Die Eigenschaft diskreteräUnendlichkeit unterscheidet menschliche Sprache von<br />

Tiersprachen und lässt Rückschlüsse auf die Natur unserer sprachlichen Fähigkeiten<br />

zu.<br />

1.7 Systemcharakter<br />

Regelarten<br />

Regeln müssen rekursiv sein<br />

Beispiel für die rekursive und-Regel<br />

(15) S ←� S und S


16 <strong>Einleitung</strong><br />

• Wird gelesen als: Eine Verknüpfung eines beliebigen Satzes mit einem beliebigen<br />

anderen Satz ergibt wieder einen Satz.<br />

• Da das Ergebnis der und-Verknüpfung zwei Sätze wieder ein Satz ist, kann die<br />

und-Verknüpfungsregel wieder auf diesen neue komplexe Satz angewandt werden<br />

usw.<br />

➞ Es gibt unendliche viele Sätze des Deutschen.<br />

• Wir können also nicht alle Sätze im Gehirn gespeichert haben. Das Gehirn ist<br />

endlich!<br />

• Idee: Wir verfügen über eine endliche Menge von Wörtern (mentales Lexikon)<br />

und eine Menge von Regeln und Prinzipien (die mentale Grammatik), die die<br />

Verknüpfung von Wörtern zu komplexen sprachlichen Ausdrücken (wie Sätzen)<br />

organisieren.<br />

Sprachsystem<br />

Sprachsystem = Grammatik + Lexikon<br />

• Die Systematik einer Sprache manifestiert sich auf verschiedenen Ebenen<br />

Ebene der Lautproduktion<br />

Lautfolgegesetze: Akzeptable Lautsequenzen<br />

• ng am Silbenende ist im Deutschen akzeptabel, am Silbenanfang hingegen nicht.<br />

• Regeln der Aussprache im Deutschen (Auslautverhärtung): Rad vs. Räder<br />

Ebene der Wortbildung<br />

• Sprecher des Deutschen sind in der Lage, Wörter zu produzieren und zu verstehen,<br />

die sie nie vorher gehört haben: dattlig, Hiwine, röntgen<br />

• Der Kreativität sind aber durch das Sprachsystem Grenzen gesetzt: Kindlein vs.<br />

*großlein<br />

Ebene des Satzbaus<br />

Sprecher des Deutschen sind in der Lage ungrammatische Sätze zu erkennen.<br />

(16) a. Ich werde dich um acht Uhr abholen.<br />

b. Werde ich dich um acht Uhr abholen.<br />

c. *Werde dich um ich acht Uhr abholen. * ¯ Abholen um ich acht werde Uhr<br />

dich.


Ungrammatikalität vs. Unakzeptabilität der Bedeutung<br />

(17) a. #Farblose grüne Ideen schlafen wütend.<br />

b. Zufriedene kleine Katzen schnurren leise.<br />

c. *Leise schnurren zufriedene Katzen kleine.<br />

Zum Inhalt der Vorlesung 17<br />

Bedeutungsebene<br />

Sprecher des Deutschen sind in der Lage, mehrdeutige Wörter/Sätze zu erkennen.<br />

(18) a. Fritz weiß, was Gabi vermutet.<br />

b. Ich mag Kuchen und Plätzchen mit Schokolade<br />

c. Rotweinglaskiste<br />

Sprecher des Deutschen sind in der Lage unterschiedliche Sätze/Ausdrücke mit gleicher<br />

Bedeutung zu erkennen.<br />

(19) a. Couch ↔ Sofa<br />

b. Peter wirft den Ball ↔ Der Ball wird von Peter geworfen<br />

1.8 Zum Inhalt der Vorlesung<br />

Kerndisziplinen der Sprachwissenschaft<br />

• Phonetik/Phonologie: Physische Eigenschaften von Lauten/Lautsystem<br />

• Morphologie: Bildung und Anpassung von Wörter<br />

• Syntax: Satzbau<br />

• Semantik: wörtliche Bedeutung<br />

• Pragmatik: Bedeutung in der Kommunikation<br />

1.8.1 Phonetik/Phonologie<br />

• Phonetik: befasst sich mit der Sprachproduktion, mit den materiellen Eigenschaften<br />

von Lauten<br />

• Phonologie: befasst sich mit den Funktionen von Lauten<br />

Einheit: Phonem<br />

kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit<br />

(20) [hunt] - [bunt]<br />

→ [h] und [b] geben den Wörtern unterschiedliche Bedeutungen


18 <strong>Einleitung</strong><br />

1.8.2 Morphologie<br />

• befasst sich mit dem Strukturaufbau von Wörtern<br />

Einheit: Morphem<br />

Kleinste bedeutungstragende Einheit. Ein einfaches sprachliches Zeichen, das nicht<br />

mehr in kleinere Einheiten mit bestimmter Lautung und Bedeutung zerlegt werden<br />

kann.<br />

(21) rot, ich , sing-, ver-, Stiefel<br />

2 Teilgebiete der Morphologie<br />

• Flexion: grammatische Information des Wortes wird durch Anfügen von Morphemen<br />

verändert; Konjugation oder Deklination von flektierbaren Wörtern<br />

• Wortbildung: durch Kombination von mindestens 2 Morphemen entstehen neue<br />

Wörter mit einer neuen Bedeutung<br />

(22) du geh-st, wir geh-en<br />

(23) Frau-en-krimi-preis, Schön-heit<br />

1.8.3 Syntax<br />

• befasst sich mit dem Strukturaufbau von Sätzen.<br />

• Regeln der Grammatik, die festlegen, wie Wörter zu Sätzen kombiniert werden<br />

können<br />

• Die Syntax beschäftigt sich zum Beispiel mit:<br />

Satzarten<br />

(24) a. Poldi spielt Fußball.<br />

b. Spielt Poldi Fußball?<br />

c. Was spielt Poldi?<br />

d. Poldi, spiel Fußball!<br />

Form/Struktur von Phrasen<br />

(25) NP<br />

Art<br />

Der<br />

AP<br />

N’<br />

Adj<br />

freundliche<br />

N<br />

Mann<br />

Funktionen von Phrasen = Satzglieder<br />

(26) Die Autorin signierte ihr Buch.


1.8.4 Semantik<br />

Zum Inhalt der Vorlesung 19<br />

• befasst sich mit der wörtlichen Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken<br />

• semantische Phänomene: Ambiguitäten, sem. Relationen wie Synonymie und<br />

Hyperonymie, Implikationen, Anomalien....<br />

Lexikalische Semantik<br />

Beschreibung der Bedeutung von einzelnen sprachlichen Zeichen wie Wörtern oder<br />

Wortbildungsmorphemen und deren Zusammensetzung.<br />

Satzsemantik<br />

Berechnung der Bedeutung von komplexen sprachlichen Zeichen wie Phrase und Sätzen<br />

aus der wörtlichen Bedeutung der Einzelteile.<br />

Ambiguitäten = Mehrdeutigkeiten<br />

• lexikalische: Maria hat viele Laster.<br />

• strukturelle: Sie erwürgte den Mann mit der Krawatte.<br />

Semantische Relationen<br />

• regelmäßige Relationen, die zwischen der Bedeutung verschiedener Ausdrücken<br />

bestehen.<br />

Synonymie = Bedeutungsgleichheit<br />

• Wortebene: Sofa und Couch<br />

• Satzebene: Piet liebt Maria und Maria wird von Piet geliebt<br />

Hyponymie<br />

• Ein Ausdruck ist ein Unterbegriff eines anderen: Tier – Hund, Blume – Tulpe, ...<br />

Antonymie<br />

• Gegenteilige Endpunkt auf einer Skala: heiß – kalt, groß – klein, ...<br />

Semantische Anomalien<br />

= Ein Satz ist aus semantischen Gründen defekt, da die Merkmale der Ausdrücke<br />

nicht zusammenpassen. #Peter aß den ganzen Tisch alleine auf. #Grüne Ideen<br />

schlafen wild.


20 <strong>Einleitung</strong><br />

1.8.5 Pragmatik<br />

Deixis<br />

• befasst sich mit der Sprachverwendung, der kontextabhängigen Bedeutung.<br />

• pragmatische Phänomene: Deixis, Implikaturen, Sprechakte, ...<br />

• Deiktische Ausdrücke erhalten ihre Bedeutung durch ihren Bezug auf den Äußerungskontext.<br />

Implikaturen<br />

Ich komme morgen dahin, um dich zu treffen.<br />

• Implikaturen sind pragmatische Bedeutungsaspekte, die im Kontext einer Äußerung<br />

“mitschwingen”, ohne dass sie geäußert werden.<br />

(27) A: Was hältst du eigentlich von Marias neuem Freund?<br />

B: Ich habe gerade einen Artikel über Implikaturen gelesen.<br />

+ > kein Kommentar/Ich will nicht darüber sprechen.<br />

• Implikaturen sind kontextabhängig:<br />

(28) A: Wie findest Du die Party?<br />

B: Einige Gäste sind schon gegangen.<br />

+ > Die Party ist langweilig.<br />

(29) A: Wo ist Peter?<br />

B: Einige Gäste sind schon gegangen.<br />

+ > Peter ist vielleicht schon gegangen.<br />

Sprechakte<br />

Sprechakte sind sprachliche Handlungen, die mittels einer Äußerung vollzogen werden.<br />

Explizite Sprechakte<br />

(30) a. Ich verspreche Dir, pünktlich zu kommen.<br />

b. Hiermit taufe ich das Schiff auf den Namen Peter Pan.<br />

c. Ich kündige hiermit meine Stelle.<br />

Indirekte Sprechakte<br />

(31) a. Der Mülleimer steht ja immer noch hier!<br />

b. Kann ich mal das Salz haben?<br />

c. Weißt Du, wie spät es ist?<br />

d. Wer findet das schon interessant?<br />

• Weitere pragmatische Phänome sind Ironie, Witze oder die Struktur und der<br />

Ablauf von Dialogen.


1.8.6 Weitere Teilgebiete<br />

• Textlinguistik: Ein Mann kam durch die Tür. Er sah ungepflegt aus.<br />

• Phraseologie: mit Kind und Kegel; Eulen nach Athen tragen<br />

• Onomastik: Kaufmann; Susi<br />

• Spracherwerb: keine trümpfe an!; anezieht; Pflasters<br />

• Sprachwandel: hôchgezîte<br />

• Soziolinguistik: Miàs ma uns dò a Taxi nemma oda kemma z’Fuas geh?<br />

• Kognitive Linguistik: Unser Stirbchen bäumt<br />

Zum Inhalt der Vorlesung 21<br />

• Kontrastive Linguistik: Gestern ging ich zur Schule. – Yesterday I went to school.<br />

• ...


<strong>Kapitel</strong> 2<br />

Phonetik und Phonologie<br />

• Gegenstand der Phonetik und der Phonologie sind menschliche Laute, denen<br />

eine kommunikative Funktion zukommt (≠ Röcheln, Niesen, Schnarchen...)<br />

2.1 Phonetik vs. Phonologie<br />

• Gegenstand der Phonetik sind die materiellen Eigenschaften von mündlichen<br />

Äußerungen.<br />

• Gegenstand der Phonologie sind die Funktionen von Lauteinheiten innerhalb<br />

eines Sprachsystems.<br />

• Um die verschiedenen Arten der Repräsentation auseinanderzuhalten, gibt es<br />

bestimmte Klammerkonventionen:<br />

Klammerkonventionen<br />

(1) a. [·] phonetische Wiedergabe [S]<br />

b. /·/ phonologische Wiedergabe /S/<br />

c. orthografische Wiedergabe , vor /<br />

• Dass Laute überhaupt isolierbar sind, ist keineswegs selbstverständlich: Kugel vs.<br />

Kind: Koartikulation von Ku (mit Lippenrundung) bzw. Ki (ohne Lippenrundung)<br />

• Hinter der gesprochenen Sprache verbirgt sich ein lautliches Kontinuum.<br />

• Dennoch gibt es Indizien für die Isolierbarkeit von Lauten:<br />

Minimalpaare<br />

(2) a. Hut vs. Mut<br />

b. Hut vs. Hit<br />

c. Hut vs. Huf


24 Phonetik und Phonologie<br />

2.2 Bereiche der Phonetik<br />

• Die akustische Phonetik untersucht die physikalischen Eigenschaften von Lauten<br />

während des Übertragungsprozesses.<br />

• Die auditive Phonetik befasst sich mit dem Empfang und Verstehen von Sprachlauten.<br />

• Die artikulatorische Phonetik befasst sich mit der Erzeugung von Sprachlauten<br />

durch menschliche Sprechorgane.<br />

Bereiche der Phonetik<br />

(3) artikulatorische akustische auditive<br />

Phonetik Phonetik Phonetik<br />

Sprecher �→ Schallsignal �→ Hörer<br />

2.3 Artikulatorische Phonetik<br />

Der Sprechvorgang (Artikulation) lässt sich in drei Phasen einteilen:<br />

1. Initiation<br />

2. Phonationsphase<br />

3. Artikulation i. e. S.<br />

Initiation<br />

• Zunächst wird zum Sprechen Atemluft benötigt, wobei die Lautproduktion in aller<br />

Regel während der Phase der Ausatmung (bei egressivem Luftstrom) erfolgt.<br />

• Beim Ausatmen gelangt die Luft aus den Lungen durch die Luftröhre in den<br />

Kehlkopf, an dem die Stimmbänder befestigt sind.


Phonationsphase<br />

Artikulatorische Phonetik 25<br />

• Die ausströmende Luft kann bei ihrer Passage durch den Kehlkopf mit Hilfe der<br />

Stimmbänder (Stimmlippen) in Schwingungen versetzt werden.<br />

• Diese Schwingungen sind als Stimmtöne auditiv wahrnehmbar.<br />

• Je nach Position der Stimmbänder werden unterschiedliche Laute produziert:


erfolgt in der Phonationsphase.<br />

3. Oberhalb des Kehlkopfs wird die ausströmende Luft im Rachen- und Mundraum<br />

durch verschiedene Bewegungen insbesondere der Zunge und der Lippen auf vielfältige<br />

Weise behindert. Diese Modulationen des Luftstroms sind als Tonkomplexe<br />

(= Klänge) und Geräusche wahrnehmbar. Diese Phase des Sprechvorgangs nennt<br />

man ›Artikulation im engeren Sinne‹. Als ›Artikulation im weiteren Sinne‹ bezeichnet<br />

man dagegen die gesamte Lautproduktion einschließlich der ersten beiden<br />

Phasen.<br />

26<br />

3.2.2.2<br />

Phonetik<br />

Phonation<br />

und Phonologie<br />

Bei ihrem Weg aus den Lungen durch die Luftröhre wird die ausgeatmete Luft im<br />

Kehlkopf – (der Durch Larynx) Öffnung in der unterschiedlicher Stimmbänder entstehen Weise modifiziert stimmloseund Laute zwar (z.B. durch die Kon- die<br />

Stimmbänder sonanten (Stimmlippen, [t] und [s] engl. in Tasse) ›vocal cords‹). Diese dienen als eine Art Ventil für<br />

den Luftstrom: Sie können verschlossen werden und die Passage durch die Larynx<br />

völlig blockieren, – Durch sie daskönnen Vibrieren geöffnet der Stimmbänder werden und entstehen die Luft ungehindert stimmhafteausströmen Laute (alle<br />

lassen, oder Vokale sie öffnen und manche und schließen Konsonanten sich mit wie hoher z.B. [b] Geschwindigkeit und [d] in baden) in regelmäßigen<br />

Abständen, d. h. sie schwingen. In (6) sind diese drei Grundpositionen bzw.<br />

-bewegungen der Stimmbänder schematisch dargestellt:<br />

(6) Positionen der Stimmbänder<br />

a. Verschluss b. Öffnung c. Schwingung<br />

Schildknorpel<br />

Stimmbänder<br />

Stellknorpel Glottis = Stimmritze<br />

In (6) ist die Position der Stimmbänder innerhalb des Kehlkopfs in einem Querschnitt<br />

– stark vereinfacht – dargestellt. Vorne im Kehlkopf befindet sich der Schildknorpel<br />

(Thyroid), der bei einigen männlichen Personen als Adamsapfel sichtbar ist.<br />

An diesem sind die beiden Stimmbänder befestigt. Im hinteren Bereich des Kehlkop-<br />

2.3.1 Vokale vs. Konsonanten<br />

Artikulation i. e. S.<br />

• Die eigentliche Lautartikulation spielt sich jedoch in erster Linie im Raum oberhalb<br />

des Kehlkopfs, dem supraglottalen Raum (= Mund-, Nasen- und Rachenraum)<br />

ab.<br />

• Die ausströmende Luft kann dort durch verschiedene Bewegungen insbesondere<br />

der Zunge und der Lippen auf vielfältige Weise behindert werden.<br />

• Diese Modulationen des Luftstroms sind als Tonkomplexe (=Klänge) und Geräusche<br />

wahrnehmbar.<br />

• Bei Vokalen kann die Luft oberhalb des Kehlkopfs ungehindert ausströmen.<br />

• Bei Konsonanten wird der Luftstrom an einer Stelle im Mund- oder Rachenraum<br />

verengt oder kurzfristig ganz blockiert.


2.3.2 Artikulationsarten<br />

• Konsonanten lassen sich nach drei Kriterien klassifizieren:<br />

Artikulatorische Phonetik 27


28 Phonetik und Phonologie<br />

Artikulationsart<br />

Art der Behinderung des Luftstroms<br />

Artikulationsort<br />

Ort, an dem der Luftstrom behindert wird<br />

Stimmbeteiligung<br />

Aktivität der Stimmbänder, Merkmal [±stimmhaft]<br />

Artikulationsarten<br />

Plosive (Verschlusslaute, Explosivlaute)<br />

Der Luftstrom wird völlig blockiert und dann durch plötzliche Öffnung wieder freigelassen.<br />

[p], [t]<br />

Frikative (Reibelaute, Spiranten)<br />

Zwei Sprechorgane werden so angenähert, dass der Luftstrom durch eine Verengung<br />

fließt, wobei ein Reibegeräusch entsteht. [f], [s]<br />

Nasale<br />

Entstehen (wie Plosive) durch Blockade und plötzliche Freilassung des Luftstroms an<br />

einer Stelle der Mundhöhle, während gleichzeitig die Luft frei durch die Nase entweicht.<br />

[m], [n]<br />

Laterale<br />

Sind unvollkommene Plosive. In der Mundmitte wird ein Verschluss gebildet, während<br />

an den Seiten Luft entweicht. Im Standarddeutschen nur [l].<br />

Vibranten<br />

Entstehung durch Vibration eines flexiblen Artikulationsorgans. [r]


2.3.3 Artikulationsorte und -organe<br />

2.3.4 Konsonanten<br />

• Konsonantenklassifikation im Deutschen:<br />

Artikulatorische Phonetik 29<br />

• Der Unterschied von stimmlosen und stimmhaften Konsonanten kann an folgenden<br />

Minimalpaaren veranschaulicht werden:<br />

stimmlos vs. stimmhaft<br />

(4) a. [p] – [b]: Gepäck – Gebäck<br />

b. [t] – [d]: Leiter – leider<br />

c. [k] – [g]: Karten – Garten<br />

d. [f] – [v]: Fall – Wall<br />

e. [s] – [z]: reißen – reisen<br />

• Neben den genannten Konsonantenklassen gibt es noch Affrikaten.


30 Phonetik und Phonologie<br />

78Affrikaten Phonologie<br />

Affrikaten sind Kombinationen aus einem Plosiv und einem Frikativ, die an ähnlichen<br />

Das Artikulationsorten Raster in Tabelle gebildet (10) ermöglicht werden, z.B. eine [pf] Grobklassifikation in Pfad oder [ts] inder sitzen. Konsonanten des<br />

Deutschen nach artikulatorischen Kriterien. [v] kann beispielweise artikulatorisch<br />

als Beispielwörter stimmhafter, labialer für die Konsonanten (genauer: labiodentaler) im Deutschen Frikativ charakterisiert werden (zu<br />

weiteren Möglichkeiten der Subklassifizierung mit Hilfe phonologischer Merkmale<br />

s. (5) Kap. 3.3.3). [p] Pokal [s] Pass [n] Netz<br />

[b] Ball [z] Samstag [�] lang<br />

Aufgabe [t] 1: Tor Beschreiben [S] Sie Schiedsrichter die artikulatorischen [l] LatteEigenschaften<br />

folgender Konsonanten:<br />

[/], [d] dribbeln [R], [S], [g], [Z] [z], Genie [l], [f], [N], [ts] [R] rein<br />

[k] Karte [ç] Licht [r] Zungenspitzen R<br />

2. Vokale: [g] Bei Gegner vokalischer [J] Artikulation Jubel erfolgt [x] keine Dachso<br />

starke Behinderung des Luftstroms<br />

im [f] Ansatzrohr, Flanke dass [h] ein Halle Geräusch entsteht. [P] Abwehr Die unterschiedlichen Vokalqualitäten<br />

kommen [v] Wechsel vielmehr [m] auf Mannschaft andere Weise zustande. Die an den Stimmbändern in<br />

Schwingungen versetzte Luft regt die im Rachen- und Mundraum befindliche Luftsäule<br />

zum Mitschwingen an. Diese Übertragung von Schwingungen wird als Resonanz<br />

2.3.5 bezeichnet. VokaleDurch<br />

die Bewegungen der Zunge und der Lippen werden oberhalb<br />

der Glottis • Vokale verschiedene sind immer Resonanzräume stimmhaft. geformt, die resultierenden Laute werden<br />

als unterschiedliche Vokalklänge wahrgenommen.<br />

•Vokale Bei Vokalen sind nach liegt folgenden keine starke artikulatorischen Behinderung des Parametern Luftstroms differenzierbar: vor. 1) Position<br />

der Zungenmasse (dorsum) und 2) Position der Lippen.<br />

• Die Luft kann also nahezu ungehindert ausströmen.<br />

Zu 1: Die Stellung des Dorsums kann in zwei Dimensionen bestimmt werden, in der<br />

vertikalen Vokale (Zungenhöhe) lassen sich nach und folgenden in der horizontalen Kriterien klassifizieren: Ausrichtung (Zungenlage). Letztere<br />

bezieht • Zungenhöhe: sich auf die hoch Position – mittel des – höchsten tief Punktes der Zunge im Mundraum.<br />

Zu 2:<br />

•<br />

Die<br />

Zungenlage:<br />

Lippen können<br />

vorn – zentral<br />

bei der<br />

–<br />

Vokalartikulation<br />

hinten<br />

eine neutrale bzw. – bei [i] –<br />

gespreizte Stellung einnehmen oder sie können vorgestülpt und gerundet sein. Nach<br />

diesem • Kriterium Lippenrundung: werden gerundet runde Vokale – ungerundet von nicht-runden unterschieden.<br />

Eine übliche Darstellungsform für die Vokalparameter ›Zungenhöhe‹ und ›Zun-<br />

• Quantität/Vokallänge: kurz – lang<br />

genlage‹ ist das sogenannte Vokaltrapez. In (11) ist ein solches Trapez mit den Vokalen<br />

des • Standarddeutschen sekundäre Artikulation: abgebildet: Monophthonge – Diphthonge<br />

(11) Die Vokale Vokale des Deutschen im Deutschen – das Vokaltrapez:<br />

ø<br />

I<br />

Y<br />

E<br />

œ<br />

´<br />

å<br />

A<br />

O<br />

Vordere Beispielwörter Vokale werden für die Vokale auch als imPalatalvokale Deutschen<br />

bezeichnet, weil die Zungenmasse bei<br />

ihrer Artikulation in Richtung des harten Gaumens angehoben wird; hintere Vokale<br />

nennt man Velarvokale, da die Hebung zum Velum hin erfolgt.<br />

U


80 Phonologie<br />

dass für die meisten Vokale mehrere Möglichkeiten der Wiedergabe Phonologie im Schriftsystem 31<br />

des Deutschen bestehen.<br />

(6)<br />

Aufgabe [i:] 2: Liebe, Ermitteln Igel, ihn, Sie anhand Vieh des [@] Korpus geheim, (13) Rose die Möglichkeiten der orthographischen<br />

[I] Wiedergabe List, Stimme von Lang- und [5] Kurzvokalen Winter,Tür im Deutschen.<br />

[y:] lügen, Bühne [a] man, Kanne<br />

Eine Sondergruppe [Y] Sünde, Hülle unter den vokalischen [A:] Dame,Zahl, Lauten bilden Aal die Diphthonge: Sie sind<br />

Kombinationen [e:] lesen, aus Mehl, zwei See Vokalen innerhalb [u:] Schule, einer Ruhm Silbe; während der Artikulation<br />

bewegen [E] sich Eltern, Zunge älter, und Stelle, Lippen Fälle aus [U] einer Hund, Vokalposition Hummer in eine andere. Im Deutschen<br />

sind [E:] drei schälen, Diphthonge Pfähle geläufig, [o:] 1) [aI8], Los, 2) Mohn, [aU8] und Moos3)<br />

[OI8] (zur Transkription s.<br />

[ø:] schön, Höhle [O] von, Gott<br />

Kap. 3.4.2.1):<br />

[œ] Köln, gönnen<br />

(14) Diphthonge des Deutschen<br />

Neben den genannten einfachen Vokalen gibt es noch die Diphthonge.<br />

[aI8]<br />

Diphthonge<br />

[aU8] [OI8]<br />

Diphthonge Reise sind Kombinationen aus zwei Haus Vokalen innerhalb einer Silbe; heutewährend<br />

der<br />

Artikulation bewegen Blei sich Zunge und Lippen Applaus aus einer Vokalpositionteuer in eine andere.<br />

Eis auch Häute<br />

Beispielwörter Mais für die Diphthonge im Deutschen Clown Säule<br />

[aI]<br />

[aU]<br />

Waise leise, weinen, Greis, Mais, Kaiser Kakao<br />

Tau, Haus, saufen, Kakao, Clown<br />

¡ei¿, ¡ai¿<br />

¡au¿, ¡ao¿, ¡ow¿<br />

ahoi<br />

Die Bewegung [OI] der läuten, Zunge Bäume, während scheu, der Leute, Artikulation ahoi ¡äu¿, ¡eu¿, dieser ¡oi¿ Diphthonge ist in Abbildung<br />

(15) Die veranschaulicht Bewegung der Zunge (nach während Pompino-Marschall der Artikulation dieser 1995, Diphthonge 218): (nach Pompino-<br />

(15)<br />

Marschall 1995: 218):<br />

Artikulation der Diphthonge<br />

aI aU<br />

OI<br />

Die Abbildung zeigt, dass die Ausgangsposition der Artikulation relativ genau fixierbar,<br />

der Endpunkt der Gleitbewegung der Zunge dagegen sehr variabel ist. Entsprechend<br />

2.4 finden Phonologie<br />

sich eine Reihe unterschiedlicher Transkriptionen für die Diphthonge<br />

in der Literatur (vgl. Ramers 1998, 36 f.).<br />

2.4.1 Auch die Phonem-Graphem-Korrespondenz<br />

tautosyllabischen (zu einer Silbe gehörenden) Kombinationen aus<br />

einem Vokal • Das und Verhältnis folgendem zwischen vokalisiertem den gesprochenen ›r‹ bilden Lauten Diphthonge und dendes Buchstaben, Deutschen, diez.<br />

B.<br />

in den Wörtern wir verwenden, ihr, er, für, um Stör, die Laute Uhr zuund verschriften, Ohr (zu nennt ihrer man Artikulation Phonem-Graphem- vgl. Kohler<br />

1999, 88). Korrespondenz (oder -verhältnis).<br />

Aufgabe • 3: Wie Transkribieren wir an vielen Beispielen Sie folgende gesehenSätze haben, im ist die IPA-System: Phonem-Graphem-Korrespondenz<br />

(a) Die Katze im Deutschen kippte den kein Milchtopf 1:1-Verhältnis.<br />

um und verschwand im Keller.<br />

(b) Der Ötzi schwang die Keule, bevor er im ewigen Eis erfror.<br />

(c) Die Mäuse fraßen Löcher in den Käse.<br />

(d) Goethe brach zu seiner italienischen Reise in den Süden auf.


32 Phonetik und Phonologie<br />

• Deshalb benutzen wir für die phonetische Wiedergabe Symbole des International<br />

Phonetic Alphabet (IPA).<br />

Das Graphem-Phonem-Verhältnis kann in zwei Richtungen von einem 1:1-Verhältnis<br />

abweichen:<br />

1. Ein Laut kann durch mehrere orthografische Zeichen wiedergegeben werden.<br />

2. Ein orthografisches Zeichen kann mehrere Laute symbolisieren.<br />

⎧⎪<br />

/k/ ⎨<br />

⎪⎩<br />

Kanal, kochen<br />

Lack, blicken<br />

Tag, sagt<br />

joggt, flaggt<br />

chic, Cuba<br />

Wachs, Christ<br />

quer, Äquator<br />

fix, Hexe<br />

⎧⎪<br />

⎨<br />

⎪⎩<br />

[x] Dach, Docht, Buche<br />

[ç] China, ich, echt, Lerche<br />

[k] Chor, Achse, Fuchs<br />

[S] Charme<br />

[tS] Chip<br />

• Darüber hinaus wird der Glottisverschlusslaut [P] im Deutschen überhaupt nicht<br />

verschriftet.<br />

2.4.2 Das Phonem<br />

• Für das System einer Sprache spielen nur eine beschränkte Anzahl von Lautäußerungen<br />

eine Rolle.<br />

Beispiele<br />

(7) a. Rakete [Raket@] vs. Rakete [raket@]<br />

b. Gasse [gas@] vs. Kasse [kas@]<br />

• Die verschiedenen r-Realisierungen verändern die sprachliche Information nicht,<br />

man kann sowohl [R] als auch [r] artikulieren, ohne dass sich die Bedeutung des<br />

Worts Rakete ändert.<br />

• Anders verhält es sich zwischen [k] und [g]: sie können zwischen zwei Wörtern<br />

mit verschiedener Bedeutung unterscheiden.<br />

• Wortpaare wie Gasse – Kasse nennt man Minimalpaare.<br />

Minimalpaare<br />

Wortpaare einer Sprache, die sich in der Artikulation nur an einer Stelle (in einem<br />

Laut) unterscheiden und dadurch unterschiedliche Bedeutung haben.


Beispiel für Minimalpaare<br />

(8) a. danken vs. tanken /d/ vs. /t/<br />

b. Rachen vs. Lachen /R/ vs. /l/<br />

c. Welle vs. Felle /v/ vs. /f/<br />

Phonologie 33<br />

• Mithilfe von Minimalpaaren findet man heraus, welche Laute im System einer<br />

Sprache verankert sind (Phoneminventar).<br />

• Die Einheiten, die im System einer Sprache zwei Wörter differenzieren können,<br />

nennt man Phoneme.<br />

Phonem (1. Definition)<br />

Ein Phonem bildet die kleinste bedeutungsdifferenzierende Einheit einer Sprache. (EGLI:<br />

81)<br />

Klassischer Phonembegriff (2. Definition)<br />

Ein Phonem ist ein (zu Lautfolgen kombinierbarer) Lauttyp, der im Sprachbewusstsein<br />

in relevanter (d.h. bedeutungs-unterscheidender) Opposition zu einem anderen Lauttyp<br />

steht, ohne selbst bedeutungstragend zu sein. (Welte 1974: 431)<br />

• In den Definitionen wird deutlich, dass Phoneme selbst nichts bedeuten.<br />

• An ihnen unterscheiden sich jedoch die bedeutungstragen- den Einheiten, die<br />

Wörter bzw. Morpheme.<br />

• Phoneme lassen sich durch Minimalpaare ermitteln.<br />

• Man schreibt Phoneme zwischen Schrägstrichen (z.B. /b/, /d/, /g/).<br />

Betrachten wir z. B. folgendes Minimalpaar: Rinde [rInd@] vs. Linde [lInd@].<br />

• [r] und [l] stehen in diesem Minimalpaar ” in Opposition zueinander“, sie ” kontrastieren“.<br />

• Rinde und Linde haben eine unterschiedliche Bedeutung.<br />

• Die betreffenden Einheiten enthalten offenbar Merkmale, die für den Bedeutungsunterschied<br />

verantwortlich sind.<br />

➞ Phoneme stellen Bündel distinktiver Merkmale dar.<br />

2.4.3 Phonem, Phon, Allophonie<br />

• Phoneme sind abstrakte funktionale Einheiten der Phonologie.<br />

• Phoneme werden auf der Äußerungsebene durch Phone realisiert.<br />

• Phone sind die konkret realisierten Lautäußerungen.


34 Phonetik und Phonologie<br />

• Phone werden in eckigen Klammern [·] geschrieben (im Gegensatz zu /·/ bei<br />

Phonemen).<br />

Phon<br />

Ein Phon ist die kleinste, durch das Verfahren der Segmentierung gewonnene, lautliche<br />

Einheit der gesprochenen Sprache, die noch nicht als Repräsentant eines bestimmten<br />

Phonems klassifiziert worden ist.<br />

• Bei Phonen und Phonemen handelt es sich um Einheiten unterschiedlicher Beschreibungsebenen.<br />

• Die Phonetik untersucht in erster Linie Phone.<br />

• Die Phonologie untersucht in erster Linie Phoneme.<br />

• Die unterschiedlichen Realisationen eines Phonems nennt man Allophone.<br />

Allophon<br />

Ein Allophon ist eine Realisierungsvariante eines Phonems.<br />

Beispiel für Allophonie<br />

(9) a. Rakete [Raket@] vs. Rakete [raket@]<br />

b. Phonem: /r/<br />

Allophone: [R] [r]<br />

Allophone eines Phonems können in unterschiedlichen Relationen zueinander stehen:<br />

1. in freier (bzw. regionaler) Variation<br />

2. in komplementärer Distribution<br />

Freie Variation<br />

Freie Variation liegt dann vor, wenn zwei Allophone im gleichen Lautkontext austauschbar<br />

sind, ohne dass sich die Bedeutung ändert.<br />

Es gibt zwei Arten freier Variation:<br />

1. Variation beim gleichen Sprecher (freie Variation i. e. S.)<br />

2. regional bedingte Variation


Phonologie 35<br />

• Freie Variation im engeren Sinne liegt z. B. bei Aspiration vs. Nicht-Aspiration<br />

vor.<br />

Freie Variation bei der Aspiration<br />

(10) a. [p] vs. [p h ], z. B. in schlapp<br />

b. [t] vs. [t h ] , z. B. in Mut<br />

c. [k] vs. [k h ], z. B. in Dreck<br />

• Ein Bedeutungsunterschied ist damit jedoch nicht verbunden.<br />

• Es handelt sich also um Allophone eines Phonems.<br />

• Regionale Variation liegt beispielsweise im Fall der verschiedenen r-Realisierungen<br />

vor.<br />

• Gerolltes [r] und Zäpfchen-[R] sind Allophone eines Phonems /r/.<br />

• Die Wahl einer Variante hängt von der regionalen Herkunft ab.<br />

• Gerolltes [r] wird u. a. von bayerischen und österreichischen Sprechern gesprochen.<br />

Komplementäre Distribution<br />

Komplementär distribuiert sind Allophone, wenn sie nie im gleichen Lautkontext vorkommen.<br />

• Der klassische Fall von komplementärer Distribution von Allophonen ist der<br />

ach-Laut [x] und ich-Laut [ç].<br />

• Das Phonem /x/ wird nach Hintervokalen als [x], in allen anderen Positionen<br />

(nach Konsonanten, Vordervokalen sowie im Morphemanlaut) als [ç] realisiert.<br />

Komplementäre Distribution von [x] und [ç]<br />

(11) a. [x] ach, noch, wach, Buch, Sache, Schacht, lochen<br />

b. [ç] ich, reich, Pech, flüchten, manche, Milch, Chemie, Häuschen<br />

• Man spricht jedoch nur dann von komplementären Allophonen, wenn sie phonetisch<br />

ähnlich sind.<br />

• So werden /h/ und /�/ nicht als komplementäre Varianten eines Phonems angesehen,<br />

weil sie phonetisch nicht ähnlich sind, obwohl sie komplementär distribuiert<br />

sind.


36 Phonetik und Phonologie<br />

2.4.4 Kontraste und Neutralisation<br />

• Die Phoneme /m/ und /n/ kontrastieren immer, d. h. in allen Positionen.<br />

Kontraste zwischen /n/ und /m/<br />

(12) a. [mus] vs. [nus]<br />

b. [kem@n] vs. [ken@n]<br />

c. [am] vs. [an]<br />

• Die Phoneme /b/ und /p/ kontrastieren im An- und Inlaut.<br />

• Sie konstrastieren jedoch nicht im Auslaut und vor stimmlosen Konsonanten.<br />

• Im Auslaut tritt Neutralisierung ein.<br />

• Im Deutschen werden die stimmhaften Obstruenten/b/, /d/, /g/, und /v/ im Auslaut<br />

stimmlos.<br />

• Dies nennt man Auslautverhärtung.<br />

Auslautverhärtung im Deutschen<br />

(13) Die-be [b] Dieb [p] Dieb-stahl [p]<br />

Kin-der [d] Kind [t] Kind-heit [t]<br />

Ber-ge [g] Berg [k] Berg-station [k]<br />

doo-fer [v] doof [f] Doof-mann [f]<br />

• Die Phoneme /z/ und /s/ kontrastieren im Inlaut nach gespannten Vokalen und<br />

Diphthongen.<br />

• Im Auslaut und vor stimmlosen Konsonanten tritt Neutralisierung ein.<br />

/s/ vs. /z/<br />

(14) a. Kontrast: reisen [raIz@n] vs. reißen [raIs@n]<br />

b. Neutralisierung: Grä-ser [z] vs. Gras [s] & Gras-halm [s]


alfall bildung. sollten [+sonorant] alle verwendeten sind Laute, Merkmale die spontan in stimmhaft allen drei sind. phonetischen Aufgrund Manifestations-<br />

des nicht<br />

bereichen verengten definierbar Stimmtraktes sein, und d. h. angenäherter 1) artikulatorisch, Stimmbänder 2) akustisch ist der supraglottale und 3) auditiv. Jakobson/Fant/Halle<br />

Luftdruck gegenüber (1951) dem und subglottalen Jakobson/Halle klein genug, (1956) um die geben Stimmbänder zumindest beim Definitionen<br />

Ausatmen artikulatorischer automatisch und zum akustischer Schwingen Art zu an, bringen später (vgl. begnügt Chomsky/Halle man sich in 1968, der phonologischen<br />

300–302). Praxis Stimmhafte meist mit Obstruenten rein artikulatorischen (wie [z], [d] etc.) Definitionen sind dagegen (so zwar z. B. stimm- teilweise in<br />

Chomsky/Halle haft, aber nicht 1968 spontan oder stimmhaft. Wurzel 1970). D. h., damit die Stimmbänder bei der supraglottalen<br />

Im Folgenden Behinderung werden des die Luftstroms einzelnen während für das der Deutsche Produktion relevanten dieser Laute Merkmale<br />

trotzdem schwingen, ist zusätzlicher artikulatorischer Aufwand, z. B. eine stär-<br />

eingeführt und definiert. Die sogenannten Oberklassenmerkmale Phonologie (engl. ›major 37 class<br />

kere Öffnung der Glottis, erforderlich. Dies bedeutet, Vokale und Sonoranten<br />

features‹) dienen der Differenzierung der Hauptklassen eines Lautsystems. In (28) ist<br />

sind im unmarkierten Fall [+stimmhaft], der unmarkierte Wert für Obstruenten<br />

eine 2.4.5 ist<br />

mögliche<br />

dagegen Phonologische [–stimmhaft].<br />

Klassifikation Merkmale In aller<br />

mit<br />

Regel<br />

Hilfe<br />

werden<br />

solcher<br />

Laute,<br />

Merkmale<br />

die [+sonorant]<br />

für das<br />

sind,<br />

Deutsche<br />

auch<br />

dargestellt<br />

stimmhaft (nach Kloeke realisiert. 1982, Diese 3 Kopplung und Ramers besteht 1998, jedoch 55): nicht zwangsläufig. Im Deut-<br />

(28) schen beispielsweise werden Vokale alle Laute, Sonoranten auch die Sonoranten Obstruenten und Vokale, Laryngale beim<br />

Flüstern<br />

konsonantisch<br />

stimmlos ausgesprochen.<br />

–<br />

In einigen<br />

+<br />

Sprachen kommen<br />

+<br />

stimmlose<br />

–<br />

Sonoranten<br />

sonorant<br />

auch als reguläre<br />

+<br />

Phoneme vor,<br />

+<br />

z. B. stimmlose<br />

–<br />

Nasale im Burmesi-<br />

–<br />

schen und ein stimmloser Lateral in der dravidischen Sprache Toda. Zu letzterem<br />

Fall führt Hall (2000, 21) das Minimalpaar [kal] Segmentale ›Perle‹ vs. [kal9] Phonologie ›studieren‹ 91 an<br />

(das diakritische Zeichen [ 9] kennzeichnet die Stimmlosigkeit von Lauten, die<br />

(35) unmarkierterweise Artikulationsstellen stimmhaft und Ortsmerkmale sind, also im von Deutschen Vokalen und Sonoranten).<br />

Labiale Dentale/ Postalveolare Palatale Velare Uvulare<br />

Zur Lautklasse der Laryngale gehören im Deutschen nur zwei Segmente, [h] und der<br />

Alveolare<br />

Glottisverschlusslaut [/]. Diese beiden Laute sind zum einen nicht spontan stimm-<br />

labial + – – – – –<br />

haft wie die Vokale und Sonoranten, sondern im unmarkierten Fall stimmlos. Zum<br />

koronal – + + – – –<br />

anderen findet bei ihrer Artikulation keine Behinderung des Luftstroms oberhalb der<br />

Glottis statt hinten wie bei den Konsonanten.<br />

– – – – + +<br />

Im hoch Folgenden werden – die drei – Subklassen + ›Obstruenten‹, + ›Sonoranten‹ + – und<br />

Die<br />

›Vokale‹<br />

Lautklasse<br />

näher beleuchtet.<br />

der Sonoranten<br />

Eine Möglichkeit<br />

ist in der Merkmalsmatrix<br />

zur Klassifikation<br />

(36)<br />

der<br />

erfasst;<br />

Obstruentenpho-<br />

die bei allen<br />

Sonoranten<br />

neme des Deutschen<br />

übereinstimmenden<br />

mit Hilfe distinktiver<br />

Werte [+konsonantisch]<br />

Merkmale ist in<br />

und<br />

(29)<br />

[+sonorant]<br />

abgebildet:<br />

sind weggelassen<br />

(29) Merkmalsmatrix (vgl. dazu Tab. für 28): die Obstruentenphoneme des Deutschen Segmentale Phonologie<br />

91<br />

(36) Merkmalsmatrix für die Sonorantenphoneme des Deutschen<br />

(35) Artikulationsstellen und<br />

p<br />

Ortsmerkmale<br />

b f v<br />

im<br />

t<br />

Deutschen<br />

d s z S Z J k g x<br />

(a) sth – + – m+ – + n – + – N + + l – + R –<br />

nasal kont Labiale – – + Dentale/<br />

+ + – Postalveolare – + + + Palatale + + + + Velare<br />

– – Uvulare – – +<br />

Alveolare<br />

kontinuierlich (b) lab + + + – + – – – – – – – – – – – – + –<br />

labial + – – – – –<br />

labial kor – – – + – + + – + + + – + – – – – – –<br />

koronal – + + – – –<br />

koronal hint – – – – – – – + – – – – – – + + + – +<br />

hinten – – – – + +<br />

hinten hoch – – – – – – – – – – + + + + – + + + +<br />

hoch – – + + + –<br />

Kürzel: hoch sth = stimmhaft, kont = kontinuierlich, – lab – = labial, kor + = koronal, – hint = hinten –<br />

Die Lautklasse der Sonoranten ist in der Merkmalsmatrix (36) erfasst; die bei allen<br />

In Sonoranten der Tabelle übereinstimmenden wird ein uvulares /R/ Werte zugrunde [+konsonantisch] gelegt. Bei Annahme und [+sonorant] eines vorderen sind weg- /r/<br />

wären gelassen die (vgl. entsprechenden dazu Tab. 28): Merkmalswerte [+koronal, –hinten]. Das Merkmal [+/–<br />

lateral] ist ganz weggelassen. Es ist im Deutschen aus folgender Merkmalskombina-<br />

(36) Merkmalsmatrix für die Sonorantenphoneme des Deutschen<br />

tion ableitbar: [+kons, +son, –nas, –kont] � [+lateral]. Daher bildet es ein redundantes<br />

und kein distinktives Merkmal m(vgl. dazu auch n Wiese 1996, N 23 lf.). R<br />

Im nasal ›Merkmalbaum‹ (37) ist die + Einteilung der + Konsonanten + in – Unterklassen –<br />

mit Hilfe<br />

kontinuierlich<br />

distinktiver Merkmale illustriert:<br />

– – – – +<br />

(37) Konsonantenklassen<br />

labial + – – – –<br />

koronal<br />

Konsonanten<br />

–<br />

[+kons]<br />

+ – + –<br />

hinten – – + – +<br />

hoch – – + – –<br />

Obstruenten [–son] Sonoranten [+son]<br />

In der Tabelle wird ein uvulares /R/ zugrunde gelegt. Bei Annahme eines vorderen /r/<br />

wären die entsprechenden Merkmalswerte [+koronal, –hinten]. Das Merkmal [+/–<br />

lateral] Frikative ist ganz weggelassen. Es Plosive ist im Deutschen aus Liquide folgender Merkmalskombina-<br />

Nasale<br />

tion ableitbar: [+kont] [+kons, +son, [–kont] –nas, –kont] � [+lateral]. [–nasal] Daher bildet es [+nasal] ein redundantes<br />

und kein distinktives Merkmal (vgl. dazu auch Wiese 1996, 23 f.).<br />

Im ›Merkmalbaum‹ (37) ist die Einteilung der Konsonanten in Unterklassen<br />

Laterale Vibranten<br />

mit Hilfe distinktiver Merkmale illustriert:<br />

[–kont] [+kont]<br />

(37) Konsonantenklassen<br />

Klassen wie in (37), die durch eine Menge gemeinsamer Merkmale charakterisierbar<br />

sind, werden als natürliche Klassen Konsonanten bezeichnet. [+kons]<br />

Eine mögliche Matrix der Merkmalsrepräsentation für die Vokalphoneme des<br />

Deutschen bildet (38):


hoch – – + – –<br />

In der Tabelle wird ein uvulares /R/ zugrunde gelegt. Bei Annahme eines vorderen /r/<br />

wären die entsprechenden Merkmalswerte [+koronal, –hinten]. Das Merkmal [+/–<br />

lateral] ist ganz weggelassen. Es ist im Deutschen aus folgender Merkmalskombination<br />

ableitbar: [+kons, +son, –nas, –kont] � [+lateral]. Daher bildet es ein redundantes<br />

und kein distinktives Merkmal (vgl. dazu auch Wiese 1996, 23 f.).<br />

Im ›Merkmalbaum‹ (37) ist die Einteilung der Konsonanten in Unterklassen<br />

38 Phonetik und Phonologie<br />

mit Hilfe distinktiver Merkmale illustriert:<br />

(37) Konsonantenklassen<br />

Konsonanten [+kons]<br />

Obstruenten [–son] Sonoranten [+son]<br />

Frikative Plosive Liquide Nasale<br />

[+kont] [–kont] [–nasal] [+nasal]<br />

Laterale Vibranten<br />

[–kont] [+kont]<br />

Klassen wie in (37), die durch eine Menge gemeinsamer Merkmale charakterisierbar<br />

sind, werden als natürliche Klassen bezeichnet.<br />

2.4.6 Phonologische Regeln und Prozesse<br />

Eine mögliche Matrix der Merkmalsrepräsentation für die Vokalphoneme des<br />

Deutschen bildet (38):<br />

Format für phonologische Regeln<br />

(15) Input → Output / Kontext Kontext<br />

Kontexte<br />

(16) a. Wortanfang: #<br />

b. Wortende #<br />

c. Silbenende: $<br />

d. Silbenanfang: $<br />

e. vor Vokal: V<br />

f. nach Vokal: V<br />

g. vor Konsonant: C<br />

h. nach Konsonant: C<br />

Phonologische Regel für die Auslautverhärtung<br />

(17) [−son, +kons, +sth] → [−son, +kons, −sth] / $<br />

Generelles Format<br />

(18) Input: /Phonologische Repräsentation/ →<br />

Output/Input: /Phonologische Repräsentation/Ê→<br />

Output/Input: /Phonologische Repräsentation/ →<br />

......


Output/Input: /Phonologische Repräsentation/ →<br />

Output/Input: /Phonologische Repräsentation/ →<br />

Output: [phonetische Repräsentation]<br />

Phonologie 39<br />

• Die Anwendung einer Reihe von phonologischen Regeln ist u.U. geordnet!<br />

Typen von Phonologische Regeln<br />

• Epenthese (Hinzufügung in der Silbe)<br />

• Prothese (Hinzufügung am Silbenanfang)<br />

• Elision (Tilgung)<br />

• Assimilation/Dissimilation (Veränderung)<br />

• Metathese (Umstellung)<br />

Prothese<br />

Hinzufügung eines Segmentes am Silbenanfang<br />

Glottalisierung am Silbenanfang im Deutschen vor einem betonten Vokal<br />

(19) a. /ab/ wird zu [Pap]<br />

b. ∅ → P/$ V<br />

Assimilation<br />

Angleichung eines vorhergehenden oder folgenden Segmentes bezüglich der Artikulationsstelle.<br />

Progressive Assimilation<br />

nachfolgendes Segment wird beeinflusst.<br />

Regressive Assimilation<br />

vorhergehendes Segment wird beeinflusst


40 Phonetik und Phonologie<br />

Beispiel Nasalassimilation<br />

Koronale Nasale gleichen sich an den nachfolgenden oder vorhergehenden Dorsal an.<br />

Regel (für die regressive Ass.)<br />

(20) a. /ank5/ wird zu [a�k5]<br />

b. [+nas,+kor] → [+nas,+dor]/ [-son, -kont, -kor, +dor]<br />

Elision<br />

Tilgung eines Segmentes oder Merkmals innerhalb einer Silbe.<br />

Beispiel: Tilgung von dorsalen Segmenten<br />

(21) a. /lang/ (wird zu /la�g/ (Assimilation)) wird zu [la�] (Ellision)<br />

b. [-kont,+dor,+sth] → ∅/ [+nas,+dor]<br />

c. lang, Mangel, Hengst, hängt, Ingmar, Anhänger<br />

d. Aber: Ungar, Ingoldstadt<br />

Beispiel: AuslautverhärtungTilgung des Merkmals [+stimmhaft]<br />

(22) a. [−son, +kons, +sth] → [−son, +kons, −sth] / $<br />

b. /loz/ wird zu [los] (das Los)<br />

Epenthese<br />

Hinzufügung eines Segmentes/Merkmals innerhalb einer Silbe.<br />

Beispiel: Plosiv-Epenthese zwischen Nasal und Frikativ/Plosiv.<br />

(23) a. /tSOmski/ wird zu [tSOmpski]<br />

b. ∅ → [-son, +kons, -kont, αdor, βkor, γlab] /<br />

[+nas, αdor, βkor, γlab] [-son, +kor, -sth]<br />

c. kommt, rennst, singt, fünf, Senf


Metathese<br />

Vertauschung von Segmenten<br />

(24) a. Rolando – Orlando<br />

b. Kirsche – Chriesi<br />

c. Brunnern – Born<br />

Nichtlineare Phonologie 41<br />

• Auch Versprecher basieren auf Vertauschung von Segmenten: Zaum und Reit<br />

Regelordnung: Nasalassimilation/g-Tilgung/Auslautverhärtung<br />

Korrekt<br />

(25) /ding/<br />

→ /di�g/ (Nasalassimilation)<br />

→ [di�] (g-Tilgung)<br />

(Auslautverhärtung kann nicht mehr angewendet werden)<br />

Nicht korrekt<br />

(26) /ding/<br />

→ /di�g/ (Nasalassimilation)<br />

→ /di�k/ (Auslautverhärtung)<br />

(g-Tilgung kann nicht mehr angewendet werden)<br />

2.5 Nichtlineare Phonologie<br />

• Die segmentale oder lineare Phonologie behandelt Phoneme als Segmente einer<br />

Lautkette, die linear angeordnet sind.<br />

• Die nichtlineare Phonologie beschäftigt sich mit Aspekten, die sich über die Grenzen<br />

des einzelnen Segments hinaus auf größere Domänen wie Silbe und Wort<br />

erstrecken.<br />

• Es handelt sich dabei um eine Reihe von Lautphänomenen, die gewissermaßen<br />

unabhängig sind von einzelnen Segmenten.<br />

• So können diese Phänomene ohne zugeordnetes Segment vorkommen, oder der<br />

betroffene Bereich ist kleiner oder größer als ein Segment.


42 Phonetik und Phonologie<br />

2.5.1 Die Silbe<br />

• Inwiefern ist die Silbe ein phonologischer Begriff?<br />

• Zwei Argumente sollen dies veranschaulichen:<br />

1. Identische Phonemfolgen können verschieden syllabifiziert (= in Silben unterteilt)<br />

sein und haben dann unterschiedliche Bedeutung.<br />

Beispiele aus dem Englischen<br />

(27) a. /naItreIt/ /naIt|reIt/ ‘night rate’ (Nachttarif)<br />

/naI|treIt/ ‘nitrate’ (Nitrat)<br />

b. /laItni�/ /laIt|ni�/ ‘lightning’ (Blitz)<br />

/laIt|n|i�/ ‘lightening (Erleuchtung)<br />

2. Viele phonologische Prozesse können nur sinnvoll erklärt werden, wenn man eine<br />

Silbenstruktur annimmt.<br />

• So lässt sich bei der sog. Auslautverhärtung beispielsweise beobachten, dass die<br />

Entstimmung von Obstruenten (= Plosive und Frikative) nicht nur am Wortende,<br />

sondern auch vor Silbengrenzen vorkommt<br />

Auslautverhärtung an Silbengrenzen<br />

(28) a. Ebene [e:|b@n@] vs.ebnen [e:p|n@n]<br />

b. edel [e:|d@l] vs. edle [e:t|l@]<br />

• Der entstimmte Obstruent steht jeweils am Ende der Silbe steht.<br />

• Man kann daher annehmen, dass die Regel für die Auslautverhärtung auf die<br />

Beschreibungsgröße Silbe Bezug nimmt.<br />

Regel für die Auslautverhärtung im Deutschen<br />

(29) [+obstruent] �→ [−stimmhaft] / $<br />

• Diese Regel liest sich wie folgt:<br />

– Wenn etwas ein Obstruent ist,<br />

– dann wird es stimmlos,<br />

– wenn es vor einer Silbengrenze steht.<br />

• Man nimmt an, dass auch Silben eine Struktur haben.


Silbenstruktur<br />

– Eine Silbe gliedert sich in den Kopf (Onset) und den Reim.<br />

Nichtlineare Phonologie 43<br />

– Der Reim wird darüber hinaus in den Nukleus und die Koda unterteilt.<br />

(30) Silbe<br />

Kopf (Onset) Reim<br />

Nukleus Koda<br />

a. ab ∅ a b<br />

b. sah s A: ∅<br />

c. trost tr o: st<br />

d. strumpfs Str U mp f s<br />

• Silbenkopf (Onset), Nukleus und Reim (Nukleus+Koda) spielen auch für die<br />

Literaturwissenschaft eine Rolle.<br />

• Die Begriffe Reim, Assonanz und Stabreim z. B. nehmen auf diese Größen Bezug.<br />

(reiner) Reim<br />

Der (reine) Reim ist die Übereinstimmung der Reime (im phonologischen Sinne) der<br />

letzten betonten Silbe (und evtl. folgender unbetonter Silben).<br />

Beispiele für Reime (R. M. Rilke: Ich fürchte mich so...)<br />

(31) Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.<br />

Sie sprechen alles so deutlich aus:<br />

Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,<br />

und hier ist der Beginn und das Ende ist dort.<br />

Assonanz<br />

Bei der Assonanz genügt die Übereinstimmung der Nuklei.


108 Phonologie<br />

In der Regel bilden Vokale den Silbengipfel und Konsonanten nicht, aber es<br />

existieren Ausnahmen in zwei Richtungen:<br />

1. Kommen zwei Vokale in einer Silbe vor (Diphthonge), so bildet nur einer den<br />

Silbengipfel und der andere ist unsilbisch. In (78) sind die entsprechenden CV-Strukturen<br />

für die Diphthonge [aI8], [aU8] und [OI8] (in heiß, Haus, Heuss) dargestellt:<br />

44 Phonetik und Phonologie<br />

(78) a. C V C C b. C V C C c. C V C C<br />

Beispiele für Assonanzen<br />

(32) h Grab a I– Pfad, s Hof – Lob, schenken h – awenden U s h O I s<br />

Die Vokale [a] und [O] sind offener als [I] und [U]; deshalb bilden sie jeweils den<br />

Silbengipfel. StabreimDie<br />

letzteren beiden Segmente werden daher, obwohl sie Vokale sind,<br />

mit einer Stabreime C-Position stimmen assoziiert. im Silbenkopf Sie besitzen überein. quasi schwächere Vokaleigenschaften als<br />

die vorangehenden offenen Vokale, weil sie über weniger Schallfülle verfügen. In der<br />

Transkription Beispiele Stabreime wird der unsilbische Status dieser Vokale übrigens durch das diakritische<br />

Zeichen [ 8] unter dem Vokal markiert.<br />

(33) a. Seine sieben Sachen<br />

2. ›V‹ ist in folgendem b. Und dieses Fall heißt nicht Hund mit und einem jenesvokalischen heißt Haus Segment assoziiert: Fehlt in<br />

einer Silbe ein Vokal, so bildet ein sonoranter Konsonant den Silbengipfel. Dies ist<br />

im Deutschen • Sprachen immer unterscheiden dann der Fall, sich darin, wenn was Schwa für mögliche vor einem Silbenstrukturen Sonoranten sieausfällt, zulassen. z. B.<br />

in den Reduktionsketten in Beispiel (50). Für die jeweils zweiten Silben der Wörter<br />

Leben und Segel ergeben sich bei einer Realisierung ohne Schwa (also: [le:bn`] und<br />

Silbenstruktur des Deutschen<br />

[ze:gl`]) die CV-Strukturen in (79):<br />

(34) a. Im Kopf der Silbe können null bis drei Konsonanten stehen.<br />

(79) a. � b. �<br />

b. Im Nukleus steht typischerweise ein Vokal.<br />

c. In der Koda stehen wiederum Konsonanten.<br />

C V C V<br />

• ad (34a): vgl. Strumpfs [StrUmp f s]<br />

b n g l<br />

• ad (34b): Nasale oder Liquida sind auch möglich, z.B. in Ekel [e:|kl ]), leben [le:|bn ]<br />

" "<br />

Da diese Silben keinen Vokal enthalten, bilden die Sonoranten den Silbengipfel. Die<br />

Affinität 2.5.2eines Sonoritätshierarchie<br />

Segments zur Bildung des Silbengipfels hängt offensichtlich von zwei<br />

Faktoren ab: (a) vom Lautkontext innerhalb der Silbe (vgl. 78 und 79) und (b) vom<br />

inhärenten Öffnungsgrad des Segments. Nach dem Grad ihrer Affinität zur Silbengipfelposition<br />

Lautfolge innerhalb können Segmente der Silbe in einer Sprache anhand einer Skala geordnet werden,<br />

der Sonoritätsskala (Sonoritätshierarchie).<br />

• Eine Silbe verläuft von einer Verschlussphase mit minimaler Schallintensität über<br />

den Silbengipfel mit maximaler Schallintensität und minimalem Verschluss zu<br />

3.4.2.2 Die Sonoritätshierarchie<br />

einem Verschluss mit minimaler Schallintensität.<br />

›Sonorität‹ kann zunächst grob als das Bündel der phonetischen Eigenschaften ›Öffnungsgrad‹,<br />

• Zum ›Intensität‹ Silbengipfel und hin›Lautstärke‹ stehen also Laute, eines dieSegmentes vokalhafter sind charakterisiert (sonore Laute), werden. während Wie<br />

das Schema die(77) Silbenränder zeigt, bildet eher von die konsonatitischeren Silbe insgesamt Lauten eine Phase (weniger steigender sonoren) Lauten und wieder<br />

abfallender gebildet Sonorität. werden Die ($ = Abbildung Silbengrenze): (80) zeigt das typische Sonoritätsprofil einer<br />

Silbe (nach Lenerz 1985, 19) ($ = Silbengrenze):<br />

(80) Sonoritätsprofil der Silbe<br />

Sonorität<br />

$ Silbengipfel $


Silbengipfel jedes Segment sonorer ist als das vorangehende, und vom Gipfel an jedes<br />

Segment weniger sonor als das vorangehende. Selkirk (1984, 116) erfasst diese phonotaktische<br />

Gesetzmäßigkeit in der ›Sonority Sequencing Generalization (SSG)‹ in (81):<br />

(81) In any syllable, there is a segment constituting a sonority peak that is preceded and/or<br />

followed by a sequence of segments with progressively decreasing sonority values. [In<br />

jeder Silbe bildet ein Segment den Sonoritätsgipfel, dem eine Sequenz von Segmenten<br />

mit progressiv fallenden Sonoritätswerten vorangeht oder folgt; H.R.]<br />

Segmente in einer Sprache können aufgrund ihres Sonoritätsgrades Nichtlineare Phonologie (›sonority 45value‹)<br />

auf einer Skala angeordnet werden (diese Erkenntnis geht übrigens auf die Arbeiten<br />

des Phonetikers Eduard Sievers zurück; vgl. Sievers 1901). Aufgrund einer solchen<br />

Skala Sonoritäthierarchie<br />

und der SSG in (81) sind dann die möglichen und nicht-möglichen Segmentabfolgen<br />

Die innerhalb Laute einerder Sprache Silbe können voraussagbar. aufgrundFür ihresdas Sonoritätsgrades Deutsche schlägt auf einer Wiese Skala(1988, ange- 91)<br />

die Skala ordnetin werden. (82) vor:<br />

(82) Sonoritätsskala<br />

zunehmende Sonorität<br />

Plosive Frikative Nasale /l/ /r/ hohe Vokale Vokale<br />

Diese Skala kann die Phonotaktik innerhalb der Silbe im Deutschen relativ genau<br />

prognostizieren. Zusammen mit So dem sind Sonoritätsverlauf die monosyllabischen kann dieses Wörter Sonoritätshierarchie in (83a) wohlgeformt, Vorhersagen weil sie<br />

der Sonoritätshierarchie<br />

über mögliche und nicht-mögliche<br />

in (82) und<br />

Lautabfolgen<br />

der Bedingung<br />

innerhalb<br />

(81)<br />

einer<br />

entsprechen,<br />

Silbe machen.<br />

die in (83b)<br />

dagegen Mögliche sind vs. nicht nicht-mögliche wohlgeformt: Silben<br />

(83) (35) a. Klaus a. [klaU8s], Knast, Klaus, Preis [pRaI8s], Preis, Kerl, Kerl Halm, [kERl], Kraft Halm [halm], Kraft [kRaft]<br />

b. *Lkaus, b. *Nksat, *Rpeis, *Lkaus, *Kelr, *Rpeis, *Haml, *Kelr, *Kratf *Haml, *Kratf<br />

Sonoritätsskalen wie (82) sind in ihren Grundzügen nicht einzelsprachspezifisch, sondern<br />

2.5.3 universal, Akzent da das Konzept ›Sonorität‹ – wie bereits erläutert – phonetisch fundiert<br />

ist. Die einzelnen Sprachen machen allerdings in ihren phonotaktischen Regeln einen<br />

unterschiedlichen • Mit dem Akzent Gebrauch ist die von Betonung der universalen einer SilbeSonoritätshierarchie. gemeint.<br />

Außerdem bildet<br />

diese • Hierarchie Im Allgemeinen in zweierlei sind SilbenHinsicht entweder betont nur ein oder grobes unbetont, Erklärungsmuster oder halbbetont. für die<br />

Phonotaktik der Silbe: a) Bestimmte Segmentfolgen sind phonotaktisch zugelassen,<br />

obwohl<br />

Akzente<br />

sie dem Sonoritätsprofil nicht entsprechen. b) Bestimmte Sequenzen sind phonotaktisch<br />

nicht wohlgeformt, obwohl sie der Sonoritätshierarchie entsprechen.<br />

1 2 (36) Zunächst a. Ball zum spiel ersten Fall: Folgen von Segmenten mit gleichem Sonoritätsgrad<br />

1 3 2<br />

sind z. T. zugelassen. b. Kar tenDies spielbetrifft<br />

u. a. Sequenzen zweier Plosive, deren zweiter Be-<br />

1 3 2 4<br />

standteil /t/ c. ist (vgl. Kar ten (84)): spie len<br />

(84) Abt [pt], kippt [pt], Magd [kt], Takt [kt]<br />

• In (25) ist die Akzentstärke jeweils mit einem Index vor der Silbe markiert.<br />

Außerdem sind im Deutschen Sequenzen aus stimmlosen Frikativen und Plosiven am<br />

• Dabei bezeichnet 1 den stärksten Akzent und die folgenden Zahlen schwächere<br />

Silbenanfang (vgl. 85a) und die umgekehrten Sequenzen am Silbenende möglich (vgl.<br />

Akzente.<br />

85b), obwohl Frikative sonorer sind als Plosive:<br />

• Wenn man einfach vom Akzent“ eines Wortes spricht, meint man damit meist<br />

”<br />

die Silbe mit dem stärksten Akzent.<br />

• Phonetisch wird der Akzent meist durch die Höhe des Stimmtons realisiert, aber<br />

auch die Höhe der akustischen Energie spielt eine Rolle.<br />

• Im Gegensatz zu Sprachen, in denen der Akzent genau vorausgesagt werden kann<br />

(im Französischen stets auf der letzten Silbe, im Tschechischen stets auf der ersten<br />

Silbe des Wortes), ist der Akzent im Deutschen im wesentlichen frei, d.h. Wörter<br />

tragen spezifische Akzentmuster, und der Akzent wird als distinktives Merkmal<br />

eingesetzt:<br />

l


46 Phonetik und Phonologie<br />

Akzent als distinktives Merkmal<br />

(37) a. umfáhren – úmfahren<br />

b. übersétzen – űbersetzen<br />

c. Vollzúg – Vóllzug<br />

• Die Untersuchung des Akzents und der relativen lautlichen Gewichtung von<br />

Äußerungsteilen sind Gegenstand der metrischen Phonologie.<br />

• Man stellt diese Gewichtung mithilfe von Baumstrukturen dar, wobei meist binäre<br />

Verzweigungen angenommen werden.<br />

• Von zwei Schwesterknoten muss immer einer stark (strong, s) und einer schwach<br />

(weak, W) sein:<br />

Akzentstrukturen<br />

(38) a.<br />

S W<br />

b. W S<br />

c.<br />

d.<br />

*S S<br />

*W W<br />

• Betrachten wir nun den Akzent deutscher Nominalkomposita, die aus drei Gliedern<br />

bestehen.<br />

• Wie wir wissen, haben diese eine innere Struktur, z. B.:<br />

Struktur mehrgliedriger N+N-Komposita<br />

(39) a. Bundes+[kriminalamt] – *Bundeskriminal+[amt]<br />

b. Straßenbahn+[depot] – *Straßen+[bahndepot]<br />

• Zugleich ist auch klar, wie akzentuiert werden muss:<br />

Akzentuierung mehrgliedriger N+N-Komposita<br />

(40) a. Bundeskriminálamt<br />

b. Stráßenbahndepot<br />

• Versucht man, mithilfe der stark-schwach-Kennzeichnung diese Akzentuierung<br />

zu erfassen, gelangt man zu den folgenden Strukturdiagrammen:<br />

Silbenstrukturen für (28)


(41) a.<br />

W<br />

Bundes<br />

S<br />

kriminal<br />

S<br />

W<br />

amt<br />

b.<br />

S<br />

Straßen<br />

S<br />

Nichtlineare Phonologie 47<br />

W<br />

bahn<br />

W<br />

depot<br />

• Um eine Regel zu formulieren, ersetzen wir in diesen Strukturen die Wortbestandteile<br />

durch Großbuchstaben:<br />

linksverzweigend vs. rechtsverzweigend<br />

(42) a. A C<br />

D B<br />

b. A<br />

B C<br />

D<br />

• Aufgrund der Ausgangsbeispiele kann man die folgende Hypothese formulieren:<br />

Kompositaakzent<br />

In einer Kompositumstruktur A+B ist die Komponente B dann und nur dann stark, wenn<br />

B verzweigt.<br />

• Durch den Akzent besteht auch die Möglichkeit der Disambiguierung von Komposita:<br />

Disambiguierung durch Akzent<br />

(43) Kindergartenfest<br />

a.<br />

S<br />

S<br />

Kinder<br />

W<br />

garten<br />

W<br />

fest<br />

b.<br />

W<br />

Kinder<br />

a. = Kíndergartenfest ❀ ‘Fest des Kindergartens’<br />

b. = Kindergártenfest ❀ ‘Gartenfest für Kinder’<br />

S<br />

garten<br />

S<br />

W<br />

fest


<strong>Kapitel</strong> 3<br />

Morphologie<br />

3.1 Wort und Wortform<br />

• Wörter kommen meist als Baueinheiten von Sätzen vor.<br />

• Dabei kann man zwischen einem Wort und einer Wortform unterscheiden.<br />

Wort vs. Wortform<br />

(1) a. Deine neuen Schuhe gefallen mir gar nicht.<br />

b. Dein linker Schuh sitzt besser als der rechte.<br />

c. Die Schnürsenkel des rechten Schuhs sind locker.<br />

➞ Die gleiche Lexikoneinheit Schuh, aber unterschiedliche Wortformen.<br />

• Eine Wortform wie Schuh+e ist komplex.<br />

• -e ist ein Flexionelement.<br />

• Die Bildung von Wortformen eines Wortes nennt man Flexion.<br />

• Die Menge der Wortformen eines Wortes nennt man Flexionsparadigma.<br />

• Das Flexionsparadigma eines Nomens umfasst z. B. acht Flexionsformen:<br />

Flexionsparadigma von Tisch<br />

(2)<br />

Nominativ Genitiv Dativ Akkusativ<br />

Singular Tisch Tisch-es Tisch(+e) Tisch<br />

Plural Tisch-e Tisch-e Tisch-en Tisch-e


50 Morphologie<br />

➞ Nicht jede Wortform muss durch ein Flexionselement gekennzeichnet werden.<br />

• Wortformen unterscheiden sich in ihren Flexionsmerkmalen oder grammatischen<br />

Merkmalen.<br />

• Diese kann man zu Merkmalklassen zusammenfassen:<br />

Merkmalklassen und Merkmale<br />

(3) Merkmalklasse Merkmale<br />

Numerus Singular, Plural<br />

Genus Maskulinum, Femininum, Neutrum<br />

Person 1. Person, 2. Person, 3. Person<br />

Kasus Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ<br />

Tempus Präsens, Perfekt, Präteritum,<br />

Plusquamperfekt, Futur I, Futur II<br />

Modus Indikativ, Imperativ, Konjunktiv I, Konjunktiv II<br />

Genus verbi Aktiv, Passiv<br />

Nicht alle Wortarten sind von der Flexion betroffen:<br />

• Konjunktionen (und, aber)<br />

• Präpositionen (auf, zwischen)<br />

• Gradpartikeln (sogar, nur)<br />

• Modalpartikeln (halt, schon)<br />

• Adverbien (sehr, hoffentlich)<br />

• Interjektionen (au, pst)<br />

Betroffen von der Flexion sind:<br />

• Nomen (Haus, Tisch)<br />

• Pronomen (sie, ich)<br />

• Artikel (der, ein)<br />

• Verben (studieren, denken)<br />

• Adjektiv (groß, rot)<br />

• Nicht jede Merkmalklasse trifft auf jede Wotart zu:<br />

Wortarten und Merkmalklassen


Morphologische Grundbegriffe 51<br />

(4) Wortart Merkmaleklassen<br />

Nomen, Artikel, Pronomen Kasus, Numerus, Genus<br />

Adjektiv Kasus, Numerus, Genus, Komparation<br />

Verb Person, Numerus, Modus,<br />

Tempus, Genus verbi<br />

• Die Flexion muss man von der Wortbildung unterscheiden.<br />

• Wenn man in der Wortbildung von komplexen Wörtern redet, meint man immer<br />

komplexe Wörter in ihrer Nennform.<br />

• Sowohl Wortbildungstheorie als auch die Flexionstheorie befassen sich mit der<br />

Struktur von Wörtern.<br />

• Die Theorie über den Strukturaufbau von Wörtern heißt Morphologie.<br />

Morphologie<br />

(5) Morphologie<br />

Flexion Wortbildung<br />

3.2 Morphologische Grundbegriffe<br />

• Der wichtigste morphologische Grundbegriff ist der des Morphems:<br />

Morphem<br />

Kleinste bedeutungstragende Einheit. Ein einfaches sprachliches Zeichen, das nicht<br />

mehr in kleinere Einheiten mit bestimmter Lautung und Bedeutung zerlegt werden<br />

kann.<br />

Beispiele für Morpheme<br />

(6) Haus, rot, auf, neben, -er, -lich, -ung, be-, ver-, um-<br />

Morpheme vs. Silben<br />

• Morphem ≠ Silbe<br />

(7) Hunde<br />

a. Silben: [hun] + [de]<br />

b. Morpheme: Hund + e


52 Morphologie<br />

Vergleich Morphem- und Silbenstruktur:<br />

(8) Tomate Birnen fliegt<br />

Morpheme Tomate Birne-n flieg-t<br />

Silben To-ma-te Bir-nen fliegt<br />

➞ Morphemgrenzen ≠ Silbengrenzen<br />

Wurzel<br />

• Einfache Wörter, wie Haus, rot, auf etc., die zugleich Morpheme sind, nennt man<br />

Basismorphem oder Wurzel.<br />

• Wurzel sind die unverzichtbaren lexikalischen Kerne von Wörtern → sie stehen<br />

im Lexikon.<br />

• Wörter müssen mindestens eine Wurzel enthalten.<br />

• In der Regel kommen Wurzeln frei vor.<br />

• ACHTUNG: Verbstämme sind Wurzeln, obwohl sie nicht alleine stehen können,<br />

sondern immer ein Flexionsmorphem oder eine Infinitivendung brauchen.<br />

• Dagegen kommen manche Morpheme, wie die, die zur Flexion dienen, niemals<br />

frei vor, sie sind gebunden.<br />

• Gebundene Morpheme werden Affixe genannt.<br />

• Affixe gibt es in zweierlei Form.<br />

Präfix<br />

Präfixe sind Affixe, die vor einer Wurzel stehen.<br />

Suffix<br />

Suffixe sind Affixe, die hinter einer Wurzel stehen.<br />

Beispiele für Präfixe<br />

(9) be-nutzen, ent-decken, ver-gessen, ...<br />

Beispiele für Suffixe<br />

(10) Entdeck-ung, grün-lich, denk-st, ...


Morphologische Grundbegriffe 53<br />

• Da sich im Deutschen die Flexionselemente immer hinten am Wort befinden,<br />

handelt es sich also um Suffixe.<br />

• Ein Element wie -er in Lehr-er ist ein Morphem.<br />

• Es ist keine Wurzel, da es nicht frei vorkommt.<br />

• Es ist ein Suffix, da es hinten an eine Wurzel tritt.<br />

• Es ist jedoch kein Flexionssuffix!<br />

➞ Ein Element wie -er ist ein Derivationssuffix.<br />

Derivationssuffix<br />

Ein Derivationssuffix wird hinten an ein Wort angefügt und macht aus dem Wort ein<br />

neues, komplexes Wort.<br />

(11) lehrV + -er �→ LehrerN<br />

Derivationspräfix<br />

Ein Derivations¨präfix wird vorne an ein Wort angefügt und macht aus dem Wort ein<br />

neues, komplexes Wort.<br />

(12) un- + cool �→ uncool<br />

• Die besprochenen morphologischen Grundbegriffe lassen sich wie folgt gliedern:<br />

Morphologische Grundbegriffe<br />

(13) Morphem<br />

Wurzel Affix (Präfix, Suffix)<br />

Flexionsaffix Derivationsaffix


54 Morphologie<br />

3.3 Weitere Begriffe<br />

• Neben dem Begriff der Wurzel verwendet man noch den Begriff des Stamms.<br />

Stamm<br />

Ein Stamm ist ein Morphem oder eine Morphemkonstruktion, an das bzw. an die<br />

Flexionsmorpheme treten können<br />

Stamm vs. Wurzel<br />

(14) a. schön ➞ Stamm = Wurzel<br />

b. un+schön ➞ Stamm mit der Wurzel schön<br />

c. schön+geist+ig ➞ Stamm mit den Wurzeln schön und geist<br />

• Wenn es nicht darauf ankommt, ob etwas ein Stamm oder eine Wurzel ist, spricht<br />

man auch einfach von der Basis einer Affigierung.<br />

• Darüber hinaus benötigen wir noch den Begriff des Konfixes.<br />

• Konfixe sind weder Wurzeln (sie kommen nicht frei vor) noch Affixe (sie können<br />

zu Wörtern kombiniert werden).<br />

Beispiele für Konfixe<br />

(15) a. Fanat+iker, Fanat+ismus, fanat+isch, fanat+isier+en; *Fanat<br />

b. bio-, geo-, stief-, schwieger-, ...<br />

c. -nom, -loge, -thek, ...<br />

• Unikale Morpheme sind im Unterschied zu Konfixen fest an einen Wortkontext<br />

gebunden.<br />

Beispiele für unikale Morpheme<br />

(16) Him+beere, Brom+beere, Schorn+stein, Tausend+sassa<br />

• Fugenelemente sind vor allem bei Nominalkomposita auftretende Verbindungselemente,<br />

die keine Bedeutung tragen. (Sie sind also keine Morpheme!)<br />

Beispiele für Fugenelemente<br />

(17) Kind+er+garten, Staat+s+feind, Pferd+e+wagen, Herz+ens+wunsch, Fleisch+es+lust,<br />

Blume+n+vase, Held+en+mut<br />

• Als Zirkumfixe bezeichnet man die diskontinuierlichen Morphemkombinationen.


Beispiele für Zirkumfixe<br />

(18) a. ge...t: gespielt<br />

b. ge...en: gelesen<br />

c. Ge...e: Gerenne<br />

3.4 Typen der Wortbildung<br />

Typen der Wortbildung 55<br />

• Die wichtigsten Typen der Wortbildung im Deutschen sind die Komposition und<br />

die (explizite) Derivation.<br />

Komposition<br />

Unter einer Komposition versteht man die Bildung eines Wortes aus zwei (oder mehreren)<br />

vorhandenen Wörtern.<br />

Beispiele für Kompositionen<br />

(19) a. Spiel+automat, tief+blau, schwing+schleif+en<br />

b. Donau+dampf+schiff+fahrts+kapitäns+dienst+ handy, Steuer+erhöhungs+beschluss+vorlagen+sitzungs+protokoll<br />

(explizite) Derivation<br />

Unter der (expliziten) Derivation versteht man die Bildung eines Wortes aus einem<br />

vorhandenen Wort und einem Derivationsaffix.<br />

Beispiele für Derivationen<br />

(20) a. An+pfiff, un+gut, be+wirk+en<br />

b. Penn+er, lieb+lich, marsch+ier+en<br />

• Ein dritter wichtiger Wortbildungstyp ist die Konversion.<br />

Konversion<br />

Von Konversion spricht man, wenn ein Wortartwechsel vorliegt, der nicht durch ein<br />

explizites Derivationsaffix gekennzeichnet wird.<br />

Beispiele für Konversion<br />

(21)<br />

a. V→N schau+en→ Schau, lauf+en → Lauf<br />

b. N→V Fisch → fisch+en, Nerv → nerv+en<br />

c. A→V blau → bläu+en, link → link+en<br />

• Fälle der Konversion, bei denen Vokalwechsel vorliegt (Stammalternation), wie<br />

z. B. werfen → Wurf oder entziehen → Entzug, werden bei Fleischer & Barz (1995,<br />

51 ff.) als implizite Derivation bezeichnet.


56 Morphologie<br />

• Komposition, Derivation und Konversion gelten als die Haupttypen der deutschen<br />

Wortbildung.<br />

• Daneben gibt es aber noch eine Reihe weiterer Typen, nämlich die Kontamination,<br />

die Kürzung, die Abkürzung und das Akronym (Initialwort).<br />

Kontamination<br />

Bei der Kontamination werden zwei Wörter so verschmolzen, dass Wortmaterial aus<br />

den Originalwörtern gelöscht wird.<br />

Beispiele für Kontaminationen<br />

(22) Bürotel (Büro+Hotel), Ossimilierung (Ossi+Assimilierung), mainzigartig (Mainz+<br />

einzigartig), verschlimmbessern (verschlimmern+verbessern), jein (ja+nein)<br />

Kürzung<br />

Bei der Kürzung wird Wortmaterial am Ende oder am Anfang der Originalwörter getilgt.<br />

Hier kommt der Fall vor, dass aus einem komplexen Wort ein einfaches Wort (mit der<br />

gleichen Bedeutung) wird.<br />

Beispiele für Kürzungen<br />

(23) Uni (Universität), Bus (Omnibus), [ich bekomme drei] Mohn (Mohnbrötchen)<br />

Abkürzung<br />

Bei einer Abkürzung wird aus einem komplexen Wort oder mehreren Wörtern ein neues<br />

Wort gebildet, das wie eine Folge von Lauten gesprochen wird.<br />

Akronym (Initialwort)<br />

Bei einem Akronym wird aus einem komplexen Wort oder mehreren Wörtern ein neues<br />

Wort gebildet, das wie ein eigenständiges phonetisches Wort gesprochen wird.<br />

Beispiele für Abkürzungen<br />

(24) a. VW (Volkswagen(werk))<br />

b. AKW (Atomkraftwerk)<br />

c. UB (Universitätsbibliothek)<br />

d. SB (Selbstbedienung)<br />

Beispiele für Akronyme<br />

(25) a. DIN (Deutsche Industrienorm)<br />

b. AIDS (acquired immunity deficiency syndrom)<br />

c. Gröschaz (Größter Schuldenmacher aller Zeiten)<br />

d. Bafög (Bundesausbildungsförderungsgesetz)


Wortstruktur 57<br />

• Möglicherweise muss über diese Wortbildungstypen hinaus noch ein weiterer Typ<br />

angenommen werden: die Rückbildung.<br />

Rückbildung<br />

Bei der Rückbildung wird ein weniger komplexes Wort durch Löschung von Wortmaterial<br />

eines komplexen Originalwortes gebildet.<br />

Beispiele für Rückbildungen<br />

(26) a. uraufführen (←Uraufführung)<br />

b. staubsaugen (←Staubsauger)<br />

3.5 Wortstruktur<br />

• Komplexe Wörter haben eine Struktur.<br />

Struktur von Kindlichkeit<br />

(27) a. Kindlichkeit<br />

b. kind+lich+keit<br />

c. kindNomen + lichSu f f ix + keitSu f f ix<br />

• Nicht jede Reihenfolge ist dabei möglich.<br />

Lineare Abfolge<br />

(28) a. kind+lich+keit<br />

b. *kind+keit+lich<br />

c. *keit+kind+lich<br />

Beispiel<br />

d. *lich+kind+keit<br />

e. *keit+lich+kind<br />

f. *lich+keit+kind<br />

• Bestimmte Elemente scheinen dabei enger zusammenzugehören als andere.<br />

(29) [kind+lich]+keit, *kind+[lich+keit]<br />

• Wir können die Struktur eines Wortes, die sich in der Abfolge und Zusammengehörigkeit<br />

von morphologischen Baueinheiten zeigt, in einem Baumdiagramm<br />

wiedergeben.


58 Morphologie<br />

Baumdiagramm<br />

(30) N<br />

N<br />

kind<br />

A<br />

Sx<br />

lich<br />

Sx<br />

keit<br />

• Mithilfe von Strukturbäumen kann man die Ambiguität (Doppeldeutigkeit) mancher<br />

Wortbildungen erfassen:<br />

Ambige Wortstruktur<br />

(31) Touristenblutwurst<br />

(32) a. N<br />

N<br />

tourist(en)<br />

N<br />

blut<br />

N<br />

N<br />

wurst<br />

b. N<br />

N<br />

N<br />

tourist(en)<br />

N<br />

blut<br />

N<br />

wurst<br />

❀ ’ Blutwurst für Touristen‘ ❀ ’ Wurst aus Touristenblut‘<br />

• Es ist üblich, über Strukturdiagramme in folgender Weise zu reden.<br />

Relationen in Strukturbäumen<br />

(33) C<br />

A B<br />

a. A und B sind Schwestern.<br />

b. C ist die Mutter von A und B.<br />

c. A und B sind Töchter von C.<br />

d. C dominiert A und B (Dominanz).<br />

e. A geht B voraus (Präzedenz).<br />

f. A und B sind Konstituenten von C.<br />

Weitere Relationen in Strukturbäumen<br />

(34) C<br />

A<br />

D E<br />

B


a. D und E sind unmittelbare Konstituenten von A<br />

b. D und E sind mittelbare Konstituenten von C.<br />

c. C dominiert A unmittelbar.<br />

d. C dominiert D und E mittelbar.<br />

3.6 Wortbildungsregeln<br />

Wortbildungsregeln 59<br />

• An Strukturdiagrammen kann man Regeln der Wortbildung ablesen.<br />

Strukturbaum<br />

(35) N<br />

N<br />

Kampf<br />

Wortbildungsregel<br />

N<br />

hund<br />

(36) N �→ N + N<br />

• Der Pfeil �→ bedeutet dabei soviel wie ” besteht aus“ oder ” expandiert zu“.<br />

• Nach dem Muster solcher Regeln können viele weitere Bildungen erzeugt werden.<br />

• Für N muss man dabei immer ein Nomen einsetzen.<br />

Beispiel für N �→ N + N<br />

(37) Kampf+hund, Computer+tisch, Wesens+test, Elch+test, Ozon+loch, Steuer+reform<br />

• Da ein durch diese Regel erzeigtes Kompositum wie Kampfhund selbst ein Nomen<br />

ist, kann man auch ein solches Kompositium wieder in die Wortbildungsregel für<br />

N einsetzten.<br />

• Man wendet die Regel also auf sich selbst an.<br />

• Es handelt sich also um eine rekursive Regel.<br />

Bildung eines komplexen Kompositums<br />

(38) a. N �→ N + N<br />

b. Kampfhund �→ Kampf + hund<br />

c. Wesenstest �→ Wesens + test<br />

d. Kampfhundwesenstest �→ Kampfhund + wesenstest


60 Morphologie<br />

Strukturbaum für Kampfhundwesenstest?<br />

(39) N<br />

N<br />

Kampf<br />

N<br />

N<br />

hund<br />

N<br />

wesen(s)<br />

N<br />

N<br />

test<br />

• Eine rekursive Regel wie N→N+N ist theoretisch beliebig oft anwendbar.<br />

• Dabei gibt es nur eine psychische, mit unserem Fassungsvermögen zusammenhängende<br />

Grenze.<br />

• Im Deutschen gibt es sehr komplexe mögliche N+N-Komposita:<br />

(40) Krankenkassenkostendämpfungsgesetzbeschlussvorlagenberatungsprotokollüberprüfungsausschussvorsitzende<br />

• Diese Bildung ist vollkommen korrekt und in einem sehr speziellen Kontext auch<br />

sinnvoll.<br />

• Dass man sie nicht verwenden würde, liegt daran, dass sie nur sehr schwer zu<br />

verarbeiten ist.<br />

• Die Regel N→N+N beschreibt nur einen Spezialfall der Nominalkomposition, die<br />

N+N-Komposition.<br />

Weitere Arten der Nominalkomposition<br />

(41) a. N �→ N + N Computer+tisch<br />

b. N �→ A + N Rot+licht<br />

c. N �→ V + N Dreh+griff<br />

d. N �→ P + N Auf+wind<br />

• Die Voraussetzung dafür, dass die gesamte Bildung ein N ist, ist, dass das rechte<br />

Element ein N ist.<br />

(42) a. RotA + weinN �→ RotweinN<br />

b. weinN + rotA �→ weinrotA<br />

• Man nennt daher das rechte Element den Kopf der Wortbildung.


• Der Kopf bestimmt die Eigenschaften der Gesamtbildung.<br />

Wortbildungsregeln 61<br />

• Mit dem Kopfbegriff ist auch eine wichtige semantische Eigenschaft verbunden,<br />

die traditionell in dem Begriff Determinativkompositum zum Ausdruck kommt.<br />

• Die Bedeutung des rechten Elements wird durch die Bedeutung des linken Elements<br />

determiniert bzw. modifiziert.<br />

Modifikation in Determinativkomposita<br />

(43) a. Computertisch ❀ ein Tisch für Computer<br />

b. Tischcomputer ❀ ein Computer für den Tisch<br />

• Nicht alle Komposita sind Determinativkomposita. In Kopulativkomposita z. B.<br />

sind Erstglied und Zweitglied semantisch nebengeordnet.<br />

Kopulativkompositia<br />

(44) a. Spieler-Trainer ❀ ein Spieler und Trainer<br />

b. süß-sauer ❀ süß und sauer<br />

c. rot-weiß ❀ rot und weiß<br />

• Der Unterschied zwischen Determinativ- und Kopulativkomposita ist rein semantisch.<br />

• Morphologisch gesehen haben sie dieselbe Oberflächenstruktur.<br />

Determinativ- vs. Kopulativkompositum<br />

(45) a. A<br />

A<br />

A<br />

hell rot<br />

c. A �→ A + A<br />

b. A<br />

A<br />

taub<br />

A<br />

stumm<br />

Morphologischer Kopf in Kopulativkomposita<br />

• Trotz der koordinativen Semantik, ist das rechte Elemente auch in Kopulativkomposita<br />

der morphologische Kopf.<br />

• Dis zeigt das Genus bei nominalen Kopulativkomposita:<br />

(46) Hassmask + Liebefem = Hassliebefem


62 Morphologie<br />

• Bei vielen Komposita sind beide Interpretationen möglich.<br />

Ambiges Kompositum<br />

(47) rotbrau<br />

Determinativkompositum Kopulativkompositum<br />

’ rotes braun‘<br />

’ rot und braun‘<br />

• Bei Determinativkomposita kann weiter zwischen endozentrischen und exozentrischen<br />

Komposita unterschieden werden.<br />

Endozentrisch vs. exozentrisch<br />

• 2. UK ist semantischer Head = endozentrisch<br />

• Bedeutung existiert außerhalb der beiden UK = exozentrisch<br />

→ Dies ist bei Possessivkomposita der Fall.<br />

Possessivkomposita<br />

= Ganzes Kompositum ist jemand oder etwas, der/das die im Kompositum enthaltende<br />

Eigenschaft besitzt oder dem diese Eigenschaft metaphorisch zugeschrieben<br />

wird:<br />

(48) Rotkehlchen ❀ ’ Ein Vogel, der ein rotes Kehlchen hat‘Nicht: ’ eine rotes Kehlchen‘<br />

→ Es liegt eine pars-pro-toto-Relation vor (ein Teil steht für das Ganze).<br />

• Intern liegt eine Modifikator-Kopf-Relation vor, weshalb es sich dabei um ein<br />

Unterart des Determinativkompositums handelt.


Der Kopfbegriff in der Wortbildung 63<br />

• Liegt keine pars-pro-toto-Relation vor, sondern bereits ein ganzheitlicher Ausdruck<br />

(in Form einer Metapher), handelt es sich nicht um ein Possessivkompositum:<br />

(49) Angsthase<br />

Arten der Komposition<br />

(50)<br />

Kopulativkomposita<br />

Determinativkomposita<br />

endozentrisch exozentrisch<br />

(Possesivkomposita)<br />

3.7 Der Kopfbegriff in der Wortbildung<br />

• Vom semantischen Kopfbegriff ist der morphologische Kopfbegriff zu unterscheiden.<br />

• Der Kopf bestimmt die Kategorie einer Wortbildung.<br />

• In einem Nominalkompositum ist das rechte Element der Kopf.<br />

• Was ist der Kopf einer Derivation?<br />

• Da viele Suffixe die Kategorie der Wurzel, an die sie treten, verändern, kann man<br />

das Suffix als Kopf zu betrachten.<br />

Köpfe in der Derivation<br />

(51) a. [ZiehV+ungSx]N<br />

b. [EitelA+keitSx]N<br />

c. [machV+barSx]A<br />

d. [LehrV+erSx]N<br />

• Doch was ist mit folgenden Fällen, in denen die Wortart nicht verändert wird?<br />

Kein Wortartwechsel<br />

(52) a. [FleischN+erS f ]N<br />

b. [WissenschaftN+lerS f ]N


64 Morphologie<br />

c. [BriefN+chenS f ]N<br />

d. [[LehrV+erS f ]N+inS f ]N<br />

• Hier wird das Genus oder die Flexionsklasse verändert.<br />

Genuswechsel<br />

(53) a. das Fleisch der Fleischer<br />

b. die Wissenschaft der Wissenschaftler<br />

c. der Brief das Briefchen<br />

d. der Lehrer die Lehrerin<br />

Flexionsklassenwechsel<br />

(54) a. der Brief die Brie+e<br />

b. der Liebesbrief die Liebesbrief+e<br />

c. das Briefchen die Briefchen+∅<br />

➞ Der Kopf bestimmt also nicht nur die Wortart, sondern auch die anderen grammatischen<br />

Merkmale wie Genus oder Flexionsklasse.<br />

Präfixe<br />

• Sind Präfixe auch Köpfe?<br />

(55) [UrPx+WaldN]N, [bePx+nutzenV]V, [unPx+gutA]A<br />

• Präfixe verändern nicht die Kategorie der Wurzel und bestimmen nicht das Genus<br />

und die Flexionsklasse.<br />

➞ Präfixe sind im Deutschen keine Köpfe.<br />

➞ Im Deutschen scheint der Kopf immer rechts zu sein.<br />

➞ Kopf-rechts-Prinzip: In komplexen Wortbildungen ist das rechte Element der<br />

Kopf.<br />

3.8 Wortbildungsstrukturen im Überblick<br />

(56) Komposition<br />

N<br />

A<br />

rot<br />

N<br />

wein


(57) Konfixkomposition<br />

A<br />

K<br />

home<br />

K(A)<br />

gen<br />

(58) Suffixderivation<br />

A<br />

N<br />

glück<br />

Sx(A)<br />

lich<br />

(59) Präfixderivation<br />

A<br />

Px<br />

un<br />

A<br />

schön<br />

(60) Zirkumfigierung<br />

N<br />

V<br />

renn<br />

Zx(N)<br />

Ge...e<br />

(61) Konversion<br />

V<br />

N<br />

fisch<br />

Wortbildungsstrukturen im Überblick 65


<strong>Kapitel</strong> 4<br />

Syntax<br />

4.1 Warum Syntax?<br />

• Wenn wir sprechen (oder etwas schreiben), sind unsere Äußerungen nicht einzelne,<br />

unzusammenhängende Wörter, sondern größere Kombinationen von Wörtern,<br />

d. h. Sätze.<br />

• Dabei scheint es spezifische Regeln für das Zusammensetzen der Wörter zu Sätzen<br />

zu geben:<br />

Ein Beispiel aus Sick 2005: 160<br />

(1)<br />

” Können wir nicht mal das Thema wechseln?“, fragt Philipp, weil das Grammatik-<br />

”<br />

gerede macht mich langsam müde!“ Henry und Maren blicken ihn gleichermaßen<br />

strafend an. Philipp knurrt: Also schön: weil mich das Grammatikgerede langsam<br />

”<br />

müde macht!“<br />

Ein Beispiel aus der Jugendsprache<br />

(2) a. Ich hab voll den krassen Professor in Linguistik, der hat einfach alle durchfallen<br />

lassen.<br />

b. Das Angebot von Mike war total die Abzocke.<br />

c. Laura hat voll den gruseligen Film gesehen.<br />

• Nicht jede Kombination von Wörtern ist möglich:<br />

grammatische und ungrammatische ‘Sätze’<br />

(3) a. Ich höre morgen auf zu rauchen.<br />

b. *Ich höre morgen auf, dass ich rauche.


68 Syntax<br />

c. *Ich höre morgen auf das Rauchen.<br />

d. *Ich höre morgen zu rauchen.<br />

e. *Ich höre morgen auf zu rauchen den Baum.<br />

• Doch auch die lineare Abfolge der Wörter ist wichtig:<br />

grammatische vs. ungrammatische Abfolge<br />

(4)<br />

a. Poldi spielt Fußball<br />

b. dass Poldi Fußball spielt<br />

c. spielt Poldi Fußball?<br />

d. *spielt Fußball Poldi<br />

e. Fußball spielt Poldi<br />

f. *Fußball Poldi spielt<br />

• Von diesen Sätzen sind (d) und (f) auf keinen Fall akzeptabel.<br />

• Die Kette (b) kommt in dieser Abfolge in deutschen Nebensätzen vor.<br />

Als Sprecher des Deutschen kann man...<br />

• beurteilen, ob die Sätze in (4) korrekte Abfolgen sind,<br />

• deutsche Sätze korrekt bilden.<br />

➞ Man verfügt über eine syntaktische Kompetenz.<br />

• Das Teilgebiet der Linguistik, das sich mit dem Satzaufbau beschäftig, ist die<br />

Syntax.<br />

Syntax (von griech. ” s´yntaxis“ ’ Zusammenstellung‘)<br />

Gegenstand der Syntax ist die Beschreibung des Strukturaufbaus von Sätzen.<br />

• Die Syntax einer Sprache zu beschreiben bedeutet, ein Modell der syntaktischen<br />

Kompetenz der Sprecher dieser Sprache zu entwickeln.<br />

• Notwenige Bestandteile einer Beschreibung dieser Kompetenz sind die<br />

– syntaktischen (Bau-)Einheiten der Sätze und die<br />

– syntaktischen Regeln ihrer Anordnung.<br />

➞ Eine adäquate Syntax einer Sprache muss beschreiben können, welche Kombinationen<br />

von Wörtern grammatische Sätze der Sprache sind und warum es nur diese<br />

sind.<br />

➞ Es müssen also alle grammatischen Sätze ein- und alle ungrammatischen Strukturen<br />

durch die Syntax ausgeschlossen werden.


4.2 Topologische Felder<br />

Topologische Felder 69<br />

• Wie wir gesehen haben, spielt die lineare Abfolge eine entscheidende Rolle für die<br />

Grammatikalität einer Wortfolge.<br />

• Betrachten wir alle grammatischen Kombinationen der Wörter dort, Peter, jeder<br />

und kennt.<br />

V2-Permutationen von ‘Dort kennt jeder Peter ’<br />

(5) a. Dort kennt jeder Peter.<br />

b. Dort kennt Peter jeder.<br />

c. Jeder kennt Peter dort.<br />

d. Jeder kennt dort Peter.<br />

e. Peter kennt dort jeder.<br />

f. Peter kennt jeder dort.<br />

➞ Beobachtung: Das finite Verb kennt steht immer an zweiter Stelle.<br />

• Das finite Verb muss aber nicht immer an zweiter Stelle stehen:<br />

weitere Verbstellungstypen<br />

(6) a. Kennt Peter dort jeder?<br />

b. Kennt jeder dort Peter?<br />

(7) a. ...dass Peter dort jeden kennt?<br />

b. Ob jeder dort Peter kennt?<br />

➞ Beobachtung: Das finite Verb kennt kann auch an erster oder letzter Stelle stehen.<br />

Wir können für das Deutsche somit drei Verbstellungstypen unterscheiden:<br />

1. Verbzweitsätze (V2-Sätze)<br />

2. Verberstsätze (V1-Sätze)<br />

3. Verbletztsätze (VL-Sätze)<br />

• Für die Klassifizierung eines Satzes ist die Stellung des finiten Verbs entscheidend.<br />

Welcher Stellungstyp?<br />

(8) a. Hast du schon die Blumen gegossen? ➞ V1-Satz<br />

b. Mitmachen werde ich nicht. ➞ V2-Satz


70 Syntax<br />

• Manchmal scheint das Verb jedoch auch in einer anderen Position als an erster,<br />

zweiter oder letzter Stelle zu stehen.<br />

Mehr als ein Wort vor dem finiten Verb<br />

(9) a. [Der Kapitän des dänischen CSC-Rennstalls] hatte in diesem Jahr schon<br />

zwei Etappen gewinnen können.<br />

b. [An einem einer Schlange nachgebildeten Schreibtisch] sitzen die Grafikspezialisten.<br />

• Handelt es sich hier etwa um V6- bzw. V7-Sätze? Natürlich nicht!<br />

• Entscheidend für die Verbstellung ist die Anzahl der Konstituenten, nicht der<br />

Wörter (auf Konstituenten gehen wir später noch genauer ein).<br />

• Die Wörter vor dem finiten Verb in (9) bilden jeweils eine Konstituente.<br />

• Ein weiteres scheinbares Problem gibt es für VL-Sätze.<br />

Konstituenten nach der VL-Position<br />

(10) a. ...der sich fürchterlich aufregt über die Klausur<br />

b. ...ob es regnen wird am Wochenende<br />

• Man muss hier aufpassen: Verbletztposition bedeutet nicht dasselbe wie letzte<br />

Position im Satz!<br />

• Es gibt hinter der Verbletztposition noch eine weitere Position, die besetzt sein<br />

kann.<br />

• Wir haben jetzt mehrere Positionen im Satz ausgemacht: die Positionen, in denen<br />

Verben stehen können, und die Positionen links und rechts von diesen Verbpositionen.<br />

1. Man nimmt an, dass das finite Verb in V1- und V2-Sätzen in der linken Klammer<br />

(LK) steht.<br />

2. In VL-Sätzen steht das finite Verb in der rechten Klammer (RK).<br />

3. Die Position vor der LK in V2-Sätzen wird als Vorfeld (VF) bezeichnet.<br />

4. Die Position hinter der rechten Klammer ist das Nachfeld (NF).<br />

5. Die Positionen zwischen LK und RK bilden das Mittelfeld (MF).<br />

➞ Wir kommen somit auf fünf verschiedene Positionen, oder topologische Felder.<br />

V2-Sätze und topologische Felder


(11)<br />

VF LK MF RK NF<br />

Ich habe mich sehr geärgert über das Spiel.<br />

Es regnet!<br />

Bei dem Wetter nehme ich das Auto.<br />

Nun hör endlich auf!<br />

Wen hast du heute getroffen?<br />

V1-Sätze und topologische Felder<br />

(12)<br />

VF LK MF RK NF<br />

Glauben die denn daran?<br />

Kommt!<br />

Meldest du dich auch an für das Seminar?<br />

Hör endlich auf damit!<br />

Topologische Felder 71<br />

• In VL-Sätzen kann die linke Klammer nur mit bestimmten Ausdrücken anderer<br />

Art besetzt sein: Subjunktionen wie dass und ob, Relativausdrücke wie den und<br />

deren Katze, w-Ausdrücke wie wen und mit welchen Büchern und gewisse andere),<br />

aber nicht mit einem Verb.<br />

VL-Sätze und topologische Felder<br />

(13)<br />

VF LK MF RK NF<br />

Ob es wohl regnen wird morgen?<br />

Wenn das mal gut geht mit den beiden!<br />

um nach dem Ball zu suchen<br />

Sofort anhalten!<br />

es morgen zu reparieren<br />

deren Katze ich nicht leiden kann<br />

wen du heute getroffen hast<br />

• Anhand dieser Übersichten lassen sich einige Generalisierungen über die deutsche<br />

Satzstruktur aufstellen:<br />

Generalisierungen zu den topologischen Feldern<br />

(14) a. Mittelfeld und Nachfeld müssen nie besetzt sein.<br />

b. In allen V1- und V2-Sätzen muss LK besetzt sein, RK jedoch nicht.<br />

c. Weil infinite Verben nicht in LK stehen können, sind alle V1- und V2-Sätze<br />

finit und alle infiniten Sätze VL-Sätze.<br />

d. In allen VL-Sätzen muss RK besetzt sein.<br />

e. In allen finiten VL-Sätzen muss neben RK auch LK besetzt sein, das heißt,<br />

alle finiten VL-Sätze werden durch einen Ausdruck bestimmter Art eingeleitet.<br />

f. Nur V2-Sätze haben ein Vorfeld.


72 Syntax<br />

4.3 Konstituentenstruktur<br />

• Die Feldereinteilung, die wir bis hierhin entwickelt haben, ist für eine angemessene<br />

Beschreibung der deutschen Satzstruktur noch nicht ausreichend.<br />

• Wie wir beim Vorfeld gesehen haben, brauchen wir noch den Begriff der Konstituente.<br />

(➞ ’ Im VF darf nur eine Konstituente stehen‘).<br />

• Der Begriff der Konstituente ist z. B. auch dazu nötig, um das Mittelfeld feinkörniger<br />

analysieren zu können.<br />

• Intuitiv ist eine Konstituente eine Menge von Wörtern, die zusammen eine Einheit<br />

bilden.<br />

• Dass der Begriff der Konstituente relevant ist, kann man an Sätzen zeigen, die je<br />

nach Konstituentenstruktur etwas anderes bedeuten, also ambig sind.<br />

Ambiguität durch unterschiedliche Konstituentenstruktur<br />

(15) a. Leider schmeckt ihr selbst gebackenes Brot nicht.<br />

b. Leider schmeckt [ihr] [selbst gebackenes Brot] nicht. ❀ ’ Leider mag sie kein<br />

selbst gebackenes Brot‘<br />

c. Leider schmeckt [ihr selbst gebackenes Brot] nicht. ❀ ’ Leider schmeckt das<br />

selbst gebackene Brot von ihr nicht‘<br />

• Dass es sich bei den zwei Lesarten von (15) um zwei verschiedene Konstituentenstrukturen<br />

handelt, sieht man auch, wenn man die Konstituenten z. B. durch das<br />

ersetzt.<br />

Ersetzung von Konstituenten<br />

(16) Leider schmeckt ihr selbst gebackenes Brot nicht.<br />

a. Leider schmeckt [ihr] [das] nicht.<br />

b. Leider schmeckt [das] nicht.<br />

• Somit haben wir einen ersten Konstituententest, der es uns ermöglicht, den Status<br />

einer Wortfolge als Konstituente zu testen.<br />

Ersetzungstest (Substitutionstest)<br />

Wenn die Wortfolge durch ein Wort ersetzt werden kann, deutet das darauf hin, dass sie<br />

eine Konstituente ist.<br />

• Ein weiterer Test beruht auf den folgenden Beobachtungen:


Umstellung von Konstituenten<br />

Konstituentenstruktur 73<br />

(17) a. Selbst gebackenes Brot schmeckt ihr leider nicht. ❀ ’ Leider mag sie kein<br />

selbst gebackenes Brot‘<br />

b. Ihr schmeckt selbst gebackenes Brot leider nicht. ❀ ’ Leider mag sie kein<br />

selbst gebackenes Brot‘<br />

c. Ihr selbst gebackenes Brot schmeckt leider nicht. ❀ ’ Leider schmeckt das<br />

selbst gebackene Brot von ihr nicht‘<br />

d. *Brot schmeckt ihr selbst gebackenes nicht.<br />

e. *Selbst schmeckt ihr gebackenes Brot nicht.<br />

Umstellungstest (Permutationstest, Bewegungstest)<br />

Wenn die Wortfolge ins Vorfeld, ins Mittelfeld oder ins Nachfeld umgestellt werden kann,<br />

deutet das darauf hin, dass sie eine Konstituente ist.<br />

• Der Fragetest, der oft als ein weiterer Test verwendet wird, ist nichts anderes als<br />

eine Kombination aus Ersetzungstest und Umstellungstest.<br />

• Hier wird eine Wortfolge durch ein w-Wort wie was, wen oder wann ersetzt und<br />

dieses w-Wort ins Vorfeld umgestellt.<br />

Erfragung von Konstituenten<br />

(18) a. [Was] schmeckt ihr nicht? Selbst gebackenes Brot.<br />

b. [Was] schmeckt nicht? Ihr selbst gebackenes Brot.<br />

Fragetest<br />

Wenn die Wortfolge erfragt werden kann, deutet das darauf hin, dass sie eine Konstituente<br />

ist.<br />

• Der ebenfalls oft verwendete Pronominalisierungstest fällt unter den Ersetzungstest.<br />

• Hier wird eine Wortfolge durch ein Pronomen ersetzt.<br />

• Der Ersetzungstest ist allerdings besser geeignet als der Pronominalisierungstest,<br />

weil es in vielen Fällen kein passendes Pronomen für die Ersetzung gibt.<br />

Probleme beim Pronominalisierungstest<br />

(19) a. Heute scheint [in Leipzig] endlich wieder die Sonne.<br />

b. *Heute scheint [er/sie/es] endlich wieder die Sonne.<br />

c. Heute scheint [hier/dort/wo] endlich wieder die Sonne. (hier, dort, wo sind<br />

keine Pronomen)


74 Syntax<br />

• Wir haben die Konstituentests bewusst vorsichtig formuliert, da sie weder notwendige<br />

noch hinreichende Bedingungen sind für den Konstituentenstatus einer<br />

Wortfolge sind.<br />

Vorsicht bei Konstituententest<br />

(20) Die meisten Witze [über die Schwaben] findet sie nicht sehr komisch.<br />

a. *Die meisten Witze das/Bücher/er findet sie nicht sehr komisch. (Ersetzungstest-<br />

/Pronominalisierungstest)<br />

b. *Über die Schwaben findet sie die meisten Witze nicht sehr komisch.<br />

• Eine weiterer Test zeigt jedoch, dass über die Schwaben eine Konstituente ist.<br />

Koordination<br />

(21) Die meisten Witze [über die Schwaben] und [über die Hamburger] findet sie<br />

nicht sehr komisch.<br />

Koordinationstest<br />

Wenn die Wortfolge mit einer anderen Wortfolge koordiniert werden kann, deutet das<br />

darauf hin, dass sie eine Konstituente ist.<br />

• In dem Satz Die meisten Witze über die Schwaben findet sie nicht lustig ist nicht<br />

nur über die Schwaben eine Konstituente, sondern auch Die meisten Witze über<br />

die Schwaben.<br />

• Wir erhalten somit eine hierarchische Struktur, in der Konstituenten einander<br />

über- und untergeordnet sind.<br />

hierarchische Konstituentenstruktur<br />

(22) [Die meisten Witze [über die Schwaben] ] findet sie nicht sehr komisch.<br />

• Untersuchen wir das Konzept der hierarchischen Konstituentenstruktur etwas<br />

genauer, anhand eines Beispielsatzes:<br />

Was ist die Konstituentenstruktur?<br />

(23) ...ob ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre.<br />

• Frage:Was ist die Konstituentenstruktur von ich nächste Woche mit dem Rauchen<br />

in ???<br />

• Testen wir zunächst den Status von nächste Woche und mit dem Rauchen


Anwendung des Ersetzungstests<br />

(24) ...ob ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre.<br />

a. ...ob ich dann mit dem Rauchen aufhöre.<br />

b. ...ob ich nächste Woche damit aufhöre.<br />

Anwendung des Umstellungstest<br />

(25) ...ob ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre.<br />

a. ...ob ich mit dem Rauchen nächste Woche aufhöre.<br />

b. ...ob ich nächste Woche aufhöre mit dem Rauchen.<br />

c. ...ob ich mit dem Rauchen aufhöre nächste Woche.<br />

Konstituentenstruktur 75<br />

➞ Sowohl nächste Woche als auch mit dem Rauchen sind Konstituenten.<br />

• Allerdings ist auch dem Rauchen eine Konstituente:<br />

(26) mit dem Rauchen und dem Trinken oder mit ihr<br />

• Wir erhalten somit für das Mittelfeld von ?? die folgenden drei komplexen Konstituenten:<br />

komplexe Konstituenten<br />

(27) ...ob ich [nächste Woche] [mit [dem Rauchen] ] aufhöre.<br />

• Wir können allerdings noch weiter gehen.<br />

• Bilden z. B. mit dem Rauchen und das Verb aufhöre eine Konstituente?<br />

Anwendung des Koordinationstests<br />

(28) ...ob ich nächste Woche [mit dem Rauchen aufhöre] und [mit dem Joggen<br />

anfange].<br />

➞ mit dem Rauchen aufhöre bildet eine Konstituente.<br />

• Doch damit nicht genug ...<br />

weitere Anwendung des Koordinationstests<br />

(29) ...ob ich [nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre] und [übernächste Woche<br />

mit dem Joggen anfange].


76 Syntax<br />

(30) ...ob [ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre] und [mein Arzt mich<br />

dafür lobt].<br />

➞ nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre ist eine Konstituente.<br />

➞ ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre ist eine Konstituente.<br />

• Wir erhalten folglich für den Satz ob ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre<br />

eine sehr komplexe Konstituentenstruktur:<br />

eine sehr komplexe Konstituentenstruktur<br />

(31) ...ob [ich [[nächste Woche] [[mit [dem Rauchen]] aufhöre]]].<br />

• Für solch komplexe Strukturen nutzen wir in der Syntax oft Baumdiagramme, wie wir sie<br />

bereits aus der Morphologie und Phonologie kennen:<br />

Baumdiagramme für ??<br />

(32) ob ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre<br />

ob ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre<br />

ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre<br />

nächste Woche<br />

nächste Woche<br />

mit dem Rauchen aufhöre<br />

mit dem Rauchen<br />

mit dem Rauchen<br />

dem Rauchen<br />

aufhöre<br />

• Im nächsten Abschnitt werden wir uns mit lexikalischen und phrasalen Kategorien<br />

beschäftigen.<br />

Vorschau darauf, wie der Baum später aussehen wird:


(33) (31’) CP<br />

C<br />

ob<br />

NP<br />

ich<br />

A<br />

nächste<br />

VP<br />

NP<br />

N<br />

Woche<br />

V’<br />

P<br />

mit<br />

4.4 Lexikalische Kategorien<br />

PP<br />

D<br />

dem<br />

NP<br />

V’<br />

N<br />

Rauchen<br />

Lexikalische Kategorien 77<br />

V<br />

aufhöre<br />

• Wir wissen nun, wie man bei einem bestimmten Satz herausfinden kann, welche<br />

Wortfolgen Konstituenten bilden und welche nicht.<br />

• Die Regeln für die Konstituentenstruktur beziehen sich jedoch auf syntaktische<br />

Kategorien, zu denen die Konstituenten gehören.<br />

• Wir müssen also zuerst klären, welche syntaktischen Kategorien es im Deutschen<br />

gibt.<br />

• Wir werden mit den lexikalischen Kategorien beginnen, zu denen die einfachen<br />

Konstituenten, die Wörter zählen.<br />

• Statt von lexikalischen Kategorien wird oft auch einfach von Wortarten gesprochen.<br />

• Ein Beispiel dafür, dass sich die Regeln für die Konstituentenstruktur auf ganze<br />

Klassen von Wörtern und nicht nur auf einzelne Wörter beziehen:<br />

Bezug auf lexikalische Kategorien<br />

(34) a. nachdem ich Walter entdeckt hatte<br />

b. obwohl Kathrin ihn kannte<br />

c. *ich nachdem Walter entdeckt hatte<br />

d. *Kathrin obwohl ihn kannte<br />

• Subjunktionen (traditionell ” subordinierende Konjunktionen“) wie in (32) müssen<br />

im VL-Satz immer in einer bestimmten syntaktischen Position, nämlich in der LK<br />

stehen.


78 Syntax<br />

Subjunktionen in der LK<br />

(35)<br />

VF LK MF RK NF<br />

a. nachdem ich Walter entdeckt hatte<br />

b. obwohl Kathrin ihn kannte<br />

c.* ich nachdem Walter entdeckt hatte<br />

d.* Kathrin obwohl ihn kannte<br />

• Dass (35c–d) ungrammatisch ist, liegt offensichtlich daran, dass nachdem bzw.<br />

obwohl nicht in der LK stehen, denn das ist der einzige Unterschied zwischen<br />

(35a–b) und (35c–d).<br />

• Die (35c–d) bleiben auch dann ungrammatisch, wenn man nachdem und obwohl<br />

durch da, wenn, seit oder irgendeine andere Subjunktion ersetzt.<br />

• Wir haben hier also eine Regel, die sich auf eine ganze Klasse von Wörtern bezieht,<br />

also auf eine lexikalische Kategorie (Wortart).<br />

• Ein weiteres Beispiel:<br />

Adverbien und Nomen<br />

(36) a. die Vorlesung heute, der Betrüger dort, die Wohnung vorne<br />

b. *die heute Vorlesung, der dort Betrüger, die vorne Wohnung<br />

• Wenn ein Adverb wie heute, dort oder vorne als Attribut zu einem Nomen fungiert,<br />

muss dieses Adverb postnominal (hinter) dem Nomen stehen wie in (36a).<br />

• Aufgrund der Eigenschaften von Wortarten ist es uns möglich, auch in einem<br />

Nonsensesatz Wörter bestimmten Wortarten zuzuordnen.<br />

Beispiel aus Pittner/Berman (2004: 14)<br />

(37) Der Benziplauk prümst das Wenzipül.<br />

• Wir würden die Wörter aus (37) wohl so zuordnen:<br />

– Benziplauk und Wenzipül zu den Nomen (erscheinen in einer für Nomen<br />

typischen Position nach Artikel).<br />

– prümst zu den Verben (mögliche Flexionsendung -st und für Verben typische<br />

Position im V2-Satz).<br />

• Da es also offensichtlich einen Zusammenhang gibt zwischen der lexikalischen<br />

Kategorie eines Wortes und den syntaktischen Positionen, in denen es stehen kann,<br />

kann man folgende Generalisierung aufstellen:


Lexikalische Kategorien 79<br />

Wortart und Wortstellung<br />

Die Position eines Wortes im Satz hängt von seiner Wortart ab. Die Wörter, die in<br />

denselben syntaktischen Positionen stehen können (dieselbe syntaktische Distribution<br />

haben), gehören zur selben Wortart.<br />

• Indem man Wörter zu Wortarten zusammenfasst, behauptet man, dass alle Wörter<br />

dieser Wortart eine Menge von charakteristischen Eigenschaften haben (z.B. die<br />

syntaktische Position).<br />

• Welche Wortarten man für die syntaktische Beschreibung verwendet, hängt davon<br />

ab, nach welchen Eigenschaften man sich bei der Einteilung richtet.<br />

• Grundsätzlich können wir zwischen flektierbaren Wortarten und nicht-flektierbaren<br />

Wortarten unterscheiden.<br />

Wortarten<br />

(38) Wort<br />

flektierbar nicht-flektierbar<br />

• Kann ein Wort flektiert werden und in unterschiedlichen Formen auftreten, kann<br />

man es den flektierbaren Wortarten zuordnen.<br />

• Zu welcher der flektierbaren Wortarten das jeweilige Wort gehört, hängt davon ab,<br />

was für Flexionsmerkmale die Formen dieses Wortes haben.<br />

➞ Klassifikation nach morphologischen Eigenschaften<br />

• Die nicht-flektierbaren Wörter besitzen keine unterschiedlichen Wortformen.<br />

• Sie unterscheiden sich darin, in was für Positionen sie stehen können und mit was<br />

für Konstituenten sie kombiniert werden können.<br />

➞ Klassifikation nach syntaktischen Eigenschaften<br />

4.4.1 Flektierbare Wortarten<br />

• Schauen wir uns einige Wortarten genauer an.<br />

• Wir beginnen dabei mit der Klasse der flektierbaren Wortarten.<br />

Verben (V)<br />

Verben werden in [± finit] unterschieden, und – wenn sie finit sind – nach Person,<br />

Numerus, Modus, Tempus, und Genus verbi flektiert.


80 Syntax<br />

(39) a. ich laufe<br />

b. du läufst<br />

c. wir liefen<br />

d. lauf<br />

e. zu laufen<br />

Nomen (N)<br />

Nomen werden nach Kasus und Numerus flektiert und haben ein festes Genus.<br />

(40) a. der Baum<br />

b. des Baumes<br />

c. die Bäume<br />

d. den Bäumen<br />

e. *die Baum<br />

Adjektive (A)<br />

Adjektive sind nach Kasus, Numerus und Genus stark, schwach und gemischt flektierbar<br />

und sind oft komparierbar.<br />

(41) a. ein kleiner Mann<br />

b. ein kleines Haus<br />

c. das kleine Haus<br />

d. dem kleinen Haus<br />

e. die kleinen Häuser<br />

f. das kleinere Haus<br />

g. das kleinste Haus<br />

Determinierer (D)<br />

Determinierer werden nach Kasus, Numerus und Genus flektiert, sind nicht steigerbar<br />

und treten mit einem Nomen auf, mit dem sie kongruieren ( ” Begleiter des Nomens“).<br />

(42) a. Das Schreiben muss man dem Direktor doch geben!<br />

b. Ein Kandidat wird das Rätsel lösen.<br />

c. Beim letzten Mal sind alle Gäste pünktlich erschienen<br />

Pronomen (Pro)<br />

Pronomen werden nach Kasus, Numerus und Genus flektiert, sind nicht steigerbar und<br />

treten ohne Nomen auf ( ” Stellvertreter des Nomens“).<br />

(43) a. Das muss man ihm doch geben!<br />

b. Einer wird es lösen.<br />

c. Beim letzten Mal sind alle pünktlich erschienen.<br />

Die flektierbaren Wortarten im Überblick I


(44) Wortart typische Eigenschaft<br />

V Verb finit oder infinit, konjugierbar<br />

N Nomen unterschiedlicher Kasus und Numerus,<br />

festes Genus<br />

A Adjektiv unterschiedlicher Kasus, Genus und<br />

Numerus; oft komparierbar; stark,<br />

schwach und gemischt flektierbar<br />

D Determinierer unterschiedlicher Kasus, Genus und<br />

Numerus; mit Nomen<br />

Pro Pronomen unterschiedlicher Kasus, Genus und<br />

Numerus; ohne Nomen<br />

Die flektierbaren Wortarten im Überblick II<br />

(45) flektierbar<br />

konjugierbar<br />

Verb<br />

festes<br />

Genus<br />

Nomen<br />

deklinierbar<br />

keine feste<br />

Flexionsklasse<br />

Adjektiv<br />

4.4.2 Nicht-flektierbare Wortarten<br />

kein festes<br />

Genus<br />

mit Nomen<br />

Determinierer<br />

Lexikalische Kategorien 81<br />

feste<br />

Flexionsklasse<br />

ohne Nomen<br />

Pronomen<br />

• Schauen wir uns nun die nicht-flektierbaren Wortarten genauer an.<br />

Präpositionen (P)<br />

Präpositionen sind nicht-flektierbar und werden typischerweise mit einer Konstituente<br />

kombiniert, deren Kasus von der Präposition festgelegt oder, wie man auch sagt, regiert<br />

wird.<br />

(46) a. mit der Taschenlampe mit regiert den Dativ


82 Syntax<br />

b. ohne eine Ahnung ohne regiert den Akkusativ<br />

c. jenseits des Tales jenseits regiert den Genitiv<br />

Konjunktionen (K)<br />

Konjunktionen sind nicht-flektierbar und werden mit mehreren in der Regel gleichartigen<br />

Konstituenten kombiniert, die auch als Konjunkte bezeichnet werden. Diese Konjunkte<br />

können Wörter sein (47a–b) oder auch komplexere Konstituenten (47c–d).<br />

(47) a. Die meisten [Unfälle] und [Staus] passieren tagsüber.<br />

b. Sind sie [für] oder [gegen] Tiertransporte?<br />

c. Ich hätte gerne [vier Falafel] und [eine kleine Pizza].<br />

d. [Voller Ärger] und [maßlos enttäuscht] verließ Peter die Vorlesung.<br />

Adverbien (Adv)<br />

Die Adverbien sind nicht-flektierbar und zeichnen sich dadurch aus, dass sie allein im<br />

Vorfeld stehen können.<br />

Beispiele für Adverbien<br />

(48) a. Dummerweise muss ich bleiben.<br />

b. Morgen habe ich keine Zeit.<br />

c. Darauf kannst du noch lange warten!<br />

d. Warum hast du das getan?<br />

e. Daher verstehe ich die Griechen nicht.<br />

PartikelnDirekt zu Partikeln<br />

• Ein schwieriges Problem ist die Klassifizierung von Wörtern wie schnell und<br />

vorsichtig in Sätzen wie den folgenden:<br />

Adverbien?<br />

(49) a. Sherlock Holmes läuft schnell zur Polizeistation.<br />

b. Der Täter klaute vorsichtig die Handtasche.<br />

• Dass die Wörter schnell und vorsichtig in (49a–b)<br />

– allein ins Vorfeld umgestellt werden können und<br />

– dort stehen, wo typischerweise Adverbien stehen können<br />

spricht dafür, dass es sich um Adverbien handelt.<br />

alleine im Vorfeld


(50) a. Schnell läuft Sherlock Holmes zur Polizeistation.<br />

b. Vorsichtig klaute der Täter die Handtasche.<br />

typische Position von Adverbien<br />

Lexikalische Kategorien 83<br />

(51) a. Sherlock Holmes läuft schnell/gleich/nun/sofort zur Polizeistation.<br />

b. Der Täter klaute vorsichtig/dort/gerne/deshalb die Handtasche.<br />

• Andererseits können schnell und vorsichtig stark, schwach oder gemischt flektiert<br />

werden (wenn auch nicht in dieser Position) und pränominale Attribute sein, was<br />

dafür spricht, dass es sich um Adjektive handelt.<br />

Flexion und pränominale Attribute<br />

(52) a. ein schneller Zug - der schnelle Zug<br />

b. vorsichtige Einbrecher - alle vorsichtigen Einbrecher<br />

• Es gibt also gute Gründe für die Klassifizierung als Adverbien und gute Gründe<br />

für die Klassifizierung als Adjektive.<br />

• Wir nehmen hier an, dass es sich bei schnell und vorsichtig in (52) um Wörter<br />

handelt, die syntaktisch Adverbien sind, auch wenn sie im Lexikon Adjektive sind.<br />

• So, wie es Adjektive gibt, die syntaktisch als Nomen auftreten (wie etwa Schreckliches<br />

in In den Nachrichten kam Schreckliches), gibt es auch Adjektive, die syntaktisch<br />

als Adverbien auftreten.<br />

Partikeln (Part)<br />

Partikeln zeichnen sich dadurch aus, dass sie bestimmte Eigenschaften anderer Wortarten<br />

nicht besitzen:<br />

(i) Sie sind nicht flektierbar<br />

(ii) können nicht alleine im Vorfeld oder im Nachfeld stehen<br />

(iii) bilden nie den Kopf einer größeren Phrase (dazu später mehr)<br />

(iv) sind anders als etwa Subjunktionen und Konjunktionen typischerweise weglassbar.<br />

(53) a. Axel ist ja schon betrunken.<br />

b. Ob er wohl rechtzeitig kommt?<br />

c. Peter interessiert sich nur für Linguistik.<br />

d. Ich kann nicht tanzen.


84 Syntax<br />

Die nicht-flektierbaren Wortarten im Überblick<br />

(54) Wortart typische Eigenschaft<br />

Adv Adverb kann allein im Vorfeld stehen<br />

P Präposition regiert Kasus<br />

C Subjunktion nur in der LK<br />

K Konjunktion mit mehreren Konjunkten<br />

Part Partikel nicht alleine im VF oder NF<br />

Die nicht-flektierbaren Wortarten im Überblick II<br />

(55) nicht<br />

flektierbar<br />

kann alleine<br />

im VF stehen<br />

Adverb<br />

regiert Kasus<br />

Präposition<br />

kann nicht alleine<br />

im VF stehen<br />

mit mehreren<br />

Konjunkten<br />

Konjunktion<br />

verknüpfend<br />

regiert keinen Kasus<br />

nur in der LK<br />

Subjunktion<br />

nicht<br />

verknüpfend<br />

Partikel<br />

Da wir nun die lexikalischen Kategorien kennengelernt haben, können wir diese in das<br />

Baum Diagramm eintragen:


Baudiagramm mit lexikalischen Kategorien<br />

(56) ob ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre<br />

C<br />

ob<br />

ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre<br />

Pro<br />

ich<br />

nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre<br />

nächste Woche<br />

A<br />

nächste<br />

N<br />

Woche<br />

Phrasale Kategorien 85<br />

mit dem Rauchen aufhöre<br />

mit dem Rauchen<br />

P<br />

mit<br />

dem Rauchen aufhöre<br />

D<br />

dem<br />

N<br />

Rauchen<br />

Im Folgenden gilt es nun, die Bezeichnungen für die restlichen Knoten kennenzulernen.<br />

wasssindköpfezurück<br />

4.5 Phrasale Kategorien<br />

• Wir haben gesehen, wie sich die einfachen Konstituenten, die Wörter, zu größeren<br />

Klassen, den Wortarten, zusammenfassen lassen.<br />

• Anschließend haben wir die lexikalischen Kategorien (Wortarten) für diese einfachen<br />

Konstituenten kennengelernt.<br />

• Damit können wir nun herausfinden, welche Klassen von komplexen Konstituenten<br />

es im Deutschen gibt und wie diese aufgebaut sind.<br />

eine bestimmte Art von komplexen Konstituenten<br />

(57) a. alle [sehr großen] Wale<br />

b. eine [auf einer abgelegenen Insel versteckte] Schatztruhe<br />

c. kein [im letzten Jahr wegen Veruntreuung angeklagter] Kommissar<br />

• Bei den eingeklammerten Wortfolgen handelt es sich um Konstituenten, wie ein<br />

Ersetzungstest mit der passenden Form von solche zeigt:<br />

V


86 Syntax<br />

Ersetzungstest<br />

(58) alle solchen Wale, eine solche Schatztruhe, kein solcher Kommissar<br />

• Die komplexen Konstituenten gleichen sich darin, dass sie ein Adjektiv enthalten,<br />

das direkt vor dem Nomen steht.<br />

• Die Bestandteile außer den Adjektiven sind fakultativ.<br />

• Die Adjektive sind obligatorische Bestandteile dieser Konstituenten.<br />

obligatorische Adjektive<br />

(59) alle [großen] Wale<br />

* alle [sehr] Wale<br />

eine [versteckte] Schatztruhe<br />

* eine [auf einer Insel] Schatzkarte<br />

kein [angeklagter] Kommissar<br />

* kein [im letzten Jahr wegen Veruntreuung] Kommissar<br />

• Damit erhalten wir die wichtigste Regel für komplexe Konstituenten:<br />

(syntaktischer) Kopf<br />

Jede komplexe Konstituente muss ein Wort enthalten, das der (syntaktische) Kopf der<br />

komplexen Konstituente ist und nicht wegfallen kann. Der Kopf einer komplexen Konstituente<br />

legt fest, welche Eigenschaften sie hat.<br />

• Man sagt auch, dass eine komplexe Konstituente eine Erweiterung oder eine<br />

Projektion des Kopfes ist.<br />

• Den Kopfbegriff kennen wir schon aus der Morphologie.<br />

• Morphologische Köpfe bestimmen in komplexen morphologischen Ausdrücken<br />

Wortart, Genus und Flexionsklasse.<br />

morphologische Köpfe<br />

(60) a. hochA + HausN�→HochhausN<br />

b. SchneeN + weißA�→schneeweißA<br />

➞ Haus und weiß sind die morphologischen Köpfe<br />

• Syntaktische Köpfe bestimmen in komplexen syntaktischen Ausdrücken unter<br />

anderem die Phrasenart und mögliche Positionen des Ausdrucks.<br />

• Unser Beispielsatz ob ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre besteht aus<br />

sieben komplexen Konstituenten. Baumzum Strukturbaum


Phrasale Kategorien 87<br />

• Wir müssen nun für diese Konstituenten überlegen, welches Wort jeweils der Kopf<br />

ist.<br />

• Vergleichen wir dazu zunächst folgende Sätze:<br />

Subjunktionen<br />

(61) a. Arno denkt, dass er später mal Hirnforscher werden wird.<br />

b. *Arno denkt, ob er später mal Hirnforscher werden wird.<br />

c. *Arno fragt sich, dass er später mal Hirnforscher werden wird.<br />

d. Arno fragt sich, ob er später mal Hirnforscher werden wird.<br />

• Mit dem Verb denken kann offensichtlich nur ein mit dass eingeleiteter Satz kombiniert<br />

werden, aber nicht ein mit ob eingeleiteter Satz.<br />

➞ denken selegiert einen dass-Satz .<br />

➞ fragen hingegen selegiert einen ob-Satz.<br />

• Der Kopf einer komplexen Konstituente legt unter anderem fest, mit welchen<br />

anderen Konstituenten die Konstituente kombiniert werden kann.<br />

• Die jeweilige Subjunktion bestimmt, unter welches Verb der Satz eingebettet werden<br />

kann.<br />

➞ Die Subjunktionen sind die Köpfe der Sätze, die sie einleiten.<br />

Verben<br />

• Mit Subjunktionen kann man auch leicht zeigen, dass der Kopf der Konstituente<br />

ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre das finite Verb aufhöre ist.<br />

(62) a. dass/da/ob/weil [ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre].<br />

b. *dass/da/ob/weil [nächste Woche mit dem Rauchen aufzuhören].<br />

c. *statt/um [ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre].<br />

d. statt/um [nächste Woche mit dem Rauchen aufzuhören].<br />

• Da das finite Verb aufhöre der Kopf der Konstituente ich nächste Woche mit dem<br />

Rauchen aufhöre ist, ist es zugleich auch der Kopf der kleineren Konstituenten<br />

nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre und mit dem Rauchen aufhöre.<br />

• Dass die beiden Nomen Woche und Rauchen die Köpfe von nächste Woche und<br />

dem Rauchen sind, kann man an folgenden Beispielen illustrieren:


88 Syntax<br />

Nomen<br />

(63) a. Ich trinke gerne [frische Milch].<br />

b. *Ich trinke gerne [frische].<br />

c. Ich trinke gerne [Milch].<br />

(64) a. Vor [den Löwen] erschreckt Arno sich nicht mehr.<br />

b. *Vor [den] erschreckt Arno sich nicht mehr.<br />

c. Vor [Löwen] erschreckt Arno sich nicht mehr.<br />

• In komplexen Konstituenten wie mit dem Rauchen ist der Kopf die Präposition<br />

mit und nicht das Nomen.<br />

• Das sieht man daran, dass das Verb aufhören nur mit einer Konstituente kombiniert<br />

werden kann, die mit enthält, und nicht mit Konstituenten, die eine andere<br />

Präposition enthalten.<br />

Präpositionen<br />

(65) a. Ich höre nächste Woche mit dem Rauchen auf.<br />

b. *Ich höre nächste Woche auf dem Rauchen auf.<br />

c. *Ich höre nächste Woche in dem Rauchen auf.<br />

• So, wie denken einen dass-Satz selegiert, selegiert aufhören eine Konstituente, die<br />

die Präposition mit als Kopf enthält.<br />

• Da die Köpfe die Kategorie der komplexeren Konstituenten bestimmen, können<br />

wir die Kategorien der Köpfe nun in unserem Baum ” nach oben projizieren“.<br />

(66) C<br />

C<br />

ob<br />

N<br />

ich<br />

A<br />

nächste<br />

V<br />

N<br />

N<br />

Woche<br />

V<br />

P<br />

mit<br />

P<br />

D<br />

dem<br />

N<br />

V<br />

N<br />

Rauchen<br />

V<br />

aufhöre


Phrasale Kategorien 89<br />

• Die verschiedenen Projektionen enden in einem bestimmten Knoten.<br />

• Diese Knoten, die eine Projektion abschließen und für eine maximale Konstituente<br />

stehen, werden mit einem P wie Phrase versehen.<br />

(67) CP<br />

C<br />

ob<br />

N<br />

ich<br />

A<br />

nächste<br />

VP<br />

NP<br />

N<br />

Woche<br />

V<br />

P<br />

mit<br />

PP<br />

D<br />

dem<br />

NP<br />

V<br />

N<br />

Rauchen<br />

V<br />

aufhöre<br />

• Die Schwester von ob ist entsprechend eine VP, eine Verbalphrase.<br />

• Neben Verbalphrasen gibt es natürlich auch noch verschiedene andere Phrasenarten,<br />

z.B.:<br />

– NP – Nominalphrase (nächste Woche)<br />

– AP – Adjektivphrase (sehr groß)<br />

– AdvP – Adverbphrase (dort, wo die Murmeltiere leben)<br />

– PP – Präpositionalphrase (mit dem Rauchen)<br />

• In der Syntax geht es um die Beschreibung dieser komplexen Konstituenten und<br />

nicht so sehr um die Beschreibung der einfachen Konstituenten (der Wörter).<br />

• Deshalb wird statt von Konstituentenstruktur auch oft von Phrasenstruktur gesprochen<br />

und entsprechend von Phrasenstrukturbäumen.<br />

• Bei der Untersuchung der Phrasenstrukturen unterschiedlicher Sprachen hat sich<br />

etwas sehr Verblüffendes herausgestellt:<br />

• Es scheint, dass die Strukturen der Phrasen gewisse generelle Bedingungen erfüllen<br />

müssen, die nicht nur in der jeweiligen Einzelsprache Gültigkeit haben, sondern<br />

universell zu sein scheinen.


90 Syntax<br />

• Es wurde versucht, diese generellen Bedingungen in einem einheitlichen Schema<br />

für den Aufbau der Phrasen festzuhalten.<br />

• Eine Versuch, ein solches Schema zu formulieren, ist die sog. X ′ -Theorie, von der<br />

wir das Kopfprinzip bereits kennengelernt haben.<br />

• Wie dieses X ′ -Schema genau aussieht, ist umstritten und hängt von vielen Details<br />

ab.<br />

• Ein vereinfachtes X ′ -Schema sieht wie folgt aus.<br />

X ′ -Theorie<br />

(68) a. Konstituenten sind unterschiedlich komplex. Es gibt drei Komplexitätsebenen:<br />

X, X’ und XP. X ist eine lexikalische Kategorie, X’ und XP sind phrasale<br />

Kategorien.<br />

b. X’ und XP enthalten ein X, das ihr Kopf ist und ihre Kategorie festlegt. XP<br />

ist die höchste Projektion von X, alle anderen Projektionen zwischen XP<br />

und X sind X’.<br />

c. X projiziert nur, wenn X mit einer anderen Konstituente kombiniert wird,<br />

das heißt, wenn X erweitert wird.<br />

• Mit diesen Annahmen können wir unseren Baum sehr einfach vervollständigen:<br />

(69) CP<br />

C<br />

ob<br />

N<br />

ich<br />

A<br />

nächste<br />

VP<br />

NP<br />

N<br />

Woche<br />

V’<br />

P<br />

mit<br />

PP<br />

D<br />

dem<br />

NP<br />

V’<br />

N<br />

Rauchen<br />

V<br />

aufhöre


Arbeitsschritte zur Ermittlung der Struktur eines komplexen Ausdrucks<br />

1. Ordnen Sie jedes Wort einer syntaktischen Kategorie zu.<br />

2. Überlegen Sie, welche Wörter Köpfe sind.<br />

Phrasale Kategorien 91<br />

3. Überlegen Sie, welche Wörter zusammen komplexe Konstituenten bilden.<br />

4. Ordnen Sie jede komplexe Konstituente einer syntaktischen Kategorie zu. (Beachten<br />

Sie dabei, dass jede komplexe Konstituente einen Kopf hat, der ihre Kategorie<br />

festlegt.)<br />

• Für die Phrasenstrukturbäume gelten bestimmte Beschränkungen:<br />

Beschränkungen an Phrasenstrukturbäume<br />

1. Linien beginnen und enden in Knoten, jeder Knoten steht für eine Konstituente.<br />

2. Knoten, von denen nur eine Linie ausgeht, sind nicht-verzweigende Knoten, und<br />

Knoten, von denen mehrere Linien ausgehen, verzweigende Knoten. Durch eine<br />

Linie wird angezeigt, dass eine Konstituente in einer anderen Konstituente<br />

enthalten ist.<br />

3. Ein Knoten ist mit höchstens einem Knoten direkt über ihm verbunden (ein<br />

Knoten kann nicht mehr als eine Mutter haben).<br />

4. Jeder Knoten hat eine Bezeichnung, die der Name einer Kategorie ist.<br />

5. Die Linien sollen sich nicht überkreuzen.<br />

• Nach der Bedingung (69c) des X ′ -Schemas oben gibt es in den syntaktischen<br />

Strukturen keine nicht-verzweigenden Knoten und<br />

• die verzweigenden Knoten sind immer binär verzweigend, das heißt, es gehen<br />

zwei Linien von ihnen aus.<br />

4.5.1 Übungen zu Phrasenstrukturbäumen<br />

• Zeichnen Sie für die folgenden Phrasen Phrasenstrukturbäume:<br />

A1 sofort nach der Sitzung<br />

1. Zuerst muss jedem Wort eine Wortart zugeordnet werden.


92 Syntax<br />

Wortarten?<br />

(70) Adv P D N<br />

sofort nach der Sitzung<br />

Köpfe?<br />

2. Welche Ausdrücke sind Köpfe?<br />

(71) Adv P D N<br />

sofort ¡2-¿nach der ¡2-¿Sitzung<br />

3. Welche Wörter bilden zusammen komplexe Konstituenten?<br />

Konstituentenstruktur?<br />

(72) Adv P D N<br />

[sofort [nach [der Sitzung]]]<br />

als Baum<br />

(73)<br />

Adv<br />

sofort P<br />

nach D<br />

der<br />

N<br />

Sitzung<br />

4. Als letztes müssen die Kategorien der Projektionen festgelegt werden. Zur Erinnerung:<br />

die Kategorie einer Projektion ist die Kategorie ihres Kopfes (plus ′<br />

bzw.P).<br />

Phrasale Kategorien?<br />

(74) PP<br />

Adv<br />

sofort<br />

P<br />

nach<br />

P ′<br />

D<br />

der<br />

NP<br />

• Weitere Übungsaufgaben:<br />

N<br />

Sitzung<br />

A2 mit einem Eis in ihrer kleinen Hand


Lösung für A2<br />

A3 an einem einer Schlange nachgebildeten Schreibtisch<br />

A4 um den Teppich schnell zur Reinigung zu bringen<br />

(75) PP<br />

P<br />

mit<br />

Lösung für A3<br />

D<br />

einem<br />

(76) PP<br />

P<br />

an<br />

D<br />

einem<br />

NP<br />

N<br />

Eis<br />

D<br />

einer<br />

NP<br />

N’<br />

P<br />

in<br />

NP<br />

PP<br />

D<br />

ihrer<br />

N<br />

Schlange<br />

AP<br />

NP<br />

A<br />

kleinen<br />

N’<br />

N’<br />

A<br />

nachgebildeten<br />

N<br />

Hand<br />

Phrasale Kategorien 93<br />

N<br />

Schreibtisch


94 Syntax<br />

Lösung für A4<br />

(77) CP<br />

C<br />

um<br />

D<br />

den<br />

NP<br />

4.6 Bewegung<br />

N<br />

Teppich<br />

VP<br />

Adv<br />

schnell<br />

P<br />

zur<br />

V’<br />

PP<br />

V’<br />

N<br />

Reinigung<br />

V<br />

zu bringen<br />

• Bisher haben wir uns nur die Struktur von VL-Sätzen angeschaut.<br />

• Ob und wie die Struktur der V1- und V2-Sätze und die Struktur der VL-Sätze im<br />

Deutschen zusammenhängen, ist eine schwierige Frage.<br />

V1 – V2 – VL<br />

(78) a. Liest Markus gerne Bücher? (V1-Satz)<br />

b. Markus liest gerne Bücher. (V2-Satz)<br />

c. weil Markus gerne Bücher liest (VL-Satz)<br />

• Eine Möglichkeit wäre, dass V1-, V2- und VL- Sätze völlig unterschiedliche Strukturen<br />

haben.<br />

• Eine zweite Möglichkeit wäre, dass V1-, V2- und VL-Sätze dieselbe uniforme<br />

Struktur haben und sich nur darin unterscheiden, wo das Verb steht.<br />

• Wir werden hier annehmen, dass die grundlegende Stellung die Verbletztstellung<br />

ist und die Verberst- und Verbzweitstellung daraus abgeleitet sind.<br />

• Bevor wir sehen werden, wie die verschiedenen Verbstellungstypen zusammenhängen,<br />

wollen wir unsere (vielleicht etwas überraschende) Annahme motivieren.


Indiz 1:<br />

Bewegung 95<br />

• Eine Reihe von Verben hat eine Art V1- und V2-Phobie und kann nur in der<br />

VL-Position (RK) stehen.<br />

• Zu diesen Verben gehören<br />

infinite Verben<br />

– infinite Verben<br />

– trennbaren Verben (nur der zweite Teil kann in der LK stehen)<br />

– viele rückgebildete Verben wie kopfrechnen, generalüberholen und zweckentfremden.<br />

(79) a. Bitte nicht auf den Rasen treten!<br />

b. *Bitte treten nicht auf den Rasen!<br />

trennbare Verben<br />

(80) a. ob ich morgen nach Neuseeland aufbreche<br />

b. *Ich aufbreche morgen nach Neuseeland.<br />

c. Ich breche morgen nach Neuseeland auf.<br />

rückgebildete Verben<br />

(81) a. weil die Kinder in der Grundschule noch gerne kopfrechnen<br />

b. *In der Grundschule kopfrechnen die Kinder noch gerne.<br />

c. *In der Grundschule rechnen die Kinder noch gerne kopf.<br />

Indiz 2:<br />

• Ein weiteres Argument lässt sich aus dem kindlichen Spracherwerb anführen:<br />

• In den ersten komplexeren Äußerungen von Kindern, die aus mehr als einem<br />

Wort bestehen, stehen die Verben in der Regel nicht vorne, sondern hinten.<br />

• So findet man in der Phase der Zweiwortäußerungen sehr viele Beispiele wie die<br />

in (82), aber nur wenige wie die in (83).<br />

Zweiwortäußerungen<br />

(82) Puppe weint, Oma kommt, Maxe aufstehen, Schuhe holen, Kuchen essen, Stange<br />

turnen, Müll schmeißen, nochmal reiten<br />

(83) huste Maxe, weint Robert, zumachen Mami, backe Kuchen


96 Syntax<br />

• Trennbare Verben wie aufstehen zeigen dabei, dass die Verben in (82) wirklich in<br />

der letzten Position stehen.<br />

• Kinder beginnen also mit der Verbletztstellung und gehen dann erst zur Verbzweitstellung<br />

über.<br />

• Nachdem wir unsere Annahme, dass VL die Grundstruktur im Deutschen ist,<br />

motiviert haben, müssen wir uns nun fragen, wie sich die Struktur von V1- und<br />

V2-Sätzen aus dieser ableiten lässt.<br />

• Betrachten wir dazu nochmals die folgenden Beispiele:<br />

VL – V1 – V2<br />

(84) a. weil Markus gerne Bücher liest (VL-Satz)<br />

b. Liest Markus gerne Bücher? (V1-Satz)<br />

c. Markus liest gerne Bücher. (V2-Satz)<br />

• Wenn wir diese Sätze in die topologischen Felder überführen, wird der Unterschied<br />

in der Struktur schnell klar.<br />

VL – V1 – V2 in topologischen Feldern<br />

(85) VF LK MF RK NF<br />

a. (weil) Markus gerne Bücher liest<br />

b. Liest Markus gerne Bücher<br />

c. Markus liest gerne Bücher<br />

• Was sind die Unterschiede zwischen (74a), (74b) und (74c)?<br />

• Im VL-Satz befindet sich das Verb liest in der RK, während es sich im V1- und<br />

V2-Satz in der LK befindet.<br />

• Im VL- und V1-Satz befindet sich die NP Markus im MF, während sie im V2-Satz<br />

im VF steht.<br />

• Eine intuitiv plausible Idee ist nun anzunehmen, dass man die Struktur von V1und<br />

V2-Sätzen durch Umstellung oder Bewegung von Elementen aus VL-Sätzen<br />

ableiten kann:<br />

– In einem V1-Satz wird das finite Verb aus der RK in die LK bewegt.<br />

– In einem V2-Satz wird das finite Verb aus der RK in die LK bewegt und ein<br />

Element aus dem MF ins VF bewegt.


Bewegungen<br />

(86) a. Markus gerne Bücher liest.<br />

⇐� Bewegung des finiten Verbs in die LK<br />

b. Liest Markus gerne Bücher?<br />

⇐� Bewegung von Markus ins VF<br />

c. Markus liest gerne Bücher.<br />

Bewegung 97<br />

• Die Annahme von Bewegungen ist auch der Weg, der in den meisten Syntaxtheorien<br />

beschritten wird, um den Zusammenhang zwischen verschiedenen Satzstrukturen<br />

zu erklären.<br />

Bewegung<br />

Umstellung eines Elements aus einer bestimmten Position in eine andere Position. Bewegte<br />

Elemente lassen eine ” Spur“ zurück. Spuren werden mit t (von engl. trace) bezeichnet.<br />

Sinn dieser Spurenmarkierungen ist es, die Bewegungen von Konstituenten genau beschreiben<br />

zu können.<br />

• In der generativen Syntax werden solche Bewegungen, die Wörter oder Phrasen<br />

umstellen und so die syntaktische Struktur verändern, seit Chomsky (1957)<br />

traditionell Transformationen genannt.<br />

• In unseren Beispielen müssen wir nun also noch die Spuren eintragen.<br />

• Wenn es Spuren von mehreren Elementen gibt, benutzt man Indices, um diese zu<br />

unterscheiden.<br />

Bewegungen mit Spuren<br />

(87) a. Liesti Markus gerne Bücher ti?<br />

b. Markusj liesti tj gerne Bücher ti.<br />

• Oft wird angenommen, dass es im Deutschen folgende Arten der Bewegung gibt:<br />

Bewegungen im Deutschen<br />

1. V2-Bewegung Bewegung des finiten Verbs in die LK<br />

2. Topikalisierung Bewegung einer nicht-w-Konstituente ins Vorfeld<br />

3. w-Bewegung Bewegung eines w-Worts ins Vorfeld<br />

4. Bewegungen im Mittelfeld (Scrambling) Umstellungen von Konstituenten innerhalb<br />

des Mittelfeldes<br />

5. Bewegung ins Nachfeld (Extraposition) Umstellung einer Konstituente ins Nachfeld


98 Syntax<br />

Beispiele für V2-Bewegung<br />

(88) a. Liesti Markus gerne Bücher ti?<br />

b. Markusj liesti tj gerne Bücher ti.<br />

Beispiele für Topikalisierung<br />

(89) a. Markusj liesti tj gerne Bücher ti .<br />

b. Bücherj liesti Markus gerne tj ti .<br />

Beispiele für w-Bewegung<br />

(90) a. Werj liesti tj gerne Bücher ti?<br />

b. Wasj liesti Markus gerne tj ti ?<br />

Beispiele für Scrambling<br />

(91) a. ...weil esi Peter gestern ti geschafft hat.<br />

b. ...weil ihrj Peterk das Buchi immer tk tj ti vorgelesen hat.<br />

Beispiele Extraposition<br />

(92) a. ...weil er gerne ti spazieren geht in Mainzi.<br />

b. ...weil es ti die ganze Zeit geregnet hat am Wochenendei.


<strong>Kapitel</strong> 5<br />

Semantik<br />

5.1 <strong>Einleitung</strong><br />

• Bisher haben wir uns vorwiegend mit der Struktur sprachlicher Ausdrücke befasst:<br />

– Lautstruktur (Phonologie)<br />

– Wortstruktur (Morphologie)<br />

– Satzstruktur (Syntax)<br />

• Im folgenden Teil wenden wir uns nun der Bedeutung von Ausdrücken zu.<br />

• Das Teilgebiet der Linguistik, das sich mit dem Inhalt oder der Bedeutung von<br />

Ausdrücken beschäftigt, ist die Semantik.<br />

Semantik<br />

Gegenstand der Semantik ist die Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken.<br />

• Im Gegensatz zur Phonologie, Morphologie und Syntax ist der Gegenstandsbereich<br />

der Semantik etwas schwerer zu fassen.<br />

• Laute können wir akustisch und artikulatorisch bestimmen und Wörter und Sätze<br />

zumindest aufnehmen oder schriftlich festhalten und in Korpora sammeln.<br />

• Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke lässt sich dagegen nicht ohne Weiteres<br />

messen oder aufschreiben.<br />

• Deshalb bleibt uns nur ein indirekter Zugang zur Bedeutung von sprachlichen<br />

Ausdrücken.<br />

• Eine wichtige Rolle spielen dabei die Intuitionen von Muttersprachlern.<br />

Warum sind die Intuitionen von Muttersprachlern wichtig?


100 Semantik<br />

• Muttersprachler können sprachliche Ausdrücke meist problemlos verstehen und<br />

korrekt gebrauchen.<br />

• Sie kennen meist auch die Beziehungen, die zwischen den Bedeutungen einzelner<br />

Ausdrücke bestehen.<br />

• Sie haben meist keinerlei Probleme, neue Sätze, die sie noch nie vorher gehört<br />

haben, zu verstehen.<br />

• Schauen wir uns folgenden Satz an:<br />

ein ‘neuer’ Satz<br />

(1) In Berlin hat gestern wieder ein rosa Elefant harmlose Passanten hinterhältig<br />

beleidigt.<br />

• Es ist unwahrscheinlich, dass wir den Satz in (1) schon gehört haben.<br />

• Dennoch haben wir keine Probleme, den Satz in (1) zu verstehen.<br />

• Wir können also die Wörter unserer Sprache wie in (1) zu immer neuen Sätzen<br />

mit neuen Bedeutungen verbinden.<br />

➞ Dies bezeichnet man als Produktivität.<br />

• Auch wenn sie uns trivial erscheinen mag, ist die Produktivität eine bedeutende<br />

und fazinierende Eigenschaft der natürlichen Sprache.<br />

• Man stelle sich nur vor, die Sprache wäre nicht produktiv...<br />

Ektisch – eine nicht-produktive Sprache<br />

(Aus: Franz Hohler, Der Granitblock im Kino)<br />

(2) Das Ektische gehört zu den ausgestorbenen Sprachen und scheint mir deshalb die interessanteste<br />

von allen zu sein, weil sie nur zwei Wörter hatte. Das erste hieß ” M“ und das<br />

zweite ” Saskrüptloxptqwrstfgaksolömpääghrcks“. ” M“ ist weiblich und heißt: ” Was ist denn<br />

jetzt schon wieder los“, und ” Saskrüptloxptqwrstfgaksolömpääghrcks“ ist männlich und<br />

heißt ” nichts“. [...]<br />

Einmal kam es [...] zu politischen Demonstrationen, bei denen eine große Zahl von Ektern<br />

vor das Rathaus zog und in Sprechchören die Worte ” M!M!M!“ rief, worauf der ektische<br />

Präsident [...] in einer großen Rede versicherte: ” Saskrüptloxptqwrstfgaksolömpääghrcks!“.<br />

Dies stimmte allerdings nicht ganz, und der Präsident selbst wußte das auch, aber unglücklicherweise<br />

hatte er keine weiteren Ausdrücke zur Verfügung, und so gehört das Ektische<br />

heute zu den ausgestorbenen Sprachen.<br />

• Im Gegensatz zu den Ektern verfügen wir glücklicherweise nicht nur über zwei<br />

Wörter.


<strong>Einleitung</strong> 101<br />

• Doch noch viel wichtiger ist, dass wir unsere Wörter produktiv zu immer neuen<br />

Sätzen mit neuen Bedeutungen verbinden können.<br />

• Erstaunlich in Anbetracht der Produktivität ist, dass wir überhaupt in der Lage<br />

sind, all die produktiv neugebildeten Sätz zu verstehen.<br />

• Neben einer morphologischen und syntaktischen verfügen wir also auch über<br />

eine entsprechende semantische Kompetenz, die es uns ermöglicht, die (neuen)<br />

Bedeutungen dieser Wörter und Sätze berechnen und bewerten zu können.<br />

• Eine erste offensichtliche Antwort auf die Frage, wie wir Sätze verstehen können,<br />

ist, dass wir ja selbst in einem Satz wie (2) die wörtliche Bedeutung der Einzelteile<br />

verstehen.<br />

der ‘neue’ Satz<br />

(3) In Berlin hat gestern wieder ein rosa Elefant harmlose Passanten hinterhältig<br />

beleidigt.<br />

• Da wir die Bedeutung von in, Berlin, hat, gestern, wieder, ein, rosa, Elefant, harmlose,<br />

Passanten, hinterhältig, beleidigt kennen, kennen wir auch die Bedeutung von (3).<br />

• Dass diese erste Antwort aber nicht ausreicht, kann man leicht zeigen:<br />

Bedeutungsunterschiede trotz gleicher Einzelteile<br />

(4) a. Sabine wurde von Stefan gesehen. ≠<br />

b. Stefan wurde von Sabine gesehen.<br />

• Neben der Bedeutung der Einzelteile spielt also auch die Art der Zusammensetzung<br />

– d. h. die syntaktische Struktur – eine Rolle für die Bedeutung eines Satzes.<br />

• Dies mündet in einer einflussreichen Antwort auf die Frage, wie wir die Bedeutung<br />

neuer Sätze verstehen können, dem Kompositionalitätsprinzip.<br />

Kompositionalitätsprinzip<br />

Die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks ergibt sich aus der Bedeutung seiner Einzelteile<br />

und der Art ihrer Zusammensetzung.<br />

• Dieses Prinizp wird meist auf den Philosophen, Logiker und Mathematiker Gottlob<br />

Frege (1848-1925) zurückgeführt.


102 Semantik<br />

• Wenn wir über die Bedeutung von Wörtern und Sätzen sprechen, verwenden wir<br />

häufig die Methode des Paraphrasieren (Umschreibens).<br />

Paraphrasen<br />

(Aus: Douglas Adams, Per Anhalter durch die Galaxis)<br />

(5)<br />

” Ganz einfach, ein Fopper hat mich mitgenommen?“<br />

” Ein Fopper?“ [...]<br />

” Foppers sind Kinder reicher Leute, die nichts zu tun haben. Sie zischen in der Gegend<br />

rum und suchen nach Planeten, die noch keine interstellaren Verbindungen haben und<br />

besummen sie.“<br />

” Besummen sie?“ [...]<br />

” Sie suchen sich eine abgelegene Gegend [...], dann landen sie direkt vor den Augen<br />

eines nichtsahnenden Trottels, dem niemand jemals glauben wird, stolzieren mit albernen<br />

Antennen auf dem Kopf vor ihm auf und ab und machen piep piep.“<br />

• Paraphrasen können unsere Intuitionen über die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke<br />

mehr oder weniger präzise umschreiben, sie liefern aber keinen Aufschluss<br />

darüber, was Bedeutungen sind.<br />

• Paraphrasen bestehen selbst wieder aus sprachlichen Ausdrücken, deren Bedeutung<br />

wiederum nur durch neue Paraphrasen umschrieben werden kann.<br />

Beispiel aus dem Duden<br />

malen mit Farbe streichen; Farbe auf etw. auftragen<br />

streichen mithilfe eines Pinsels o. Ä. mit einem Anstrich versehen; anstreichen<br />

anstreichen Farbe auf etw. streichen<br />

• Ein lustiges Beispiel aus dem<br />

Metzler Lexikon Sprache (2. Auflage)<br />

Paraphrase?<br />

Circumfix ↗ Zirkumfix<br />

Zirkumfix ↗ Circumfix<br />

• Neben diesem Problem der Zirkularität, liefern Paraphrasen eine nur unzureichende<br />

Umschreibung der Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks.<br />

• Um die Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke genau zu bestimmen, bedarf es der<br />

Formulierung präziser wissenschaftlicher Theorien, die im Idealfall auch experimentell<br />

überprüfbar sind.<br />

• Dies ist das Ziel der Semantik.


5.2 Semantische Grundbegriffe<br />

Semantische Grundbegriffe 103<br />

• Wir sind aufgrund unserer semantischen Kompetenz nicht nur in der Lage neue<br />

Sätze zu verstehen, wir können auch beurteilen, welche semantische Relationen<br />

zwischen Sätzen bestehen.<br />

• Wir wissen z. B., wann ein Satz aus einem anderen folgt, wann zwei Sätze das Gleiche<br />

bedeuten oder sich zwei Sätze widersprechen, oder wann ein Satz verschiedene<br />

Bedeutungen hat.<br />

• Die Relation ” ein Satz folgt aus einem anderen“ nennt man semantische Implikation<br />

(oft dargestellt durch → oder ⊃).<br />

semantische Implikation<br />

Ein Satz p impliziert einen Satz q (p→q), wenn gilt: Wenn p wahr ist, dann ist auch q<br />

wahr.<br />

Beispiel für Implikationen<br />

(6) a. Der Junge hat Maria dreimal geküsst.<br />

b. Der Junge hat Maria geküsst.<br />

c. Der Junge hat Maria mit seinen Lippen berührt.<br />

• Immer wenn (6a) wahr ist, dann sind sowohl (6b) als auch (6c) wahr. (also:<br />

(6a)→(6b), (6a)→(6c)).<br />

• (6b) hingegen impliziert nicht (6a).<br />

• Wenn zwei Sätze dieselbe Bedeutung haben, sind sie synonym oder semantisch<br />

äquivalent (oft dargestellt durch ↔ oder ≡).<br />

Synonymie/Äquivalenz<br />

Zwei Sätze p und q sind synonym/äquivalent, wenn gilt: p impliziert q und q impliziert p.<br />

Beispiel für Äquivalenz<br />

(7) a. Maria ist mit Peter verheiratet.<br />

b. Peter ist mit Maria verheiratet.<br />

• Immer wenn (7a) wahr ist, ist (7b) wahr, und immer wenn (7b) wahr ist, dann ist<br />

auch (7a) wahr.<br />

• Es sollt ergänzt werden, dass vollständige Synonymie in der natürlichen Sprache<br />

nur selten zu finden sind.<br />

• Zwischen annähernd synonymen Sätzen bestehen oft subtile Bedeutungsunterschiede:


104 Semantik<br />

keine vollständige Synonymie<br />

(8) a. Peter hat einen neuen Job.<br />

b. Peter hat eine neue Arbeit.<br />

• Eine dritte wichtige semantische Relation liegt vor, wenn sich zwei Sätze widersprechen.<br />

• Dies nennt man Kontradiktion (oft dargestellt durch ↮).<br />

Kontradiktion<br />

Zwei Sätze p und q sind kontradiktorisch, wenn gilt: Wenn p wahr ist, ist q falsch und<br />

wenn p falsch ist, ist q wahr (d. h. p und q können nicht gleichzeitig wahr oder falsch<br />

sein).<br />

Beispiele für Kontradiktion<br />

(9) a. Peter hat den Ball geküsst.<br />

b. Peter hat den Ball nicht mit den Lippen berührt.<br />

• Wenn (9a) wahr ist, ist (9b) falsch, und wenn (9a) falsch ist, dann ist (9b) wahr.<br />

• Eine weitere wichtige semantische Eigenschaft ist die Ambiguität.<br />

• Ein Ausdruck ist ambig, wenn er mehrdeutig ist, d. h. wenn er mehr als eine<br />

Bedeutung hat.<br />

• Ambiguitäten kommen auf allen grammatischen Ebenen vor, so dass es verschiedene<br />

‘Arten’ von Ambiguitäten gibt.<br />

lexikalische Ambiguitäten<br />

(10) a. Sven liebt Schlösser.<br />

b. Das Geld liegt auf der Bank.<br />

• Die Wörter Schlösser und Bank in (10) sind ambig.<br />

• Schloss1: ‘Vorrichtungen zum Verschließen’<br />

Schloss2: ‘großes Wohngebäude fürstlicher Herrschaften’<br />

• Bank1: ‘Sitzgelegenheit’<br />

Bank2: ‘Geldinstitut’<br />

ambige Nominalkomposita<br />

(11) a. Maria versucht, durch das Milchglas zu schauen.<br />

b. Peter ist gerade zum Holzhaus gegangen.


• N+N-Komposita wie in (11) sind sehr oft ambig.<br />

Semantische Grundbegriffe 105<br />

• Das liegt daran, dass die Art, in der Kopf durch den anderen Teil determiniert<br />

wird, nicht festgelegt ist.<br />

• So kann Milchglas z. B. ein Glas bezeichnen, in dem Milch ist, das für Milch gedacht<br />

ist oder das ‘milchig’ ist.<br />

• Ein Holzhaus kann z. B. ein Haus aus Holz oder ein Haus sein, in dem Holz gelagert<br />

oder verkauft wird.<br />

• In Beispiel (12) liegt eine strukturelle Ambiguität vor, die mit der syntaktischen<br />

Interpretation des obwohl-Satzes zu tun hat.<br />

strukturelle Ambiguität<br />

(12) Der Trainer sieht, dass ich trainiere, obwohl es neblig ist.<br />

a. [Der Trainer sieht, dass ich trainiere],<br />

obwohl es neblig ist.<br />

b. Der Trainer sieht,<br />

[dass ich trainiere, obwohl es neblig ist].<br />

• In der Lesart (12a) modifiziert der obwohl-Satz den Satz Der Trainer sieht, dass ich<br />

trainiere.<br />

• In der Lesart (12b) bezieht sich der obwohl-Satz auf den Nebensatz dass ich trainiere.<br />

• In (13) liegt eine Skopusambiguität vor, die mit der relativen Interpretation der<br />

beiden Quantoren einen und jeder zu tun hat.<br />

Skopusambiguität<br />

(13) Einen Philosophen kennt jeder Student.<br />

• Der Skopus eines Quantors ist sein ‘Wirkungsbereich’.<br />

• In der einen Lesart hat der Quantor einen Skopus über jeder, in der anderen Lesart<br />

ist es umgekehrt.<br />

• Die beiden Lesarten lassen sich zur Verdeutlichung wie folgt paraphrasieren:<br />

Skopusambiguität<br />

(14) Einen Philosophen kennt jeder Student.<br />

a. Es gibt einen Philosophen, für den gilt, dass ihn jeder Student kennt.<br />

b. Für jeden Studenten gilt, dass es einen Philosophen gibt, den er kennt.


106 Semantik<br />

• In der Lesart (14a) ist es also der gleiche Philosoph, den alle Studenten kennen<br />

(z. B. Kant).<br />

• In der Lesart (14b) kennt jeder Student einen Philosophen, dieser muss aber nicht<br />

der gleiche sein (z. B. Peter kennt Kant, Maria kennt Wittgenstein, Hans kennt<br />

Grice,...).<br />

• Man sagt auch, dass in (14a) der sogenannte Existenzquantor (oft dargestellt durch<br />

∃) Skopus über den sogenannten Allquantor (∀) hat. In (14b) ist es umgekehrt.<br />

• Wie viele andere Sprachen auch hat das Deutsche zahlreiche komplexe Ausdrücke,<br />

bei denen sich die Bedeutung des komplexen Ausdrucks nicht mehr kompositional<br />

aus den Bedeutungen seiner Teile ergibt.<br />

• Solche komplexe Ausdrücke werden Idiome oder Phraseologismen genannt:<br />

Phraseologismen<br />

(15) a. Unser Wellensittich hat gestern plötzlich den Löffel abgegeben.<br />

b. Dieser Dummkopf hat nicht mehr alle Tassen im Schrank!<br />

• Im Gegensatz zu Satz (15b) kann die Bedeutung von Satz (16) kompositional<br />

ermittelt werden.<br />

kein Phraseologismus<br />

(16) Oma ist gestern von einem Einbrecher bestohlen worden. Sie hat nicht mehr alle<br />

Tassen im Schrank, wir haben dreimal nachgezählt.<br />

• Abschließend betrachten wir das schwierige Feld der semantischen Abweichung<br />

oder Anomalie.<br />

eine Anomalie<br />

(17) Der kleine Toaster besuchte seine elektrischen Freunde im Badezimmer.<br />

• Satz (17) ist seltsam, weil er mit unserem Wissen über die Welt, in der wir leben,<br />

nicht übereinstimmt.<br />

• Wir können allerdings die Bedeutung des Satzes problemlos verstehen.<br />

• Der Satz auch kann durchaus sinnvoll sein, wenn er in einem geeigneten Kontext<br />

(zum Beispiel in einem Märchen oder einem Zeichentrickfilm) geäußert wird.<br />

• In (18) ist dies nicht mehr so einfach möglich, weshalb der Grad der semantischen<br />

Abweichung in (18) größer zu sein als in (17).


noch eine Anomalie<br />

(18) Farblose grüne Ideen schlafen wild.<br />

Zeugma<br />

Semantische Grundbegriffe 107<br />

• Die Konstituenten sind teilweise nicht kompatibel miteinander, so dass hier höchstens<br />

noch eine metaphorische Interpretation möglich scheint.<br />

• In (19) liegt ein sog. Zeugma-Effekt vor:<br />

(19) Die Zeitung liegt auf dem Tisch und hat angerufen.<br />

• Die beiden Sätze Die Zeitung liegt auf dem Tisch und Die Zeitung hat angerufen<br />

sind für sich normal.<br />

• In jedem Satz bezeichnet die Nominalphrase die Zeitung ein anderes Objekt (ein<br />

Stück bedrucktes Papier oder eine Person aus der Redaktion).<br />

• Die Nominalphrase die Zeitung kann allerdings nicht gleichzeitig zwei verschiedene<br />

Dinge bezeichnen wie in (19).<br />

• In Satz (20) liegt nicht nur eine semantische Abweichung vor, dieser Satz ist notwendigerweise<br />

falsch.<br />

eine weitere Anomalie<br />

(20) Peter ist der Vater seines Vaters.<br />

• Die Bedeutung von Vater ist so beschaffen, dass Satz (20) unweigerlich zu einem<br />

Widerspruch führt.<br />

• Semantisch anomale Sätze sollten von syntaktisch ungrammatischen Sätze unterschieden<br />

werden:<br />

ein ungrammatischer Satz<br />

(21) a. *Der Spion lesen die Zeitung unauffällig.<br />

b. Der Spion liest unauffällig die Zeitung.<br />

• Der ungrammatische Satz (21a) kann durch Umstellen der Wörter und Veränderung<br />

der Flexionselemente zu einem grammatikalisch korrekten Satz verbessert werden<br />

(18b), ohne dass sich dabei die Bedeutung des Satzes ändert<br />

• (vorausgesetzt, dass (21a) überhaupt eine Bedeutung hat, was nicht unumstritten<br />

ist).<br />

• Semantische Anomalien können dagegen nicht durch das Austauschen von einem<br />

oder mehreren Wörtern (oder Morphemen) beseitigt werden, ohne dass sich die<br />

Bedeutung ändert.


108 Semantik<br />

5.3 Bereiche der Semantik<br />

• Die Semantik kann etwas vereinfacht in zwei große Bereiche aufgeteilt werden:<br />

1. lexikalische Semantik<br />

2. Satzsemantik<br />

• Die lexikalische Semantik (oder auch Wortsemantik) befasst sich mit der Bedeutung<br />

von einfachen Wörtern (Tür, schnell, laufen) und komplexen Wörtern<br />

(Haustürschlüssel, Furchtsamkeit, Schnellzug)<br />

• Dabei wird die u. a. untersucht:<br />

1. die Bedeutung von Affixen (z.B. -lich, -heit, be-, Ex-)<br />

2. die Bedeutung von Wurzeln (Baum, Nacht, nass)<br />

3. die semantischen Relationen bei der Komposition (Schokoladenkuchen ‘Kuchen<br />

aus Schokoloade’ vs. Hundekuchen ‘Kuchen für Hunde’ vs. Marmorkuchen ‘Kuchen,<br />

der nach Marmor aussieht’)<br />

4. die Relationen zwischen Wörtern und Wortfeldern (kalt-heiß, Tier-Katze-Hund,<br />

Montag-Dienstag)<br />

• Untersuchungsgegenstand der Satzsemantik ist die Bedeutung komplexer sprachlicher<br />

Ausdrücke, wie zum Beispiel der Satzteile (19a), einfacher (19b) oder komplexer<br />

Sätze (19c+d):<br />

Ein Fall für die Satzsemantik<br />

(22) a. der grüne Papagei, in der Burg, das Buch lesen<br />

b. Maria besucht ihre Tante.<br />

c. Peter glaubt, dass Schweine fliegen können.<br />

d. Jeder Bauer, der einen Esel hat, schlägt ihn.<br />

• Sätze stehen im Mittelpunkt vieler Semantiktheorien, weil sie die kleinsten unabhängigen<br />

Informationseinheiten bilden, mit denen wir kommunizieren und<br />

sprachlich handeln.<br />

• In der Satzsemantik geht es wesentlich um die Frage<br />

(i) wie die Bedeutung der Einzelteile in die Bedeutung des komplexen Ausdrucks<br />

eingeht.<br />

(ii) was die Bedeutung verschiedener Satztypen wie Deklarativsatz oder Interrogativsatz<br />

ist.<br />

• Die Bedeutung komplexer Ausdrücke kann in der Regel systematisch aus den<br />

Bedeutungen der einzelnen Teile und der Art der Zusammenfügung berechnet<br />

werden (Kompositionalitätsprinzip)


Bereiche der Semantik 109<br />

• Darüber hinaus befasst sich die Semantik auch mit der Bedeutung von noch<br />

größeren sprachlichen Einheiten wie Diskursen und Texten.<br />

• Eines der zentralen Themen der Textsemantik und Diskurssemantik ist die semantische<br />

Kohärenz von Texten und Diskursen.<br />

Anaphern<br />

(23) a. Ein Zeuge kam in das Zimmer. Der Zeuge erzählte seine Beobachtungen.<br />

b. Der Zeuge kam in das Zimmer. Ein Zeuge erzählte seine Beobachtungen.<br />

• Nur in (23a), nicht aber in (23b), können sich die beide NPs auf dieselbe Person<br />

beziehen.<br />

• Eine definite NP kann sich also auf eine vorher erwähnte indefinite NP beziehen,<br />

aber nicht umgekehrt.<br />

• Mit definiten NPs wird normalerweise auf etwas Bezug genommen, das schon<br />

erwähnt wurde, zum gemeinsamen Hintergrundwissen gehört oder sich im Kontext<br />

eindeutig identifizieren lässt.<br />

indirekte Anaphern<br />

(24) a. Der Dealer wurde gefasst. Die Drogen fand die Polizei im Schrank.<br />

b. Der Dealer wurde gefasst. Die Geige fand die Polizei im Schrank.<br />

• In (24a) können wir die definite NP die Drogen relativ einfach in den Textzusammenhang<br />

integrieren (etwa ‘die Drogen, mit denen der Dealer gehandelt hat’).<br />

• Die Integration von die Geige in (24b) bereitet im Gegensatz dazu größere Probleme<br />

(etwa ‘die Geige, in denen die Drogen versteckt waren’).<br />

• Das Schema in (25) gibt einen vereinfachten Überblick über das Zusammenspiel<br />

der Semantik mit den bisher vorgestellten Teilgebieten der Linguistik:<br />

Semantik und Grammatik<br />

(25) Satz (Syntax) → Satzbedeutung (Satzsemantik)<br />

Wort und (Morphologie) → Wortbedeutung und (Lexikalische<br />

Morphem Morphembedeutung Semantik)<br />

Phonem (Phonologie) → keine Bedeutung<br />

bedeutungsunterscheidend<br />

• Die Semantik steht damit in einem direkten Zusammenhang mit der Morphologie<br />

und der Syntax.<br />

• Phoneme tragen zwar keine Bedeutung, trotzdem gibt es auch Verbindungen<br />

zwischen der Phonologie und der Semantik.


110 Semantik<br />

• Die Akzentzuweisung in einem Satz hat z. B. durchaus semantische Konsequenzen,<br />

wie der Bedeutungsunterschied von (26a) und (26b) zeigt:<br />

Fokusakzent<br />

(26) a. Mike hat nur eine SILBERNE Halskette.<br />

b. Mike hat nur eine silberne HALSKETTE.<br />

5.4 Bedeutung und Referenz<br />

• Auf die Frage, was die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke ist, wurden im Wesentlichen<br />

drei Antworten gegeben:<br />

1. die realistische Antwort<br />

2. die kognitivistische Antwort<br />

3. die gebrauchstheoretische Antwort<br />

• Wir werden im Folgenden besonders auf die erste Antwort eingehen.<br />

• Auf die dritte Antwort kommen wir im Abschnitt über ‘Pragmatik’ ausführlich zu<br />

sprechen.<br />

• Anzumerken ist, dass die drei Antworten nicht prinzipiell unvereinbar sind.<br />

• Die erste realistische Antwort geht davon aus, dass die Bedeutung von sprachlichen<br />

Ausdrücken in ihrer Beziehung zur Welt liegt.<br />

• Vereinfacht gesprochen bezeichnen Ausdrücke Dinge in der Welt.<br />

• Diese Eigenschaft bezeichnet man als Referenz:<br />

Referenz<br />

(27) Ausdruck<br />

Referenz<br />

Referent<br />

• Ausdrücke referieren auf Dinge in der Welt, ihre Referenten.<br />

• Diese Sicht scheint besonders für Eigennamen plausibel zu sein.<br />

• Eigennamen referieren auf die Person, die den Namen trägt.<br />

Referenz von Eigennamen<br />

(28) a. Bart<br />

Referenz<br />

¦


. Lisa<br />

Referenz<br />

¢<br />

Bedeutung und Referenz 111<br />

• Da man den Referenten eines Ausdrucks meist nicht auf Papier bringen kann,<br />

wird oft vereinfacht geschrieben:<br />

• ” Peter“ (der Ausdruck) referiert auf Peter (die Person in der Welt).<br />

• Die Annahme, dass die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke in ihrer Referenz liegt,<br />

ist auch für andere Ausdrücke als Eigennamen plausibel.<br />

• Zu diesen Ausdrücken gehören unter anderem die sog. definiten Kennzeichnungen:<br />

definite Kennzeichnungen<br />

(29) der Autor der Dreigroschenoper �→<br />

• Vor einer allzu naiven Auffassung der referentiellen Theorie der Bedeutung muss<br />

jedoch gewarnt werden.<br />

• Wenn wir sagen, dass Ausdrücke auf ‘Dinge’ in der Welt referieren, müssen dies<br />

keine konkreten Dinge wie Personen oder bestimmte Objekte sein.<br />

• Wir können z. B. problemlos auf fiktive Dinge referieren:<br />

Referenz auf fiktive Dinge<br />

(30) Humpty Dumpty �→<br />

(31) die rosa Grinsekatze �→<br />

• Ebenso ist der Referent mancher Ausdrücke ein sehr abstraktes ‘Ding’.


112 Semantik<br />

Referenz auf abstrakte ‘Gegenstände’<br />

(32) a. Peters Plan, morgen ins Schwimmbad zu fahren<br />

b. die Hoffnung auf den Weltfrieden<br />

c. das Jahr 2008<br />

d. 5<br />

• Die Referenz von Adjektiven, Nomen und einstelligen Verben ist ebenfalls recht<br />

abstrakt, auch wenn es intuitiv nicht so erscheint.<br />

• All diese Wortarten werden in der Semantik als Prädikate behandelt, die auf<br />

Mengen referieren:<br />

Referenz von Prädikaten<br />

(33) rot �→ { , , , , . . .}<br />

• ” rot“ referiert auf die Menge der roten Objekte.Ein Verb wie ” laufen“ referiert auf<br />

die Menge der Dinge, die laufen.<br />

• Die Referenz von zweistelligen Prädikaten kann folgerichtig als eine Menge geordneter<br />

Paare betrachtet werden:<br />

Referenz von zweistelligen Prädikaten<br />

⎧⎪<br />

⎫⎪<br />

(34) ist Schwester von �→ ⎨⟨<br />

¦, ¢⟩ , ⟨ ¦, �⟩ , . . . ⎬<br />

⎪⎩<br />

• Zum Schluss fragen wir uns, was die Referenz von Ausdrücken wie und, oder und<br />

nicht ist, die keine Objekte oder Mengen zu bezeichnen scheinen.<br />

• Dazu müssen wir zunächst die Frage beantworten, was die Referenz eines Satzes<br />

ist.<br />

• In der traditionellen Semantik wird davon ausgegangen, dass die Referenz eines<br />

Satzes sein Wahrheitswert ist.<br />

• Nach dieser Sichtweise bezeichnet ein Satz entweder den Wert ‘wahr’ (1), oder<br />

‘falsch’ (0).<br />

• Wir werden später bei der Besprechung der Satzsemantik noch genauer auf diese<br />

Position zurückkommen. Dann werden auch die Vorteile dieser etwas unintuitiven<br />

Ansicht klar werden.<br />

⎪⎭


Referenz von Sätzen<br />

(35) a. Hamburg ist die größte Stadt Norddeutschlands. �→ 1<br />

b. Hamburg liegt am Rhein. �→ 0<br />

Probleme der Referenztheorie 113<br />

• Um der Bedeutung von nicht auf die Sprünge zu kommen, vergleichen wir (35)<br />

mit (36):<br />

Referenz negierter Sätze<br />

(36) a. Hamburg ist nicht die größte Stadt Norddeutschlands. �→ 0<br />

b. Hamburg liegt nicht am Rhein. �→ 1<br />

• Wir wollen hier nicht ins Detail gehen, aber wir können an dieser Stelle festhalten,<br />

dass nicht zwar nicht referiert, aber eine Funktion ist, die den Wahrheitswert eines<br />

Satzes – d. h. seine Referenz – umgekehrt.<br />

• Somit haben wir ein erstes einfaches Beispiel für das Kompositionalitätsprinzip:<br />

Die Bedeutung eines negierten Satzes ergibt sich aus dem Wahrheitswert des Satzes<br />

und der Funktion der Negation.<br />

• Ähnliche Überlegungen lassen sich für Ausdrücke wie und aufstellen. (Überlegen<br />

Sie selbst...)<br />

• Wir behalten dies im Hinterkopf und kommen darauf ausführlich in der Satzsemantik<br />

zurück.<br />

5.5 Probleme der Referenztheorie<br />

• Die Bedeutungstheorie, die wir kennen gelernt haben, sieht die Bedeutung sprachlicher<br />

Ausdrücke in ihrer Beziehung zur Welt – ihrer Referenz – begründet.<br />

• Diese einfache Referenztheorie der Bedeutung führt jedoch zu einigen Problemen,<br />

die in zahlreichen klassischen Debatten der Sprachphilosophie und Semantik<br />

münden.<br />

• Da unsere einfache Theorie auf der Idee beruht, dass die Bedeutung von Ausdrücken<br />

ihr Referent ist, müssten zwei Ausdrücke, die den gleichen Referenten<br />

haben, die gleiche Bedeutung haben.<br />

gleicher Referent<br />

(37)<br />

a. Bundeskanzlerin �→<br />

b. Vorsitzende der CDU �→


114 Semantik<br />

• Wenn zwei Ausdrücke die gleiche Bedeutung haben, müsste man sie innerhalb<br />

eines Satzes problemlos austauschen können, ohne dass sich der Wahrheitswert<br />

ändert:<br />

Ersetzung bedeutungsgleicher Ausdrücke<br />

(38) a. Die Bundeskanzlerin ist Physikerin. �→ 1<br />

b. Die Vorsitzende der CDU ist Physikerin. �→ 1<br />

• Es gibt aber Sätze, in denen sich der Wahrheitswert ändert, obwohl die ausgetauschten<br />

Ausdrücke die gleiche Referenz haben.<br />

• Nehmen wir an, die beiden folgenden Ausdrücke referieren auf die gleiche Person:<br />

1. der Vorsitzende des Wohltätigkeitsvereins<br />

2. der Boss des Drogenhändlerrings<br />

• Nehmen wir zusätzlich an, dass Peter nicht weiß, dass es sich bei dem Drogenbaron<br />

und dem Wohltäter um dieselbe Person handelt...<br />

• Obwohl beide Ausdrücke den gleichen Referenten haben, kann sich der Wahrheitswert<br />

der folgenden Sätze unterscheiden:<br />

Wahrheitswertwechsel<br />

(39) a. Peter glaubt, dass der Vorsitzende des Wohltätigkeitsvereins ein gesetzestreuer<br />

Bürger ist.<br />

b. Peter glaubt, dass der Boss des Drogenhändlerrings ein gesetzestreuer<br />

Bürger ist.<br />

• Konstruktionen, wie glauben/wissen/denken, dass oder auch suchen, die den Erhalt<br />

des Wahrheitswertes nicht garantieren, nennt man opake oder intensionale<br />

Kontexte.<br />

• Ein weiteres problem für unsere naive Bedeutungstheorie stellen sog. Identitätsaussagen<br />

der Art ‘A ist B’(A = B) dar.<br />

Identitätsaussage A = B<br />

(40) a. Angela Merkel ist die Bundeskanzlerin.<br />

b. Angela Merkel ist die Vorsitzende der CDU.<br />

c. Die Bundeskanzlerin ist die Vorsitzende der CDU.<br />

• Das Problem dabei: Wenn die Bedeutung eines Ausdrucks nur sein Referent ist,<br />

dann müsste die Sätze (40) gleichbedeutend mit denen in (41) sein:


Identitätsaussage A = A<br />

(41) a. Angela Merkel ist Angela Merkel.<br />

b. Die Bundeskanzlerin ist die Bundeskanzlerin.<br />

c. Die Vorsitzende der CDU ist die Vorsitzende der CDU.<br />

Probleme der Referenztheorie 115<br />

• Nun scheint es aber einen entscheidenden Unterschied zwischen Aussagen der<br />

Form A = B und A = A zu geben.<br />

• Aussagen der Form A = B sind informativ! Wir können durch sie etwas Neues<br />

erfahren und über die Welt lernen.<br />

• Aussagen der Form A = A sind trivial wahr. Sie bieten uns keine neuen Informationen.<br />

• Philosophisch sagt man auch, dass A = B – wenn es denn wahr ist – kontingent<br />

wahr ist, d. h. ‘es hätte auch anders kommen können’ (vgl. Das Auto ist rot.)<br />

• A = A hingegen ist analytisch wahr, d. h. die Wahrheit ergibt sich schon aus<br />

begrifflichen Gründen (vgl. Dieser Junggeselle ist unverheiratet.)<br />

• Es muss also noch eine weitere Komponente geben, die neben dem Referenten,<br />

eine Rolle für die Bedeutung eines Ausdrucks spielt.<br />

• Diese Komponente wurde von Frege Sinn genannt – im Gegensatz zur Bedeutung<br />

(der Referenz).<br />

• Üblicher ist es jedoch in Anlehnung an Carnap von Intension und Extension zu<br />

sprechen.<br />

Abbildung 5.1: Rudolp Carnap (1891-1970)<br />

• Die Intension ist es, die einen Ausdruck quasi mit seinem Referenten verbindet.<br />

• Die Intension liefert für jede ‘Welt’ z. B. die Extension des Ausdrucks der Präsident<br />

der USA:


116 Semantik<br />

Intension und Extension<br />

(42) a. der Präsident der USA 2007<br />

�→ George W. Bush<br />

b. der Präsident der USA 2011<br />

�→ Barack Obama<br />

c. der Präsident der USA 2011′<br />

�→ John McCain<br />

d. der Präsident der USA 2017<br />

�→ ?<br />

• In unserer Welt im Mai 2011 ist die Extension von der Präsident der USA Barack<br />

Obama.<br />

• In unserer Welt im Jahr 2007 ist die Extension George W. Bush.<br />

• In einer alternativen möglichen Welt 2011’ ist die Extension John McCain<br />

• Die Extension für unsere Welt in 2017 kennen wir noch nicht.<br />

• Die Intension ist es, die es uns ermöglicht, den jeweiligen Referenten für eine Welt<br />

‘herauszupicken’.<br />

• Die Einführung der Intension in unsere Theorie hilft uns auch, die angesprochenen<br />

Probleme zu lösen.<br />

1. In den sog. opaken oder intensionalen Kontexten geht es um die Intension und<br />

nicht um die Extension. Ein Austausch von extensionsgleichen Ausdrücken, die<br />

eine unterschiedliche Intension haben, kann deshalb den Wahrheitswert ändern.<br />

2. Identitätsaussagen der Form A = B sind deshalb informativ, weil wir erfahren, dass<br />

die Extension zweier Ausdrücke gleich ist, was nicht trivial ist, wenn sie nicht die<br />

gleiche Intension haben.<br />

Aussagen der Form A = A hingegen haben die gleiche Intension und somit<br />

zwangsläufig die gleiche Extension.<br />

5.6 Bedeutung und Wahrheit<br />

• Bisher haben wir gelernt, was die Extension von Wörtern und Sätzen ist:<br />

1. Die Extension eines Wortes ist seine Referenz.<br />

2. Die Extension eines Satzes ist sein Wahrheitswert.<br />

• Nun werden wir sehen, wie sich die Bedeutung eines Satzes aus der Bedeutung<br />

seiner Bestandteile und der Art ihrer Zusammensetzung berechnen lässt<br />

(→ Kompositionalitätsprinzip).<br />

• Dabei greifen wir auf den Begriff der Wahrheit zurück.


Bedeutung und Wahrheit 117<br />

• Die Sichtweise, dass die Bedeutung von Sätzen mit dem Begriff der Wahrheit<br />

zusammenhängt, wurde z. B. von dem Philosophen Ludwig Wittgenstein so formuliert:<br />

Bedeutung und Wahrheit<br />

(aus Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus: §4.024)<br />

Einen Satz verstehen heißt, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist. (Man kann ihn also<br />

verstehen, ohne zu wissen, ob er wahr ist.)<br />

Abbildung 5.2: Ludwig Wittgenstein (1889-1951)<br />

• Es geht also darum, dass man die Bedingungen kennen muss, unter denen ein Satz<br />

wahr ist, und nicht den konkreten Wahrheitswert.<br />

• Dies bildet die Grundidee der Wahrheitsbedingungensemantik.<br />

Wahrheitsheitbedingen vs. Wahrheitswert<br />

(43) Ede trinkt gerade Kaffee.<br />

• Auch wenn wir nicht wissen, ob (43) wahr ist, wissen wir, was der Fall sein muss,<br />

damit er wahr ist:<br />

Ede trinkt gerade Kaffee.<br />

• Diese Grundidee wird in dem sogenannten T-Schema ausgedrückt, das auf den<br />

Logiker Alfred Tarski zurückgeht.<br />

T-Schema<br />

(T) Für jede Aussage p gilt: ” p“ ist wahr genau dann, wenn p.<br />

T-Sätze<br />

• In dieses Schema lassen sich beliebige Aussagen einsetzen:


118 Semantik<br />

(44) a.<br />

b.<br />

” Markus trinkt Kaffee“ ist wahr gdw. Markus Kaffee trinkt.<br />

” Peter schläft“ ist wahr gdw. Peter schläft.<br />

• Ziel der formalen Wahrheitsbedingungensemantik ist es, die Idee der Wahrheitsbedingungen,<br />

die durch die T-Sätze ausgedrückt werden, zu formalisieren.<br />

• Wichtig ist, dass in der formalen Wahrheitsbedingungensemantik Wahrheit meist<br />

relativ zu einem Modell oder einer Situation formuliert wird.<br />

• Das bedeutet, dass Sätze nie für sich genommen wahr oder falsch sind, sondern in<br />

Bezug auf eine Situation interpretiert werden.<br />

• Situationen können wir uns etwas vereinfacht als kleine Weltausschnitte vorstellen,<br />

zum Beispiel in Form einer kleinen Theaterszene.<br />

• In einer Situation gibt es eine bestimmte Menge von Individuen, die bestimmte<br />

Eigenschaften haben und in bestimmten Relationen zueinander stehen.<br />

• Stellen wir uns z. B. eine sehr einfache Situation vor, in der es vier Individuen<br />

gibt: Lisa, Bart, Maggie und Mr. Burns. Außerdem lachen Bart und Lisa und sonst<br />

niemand.<br />

Individuen, die lachen<br />

¦<br />

¢<br />

�<br />

�<br />

Situation S1<br />

• In Bezug auf diese Situation S1 können wir nun wie gewohnt die Extension der<br />

einfachen Ausdrücke (Wörter) festlegen.<br />

Abbildung 5.3: Alfred Tarski (1901-1983)


• Die Extension von z. B. Bart“ in S1 ist¦.<br />

”<br />

• Dies schreibt man in der Semantik oft wie folgt:<br />

�Bart� S1 =<br />

�Lisa� S1 =<br />

�Maggie� S1 =<br />

�Mr. Burns� S1 =<br />

¦<br />

¢<br />

�<br />

�<br />

Bedeutung und Wahrheit 119<br />

• Die doppelten eckigen Klammmern ” � �“ sollen dabei so viel wie ” die Bedeutung<br />

von“ heißen.<br />

• Während Ausdrücke wie ” Bart“ und ” Lisa“ Individuen in S1 bezeichnen, bezeichnet<br />

das Verb ” lachen“, wie wir bereits wissen, eine Menge von Individuen.<br />

• Wir haben unsere Situation so definiert, dass Bart und Lisa lachen.<br />

Individuen, die lachen<br />

¦<br />

¢<br />

• Wir können also schreiben:<br />

�<br />

�<br />

�lacht�S1 = { ¦, ¢}<br />

• Erinnern wir uns an das Kompositionalitätsprinzip:<br />

Situation S1<br />

Kompositionalitätsprinzip<br />

Die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks ergibt sich aus der Bedeutung seiner Einzelteile<br />

und der Art ihrer Zusammensetzung.


120 Semantik<br />

• Die Bedeutung der ” Einzelteile“ des Satzes Lisa lacht haben wir bereits bestimmt.<br />

• Damit unsere Semantik dem Kompositionalitätsprinzip folgt, müssen wir nun<br />

also noch Bezug auf die ” Art ihrer Zusammensetzung“ – also die Syntax – Bezug<br />

nehmen.<br />

• Um unsere Einführung einfach zu halten, gehen wir von folgender Struktur von<br />

(45) aus:<br />

(vereinfachte) Syntax von ” Lisa lacht“<br />

(45) S<br />

NP<br />

Lisa<br />

VP<br />

lacht<br />

• Dem Strukturbaum in (45) kann man folgende syntaktische Phrasenstrukturregel<br />

entnehmen:<br />

eine einfache Phrasenstrukturregel<br />

(46) S �→ NP VP<br />

• Um unsere Semantik nun kompositional aufzubauen, müssen wir eine entsprechende<br />

semantische Regel formulieren.<br />

• Um dies zu erreichen, müssen wir uns zunächst nochmals mit der Extension des<br />

Verbs ” lachen“ beschäftigen.<br />

• Bisher haben wir angenommen, dass ein einstelliges Verb eine Menge von Objekten<br />

bezeichnet.<br />

• Wir haben für unsere Situation also geschrieben:<br />

�lacht�S1 = { ¦, ¢}<br />

• Eine weitere Möglichkeit dies aufzuschreiben ist:<br />

�lacht� S1 = {x: x lacht in S1}<br />

• Für unsere Semantik ist es nun aber nützlicher, anstatt von Mengen von Funktionen<br />

zu reden.<br />

• Die Grundidee dahinter ist, dass wir statt von einer Menge von einer Funktion<br />

reden können, die ein Individuum als Argument nimmt und einen Wahrheitswert<br />

ergibt.


Bedeutung und Wahrheit 121<br />

• Die Funktion bildet dabei alle Individuen, die in die Extension des Ausdrucks<br />

fallen, auf den Wahrheitswert 1 ab, alle anderen auf 0.<br />

�lacht� als Funktion<br />

(47) �lacht� S1 = die Funktion f , so dass für jedes Individuum x in S gilt, f (x) = 1 gdw.<br />

x ∈ {x: x lacht in S1}<br />

• Um sich diese mathematische Redeweise ein wenig zu veranschaulichen, können<br />

wir uns eine Funktion wie folgt vorstellen:<br />

Funktion – metaphorisch<br />

Eine Funktion ist eine kleine Maschine, die wir mit einem passenden Objekt füttern<br />

müssen, damit es ein anderes Objekt ausspuckt.<br />

(48)<br />

• Die Extension unseres Verbs ” lachen“ ist also eine Funktion, die wir mit einem<br />

Individuum füttern müssen, damit ein Wahrheitswert herauskommt.<br />

• Werden die Individuen, die in S1 lachen, verfüttert, bekommen wir eine 1 heraus.<br />

• Füttern wir unsere Funktion hingegen mit nicht-lachenden Individuen, erhalten<br />

wir eine 0.<br />

¢<br />

�<br />

(49) �lacht�Si ⎡<br />

⎢<br />

= ⎢<br />

⎣<br />

�lacht� Si<br />

¦ ↦ 1<br />

� ↦ 0<br />

¢ ↦ 1<br />

� ↦ 0<br />

⎤<br />

⎥<br />

⎦<br />

• Nun, da wir uns die Bedeutung des Verbs ” lachen“ genauer angeschaut haben, ist<br />

es nicht mehr weit, bis wir die Bedeutung von ” Lisa lacht“ berechnen können.<br />

1<br />

0


122 Semantik<br />

• Erinnern wir uns nochmals an die Argumentstruktur, die wir im Syntax-<strong>Kapitel</strong><br />

für einstellige Verben angenommen haben:<br />

Argumentstruktur für lachen<br />

(50) NPNom1<br />

lachen(x1)<br />

• Der Eintrag in (50) liefert uns den entscheidenen Hinweis darauf, wie wir die<br />

Bedeutung des Verbs ” lachen“ mit der der NP ” Lisa“ semantisch verknüpfen<br />

müssen.<br />

• Wir müssen also die Bedeutung der NP für die Leerstelle x einsetzen.<br />

• Wir können zu der syntaktischen Phrasenstrukturregel in (51) nun also auch eine<br />

entsprechende semantische Regel angeben:<br />

eine einfache Phrasenstrukturregel<br />

(51) S �→ NP VP<br />

eine entsprechende, einfache semantische Regel: Funktionale Applikation<br />

(52) � [S NP VP] � = �VP�(�NP�)<br />

• Die Regel (52) besagt, dass die Bedeutung eines Satzes, der aus einer NP und VP<br />

besteht, gleich der Anwendung der Bedeutung der VP – also einer Funktion – auf<br />

die Bedeutung der NP ist.<br />

• In das Schema (52) können wir nun unseren Beispielsatz einsetzen...<br />

Anwendung der semantischen Regel auf ” Lisa lacht“<br />

(53) � [S Lisa lacht] � = �lacht�(�Lisa�)<br />

• Darüber hinaus hatten wir festgehalten:<br />

�lacht� als Funktion<br />

(54) �lacht� S1 = die Funktion f , so dass für jedes Individuum x in S gilt, f (x) = 1 gdw.<br />

x ∈ {x: x lacht in S1}<br />

• Wir erhalten dann aus (53) und (54):<br />

Wahrheitsbedingungen für ” Lisa lacht“


(55) � [S Lisa lacht] � S1 = 1 gdw. �Lisa� S1 ∈ {x: x lacht in S1}<br />

Bedeutung und Wahrheit 123<br />

• Zur Erinnerung: �p� S1 ist die Bedeutung des Ausdrucks ” p“ in der Situation S1.<br />

• Wir können für die Ausdrücke in doppelten eckigen Klammern die jeweilige<br />

Bedeutung hinschreiben.<br />

• Und da {x: x lacht in S1} die Menge der Lachenden ist, können wir auch diese<br />

hinschreiben:<br />

Wahrheitsbedingungen für ” Lisa lacht“<br />

(56) � [S Lisa lacht] �S1 = 1 gdw. ¢∈ { ¦, ¢}<br />

• Daraus ergibt sich dann, dass die Bedeutung von ” Lisa lacht“ gleich 1 ist.<br />

• Wir haben also die Bedeutung des Satzes korrekt und kompositional abgeleitet.<br />

In der Funktionschreibweise:<br />

⎡<br />

⎢<br />

(57) �Lisa lacht� = �lacht�(�Lisa�) = ⎢<br />

⎣<br />

¦ ↦ 1<br />

� ↦ 0<br />

¢ ↦ 1<br />

� ↦ 0<br />

⎤<br />

⎥ ⎛<br />

⎥ ⎜<br />

⎥ ⎜<br />

⎥ ⎜¢<br />

⎥ ⎜<br />

⎥ ⎜<br />

⎥ ⎝<br />

⎥<br />

⎦<br />

⎞<br />

⎟ = 1<br />

⎟<br />


<strong>Kapitel</strong> 6<br />

Pragmatik<br />

6.1 <strong>Einleitung</strong><br />

Grundlage der Vorlesung zur Pragmatik<br />

Dieser Teil der Vorlesung basiert auf folgender Einführug: Meibauer, Jörg (2001): Pragmatik.<br />

Eine Einführung.2., verbesserte Auflage. Tübingen: Stauffenburg.<br />

• Nachdem wir uns im letzten <strong>Kapitel</strong> mit der Semantik beschäftigt haben, wenden<br />

wir uns nun der anderen linguistischen Teildisziplin zu, die sich ebenfalls mit<br />

Aspekten der Bedeutung beschäftigt: der Pragmatik.<br />

• Wie wir gesehen haben, ist der Gegenstand der Pragmatik die kontextabhängige<br />

Bedeutung von Äußerungen.<br />

Pragmatik<br />

Gegenstand der Pragmatik sind die kontextabhängigen Bedeutungsaspekte.<br />

• Die Pragmatik steht damit in Opposition zur Semantik:<br />

Semantik<br />

Gegenstand der Semantik sind die kontextunabhängigen Bedeutungsaspekte.<br />

• Da wir die Semantik als Wahrheitsbedingungensemantik aufgefasst haben, können<br />

wir die Pragmatik in Abgrenzung dazu wie folgt definieren...<br />

Pragmatik vs. Semantik (Levinson 1983: 90)<br />

Pragmatics has as its topic those aspects of the meaning of utterances which cannot<br />

be accounted for by straightforward reference to the truth conditions of the sentences<br />

uttered. Put crudely: PRAGMATICS = MEANING − TRUTH CONDITIONS


126 Pragmatik<br />

• Die Formel oben geht auf Gerald Gazdar (1979) zurück, und wird deshalb auch oft<br />

nur Gazdar-Formel genannt.<br />

• Kontextabhängige Bedeutungsaspekte sind sehr vielfältig, weshalb die Pragmatik<br />

sehr unterschiedliche Phänomene behandelt.<br />

• Diese Phänomene reichen von Kontextabhängigkeiten auf der Ebene der Äußerungsbedeutung<br />

über individuelle Aspekte der Sprecherbedeutung einer Äußerung<br />

bis hin zu ‘globalen’ Phänomenen wie Diskursen.<br />

• Daraus resultiert, dass die Pragmatik ein recht inhomogenes Feld ist, in die formal<br />

orientierte Arbeiten zu Präsuppositionen, philosophische Werke zur Bedeutungstheorie<br />

ebenso wie Untersuchung zu Arzt-Patienten-Gesprächen fallen.<br />

• Einige wichtige Phänomene, die in der Pragmatik untersucht werden, lassen sich<br />

an folgendem Beispiel illustrieren:<br />

Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog:<br />

(1) Ich habe mich nie mit der Rechtschreibreform befaßt. Ich befasse mich nur mit<br />

wichtigen Dingen.<br />

1. Deixis Die Referenz von ich<br />

2. Implikatur ” Die Rechtschreibreform ist nicht wichtig“<br />

3. Präsupposition ” Es gibt eine Rechtschreibreform“<br />

4. Sprechakt Behauptung<br />

5. Konversationsanalyse Rolle der Äußerung im Gespräch<br />

6.2 Deixis<br />

Deixis<br />

Deixis ist eine spezielle Form sprachlicher Bezugnahme, die prinzipiell kontextabhängig<br />

ist.<br />

(2) Ich bin jetzt hier.


6.2.1 Typen der Deixis<br />

• Personaldeixis<br />

• Temporaldeixis<br />

• Lokaldeixis<br />

Personaldeixis<br />

• Identität der Gesprächspartner<br />

• Personalpronominalsystem<br />

Deixis 127<br />

• Worauf die Personalpronomen referieren, weiß man, wenn man die Äußerungssituation<br />

kennt.


128 Pragmatik<br />

Numerus und Personaldeixis<br />

1. Ps. ➞ Sprecher oder Sprechergruppe<br />

2. Ps. ➞ Hörer oder Hörergruppe<br />

3. Ps. ➞ nicht angesprochene Person(en), über die etwas ausgesagt wird<br />

Sozialdeixis<br />

bei Höflichkeit, Mittel um soziale Beziehungen auszudrücken; höflichkeitsbezogene<br />

Ausdrucksmittel ➞ Honorifikum, du vs. Sie<br />

Temporaldeixis<br />

betrifft die zeitliche Orientierung<br />

v.a. bei Adverbien zu erkennen, wie heute, gestern, morgen, aber auch vorhin, jetzt


morgen = Mittwoch (30.04.08)<br />

heute = Dienstag (29.04.08)<br />

Auch Tempora sind deiktisch!<br />

Mittwoch (30.04.08) = heute<br />

Deixis 129<br />

Man muss den Sprechzeitpunkt kennen, um zu wissen, auf welchen Zeitpunkt sich der<br />

Sprecher bezieht:<br />

(3) a. Boris Becker schlägt ein As.<br />

b. Boris Becker schlug ein As.<br />

c. Boris Becker wird ein As schlagen.<br />

Lokaldeixis<br />

betrifft die räumliche Orientierung der Gesprächspartner:<br />

• Lokaladverbien wie z.B. hier, da, dort<br />

• lokale Präpositionen wie z.B. vor, hinter, links<br />

• Demonstrativpronomina wie z.B. dieser, jener


130 Pragmatik<br />

hier = Honolulu hier = Deutschland<br />

dort = Honolulu<br />

zwei Referenzsysteme bei der Lokaldeixis<br />

• positional<br />

• dimensional<br />

Gemeinsamkeiten beider Referenzsysteme<br />

Die deiktische Referenz ist von der Position des Sprechers und des Hörers abhängig.<br />

Unterschiede<br />

Nur bei der dimensionalen Lokaldeixis spielt die Orientierung, d.h. die Wahrnehmungsrichtung<br />

eine Rolle.<br />

Verdeutlichung durch Redewiedergabe: Positionaldeixis<br />

(4) a. [A:] Hier scheint die Sonne.<br />

b. [B zu C:] Sie sagt, dort/da (*hier) scheint die Sonne.<br />

➞ positionaldeiktische Äußerungen müssen umgeformt wiedergegeben werden.<br />

Verdeutlichung durch Redewiedergabe: Dimensionaldeixis


(5) a. [A:] Der Stuhl steht rechts.<br />

b. [B zu C:] Sie sagte, der Stuhl stehe rechts (*links).<br />

Deixis 131<br />

➞ dimensionaldeiktische Äußerungen können nicht umgeformt wiedergegeben werden!<br />

Textdeixis<br />

Ausdrücke beziehen sich auf Teile des vorangehenden Textes.<br />

(6) a. Tack, tack, tack: so ging es die ganze Nacht.<br />

b. Wie wir oben gesehen haben, handelt es sich dabei um Textdeixis.<br />

6.2.2 Interpretationsprobleme<br />

Probleme der deiktischen Interpretation<br />

(7) a. Problem der Origo-Festlegung<br />

b. Koordinationsproblem<br />

c. Abgrenzungsproblem<br />

Origo-Festlegung<br />

a. Problem der Origo-Festlegung<br />

Was ist Origo?<br />

• deiktisches Zentrum, egozentrische Sichtweise<br />

• die Origo ist nicht von vornherein klar; sie muß daher durch die Beteiligten<br />

festgelegt werden.<br />

Welche 2 Sichtweisen existieren?<br />

intrinsisch: aus der Perspektive des Referenzobjektes<br />

extrinsisch: aus der Perspektive des Betrachters


132 Pragmatik<br />

(8) Der Ball ist vor dem Bus.<br />

Koordinationsproblem<br />

b. Koordinationsproblem<br />

• Normalerweise haben Sprecher und Hörer ein gemeinsames Zeigfeld ➞ umfasst<br />

deiktische Ausdrücke<br />

• In vielen Fällen liegt aber nur ein partielles Zeigfeld vor oder es muss vom Hörer<br />

rekonstruiert werden:<br />

(9) [Ansichtskarte:] Hier regnet es den ganzen Tag.<br />

• Sprecher/Schreiber und Hörer/Leser sind nicht in der gleichen Äußerungssituation:<br />

der Hörer muss die Umgebung des Sprecherorts rekonstruieren.<br />

• Sprecher und Hörer müssen den relevanten Sprecherort oder die relevante Sprechzeit<br />

miteinander koordinieren.<br />

Abgrenzungsproblem<br />

c. Abgrenzungsproblem<br />

• Der Raum, auf den sich hier beziehen kann, kann unterschiedlich groß ausfallen;<br />

die Zeitspanne, auf die sich jetzt beziehen kann, ebenfalls:<br />

(10) a. Hier geht es uns gut. ➞ Landau, Pfalz, Deutschland, Europa<br />

b. Früher war Verhütung ein Problem; jetzt hat man die Pille. ➞ heute, in den<br />

90ern, in den 50ern<br />

• Die gemeinte räumliche und zeitliche Ausdehnung muss abgegrenzt werden.


6.3 Referenz<br />

6.3.1 Referieren<br />

Welche referierenden Ausdrücke haben keinen deiktischen Charakter?<br />

Eigennamen: Boris Becker, Montblanc, Struppi<br />

Referenz 133<br />

definite Kennzeichnungen: der Mann von Nastassja, der höchste Berg Europas, der<br />

Hund von Tim<br />

➞ Eigennamen haben eine ” feste“ Referenz, sie identifizieren genau ein Individuum<br />

dieses Namens.<br />

➞ Definite Kennzeichnungen sind zusammengesetzte Ausdrücke, die ein Individuum<br />

aufgrund seiner Eigenschaften identifizieren.<br />

Welche Ausdrücke können nicht referieren?<br />

Gattungsnamen: Katze, Berg, etc.<br />

Substanznamen: Milch, Holz, etc.<br />

➞ Diese Ausdrücke referieren nur zusammen mit anderen Ausdrücken wie Artikeln,<br />

Quantoren (zwei, manche, einige, viele), Possessivpronomen etc.:<br />

• unsere Katze, der Berg, auf dem ich wohne<br />

• diese Milch, das Holz dort drüben<br />

Zeichen, dass der Sprecher einen bestimmten Referenten im Sinn hat<br />

• bestimmter Artikel ABER:<br />

– Referenz ist auch mit indefiniten Nominalphrasen möglich: Da draußen ist<br />

ein Mann, der auf dich wartet<br />

• Definite Nominalphrasen müssen nicht immer referieren: Der Bundeskanzler<br />

bestimmt die Richtlinien der Politik.<br />

• Es ist möglich, mit zwei unterschiedlichen definiten Kennzeichnungen auf das<br />

gleiche Individuum zu referieren:


134 Pragmatik<br />

Attributiver und referentieller Gebrauch<br />

(11) Der Ministerpräsident muss sich einiges gefallen lassen.<br />

➞ Zwei Gebrauchsweisen der NP der Ministerpräsident<br />

referentiell: Kurt Beck muss sich einiges gefallen lassen.<br />

attributiv: Wer auch immer Ministerpräsident ist, muss sich einiges gefallen lassen.<br />

Referenz<br />

Sprachliche Bezugnahme auf Personen, Gegenstände, Sachverhalte<br />

Referieren als eine sprachliche Handlung (Searle 1971)<br />

• Sprachliche Handlungen sind Teil von Konventionen und können gelingen und<br />

misslingen.<br />

• Damit sie gelingen oder glücken, gibt es Bedingungen, die ein Sprecher einhalten<br />

muss ➞ Glückensbedingungen<br />

Glückensbedingungen für referentielle Akte<br />

1. Der Sprecher muss sich eines Ausdrucks bedienen, der für seine Referenzabsicht<br />

geeignet ist.<br />

2. Bedingung der Existenz: Der Gegenstand, auf den referiert wird, muss zum Zeitpunkt<br />

der Äußerung in einer aktuellen oder möglichen Welt als existent angenommen<br />

werden, und zwar von Sprecher und Hörer.<br />

3. Bedingung der Identifizierung: Der zur Referenz verwendete Ausdruck muss<br />

den gemeinten Gegenstand eindeutig identifizieren, d.h. nur auf einen als existent<br />

betrachteten Gegenstand zutreffen.<br />

4. Der Sprecher muss einen Ausdruck verwenden, der dem Hörer die Identifizierung<br />

des gemeinten Gegenstands ermöglicht.


Verstoß gegen Glückensbedingungen<br />

(12) [Schaufenster: Ein roter und ein grüner Pulli]<br />

A: *Ich nehme einen/den.<br />

➞ Verstoß gegen Bedingung 1<br />

(13) [Schaufenster ohne Pullis]<br />

A: *Ich nehme einen/den.<br />

➞ Verstoß gegen Bedingung 2<br />

(14) [Schaufenster: 4 rote mit unterschiedlichen Mustern]<br />

A: *Ich nehme den roten.<br />

➞ Verstoß gegen Bedingung 3<br />

(15) [Hörer sieht mehrere Pullis zum ersten Mal]<br />

A: *Ich nehme den, den ich gestern schon anprobiert habe.<br />

➞ Verstoß Bedingung 4, da identifiziert, aber nicht vor dem Hörer<br />

6.3.2 Arten der Referenz<br />

Anaphorische Referenz<br />

Referenz 135<br />

• Anaphern beziehen sich zurück auf andere Ausdrücke im Text = Antezedenten<br />

• Sie referieren auf das gleiche Individuum = Koreferenz<br />

Kataphorische Referenz<br />

Kataphern vorverweisen auf einen anderen Ausdruck.<br />

6.3.3 Anaphorische Relation<br />

Anaphorische Relationen<br />

(16) Ein Mann kommt ins Zimmer. Der Kerl sah ungepflegt aus.<br />

➞ Anapher durch semantisches Wissen des Hörers erschlossen<br />

(17) Nachts stürzt ein Mann auf die Polizeiwache und berichtet erregt, daß er soeben<br />

im Dunkeln an seiner Gartenpforte niedergeschlagen worden sei. Ein Polizist<br />

wird beauftragt, am Ort des Überfalls Spuren zu sichern. Kurz darauf kommt er<br />

mit einer Riesenbeule am Kopf zurück: ” Ich habe den Fall aufgeklärt.“ ” Bravo“,<br />

sagt sein Chef, ” und wie?“ ” Ich bin auch auf die Harke getreten!“


136 Pragmatik<br />

6.3.4 Indirekte Anapher<br />

Indirekte Anapher<br />

• Es gibt keinen Antezedenten, sondern einen ” Auslöser“.<br />

• Antezedenten = Harke, Auslöser, dass er soeben im Dunkeln an seiner Gartenpforte<br />

niedergeschlagen wurde<br />

• Auslöser und Anapher stehen in einer ” assoziativen“ Beziehung.<br />

• Man weiß, dass man nicht auf Harken treten sollte, da man sich dann den Stiel an<br />

den Kopf schlagen kann = Weltwissen<br />

• Eine Ersetzung der Anapher durch eine pronominale Anapher ist nicht möglich.<br />

• Zur Auflösung der anaphorischen Relation ist nicht nur sprachliches Wissen,<br />

sondern auch Wissen über die Welt nötig.<br />

• Solche Schlussprozesse sind komplexer Art, da verschiedene Wissensbereiche<br />

beteiligt sind.<br />

6.4 Kooperation und Implikaturen<br />

• Sprecher und Hörer müssen im Gespräch oft eng zusammenarbeiten, z. B. wenn<br />

es um Deixis und Referenzzuweisung geht:<br />

Zusammenarbeit zwischen Sprecher und Hörer<br />

(18) Mein Porsche muss dringend in die Werkstatt.<br />

• Man geht als Hörer von (2) davon aus, ...<br />

1. dass der Porsche dem Sprecher gehört.<br />

2. dass der Sprecher nicht ” Porsche“ sagt, wenn er z. B. einen Jaguar meint.<br />

➞ Sprecher und Hörer kooperieren in der Kommunikation.<br />

• Dies scheint allerdings nicht immer der Fall zu sein. Ein Beispiel:<br />

Joschka Fischer auf die Frage, welchen SPD-Kanzlerkandidaten seine Partei bevorzuge:<br />

(19) Wir haben uns auf der Klausurtagung für August Bebel


Abbildung 6.1: H. Paul Grice (1913-1988)<br />

• August Bebel war zum Sprechzeitpunkt schon lange tot.<br />

• Hat Joschka Fischer die Reporter dreist belogen?<br />

• Diese Lüge wäre allerdings zu offensichtlich.<br />

Kooperation und Implikaturen 137<br />

• Fischer wollte wohl etwas anderes zu verstehen geben, z. B., dass man sich nicht<br />

einigen konnte, oder dass alle potentiellen Bewerber abgelehnt wurden.<br />

• Man kann schließen, dass Fischer nur scheinbar nicht kooperativ war.<br />

• Wir verhalten uns in der Kommunikation grundsätzlich kooperativ.<br />

• Die Annahme, dass unsere Gesprächspartner kooperativ sind, ermöglicht uns<br />

Schlussfolgerungen, die weit über das wörtlich Gesagte hinausgehen.<br />

• Diese Ideen gehen auf den Sprachphilosophen Paul Grice zurück.<br />

Kooperationsprinzip und Konversationsmaximen<br />

• Grundlagen der rationalen Kommunikation sind nach Grice:<br />

1. das Kooperationsprinzip<br />

2. die Konversationsmaximen<br />

• Schauen wir uns diese beiden Grundlagen genauer an ...<br />

• Das Kooperationsprinzip bildet die Grundlage jeder rationalen Kommunikation.<br />

Kooperationsprinzip<br />

Make your conversational contribution such as is required, at the stage at which it occurs,<br />

by the accepted purpose or direction of the talk exchange in which you are engaged.<br />

Kooperationsprinzip (Übersetzung)<br />

Mach deinen Beitrag zur Konversation genau so, wie es der Punkt der Konversation, an<br />

dem er erfolgt, erfordert, wobei das, was erforderlich ist, bestimmt ist durch den Zweck<br />

oder die Richtung des Gesprächs, in dem du dich befindest.


138 Pragmatik<br />

• Das Kooperationsprinzip wird weiter spezifiziert durch vier Konversationsmaximen.<br />

Konversationsmaximen<br />

1. Maxime der Quantität<br />

2. Maxime der Qualität<br />

3. Maxime der Relevanz (Relation)<br />

4. Maxime der Modalität (Art und Weise)


Maxime der Quantität<br />

Kooperation und Implikaturen 139<br />

1. Make your contribution as informative as is required (for the current purposes of<br />

exchange). Mach deinen Beitrag so informativ, wie es der gegenwärtige Konversationszweck<br />

verlangt.<br />

2. Do not make your contribution more informative than is required. Mach deinen<br />

Beitrag nicht informativer, als verlangt.<br />

Maxime der Qualität<br />

Try to make your contribution one that is true. Versuche, einen wahren Beitrag zu<br />

geben.<br />

1. Do not say what you believe to be false. Sage nichts, was du für falsch hältst.<br />

2. Do not say that for which you lack adequate evidence. Sage nichts, für dessen<br />

Wahrheit du keine adäquaten Gründe/Beweismittel anführen kannst.<br />

Maxime der Relevanz<br />

Be relevant.Sei relevant.<br />

Maxime der Modalität<br />

Be perspicuous. Sei klar.<br />

1. Avoid obscurity of expression. Vermeide obskure Ausdrucksweise.<br />

2. Avoid ambiguity. Vermeide Doppeldeutigkeit.<br />

3. Be brief (avoid unnecessary prolixity). Sei kurz (vermeide unnötige Weitschweifigkeit).<br />

4. Be orderly. Verwende die richtige Reihenfolge.<br />

Funktion der Maximen<br />

Die Maximen sind keine Anleitungen zu richtigem kommunikativem Verhalten. Es handelt<br />

sich also nicht um moralische Normen, sondern um ➞ Regeln rationalen Verhaltens.<br />

Beispiel Qualitätsmaxime<br />

Es geht nicht um den moralischen Status von Lügen, sondern darum, dass die Kommunikation<br />

erheblich erschwert wäre, wenn wir immer zunächst annehmen, unser<br />

Gesprächspartner könnte gerade lügen.<br />

(20) a. Anton: Wie spät ist es?<br />

b. Berta: Der Postbote war gerade da.<br />

• Die wörtliche Bedeutung von dem, was Bertas gesagt hat, enthält folgende Informationen:


140 Pragmatik<br />

➞ ” Der Postbote war gerade da.“<br />

• Je nach Situation kann Berta aber mehr meinen:<br />

➞ ” Es ist kurz nach 9 Uhr.“<br />

• Diese zusätzliche Bedeutung steckt nicht in der wörtlichen Bedeutung von Bertas<br />

Äußerung, sondern muss aus dem Kontext erschlossen werden.<br />

6.4.1 Konversationelle Implikaturen<br />

Konversationelle Implikaturen<br />

Solche Schlüsse heißen nach Grice konversationelle Implikaturen.<br />

Schlussprozess<br />

Vorgang zum Ermitteln von konversationellen Implikaturen<br />

Schlussprozess für dieses Beispiel<br />

1. Schritt:<br />

• Verletzung der Maxime der Relation: die Antwort hat auf den ersten Blick nichts<br />

mit der Frage zu tun.<br />

• Verletzung der Maxime der Quantität: Berta hat mehr gesagt, als nötig.<br />

➞ Trotzdem gibt es keinen Grund zur Annahme, dass Berta das Kooperationsprinzip<br />

bzw. die Konversationsmaximen verletzen wollte.<br />

Schlussprozess für dieses Beispiel<br />

2. Schritt:<br />

• Anton weiß, dass der Postbote üblicherweise um 9 Uhr die Post bringt, und er<br />

weiß, dass Berta das auch weiß.<br />

• Anton kann die Äußerung von Berta nur dann als relevant ansehen (und folglich<br />

annehmen, dass Berta das Kooperationsprinzip einhalten will), wenn er annimmt,<br />

dass Berta die genaue Uhrzeit nicht weiß, aber weiß, dass der Postbote gerade da<br />

war.<br />

Schlussprozess für dieses Beispiel<br />

3. Schritt:<br />

• Berta weiß, dass Anton diese Implikatur herausarbeiten kann,und sie hat Anton<br />

nicht daran gehindert, es zu tun.<br />

• Also nimmt Anton an, dass Berta implikatieren wollte, dass es so spät ist, wie<br />

immer wenn der Postbote kommt.


6.4.2 Auslöser für Implikaturen<br />

Auslöser für Implikaturen<br />

scheinbare Verletzung/Ausbeutung des KPs oder der Maximen<br />

Schlussprozess Implikaturen<br />

Befolgung des KPs oder der Maximen<br />

Verletzung von Maximen<br />

Verletzung der Qualitätsmaxime:<br />

(21) A: Ich habe gestern 325 Liegestützen gemacht.<br />

B: Klar, und ich bin der Kaiser von China.<br />

Verletzung gegen die Quantitätsmaxime<br />

Kooperation und Implikaturen 141<br />

(22) A: Warum sollen wir nicht verkleidet zur Arbeit kommen?<br />

B: Arbeit ist Arbeit und Fasching ist Fasching. +¿ ’ Faschingskostüme vertragen<br />

sich nicht mit der gewünschten Ernsthaftigkeit bei der Arbeit.‘<br />

Tautologien<br />

” x ist x“ ➞ immer wahr und deshalb uninformativ, lösen jedoch konversationelle Implikaturen<br />

aus<br />

Verletzung der Modalitätsmaxime<br />

(23) Papa: Sollen wir den Kindern was Süßes kaufen?<br />

Mama: Aber kein E-I-S.<br />

+¿ ’ Wenn die Kinder das Wort Eis hören, wollen sie gerade das.‘<br />

(24) Frau Sänger brachte Töne aus einer Arie hervor.+¿ ’ Sie sang nicht richtig.‘<br />

Verletzung der Relevanzmaxime<br />

(25) A: Was hältst du eigentlich von Marias neuem Freund?<br />

B: Ich habe gerade einen Artikel zur Relevanzmaxime gelesen.


142 Pragmatik<br />

Ironie – Verletzung der Qualitätsmaxime<br />

(26) [Streitgespräch zwischen dem Unternehmervertreter Hans Joachim Langmann<br />

und dem Umweltminister Joschka Fischer, ZEIT 29.8.1986]<br />

L.: Also, da wird doch ein Problem künstlich erzeugt, das so gar nicht besteht.<br />

Es ist eine nicht belegbare Behauptung, daß zum Beispiel aus unseren<br />

Müllverbrennungsanlagen so viel Dioxin kommt, das die Gesundheit<br />

gefährdet. Menschen sind dem Dioxin ausgesetzt, seit es Feuer – seit es<br />

Lagerfeuer – gibt...<br />

F.: Ich finde es ja richtig herzig, daß Sie die heutige Chlorchemie mit einem<br />

Lagerfeuer vergleichen. +¿ ’ Es ist unverantwortlich, die heutige Chlorchemie<br />

mit einem Lagerfeuer zu vergleichen.‘<br />

Befolgung von Maximen<br />

Befolgung der Maxime der Modalität<br />

(27) Heinz trank den Schnaps und ging in die Kneipe.<br />

Auslöser der Implikatur<br />

Konjunktion und ➞ Reihenfolge der Konjunkte im Satz<br />

(28) Heinz ging in die Kneipe und trank den Schnaps. +¿ ’ Hans trank den Schnaps in<br />

der Kneipe‘<br />

Befolgung der Quantitätsmaxime<br />

(29) Einige Autoverkäufer sind Betrüger., ja sogar alle.<br />

• Der Sprecher in (29) befolgt die Maxime und sagt nur so viel, wie er tatsächlich<br />

meint.<br />

• Die Implikatur kann trotzdem gestrichen werden.<br />

• Solche Implikaturen heißen skalare Implikaturen.<br />

• Die Skala hier: <br />

• Linksstehende Ausdrücke sind ‘stärker’ (informativer) als rechtsstehende.<br />

• Skalare Implikaturen sind interessant, da sie gewisse pragmatische Regularitäten<br />

aufzeigen.


Kooperation und Implikaturen 143<br />

skalare Implikaturen<br />

Bei einer Skala < p, q > gilt: Aus der Behauptung, dass q, läßt sich die Implikatur ¬p<br />

ableiten.<br />

Beispiele für Skalen<br />

(30) , , ,, ...<br />

Befolgung der Maxime der Qualität<br />

(31) Hans hat alle Romane von Karl May gelesen.<br />

Befolgung der Maxime der Relevanz<br />

(32) a. Anna: Mir ist gerade das Benzin ausgegangen.<br />

b. Berta: Gleich um die Ecke ist eine Tankstelle.<br />

• Halten wir fest: Nach Grice kann man die Bedeutung, die ein Sprecher mittels<br />

einer Äußerung kommuniziert (Sprecherbedeutung), in zwei Teile aufteilen.<br />

(33) Sprecherbedeutung nach Grice (Speaker Meaning) I<br />

speaker meaning<br />

what is said what is implicated<br />

• Die Entdeckung des Kooperationsprinzips und der Konversationsmaximen und<br />

die Entwicklung der Implikaturentheorie gilt als Meilenstein der Pragmatik.<br />

• Seitdem lassen sich in der pragmatischen Forschung etliche Veränderungsvorschläge<br />

des Grice’schen Ansatzes finden.<br />

• Erweiterung der Maximen: z. B. Maximen ästhetischer, sozialer oder moralischer<br />

Art. Zum Beispiel findet man bei Leech (1983) konkrete Vorschläge für Höflichkeit.<br />

• Reduktion der Maximen, z. B.: Levinson (1987): drei Maximen (Q, I, M) Sperber<br />

& Wilson (1986): nur eine Maxime (Relevanz)<br />

6.4.3 Implikaturentests<br />

• Im Folgenden werden wir uns nun fragen, was für Eigenschaften konversationelle<br />

Implikaturen ausmachen.<br />

• Eine Liste solcher Eigenschaften ist wünschenwert, damit wir eine geeignete Diagnostik<br />

haben, um konversationelle Implikaturen erkennen und von anderen<br />

Bedeutungsaspekten unterscheiden zu können.


144 Pragmatik<br />

Rekonstruierbarkeit<br />

• Eine Eigenschaft konversationeller Implikaturen kennen wir bereits:<br />

• Konversationelle Implikaturen lassen sich durch einen Schlussprozess ermitteln.<br />

Rekonstruierbarkeit<br />

Konversationelle Implikaturen sind aus der wörtlichen Bedeutung des geäußerten Satzes,<br />

dem Kooperationsprinzip und seinen Konversationsmaximen und dem jeweiligen<br />

Kontext mithilfe eines Schlußprozesses rekonstruierbar.<br />

(34) A: Mein Benzin ist alle.<br />

B: Um die Ecke ist eine Tankstelle.+¿ ’ An der Tankstelle kann A Benzin bekommen.‘<br />

Schlussprozess für diese Implikatur<br />

• B hat gesagt, dass gleich um die Ecke eine Tankstelle ist.<br />

• Allem Anschein nach verhält sich B kooperativ.<br />

• Doch nur wenn B denkt, dass ich mich dort mit Benzin versorgen kann, folgt B der Maxime<br />

der Relation.<br />

• Nun weiß B (und ich weiß, dass B weiß), dass ich erkennen kann, dass die Annahme, dass B<br />

denkt, dass ich mich dort mit Benzin versorgen kann, erforderlich ist, damit B’s Äußerung<br />

kooperativ war.<br />

• B hat nichts getan, um mich davon abzuhalten, zu glauben, dass ich mich dort mit Benzin<br />

versorgen kann.<br />

• B beabsichtigt offensichtlich, dass ich glaube, dass ich mich dort mit Benzin versorgen kann.<br />

• Folglich implikatiert B konversationell, dass ich mich dort mit Benzin versorgen kann.<br />

Schlussprozess – allgemeines Schema<br />

• B hat gesagt, dass p.<br />

• Man kann annehmen, dass B die Maximen oder zumindest doch das KP beachtet.<br />

• Nur wenn B denkt, dass q, folgt B den Maximen bzw. dem KP.<br />

• B weiß (und ich weiß, dass B weiß), dass ich erkennen kann, dass die Annahme,<br />

dass B denkt, dass q, erforderlich ist, wenn B das KP beachten will.<br />

• B hat nichts getan, um mich davon abzuhalten, zu glauben, dass q.<br />

• B beabsichtigt, dass ich glaube, dass q.<br />

• Also implikatiert B konversationell, dass q.


Kontextabhängigkeit<br />

Kooperation und Implikaturen 145<br />

Kontextabhängigkeit<br />

Konversatzionelle Implikaturen sind kontextabhängig. Die gleiche Äußerung kann in<br />

verschiedenen Kontexten unterschiedliche Implikaturen auslösen.<br />

(35) a. Anna: Und wie geht es Charlie in seinem neuen Job?<br />

b. Berta: Ach, bisher gut; im Gefängnis ist er noch nicht gelandet.+¿ ’ Charlie<br />

ist potentiell unehrlich.‘<br />

• Die Implikatur ändert sich, wenn sich der Kontext ändert, auch wenn die Äußerung<br />

dieselbe ist.<br />

Ein anderer Kontext<br />

(36) [Anna und Berta sprechen über einen gemeinsamen Freund Charlie, der jetzt in<br />

einer Bank arbeitet, die eine Geldwaschanlage der Mafia ist.]<br />

a. Anna: Und wie geht es Charlie in seinem neuen Job?<br />

b. Berta: Ach, bisher gut; im Gefängnis ist er noch nicht gelandet. +¿ ’ Charlie<br />

ist in Gefahr.‘<br />

Streichbarkeit<br />

• Statt eines anderen Kontextes kann auch ein sprachlicher Zusatz in der Lage sein,<br />

eine Implikatur zu löschen:<br />

Streichung von Implikaturen<br />

(37) Einige Linguisten sind cool., ja sogar alle. + > Nicht alle Linguisten sind cool.<br />

+ > Nicht alle Linguisten sind cool.<br />

• Dies ist eine sehr wichtige, weitere Eigenschaft:<br />

Streichbarkeit<br />

Implikaturen sind streichbar, d. h. sie lassen sich im selben Kontext durch einen Zusatz<br />

zurücknehmen, ohne dass dies widersprüchlich wirkt.<br />

• Mit der Rekonstruierbarkeit, Kontextabhängigkeit und Streichbarkeit haben wir<br />

nun drei wichtige Eigenschaften konversationeller Implikaturen gefunden, die uns<br />

gleichzeitig auch als Test dienen können.<br />

• Diese Eigenschaften sind zugleich Abgrenzungskriterien gegenüber wörtlicher<br />

Bedeutung:


146 Pragmatik<br />

wörtliche Bedeutung vs. konversationelle Implikaturen<br />

wörtliche konversationelle<br />

Bedeutung Implikaturen<br />

rekonstruierbar ✗ ✓<br />

kontextabhängig ✗ ✓<br />

streichbar ✗ ✓<br />

• Zusätzlich können diese Eigenschaften zur Unterscheidung zwischen Semantik<br />

und Pragmatik dienen.<br />

6.5 Sprechakte<br />

Sprechakte<br />

• Mit ” Sprechakt“ werden sprachliche Handlungen eines bestimmten Typs bezeichnet:<br />

• z.B. Fragen, Aufforderungen, Behauptungen, etc.<br />

• Die Sprechakttheorie wird von manchen Forschern als Kernstück der Pragmatik<br />

bezeichnet.<br />

➞ Pragmatik ohne den Begriff der sprachlichen Handlung nicht denkbar<br />

Äußerungen als Handlungen<br />

Warum Sprechakttheorie? ➞ Äußerungen sind – jedenfalls wenn sie intentional sind –<br />

bestimmte Handlungen.<br />

Beleidigung<br />

(38) [Angestellter zum Chef]: Arschloch!<br />

Landesarbeitsgerichts Hessen: Arbeitnehmer riskiert die fristlose Kündigung, wenn er<br />

einen Geschäftsführer als Arschloch bezeichnet.<br />

Beleidigungen sind Handlungen<br />

Bei erfolgreichen Beleidungen entsteht ein Schaden für den Beteiligten. ➞ Beleidigungen<br />

sind Handlungen, die sich prinzipiell nicht von anderen Handlungen, z.B. eine<br />

Fensterscheibe einschlagen, unterscheiden.<br />

Unterschied zu anderen Handlungen?<br />

• Sie sind sprachliche Handlungen.<br />

• Sie verfügen somit über eine bestimmte sprachliche Struktur, die durch die Grammatik<br />

festgelegt ist.


Sprechakttheorie<br />

Die Sprechakttheorie untersucht die Relation zwischen ...<br />

1. einer Äußerung (eines Satzes mit einer sprachlichen Struktur) und<br />

Der Sprechakt 147<br />

2. einem sprachlichen Handlungstyp (Sprechakttyp) in einer Äußerungssituation.<br />

➞ Sprechakttheorie setzt grammatische Kenntnisse voraus.<br />

Verhältnis Sprache – Sprechakte<br />

Nicht jeder Satz kann zur Realisierung jedes beliebigen Sprechakts verwendet werden.<br />

(39) Du bist nicht nett zu mir gewesen!<br />

➞ Behauptung<br />

➞ Vorwurf<br />

➞ Vorschlag<br />

➞ Kompliment<br />

6.6 Der Sprechakt<br />

6.6.1 Sprechakttheoretiker<br />

Wichtige Sprechakttheoretiker<br />

John L. Austin<br />

• How to Do Things with Words (1962)<br />

• Begründer der Sprechakttheorie<br />

John R. Searle<br />

• Speech Acts. An Essay in Language Philosophy (1969)<br />

• Searle stellt den Sprechakt als Analyseeinheit neben Einheiten wie dem Phonem,<br />

dem Morphem, dem Wort und dem Satz.<br />

• Diese Einheiten dienen zur Realisierung von Sprechakten.


148 Pragmatik<br />

6.6.2 Teilakte<br />

Sprechakt ➞ 3 Teilakte<br />

Nach Searle besteht jeder Sprechakt aus drei Teilakten. Manchmal wird hier noch ein<br />

vierter Teilakt genannt.<br />

1. Äußerungsakt<br />

Äußerung von Wörtern (Morphemen, Sätzen)<br />

2. Propositionaler Akt<br />

Referenz und Prädikation<br />

3. Illokutionärer Akt<br />

Behaupten, Fragen, Befehlen, Versprechen etc.<br />

4. Perlokutionärer Akt<br />

Wirkungen, die der Sprecher durch seinen Sprechakt hervorbringt<br />

1. Äußerungsakt<br />

• Äußerung von sprachlichen Einheiten (Lauten, Wörtern, Sätzen), die den grammatischen<br />

Bedingungen der Sprache entsprechen.<br />

• Kerngebiete: Phonetik/Phonologie, Morphologie und Syntax<br />

• nach Searle ein Akt<br />

• nach Austin zwei Akte:<br />

a) phonetischer Akt (Äußerung von Sprachlauten, wie sie in der Phonetik<br />

beschrieben werden)<br />

b) phatischer Akt (Äußerung von Wörtern, die nach den grammatischen Regeln<br />

einer Sprache kombiniert werden)<br />

2. Propositionaler Akt<br />

(Proposition: Inhalt eines Satzes, den man nach dem Gehalt der Wahrheit erfassen kann)<br />

• Mit dem propositionalen Akt sagt man etwas über die Welt aus. In dem Satz<br />

Hans schläft referiert der Sprecher auf das Individuum Hans und spricht ihm die<br />

Eigenschaft des Schlafens zu. Propositionen können (in einer bestimmten Welt)<br />

wahr oder falsch sein.<br />

• Kerngebiet: Semantik<br />

• Nach Austin bilden der Äußerungs- und der propositionale Akt zusammen den<br />

lokutionären Akt.


3. Illokutionärer Akt<br />

Der Sprechakt 149<br />

• Mit Äußerungen eines Satzes wird nicht nur etwas über die Welt ausgesagt, sondern<br />

es wird auch eine Handlung ausgeführt.<br />

• Der Sprecher eines Satzes kann den Adressaten durch die Äußerung eines Satzes z.<br />

B. warnen, informieren, ihm von etwas abraten ....<br />

• Die Handlung, die der Sprecher vollzieht, indem er etwas sagt, heißt illokutionärer<br />

Akt.<br />

• Kerngebiet: Pragmatik<br />

4. Perlokutionärer Akt<br />

• Mit Äußerungen kann man jemanden einschüchtern, überzeugen, umstimmen,<br />

beleidigen, ...<br />

• Die kausalen Effekte, die der Sprecher beim Adressaten durch ihre Äußerung<br />

erzielt, nennt man perlokutionären Akt.<br />

• Ziel des illokutionären Aktes des Drohens ist, dass der Adressat sich bedroht fühlt.<br />

Diese Wirkung ist der perlokutionäre Akt.<br />

• Kerngebiet: Pragmatik<br />

Übersicht über die Teilakte eines Sprechakts<br />

Teilakt Lokutionärer Illokutionärer Perlokutionärer<br />

Akt Akt Akt<br />

Äußerungsakt Propositionaler Akt<br />

Resultat Äußerung Proposition Illokution Perlokution<br />

(Laute, Wörter, Sätze) (Aussagen über (Handlungswert) (Intendierte Reaktion<br />

die Welt) des Hörers)<br />

Beurteilungs- (nicht) wahr oder (nicht) (nicht)<br />

kriterien grammatisch falsch geglückt erfolgreich<br />

Beispiel /de5 hunt ıst bısıç/ . . . , dass der MITTEILUNG Der Hörer weiß, was<br />

Der Hund ist bissig. Hund bissig ist oder der Sprecher weiß<br />

WARNUNG Hörer lässt von<br />

Vorhaben ab


150 Pragmatik<br />

6.7 Sprechaktklassen<br />

Sprechaktklassifikation<br />

Drei Kriterien zur Sprechaktklassifikation<br />

Searle verwendet drei wesentliche Kriterien, die erfasst werden durch ...<br />

1. die wesentliche Regel<br />

2. die Anpassungsrichtung<br />

3. der psychische Zustand<br />

Anpassungsrichtung<br />

Das Kriterium der Anpassungsrichtung erläutert Searle anhand der Geschichte vom<br />

Detektiv im Supermarkt.<br />

(40) a. Ein Mann geht einkaufen. Er legt in seinen Einkaufswagen alles, was auf<br />

seinem Einkaufzettel steht. ➞ Welt-an-Wort<br />

b. Eine Detektivin, die ihm folgt, notiert sich, was der Mann in seinen Einkaufswagen<br />

legt. ➞ Wort-an-Welt<br />

Die Anpassungsrichtung sagt etwas über die Funktion propositionaler Gehalte: sollen<br />

sie erfüllt werden, oder sollen sie etwas repräsentieren.<br />

Sprechaktklassen<br />

Searle unterscheidet fünf Klassen illokutionärer Akte:<br />

1. Assertive<br />

Wesentliche Regel: Der Sprecher legt sich (in unterschiedlichem Maße) auf die Wahrheit<br />

einer Proposition fest.<br />

Bsp.: behaupten, feststellen, andeuten, prophezeien etc.<br />

Anpassungsrichtung: Wort-an-Welt, die Worte sollen dem Zustand der Welt entsprechen.<br />

Psychischer Zustand: glauben bzw. überzeugt sein (dass p)


2. Direktive<br />

Sprechaktklassen 151<br />

Wesentliche Regel: Der Sprecher will den Hörer zu einer Handlung bewegen bzw. ihn<br />

auf etwas festlegen.<br />

Bsp.: auffordern, befehlen, bitten, anordnen, einladen etc.<br />

Anpassungsrichtung: Welt-an-Wort, d.h. die Welt soll an die Worte angepasst werden.<br />

Psychischer Zustand: Wunsch<br />

Searle rechnet auch Fragen zu den Direktiva, weil er sie als Aufforderungen, eine<br />

Antwort zu geben, versteht.<br />

3. Kommissive<br />

Wesentliche Regel: Der Sprecher verpflichtet sich auf die Ausführung einer zukünftigen<br />

Handlung.<br />

Bsp.: versprechen, geloben, drohen, vereinbaren etc.<br />

Anpassungsrichtung: Welt-an-Wort, die Welt soll an die Worte angepasst werden.<br />

Psychischer Zustand: Absicht<br />

4. Expressive<br />

Wesentliche Regel: Der Sprecher bringt einen psychischen Zustand zum Ausdruck, der<br />

sich auf eine bestimmte Sachlage bezieht.<br />

Bsp.: danken, gratulieren, entschuldigen, kondolieren etc.<br />

Anpassungsrichtung: —<br />

Psychischer Zustand: variiert abhängig vom illokutionären Akt<br />

5. Deklarationen<br />

Wesentliche Regel: Deklarationen erfordern gewöhnlich eine bestimmte soziale Institution,<br />

wie z.B. Schule, Kirche, Parlament.<br />

Bsp.: zurücktreten, taufen, ernennen, Krieg erklären etc.<br />

Anpassungsrichtung: Welt-an-Wort, Wort-an-Welt<br />

Psychischer Zustand: —


152 Pragmatik<br />

Übersicht über die Sprechaktklassen<br />

(41)<br />

Zweck Anpassungsrichtung psychischer Zustand<br />

assertiv Wort-an-Welt Glaube<br />

direktiv Welt-an-Wort Wunsch<br />

kommissiv Welt-an-Wort Absicht<br />

expressiv keine variabel<br />

deklarativ beide keiner

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