Kapitel Einleitung - daniel gutzmann
Kapitel Einleitung - daniel gutzmann
Kapitel Einleitung - daniel gutzmann
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Einführung in die Sprachwissenschaft I+II<br />
Daniel Gutzmann<br />
Institut für Linguistik<br />
Wintersemester 2011/12<br />
&<br />
Sommersemester 2012
Daniel Gutzmann<br />
Goethe-Universität Frankfurt<br />
Institut für Linguistik<br />
<strong>gutzmann</strong>@lingua.uni-frankfurt.de<br />
Raum IG 4.256<br />
Sprechstunde: Mo. 12–13h
Inhalt
<strong>Kapitel</strong> 1<br />
<strong>Einleitung</strong><br />
1.1 Organisatorisches<br />
Zu dieser Vorlesung<br />
Kurs: Einführungsveranstaltung<br />
• 2 SWS<br />
• Vorlesungscharakter<br />
• Dauer: 2 Semester (WS und SoSe)<br />
• Abschlussklausur am Ende des 2. Semesters (SoSe)<br />
Tutorium: Übungen zum Kurs<br />
• Tabea Hombach, Termin wird bekanntgegeben<br />
Zielpublikum<br />
• Studierende auf Lehramt Deutsch<br />
• Studierende der Germanistik<br />
• Studierende der empirischen Sprachwissenschaft<br />
• Studierende der Informatik<br />
• Studierende der Kognitiven Linguistik<br />
• Andere ...
2 <strong>Einleitung</strong><br />
Lehrbuch<br />
Diese Vorlesung basiert auf:<br />
• Meibauer, Jörg et al. (2007): Einführung in die germanistische Linguistik. 2., aktualisierte<br />
Auflage. Stuttgart/Weimar: Metzler.<br />
Weitere Literaturhinweise<br />
• Becker-Mrotzek, Michael et al. (Hg.)(2000): Linguistische Berufe: ein Ratgeber zu<br />
aktuellen linguistischen Berufsfeldern. Frankfurt a.M.: Lang.<br />
• Bußmann, Hadumod (2006): Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart: Kröner.<br />
• Grewendorf, Günther & Hamm, Fritz & Sternefeld, Wolfgang (1987): Sprachliches<br />
Wissen. Eine Einführung in moderne Theorien der grammatischen Beschreibung.<br />
Frankfurt a.M.: Suhrkamp (stw 695)<br />
• Steinbach, Markus et al. (2007): Schnittstellen der germanistischen Linguistik. Stuttgart/Weimar:<br />
Metzler.<br />
Kursmaterialien: OLAT<br />
• Online-Ablage von Kursunterlagen (auch auf www.<strong>gutzmann</strong>.org)<br />
• Folien, Skripte, Übungen, Semesterplan, Foren<br />
• Anmeldung obligatorisch<br />
• Zugang mit Username und Login der Goethe-Uni<br />
☞ https://webct.server.uni-frankfurt.de/<br />
Zielsetzung<br />
• Erster Eindruck darüber, womit sich die Linguistik beschäftigt<br />
• Überblick über die Teildisziplinen der Sprachwissenschaft
Sprache in Literatur und Alltag 3<br />
• Erlernen der Fachsprache und der Grundbegriffe, mit denen sprachliche Phänomene<br />
beschrieben werden<br />
• Erlernen von Methoden zur Analyse von Sprache und deren selbstständige Anwendung<br />
1.2 Sprache in Literatur und Alltag<br />
Sprache in Literatur und Alltag<br />
• Wir alle wissen, dass wir fremde Sprachen mühevoll erlernen müssen. Ohne<br />
Grundkenntnisse von Vokabular und Grammatik kommt man nicht weit.<br />
• Warum sollte man sich mit der deutschen Sprache befassen?<br />
• Ist nicht eigentlich nur literarische Sprache untersuchenswert?<br />
Nein! Für Linguistinnen sind grundsätzlich alle sprachlichen Äußerungen oder Texte<br />
Untersuchungsgegenstand. Auch (oder besonders) alltägliche, nicht-literarische<br />
Sprache.<br />
Die erst Histori von Dil Ulenspiegel, frühes 16. Jh.<br />
(1) Da nun Ulenspiegel geteufft ward und sie daz Kind wider wollten geen Knetlingen<br />
tragen, also wolt die Taufgöttel, die daz Kind truge, endlich uber ein Steg gon, daz<br />
zwische Knetlingen und Ampleven ist, und sie hetten dazu vil Birs getruncken<br />
nach der Kindertöffe [...] Also fiel die Göttel in die Lachen und besudelt sich und<br />
das Kind so jämmerlich, das daz Kind schier erstickt was. Da halffen die andern<br />
Frauwen der Badmumen mit dem Kind wider uß und giengen heim in ihr Dorff<br />
und wuschen das Kind in einem Kessel und machten es wider sauber und schon.<br />
Da ward Ulenspiegel eins Tags dreimal geteufft, einmal im Tauff, einmal in der<br />
Lachen und eins im Kessel mit warmen Wasser.<br />
Franz Kafka: Der Prozeß<br />
(2) Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan<br />
hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. Die Köchin der Frau Grubach, seiner<br />
Zimmervermieterin, die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte,<br />
kam diesmal nicht. Das war noch niemals geschehen.<br />
Frank Wedekind: Frühlings Erwachen<br />
(3) Wendla: Warum hast du mir das Kleid so lang gemacht, Mutter?<br />
Frau Bergmann: Du wirst vierzehn Jahre heute!
4 <strong>Einleitung</strong><br />
Wendla: Hätt’ ich gewußt, daß du mir das Kleid so lang machen werdest, ich<br />
wäre lieber nicht vierzehn geworden.<br />
Manufactum Katalog, Frühjahr 2002<br />
(4) Das leichte und schlagfeste, für hohe Stabilität und geräuscharmen Betrieb geformte<br />
Gehäuse ist aus Silumin, eine Legierung aus Aluminium und Silicium.<br />
Hochfliegende Steine können dem aus einem Stück gegossenen Gehäuse nichts<br />
anhaben, eventuell entstehende Dellen können ausgeschlagen werden, und es<br />
rostet nicht.<br />
Wagner 1996, S. 136<br />
(5) Mutter: “Sing doch mal ein Lied!”<br />
Frederik: “Ja!/(singt) Laa-la-Laa!”<br />
Mutter: “Fein!/ ‘O Tannenbaum’ kannst des (=du<br />
das)?”<br />
Frederik: “Ma auch!” (=Mama soll auch singen)<br />
• Text (1), (2), und (3) sind literarische Texte.<br />
• Text (4) und (5) sind nicht-literarische Texte.<br />
• Texte (3) und (5) sind Dialoge.<br />
• All die Texte (1)–(5) lassen sich sprachwissenschaftlich untersuchen.<br />
• Nur die Texte (1)–(3) sind auch Gegenstand der Literaturwissenschaft.<br />
• Authentische Texte wie (5) sind besonders wichtig für die Sprachwissenschaft.<br />
Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache<br />
lautbasiert schriftbasiert<br />
schnell (2,5 Wörter/sec) relativ langsam<br />
Sprecherin & Hörerin anwesend Schreiberin abwesend<br />
flüchtig konserviert<br />
Korrekturen hörbar Korrekturen nicht sichtbar<br />
Natürlicher Erstspracherwerb wird in der Schule erlernt<br />
➞ Gesprochene Sprache ist gegenüber der geschriebenen primär.<br />
• Alle Texte in (1)–(5) sind deutsche Texte.<br />
• Neben Deutsch kennen die meisten von Ihnen zwei bis drei Fremdsprachen (zumindest<br />
nach Studienordnung).<br />
• Auf der Welt gibt es ca. 5500 Sprachen, die man theoretisch alle erlernen könnte.
Eine wichtige Frage der Sprachwissenschaft<br />
Gibt es sprachliche Universalien? Wenn ja, was für welche?<br />
Blickwinkel auf Sprache 5<br />
Die meisten Sprachen der Welt weisen z. B. verschiedene Satztypen auf:<br />
• Deklarativsatz (Aussagesatz)<br />
• Interrogativsatz (Fragesatz)<br />
• Imperativsatz (Aufforderungsatz)<br />
Möglicher Grund:<br />
• Die durch diese Satztypen realisierten Sprechakte spielen in der Kommunikation<br />
eine fundamentale Rolle.<br />
➞ Funktionale Begründung<br />
• Neben funktionalen Erklärungen von Universalien gibt es auch biologische Erklärungen.<br />
• Diese zielen auf die gleiche biologische Ausstattung des Menschen ab.<br />
• Die Fähigkeit zum Erlernen von Sprache wird in solchen Ansätzen mit einer sog.<br />
Universalgrammatik identifiziert.<br />
1.3 Blickwinkel auf Sprache<br />
1.3.1 Sprache als soziales Phänomen<br />
• Wenn wir von ” Deutsch“ reden, meinen wir immer die dt. Standardsprache.<br />
• Neben der Standardsprache gibt es etliche dt. Dialekte.<br />
Unterschiede zwischen Standardsprache und Dialekten<br />
überregional regional gebunden<br />
normiert nicht normiert<br />
schriftsprachliche Basis hauptsächlich gesprochen<br />
• Standardsprache und Dialekt sind (meist) hinreichend ähnlich, so dass Sprecherinnen<br />
der Standardsprache Dialektsprecherinnen verstehen und umgekehrt.<br />
• Viele Sprecherinnen der Standardsprache sprechen zusätzlich auch noch einen<br />
Dialekt.<br />
• Sowohl die Standardsprache als auch Dialekte werden in der Linguistik untersucht.
6 <strong>Einleitung</strong><br />
• Die Gesellschaft, in der wir leben, ist nicht homogen, sondern vielfältig gegliedert<br />
(z. B. Wohnort, sozialer Status, bestimmte Gesellschaftsschichten, Ausbildung,<br />
Beruf, Religionszugehörigkeit, Geschlecht...).<br />
• Sprache dient der Kommunikation in der Gesellschaft und ist somit auch ein<br />
soziales Phänomen.<br />
➞ Es ist folglich zu erwarten, dass auch die Sprache nicht homogen ist, sondern, dass<br />
es Varietäten gibt.<br />
• Solche Varietäten können regional oder sozial bedingt sein (Dialekt bzw. Soziolekt).<br />
Eine besondere Varietät ist die Jugendsprache.<br />
• Jugendsprache dient der sozialen Abgrenzung gegen andere Jugendliche und/oder<br />
gegen Erwachsene.<br />
• Sie ist Mittel zur Ausbildung einer eigenen, gruppenspezifischen Identität.<br />
• Innerhalb der Jugendsprache gibt es Subvarietäten, je nach ” Szene“.<br />
Elemente der Jugendsprache lassen sich auf verschiedenen Ebenen des Sprachsystems<br />
bzw. der Sprachverwendung nachweisen:<br />
• Wortschatz<br />
• Wortbildung<br />
• Phraseologie<br />
• Syntax<br />
• Diskursstrukturen<br />
• ...<br />
Beispiel Wortbildung<br />
• an-: anmachen, angraben, anbaggern, anlabern, ...<br />
• -erei: Ablästerei, Laberei, Klugscheißerei, Prollerei, ...<br />
1.3.2 Sprache als historisches Phänomen<br />
• Sprache ist kein statisches, unveränderliches System, sondern wandelt sich ständig.<br />
• Dies können wir z. B. an älteren Texten wie denen in (1) sehen.<br />
• Je älter ein Text ist, desto größere Probleme haben wir, ihn zu verstehen.<br />
Sprachwandel gibt es auf allen Ebenen linguistischer Beschreibung.
• Das Lautinventar ändert sich.<br />
• Worte gehen verloren – neue kommen hinzu.<br />
• Flexionsformen ändern sich.<br />
• Die Bedeutung von Wörtern ändert sich.<br />
• Der grammatische Status eines Wortes kann sich ändern.<br />
• Satzstrukturen wandeln sich.<br />
• ...<br />
1.3.3 Sprache als biologisches Phänomen<br />
Blickwinkel auf Sprache 7<br />
• Alle Sprachfunktionen sind eine Leistung des menschlichen Gehirns.<br />
• Das sieht man am deutlichsten an Aphasien.<br />
• Aphasien sind zentrale Sprachstörungen nach weitgehend abgeschlossener Sprachentwicklung.<br />
• Ursachen sind spezifische Schädigungen des Gehirns (z. B. aufgrund von Durchblutungsstörungen,<br />
Gehirntumoren, oder Schädel-Hirn- Traumata)<br />
• Man geht davon aus, dass eine der beiden Hälften des Großhirns, der sog. Hemisphären,<br />
bei bestimmten Gehirnfunktionen mehr oder minder dominant ist.<br />
• Durch das Studium von Aphasien hat man erste Indizien für die Arbeitsteilung<br />
zwischen den Großhirnhälften in Bezug auf Sprache.<br />
• Grob lassen sich drei Arten von Aphasien unterscheiden:<br />
Broca-Aphasie<br />
– Broca-Aphasie (expressive A.)<br />
– Wernicke-Aphasie (rezeptive A.)<br />
– Globale Aphasie<br />
• Die Broca-Aphasie ist nach dem französischen Chirurgen Paul Broca (1824–1880)<br />
benannt.<br />
• Grund ist eine Läsion des sog. Broca-Zentrums.<br />
Symptome bei Broca-Aphasie<br />
• Patienten mit Broca-Aphasie sprechen langsam und stockend.<br />
• Die Artikulation ist gestört.
8 <strong>Einleitung</strong><br />
• Die Patienten sprechen im Telegrammstil.<br />
• Sie sind oft unfähig zu komplexen syntaktischen Konstruktionen.<br />
• Einzelne Wörter werden häufig wiederholt.<br />
• Das Sprachverstehen hingegen ist deutlich weniger eingeschränkt.<br />
Interview mit einem Broca-Aphasie-Patienten<br />
(6) I: Was machen Sie denn, wenn Sie nach Hause kommen? P: Nur auftehn, un hier<br />
äh Betten un hier Kaffee un un hier immer so helfen, arbeiten hier ... un immer<br />
hier immer mittag Arbeit, ich weiß nich, das is so schlimm zählen, das genau ...<br />
Frau B. ... ne, Frau L. gut, is gut, auch Arbeit immer... un eins, zwei hier so hier<br />
so Rek, Brett un das so hier so, un hier so Kartoffel un Rüben un alles, alles gut ...<br />
so is gut ... Heinrich auch selber koch, Heinrich prima Essen, ja, nit Mann, gar<br />
nit Mann, un aber Heinrich is gut.<br />
Wernicke-Aphasie<br />
• Die Wernicke-Aphasie ist nach dem deutschen Neuropsychiater Carl Wernicke<br />
(1848–1905) benannt.<br />
• Grund ist eine Läsion des Wernicke-Zentrums.<br />
• Patienten mit Wernicke-Aphasie haben eine flüssige Sprachproduktion.<br />
• Die Artikulation ist nicht behindert (doch kommt es zu unvermuteten Pausen).<br />
Symptome bei Wernicke-Aphasie<br />
• viele stereotype Muster<br />
• unverständliche Sequenzen<br />
• Fehler bei der Auswahl von Wörtern und Lauten<br />
• Das Sprachverstehen der Patienten ist erheblich beeinträchtigt.<br />
Interview mit einem Wernicke-Aphasie-Patienten<br />
(7) I: Sie waren doch Polizist, haben Sie mal einen festgenommen?<br />
P: Naja ... das ist so ... wenn Sie einen treffen draußen abends ... das ist ja ...<br />
und der Mann ... wird jetzt versucht ... als wenn er irgendwas festgestellen<br />
hat ungefähr ... ehe sich macht ich ... ich kann aber noch nicht amtlich ...<br />
jetzt muss er sein Beweis nachweisen ... den hat er nicht ... also ist er fest ...<br />
und wird erst sichergestellt festgemacht ... der wird erst festgestellt werden
Blickwinkel auf Sprache 9<br />
und dann wird festgestellt was sich dort vorgetragen hat ... nicht ... erst<br />
dann ... ist ein Beweis mit seinem Papier dass er nachweisen kann ... ich<br />
kann ihm aber nicht nachweisen ... wird aber bloß festgestellt vorläufig ...<br />
aber er kann laufen.<br />
• Bei der globalen Aphasie entsprechen die Symptome der kombinierten schweren<br />
Broca und Wernicke-Aphasie.<br />
• Fast alle Aspekte der gesprochenen und geschriebenen Sprache sind betroffen.<br />
• Die Ausdrucks- und Kommunikationsfähigkeit der Patienten ist minimal.<br />
1.3.4 Sprache als kognitives Phänomen<br />
• Sprache ist eine der zentralen kognitiven Leistungen des Menschen.<br />
• Die kognitive Linguistik untersucht und beschreibt die menschliche Sprachfähigkeit<br />
als einen wesentlichen Teil der Kognition.<br />
• Die Sprachwissenschaft leistet somit einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des<br />
menschlichen Denkens.<br />
• Die kognitive Linguistik entwickelt Modelle, die alle Sprachfunktionen und ihre<br />
Interaktion mit anderen kognitiven Systemen beschreiben.<br />
• Im Gegensatz zur traditionellen Linguistik interessiert sich die kognitive Linguistik<br />
nicht nur für den strukturellen Aufbau des Sprachsystems, sondern auch dafür,<br />
wie die Sprachfähigkeit erworben und wie sie angewandt wird.<br />
Fragestellungen der kognitiven Linguistik<br />
1. Worin besteht die (spezifische) Sprachkenntnis eines Menschen,<br />
2. wie erwirbt er diese Sprachkenntnis und<br />
3. wie wendet er diese Sprachkenntnis an?
10 <strong>Einleitung</strong><br />
• Psycholinguistische Untersuchungen der Sprachverarbeitung können in zwei Teilbereiche<br />
unterteilt werden:<br />
Versprecher<br />
– Analysen der Sprachproduktion<br />
– Analysen der Sprachrezeption<br />
(8) a. Schlecken Sie den Stüssel ins Loch. ➞ Stecken Sie den Schlüssel ins Loch.<br />
b. Unser Stirbchen bäumt. ➞ Unser Bäumchen stirbt.<br />
c. Wir waren Pilze fangen. ➞ Wir waren Pilze sammeln.<br />
Ein Holzwegsatz<br />
(9) Jetzt trinkt die Frau die Limonade schon immer verabscheut hat.<br />
Keine Holzwegsätze<br />
(10) a. Die Frau, die Limonade schon immer verabscheut hat, trinkt jetzt.<br />
b. Jetzt trinkt der Mann, der Limonade schon immer verabscheut hat.<br />
1.4 Untersuchungsgegenstand Sprache<br />
Sprachen sind Systeme von Zeichen<br />
• Zeichen haben eine bestimmte Form und eine bestimmte Bedeutung<br />
• Zeichen werden nach Regeln zu komplexeren Einheiten kombiniert<br />
Verwendung der Sprache zur Kommunikation<br />
• Übermittlung von Information<br />
• Beeinflussung von Handlungen<br />
Natürliche, menschlicheSprache<br />
• ohne Tiersprachen<br />
• ohne konstruierte Sprachen (Programmiersprachen, Esperanto, formale Sprachen:<br />
z.B. Prädikatenlogik, etc.)
• aber mit Gebärdensprache<br />
Untersuchungsgegenstand Sprache 11<br />
• Natürliche, menschliche Sprache ist eine besondere Eigenschaft des Menschen<br />
• Untersuchung der Sprachfähigkeit erlaubt die Abgrenzung von Menschen gegenüber<br />
anderen Lebensformen<br />
➞ Frage: wie grenzt sich die natürliche, menschliche Sprache von anderen Sprachformen/funktionen<br />
ab?<br />
Eigenschaften menschlicher Sprache<br />
• Zeichensysteme: Zeichen werden übermittelt<br />
• Kommunikationsmodus über Zeichen/Signale (Mittel, mit denen die Signale<br />
übermittelt werden, können sich unterscheiden)<br />
• Zeichen haben Bedeutung<br />
• Funktion des Zeichens ist es,die Handlungen von anderen zu beeinflussen.<br />
Mögliche Gemeinsamkeiten mit Tiersprachen<br />
Lernbarkeit<br />
Das System muss gelernt werden<br />
Arbitrarität (= Beliebigkeit)<br />
Beziehung zwischen Form des Zeichens und seiner Bedeutung ist arbiträr/willkürlich:<br />
Die Bedeutung eines Zeichens ist meist nicht durch allgemeine Prinzipien aus anderen<br />
Eigenschaften des Zeichens herleitbar (z.B. Lautgestalt, Bienen- Tanzfiguren).<br />
Komplexität<br />
Komplexe Nachrichten sind aus kleineren Teilen aufgebaut und diese Teile sind nach<br />
bestimmten Regeln kombinierbar<br />
Kommunikation<br />
Jeder kann Sender und Empfänger einer Nachricht sein<br />
Spezielle Eigenschaften menschlicher Sprache<br />
Abstraktionsgrad<br />
Wir haben die Fähigkeit über Sachverhalte zu sprechen, die nicht unmittelbar gegenwärtig<br />
sind, Ereignisse in der Zukunft, Gegenstände aus der Vergangenheit. Wir können über<br />
hypothetische Sachverhalte sprechen (Displacement).<br />
Kreativität<br />
Wir haben die Fähigkeit eine beliebige Anzahl von Nachrichten auszudrücken und immer<br />
neue zu bilden.
12 <strong>Einleitung</strong><br />
1.5 Semiotik<br />
Semiotik = allgemeine Lehre von den Zeichen<br />
• Zeichenprozesse<br />
• Verbreitung und Wirkung von Zeichen<br />
• Interpretation von Zeichen<br />
• Funktion von Zeichen<br />
• Verstehen von Zeichen<br />
1.5.1 Zeichenarten<br />
Es gibt 3 Arten von Zeichen:<br />
1. Ikone (Bildzeichen)<br />
Zeichen und Objekt stehen in einem Ähnlichkeitsverhältnis<br />
1. Bilder (z.B. Piktogramme): dienen<br />
zur Erleichterung der Kommunikation:<br />
Rauchen verboten!<br />
2. Metapher: Wüstenschiff = Kamel<br />
3. Onomatopoetika: lautmalerische Ausdrücke wie Kuckuck, wau-wau, knistern, krachen<br />
2. Indexe (indexikalische Zeichen/Anzeichen)<br />
Zeichen werden durch eine direkte reale Folgebeziehung zwischen einem “Anzeichen”<br />
und einem Objekt konstituiert:<br />
• Rauch = Anzeichen von Feuer → wenn Rauch aufsteigt, dann ist irgendwo ein<br />
Feuer<br />
• dunkle Wolken = Anzeichen für bevorstehenden Regen → wenn dunkle Wolken<br />
zu sehen sind, steht Regen bevor<br />
• Aua! = Anzeichen für Schmerz<br />
3. Symbole<br />
Zeichen sind Symbole, wenn die Beziehung zwischen ihnen und dem, was sie ausdrücken,<br />
arbiträr oder konventionell ist. In den meisten Fällen sind also die Zeichen, mit welchen<br />
wir es in der Linguistik zu tun haben werden, symbolische Zeichen.
1.5.2 Symbole<br />
Das semiotische Dreieck<br />
Zeichen/<br />
Symbol<br />
Interpretant/ Gegenstand/<br />
Zeichenbenutzer Bezeichnetes<br />
Das sprachliche Zeichen nach Ferdinand de Saussures<br />
Jedes sprachliche Zeichen hat eine Bedeutung:<br />
Schrift-/Lautbild Bedeutung/Vorstellung<br />
Hund/[hunt]<br />
→ signifiant →signifié<br />
• Jedes sprachliche Zeichen hat 2 Seiten, wie eine Münze.<br />
• Es wird daher als bilaterales Zeichen bezeichnet.<br />
1. Seite: signifié = der Zeicheninhalt<br />
2. Seite: signifiant = die Zeichenform, der Zeichenausdruck<br />
Inhaltsseite<br />
Ausdrucksseite<br />
Bedeutung<br />
Schrift-/Lautbild<br />
Das Verhältnis zwischen signifié und signifiant<br />
• ist arbiträr<br />
signifié<br />
signifiant<br />
Bezeichnetes<br />
Bezeichnendes<br />
Semiotik 13<br />
Hund /[hunt]
14 <strong>Einleitung</strong><br />
• ist konventionell<br />
Arbitrarität<br />
= Willkürlichkeit<br />
der Inhalt des Zeichens (<br />
herleitbar, denn:<br />
Konventionalität<br />
) ist nicht durch die Zeichenform (Hund/[hunt])<br />
= dt. Hund engl. dog frz. chien ital. cane türk. köpek<br />
• auch wenn das Verhältnis zwischen der Bedeutung und dem Ausdruck willkürlich<br />
ist, muss der Ausdruck festgelegt werden<br />
• die Zuordnung eines Ausdrucks zu einem Inhalt muss stabil sein<br />
• damit alle Zeichenbenutzer unter demselben Ausdruck denselben Inhalt verstehen<br />
• die Festlegung ist somit eine gesellschaftliche Konvention<br />
Ausnahme<br />
Während das Verhältnis zwischen Ausdruck und Inhalt normalerweise arbiträr und<br />
somit zufällig ist, gibt es Zeichen bei denen der Ausdruck aufgrund des Inhalts entstanden<br />
ist:<br />
• Onomatopoetika: der Kuckuck heißt Kuckuck aufgrund seiner Laute<br />
• Zusammensetzungen: zusammengesetzte Wörter, wie Gurkensalat, sind aus der<br />
Bedeutung beider Einzelwörter erschließbar: Salat aus Gurken<br />
1.6 Kreativität<br />
Kreativität<br />
Mit einer endlichen Zahl von Wörtern kann man unendlich viele noch nie zuvor gehörte<br />
Sätze bilden<br />
(11) Mir ist heute morgen im Palmengarten ein blaues Nilpferd mit rosa Tupfen auf<br />
einem Fahrrad entgegengekommen.
Kreativität: Hinzufügen von Adjektiven<br />
(12) a. Das Nilpferd isst eine Banane.<br />
b. Das blaue Nilpferd isst eine Banane.<br />
c. Das kleine blaue Nilpferd isst eine Banane.<br />
d. Das kleine kleine blaue Nilpferd isst eine Banane.<br />
e. Das freundliche kleine kleine blaue Nilpferd isst eine Banane.<br />
Kreativität: Verknüpfung von Zeichen mit und<br />
(13) [Max geht ins Kino] und<br />
[Maria geht tanzen] und<br />
[Sophie schläft sich aus] und ...<br />
Kreativität: Objektsätze<br />
(14) [Max hat gesagt,<br />
[dass Sophie glaubt,<br />
[dass Maria gesagt hat,<br />
[dass Lisa denkt,<br />
[dass ihre Mutter vermutet,<br />
[dass ...]]]]]]<br />
Diskrete Unendlichkeit<br />
Systemcharakter 15<br />
• Man nennt die Eigenschaft, mit endlichen Mitteln eine unendliche Zahl unterschiedlicher<br />
sprachlicher Einheiten bilden zu können diskrete Unendlichkeit (discrete<br />
infinity)<br />
• Die Eigenschaft diskreteräUnendlichkeit unterscheidet menschliche Sprache von<br />
Tiersprachen und lässt Rückschlüsse auf die Natur unserer sprachlichen Fähigkeiten<br />
zu.<br />
1.7 Systemcharakter<br />
Regelarten<br />
Regeln müssen rekursiv sein<br />
Beispiel für die rekursive und-Regel<br />
(15) S ←� S und S
16 <strong>Einleitung</strong><br />
• Wird gelesen als: Eine Verknüpfung eines beliebigen Satzes mit einem beliebigen<br />
anderen Satz ergibt wieder einen Satz.<br />
• Da das Ergebnis der und-Verknüpfung zwei Sätze wieder ein Satz ist, kann die<br />
und-Verknüpfungsregel wieder auf diesen neue komplexe Satz angewandt werden<br />
usw.<br />
➞ Es gibt unendliche viele Sätze des Deutschen.<br />
• Wir können also nicht alle Sätze im Gehirn gespeichert haben. Das Gehirn ist<br />
endlich!<br />
• Idee: Wir verfügen über eine endliche Menge von Wörtern (mentales Lexikon)<br />
und eine Menge von Regeln und Prinzipien (die mentale Grammatik), die die<br />
Verknüpfung von Wörtern zu komplexen sprachlichen Ausdrücken (wie Sätzen)<br />
organisieren.<br />
Sprachsystem<br />
Sprachsystem = Grammatik + Lexikon<br />
• Die Systematik einer Sprache manifestiert sich auf verschiedenen Ebenen<br />
Ebene der Lautproduktion<br />
Lautfolgegesetze: Akzeptable Lautsequenzen<br />
• ng am Silbenende ist im Deutschen akzeptabel, am Silbenanfang hingegen nicht.<br />
• Regeln der Aussprache im Deutschen (Auslautverhärtung): Rad vs. Räder<br />
Ebene der Wortbildung<br />
• Sprecher des Deutschen sind in der Lage, Wörter zu produzieren und zu verstehen,<br />
die sie nie vorher gehört haben: dattlig, Hiwine, röntgen<br />
• Der Kreativität sind aber durch das Sprachsystem Grenzen gesetzt: Kindlein vs.<br />
*großlein<br />
Ebene des Satzbaus<br />
Sprecher des Deutschen sind in der Lage ungrammatische Sätze zu erkennen.<br />
(16) a. Ich werde dich um acht Uhr abholen.<br />
b. Werde ich dich um acht Uhr abholen.<br />
c. *Werde dich um ich acht Uhr abholen. * ¯ Abholen um ich acht werde Uhr<br />
dich.
Ungrammatikalität vs. Unakzeptabilität der Bedeutung<br />
(17) a. #Farblose grüne Ideen schlafen wütend.<br />
b. Zufriedene kleine Katzen schnurren leise.<br />
c. *Leise schnurren zufriedene Katzen kleine.<br />
Zum Inhalt der Vorlesung 17<br />
Bedeutungsebene<br />
Sprecher des Deutschen sind in der Lage, mehrdeutige Wörter/Sätze zu erkennen.<br />
(18) a. Fritz weiß, was Gabi vermutet.<br />
b. Ich mag Kuchen und Plätzchen mit Schokolade<br />
c. Rotweinglaskiste<br />
Sprecher des Deutschen sind in der Lage unterschiedliche Sätze/Ausdrücke mit gleicher<br />
Bedeutung zu erkennen.<br />
(19) a. Couch ↔ Sofa<br />
b. Peter wirft den Ball ↔ Der Ball wird von Peter geworfen<br />
1.8 Zum Inhalt der Vorlesung<br />
Kerndisziplinen der Sprachwissenschaft<br />
• Phonetik/Phonologie: Physische Eigenschaften von Lauten/Lautsystem<br />
• Morphologie: Bildung und Anpassung von Wörter<br />
• Syntax: Satzbau<br />
• Semantik: wörtliche Bedeutung<br />
• Pragmatik: Bedeutung in der Kommunikation<br />
1.8.1 Phonetik/Phonologie<br />
• Phonetik: befasst sich mit der Sprachproduktion, mit den materiellen Eigenschaften<br />
von Lauten<br />
• Phonologie: befasst sich mit den Funktionen von Lauten<br />
Einheit: Phonem<br />
kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit<br />
(20) [hunt] - [bunt]<br />
→ [h] und [b] geben den Wörtern unterschiedliche Bedeutungen
18 <strong>Einleitung</strong><br />
1.8.2 Morphologie<br />
• befasst sich mit dem Strukturaufbau von Wörtern<br />
Einheit: Morphem<br />
Kleinste bedeutungstragende Einheit. Ein einfaches sprachliches Zeichen, das nicht<br />
mehr in kleinere Einheiten mit bestimmter Lautung und Bedeutung zerlegt werden<br />
kann.<br />
(21) rot, ich , sing-, ver-, Stiefel<br />
2 Teilgebiete der Morphologie<br />
• Flexion: grammatische Information des Wortes wird durch Anfügen von Morphemen<br />
verändert; Konjugation oder Deklination von flektierbaren Wörtern<br />
• Wortbildung: durch Kombination von mindestens 2 Morphemen entstehen neue<br />
Wörter mit einer neuen Bedeutung<br />
(22) du geh-st, wir geh-en<br />
(23) Frau-en-krimi-preis, Schön-heit<br />
1.8.3 Syntax<br />
• befasst sich mit dem Strukturaufbau von Sätzen.<br />
• Regeln der Grammatik, die festlegen, wie Wörter zu Sätzen kombiniert werden<br />
können<br />
• Die Syntax beschäftigt sich zum Beispiel mit:<br />
Satzarten<br />
(24) a. Poldi spielt Fußball.<br />
b. Spielt Poldi Fußball?<br />
c. Was spielt Poldi?<br />
d. Poldi, spiel Fußball!<br />
Form/Struktur von Phrasen<br />
(25) NP<br />
Art<br />
Der<br />
AP<br />
N’<br />
Adj<br />
freundliche<br />
N<br />
Mann<br />
Funktionen von Phrasen = Satzglieder<br />
(26) Die Autorin signierte ihr Buch.
1.8.4 Semantik<br />
Zum Inhalt der Vorlesung 19<br />
• befasst sich mit der wörtlichen Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken<br />
• semantische Phänomene: Ambiguitäten, sem. Relationen wie Synonymie und<br />
Hyperonymie, Implikationen, Anomalien....<br />
Lexikalische Semantik<br />
Beschreibung der Bedeutung von einzelnen sprachlichen Zeichen wie Wörtern oder<br />
Wortbildungsmorphemen und deren Zusammensetzung.<br />
Satzsemantik<br />
Berechnung der Bedeutung von komplexen sprachlichen Zeichen wie Phrase und Sätzen<br />
aus der wörtlichen Bedeutung der Einzelteile.<br />
Ambiguitäten = Mehrdeutigkeiten<br />
• lexikalische: Maria hat viele Laster.<br />
• strukturelle: Sie erwürgte den Mann mit der Krawatte.<br />
Semantische Relationen<br />
• regelmäßige Relationen, die zwischen der Bedeutung verschiedener Ausdrücken<br />
bestehen.<br />
Synonymie = Bedeutungsgleichheit<br />
• Wortebene: Sofa und Couch<br />
• Satzebene: Piet liebt Maria und Maria wird von Piet geliebt<br />
Hyponymie<br />
• Ein Ausdruck ist ein Unterbegriff eines anderen: Tier – Hund, Blume – Tulpe, ...<br />
Antonymie<br />
• Gegenteilige Endpunkt auf einer Skala: heiß – kalt, groß – klein, ...<br />
Semantische Anomalien<br />
= Ein Satz ist aus semantischen Gründen defekt, da die Merkmale der Ausdrücke<br />
nicht zusammenpassen. #Peter aß den ganzen Tisch alleine auf. #Grüne Ideen<br />
schlafen wild.
20 <strong>Einleitung</strong><br />
1.8.5 Pragmatik<br />
Deixis<br />
• befasst sich mit der Sprachverwendung, der kontextabhängigen Bedeutung.<br />
• pragmatische Phänomene: Deixis, Implikaturen, Sprechakte, ...<br />
• Deiktische Ausdrücke erhalten ihre Bedeutung durch ihren Bezug auf den Äußerungskontext.<br />
Implikaturen<br />
Ich komme morgen dahin, um dich zu treffen.<br />
• Implikaturen sind pragmatische Bedeutungsaspekte, die im Kontext einer Äußerung<br />
“mitschwingen”, ohne dass sie geäußert werden.<br />
(27) A: Was hältst du eigentlich von Marias neuem Freund?<br />
B: Ich habe gerade einen Artikel über Implikaturen gelesen.<br />
+ > kein Kommentar/Ich will nicht darüber sprechen.<br />
• Implikaturen sind kontextabhängig:<br />
(28) A: Wie findest Du die Party?<br />
B: Einige Gäste sind schon gegangen.<br />
+ > Die Party ist langweilig.<br />
(29) A: Wo ist Peter?<br />
B: Einige Gäste sind schon gegangen.<br />
+ > Peter ist vielleicht schon gegangen.<br />
Sprechakte<br />
Sprechakte sind sprachliche Handlungen, die mittels einer Äußerung vollzogen werden.<br />
Explizite Sprechakte<br />
(30) a. Ich verspreche Dir, pünktlich zu kommen.<br />
b. Hiermit taufe ich das Schiff auf den Namen Peter Pan.<br />
c. Ich kündige hiermit meine Stelle.<br />
Indirekte Sprechakte<br />
(31) a. Der Mülleimer steht ja immer noch hier!<br />
b. Kann ich mal das Salz haben?<br />
c. Weißt Du, wie spät es ist?<br />
d. Wer findet das schon interessant?<br />
• Weitere pragmatische Phänome sind Ironie, Witze oder die Struktur und der<br />
Ablauf von Dialogen.
1.8.6 Weitere Teilgebiete<br />
• Textlinguistik: Ein Mann kam durch die Tür. Er sah ungepflegt aus.<br />
• Phraseologie: mit Kind und Kegel; Eulen nach Athen tragen<br />
• Onomastik: Kaufmann; Susi<br />
• Spracherwerb: keine trümpfe an!; anezieht; Pflasters<br />
• Sprachwandel: hôchgezîte<br />
• Soziolinguistik: Miàs ma uns dò a Taxi nemma oda kemma z’Fuas geh?<br />
• Kognitive Linguistik: Unser Stirbchen bäumt<br />
Zum Inhalt der Vorlesung 21<br />
• Kontrastive Linguistik: Gestern ging ich zur Schule. – Yesterday I went to school.<br />
• ...
<strong>Kapitel</strong> 2<br />
Phonetik und Phonologie<br />
• Gegenstand der Phonetik und der Phonologie sind menschliche Laute, denen<br />
eine kommunikative Funktion zukommt (≠ Röcheln, Niesen, Schnarchen...)<br />
2.1 Phonetik vs. Phonologie<br />
• Gegenstand der Phonetik sind die materiellen Eigenschaften von mündlichen<br />
Äußerungen.<br />
• Gegenstand der Phonologie sind die Funktionen von Lauteinheiten innerhalb<br />
eines Sprachsystems.<br />
• Um die verschiedenen Arten der Repräsentation auseinanderzuhalten, gibt es<br />
bestimmte Klammerkonventionen:<br />
Klammerkonventionen<br />
(1) a. [·] phonetische Wiedergabe [S]<br />
b. /·/ phonologische Wiedergabe /S/<br />
c. orthografische Wiedergabe , vor /<br />
• Dass Laute überhaupt isolierbar sind, ist keineswegs selbstverständlich: Kugel vs.<br />
Kind: Koartikulation von Ku (mit Lippenrundung) bzw. Ki (ohne Lippenrundung)<br />
• Hinter der gesprochenen Sprache verbirgt sich ein lautliches Kontinuum.<br />
• Dennoch gibt es Indizien für die Isolierbarkeit von Lauten:<br />
Minimalpaare<br />
(2) a. Hut vs. Mut<br />
b. Hut vs. Hit<br />
c. Hut vs. Huf
24 Phonetik und Phonologie<br />
2.2 Bereiche der Phonetik<br />
• Die akustische Phonetik untersucht die physikalischen Eigenschaften von Lauten<br />
während des Übertragungsprozesses.<br />
• Die auditive Phonetik befasst sich mit dem Empfang und Verstehen von Sprachlauten.<br />
• Die artikulatorische Phonetik befasst sich mit der Erzeugung von Sprachlauten<br />
durch menschliche Sprechorgane.<br />
Bereiche der Phonetik<br />
(3) artikulatorische akustische auditive<br />
Phonetik Phonetik Phonetik<br />
Sprecher �→ Schallsignal �→ Hörer<br />
2.3 Artikulatorische Phonetik<br />
Der Sprechvorgang (Artikulation) lässt sich in drei Phasen einteilen:<br />
1. Initiation<br />
2. Phonationsphase<br />
3. Artikulation i. e. S.<br />
Initiation<br />
• Zunächst wird zum Sprechen Atemluft benötigt, wobei die Lautproduktion in aller<br />
Regel während der Phase der Ausatmung (bei egressivem Luftstrom) erfolgt.<br />
• Beim Ausatmen gelangt die Luft aus den Lungen durch die Luftröhre in den<br />
Kehlkopf, an dem die Stimmbänder befestigt sind.
Phonationsphase<br />
Artikulatorische Phonetik 25<br />
• Die ausströmende Luft kann bei ihrer Passage durch den Kehlkopf mit Hilfe der<br />
Stimmbänder (Stimmlippen) in Schwingungen versetzt werden.<br />
• Diese Schwingungen sind als Stimmtöne auditiv wahrnehmbar.<br />
• Je nach Position der Stimmbänder werden unterschiedliche Laute produziert:
erfolgt in der Phonationsphase.<br />
3. Oberhalb des Kehlkopfs wird die ausströmende Luft im Rachen- und Mundraum<br />
durch verschiedene Bewegungen insbesondere der Zunge und der Lippen auf vielfältige<br />
Weise behindert. Diese Modulationen des Luftstroms sind als Tonkomplexe<br />
(= Klänge) und Geräusche wahrnehmbar. Diese Phase des Sprechvorgangs nennt<br />
man ›Artikulation im engeren Sinne‹. Als ›Artikulation im weiteren Sinne‹ bezeichnet<br />
man dagegen die gesamte Lautproduktion einschließlich der ersten beiden<br />
Phasen.<br />
26<br />
3.2.2.2<br />
Phonetik<br />
Phonation<br />
und Phonologie<br />
Bei ihrem Weg aus den Lungen durch die Luftröhre wird die ausgeatmete Luft im<br />
Kehlkopf – (der Durch Larynx) Öffnung in der unterschiedlicher Stimmbänder entstehen Weise modifiziert stimmloseund Laute zwar (z.B. durch die Kon- die<br />
Stimmbänder sonanten (Stimmlippen, [t] und [s] engl. in Tasse) ›vocal cords‹). Diese dienen als eine Art Ventil für<br />
den Luftstrom: Sie können verschlossen werden und die Passage durch die Larynx<br />
völlig blockieren, – Durch sie daskönnen Vibrieren geöffnet der Stimmbänder werden und entstehen die Luft ungehindert stimmhafteausströmen Laute (alle<br />
lassen, oder Vokale sie öffnen und manche und schließen Konsonanten sich mit wie hoher z.B. [b] Geschwindigkeit und [d] in baden) in regelmäßigen<br />
Abständen, d. h. sie schwingen. In (6) sind diese drei Grundpositionen bzw.<br />
-bewegungen der Stimmbänder schematisch dargestellt:<br />
(6) Positionen der Stimmbänder<br />
a. Verschluss b. Öffnung c. Schwingung<br />
Schildknorpel<br />
Stimmbänder<br />
Stellknorpel Glottis = Stimmritze<br />
In (6) ist die Position der Stimmbänder innerhalb des Kehlkopfs in einem Querschnitt<br />
– stark vereinfacht – dargestellt. Vorne im Kehlkopf befindet sich der Schildknorpel<br />
(Thyroid), der bei einigen männlichen Personen als Adamsapfel sichtbar ist.<br />
An diesem sind die beiden Stimmbänder befestigt. Im hinteren Bereich des Kehlkop-<br />
2.3.1 Vokale vs. Konsonanten<br />
Artikulation i. e. S.<br />
• Die eigentliche Lautartikulation spielt sich jedoch in erster Linie im Raum oberhalb<br />
des Kehlkopfs, dem supraglottalen Raum (= Mund-, Nasen- und Rachenraum)<br />
ab.<br />
• Die ausströmende Luft kann dort durch verschiedene Bewegungen insbesondere<br />
der Zunge und der Lippen auf vielfältige Weise behindert werden.<br />
• Diese Modulationen des Luftstroms sind als Tonkomplexe (=Klänge) und Geräusche<br />
wahrnehmbar.<br />
• Bei Vokalen kann die Luft oberhalb des Kehlkopfs ungehindert ausströmen.<br />
• Bei Konsonanten wird der Luftstrom an einer Stelle im Mund- oder Rachenraum<br />
verengt oder kurzfristig ganz blockiert.
2.3.2 Artikulationsarten<br />
• Konsonanten lassen sich nach drei Kriterien klassifizieren:<br />
Artikulatorische Phonetik 27
28 Phonetik und Phonologie<br />
Artikulationsart<br />
Art der Behinderung des Luftstroms<br />
Artikulationsort<br />
Ort, an dem der Luftstrom behindert wird<br />
Stimmbeteiligung<br />
Aktivität der Stimmbänder, Merkmal [±stimmhaft]<br />
Artikulationsarten<br />
Plosive (Verschlusslaute, Explosivlaute)<br />
Der Luftstrom wird völlig blockiert und dann durch plötzliche Öffnung wieder freigelassen.<br />
[p], [t]<br />
Frikative (Reibelaute, Spiranten)<br />
Zwei Sprechorgane werden so angenähert, dass der Luftstrom durch eine Verengung<br />
fließt, wobei ein Reibegeräusch entsteht. [f], [s]<br />
Nasale<br />
Entstehen (wie Plosive) durch Blockade und plötzliche Freilassung des Luftstroms an<br />
einer Stelle der Mundhöhle, während gleichzeitig die Luft frei durch die Nase entweicht.<br />
[m], [n]<br />
Laterale<br />
Sind unvollkommene Plosive. In der Mundmitte wird ein Verschluss gebildet, während<br />
an den Seiten Luft entweicht. Im Standarddeutschen nur [l].<br />
Vibranten<br />
Entstehung durch Vibration eines flexiblen Artikulationsorgans. [r]
2.3.3 Artikulationsorte und -organe<br />
2.3.4 Konsonanten<br />
• Konsonantenklassifikation im Deutschen:<br />
Artikulatorische Phonetik 29<br />
• Der Unterschied von stimmlosen und stimmhaften Konsonanten kann an folgenden<br />
Minimalpaaren veranschaulicht werden:<br />
stimmlos vs. stimmhaft<br />
(4) a. [p] – [b]: Gepäck – Gebäck<br />
b. [t] – [d]: Leiter – leider<br />
c. [k] – [g]: Karten – Garten<br />
d. [f] – [v]: Fall – Wall<br />
e. [s] – [z]: reißen – reisen<br />
• Neben den genannten Konsonantenklassen gibt es noch Affrikaten.
30 Phonetik und Phonologie<br />
78Affrikaten Phonologie<br />
Affrikaten sind Kombinationen aus einem Plosiv und einem Frikativ, die an ähnlichen<br />
Das Artikulationsorten Raster in Tabelle gebildet (10) ermöglicht werden, z.B. eine [pf] Grobklassifikation in Pfad oder [ts] inder sitzen. Konsonanten des<br />
Deutschen nach artikulatorischen Kriterien. [v] kann beispielweise artikulatorisch<br />
als Beispielwörter stimmhafter, labialer für die Konsonanten (genauer: labiodentaler) im Deutschen Frikativ charakterisiert werden (zu<br />
weiteren Möglichkeiten der Subklassifizierung mit Hilfe phonologischer Merkmale<br />
s. (5) Kap. 3.3.3). [p] Pokal [s] Pass [n] Netz<br />
[b] Ball [z] Samstag [�] lang<br />
Aufgabe [t] 1: Tor Beschreiben [S] Sie Schiedsrichter die artikulatorischen [l] LatteEigenschaften<br />
folgender Konsonanten:<br />
[/], [d] dribbeln [R], [S], [g], [Z] [z], Genie [l], [f], [N], [ts] [R] rein<br />
[k] Karte [ç] Licht [r] Zungenspitzen R<br />
2. Vokale: [g] Bei Gegner vokalischer [J] Artikulation Jubel erfolgt [x] keine Dachso<br />
starke Behinderung des Luftstroms<br />
im [f] Ansatzrohr, Flanke dass [h] ein Halle Geräusch entsteht. [P] Abwehr Die unterschiedlichen Vokalqualitäten<br />
kommen [v] Wechsel vielmehr [m] auf Mannschaft andere Weise zustande. Die an den Stimmbändern in<br />
Schwingungen versetzte Luft regt die im Rachen- und Mundraum befindliche Luftsäule<br />
zum Mitschwingen an. Diese Übertragung von Schwingungen wird als Resonanz<br />
2.3.5 bezeichnet. VokaleDurch<br />
die Bewegungen der Zunge und der Lippen werden oberhalb<br />
der Glottis • Vokale verschiedene sind immer Resonanzräume stimmhaft. geformt, die resultierenden Laute werden<br />
als unterschiedliche Vokalklänge wahrgenommen.<br />
•Vokale Bei Vokalen sind nach liegt folgenden keine starke artikulatorischen Behinderung des Parametern Luftstroms differenzierbar: vor. 1) Position<br />
der Zungenmasse (dorsum) und 2) Position der Lippen.<br />
• Die Luft kann also nahezu ungehindert ausströmen.<br />
Zu 1: Die Stellung des Dorsums kann in zwei Dimensionen bestimmt werden, in der<br />
vertikalen Vokale (Zungenhöhe) lassen sich nach und folgenden in der horizontalen Kriterien klassifizieren: Ausrichtung (Zungenlage). Letztere<br />
bezieht • Zungenhöhe: sich auf die hoch Position – mittel des – höchsten tief Punktes der Zunge im Mundraum.<br />
Zu 2:<br />
•<br />
Die<br />
Zungenlage:<br />
Lippen können<br />
vorn – zentral<br />
bei der<br />
–<br />
Vokalartikulation<br />
hinten<br />
eine neutrale bzw. – bei [i] –<br />
gespreizte Stellung einnehmen oder sie können vorgestülpt und gerundet sein. Nach<br />
diesem • Kriterium Lippenrundung: werden gerundet runde Vokale – ungerundet von nicht-runden unterschieden.<br />
Eine übliche Darstellungsform für die Vokalparameter ›Zungenhöhe‹ und ›Zun-<br />
• Quantität/Vokallänge: kurz – lang<br />
genlage‹ ist das sogenannte Vokaltrapez. In (11) ist ein solches Trapez mit den Vokalen<br />
des • Standarddeutschen sekundäre Artikulation: abgebildet: Monophthonge – Diphthonge<br />
(11) Die Vokale Vokale des Deutschen im Deutschen – das Vokaltrapez:<br />
ø<br />
I<br />
Y<br />
E<br />
œ<br />
´<br />
å<br />
A<br />
O<br />
Vordere Beispielwörter Vokale werden für die Vokale auch als imPalatalvokale Deutschen<br />
bezeichnet, weil die Zungenmasse bei<br />
ihrer Artikulation in Richtung des harten Gaumens angehoben wird; hintere Vokale<br />
nennt man Velarvokale, da die Hebung zum Velum hin erfolgt.<br />
U
80 Phonologie<br />
dass für die meisten Vokale mehrere Möglichkeiten der Wiedergabe Phonologie im Schriftsystem 31<br />
des Deutschen bestehen.<br />
(6)<br />
Aufgabe [i:] 2: Liebe, Ermitteln Igel, ihn, Sie anhand Vieh des [@] Korpus geheim, (13) Rose die Möglichkeiten der orthographischen<br />
[I] Wiedergabe List, Stimme von Lang- und [5] Kurzvokalen Winter,Tür im Deutschen.<br />
[y:] lügen, Bühne [a] man, Kanne<br />
Eine Sondergruppe [Y] Sünde, Hülle unter den vokalischen [A:] Dame,Zahl, Lauten bilden Aal die Diphthonge: Sie sind<br />
Kombinationen [e:] lesen, aus Mehl, zwei See Vokalen innerhalb [u:] Schule, einer Ruhm Silbe; während der Artikulation<br />
bewegen [E] sich Eltern, Zunge älter, und Stelle, Lippen Fälle aus [U] einer Hund, Vokalposition Hummer in eine andere. Im Deutschen<br />
sind [E:] drei schälen, Diphthonge Pfähle geläufig, [o:] 1) [aI8], Los, 2) Mohn, [aU8] und Moos3)<br />
[OI8] (zur Transkription s.<br />
[ø:] schön, Höhle [O] von, Gott<br />
Kap. 3.4.2.1):<br />
[œ] Köln, gönnen<br />
(14) Diphthonge des Deutschen<br />
Neben den genannten einfachen Vokalen gibt es noch die Diphthonge.<br />
[aI8]<br />
Diphthonge<br />
[aU8] [OI8]<br />
Diphthonge Reise sind Kombinationen aus zwei Haus Vokalen innerhalb einer Silbe; heutewährend<br />
der<br />
Artikulation bewegen Blei sich Zunge und Lippen Applaus aus einer Vokalpositionteuer in eine andere.<br />
Eis auch Häute<br />
Beispielwörter Mais für die Diphthonge im Deutschen Clown Säule<br />
[aI]<br />
[aU]<br />
Waise leise, weinen, Greis, Mais, Kaiser Kakao<br />
Tau, Haus, saufen, Kakao, Clown<br />
¡ei¿, ¡ai¿<br />
¡au¿, ¡ao¿, ¡ow¿<br />
ahoi<br />
Die Bewegung [OI] der läuten, Zunge Bäume, während scheu, der Leute, Artikulation ahoi ¡äu¿, ¡eu¿, dieser ¡oi¿ Diphthonge ist in Abbildung<br />
(15) Die veranschaulicht Bewegung der Zunge (nach während Pompino-Marschall der Artikulation dieser 1995, Diphthonge 218): (nach Pompino-<br />
(15)<br />
Marschall 1995: 218):<br />
Artikulation der Diphthonge<br />
aI aU<br />
OI<br />
Die Abbildung zeigt, dass die Ausgangsposition der Artikulation relativ genau fixierbar,<br />
der Endpunkt der Gleitbewegung der Zunge dagegen sehr variabel ist. Entsprechend<br />
2.4 finden Phonologie<br />
sich eine Reihe unterschiedlicher Transkriptionen für die Diphthonge<br />
in der Literatur (vgl. Ramers 1998, 36 f.).<br />
2.4.1 Auch die Phonem-Graphem-Korrespondenz<br />
tautosyllabischen (zu einer Silbe gehörenden) Kombinationen aus<br />
einem Vokal • Das und Verhältnis folgendem zwischen vokalisiertem den gesprochenen ›r‹ bilden Lauten Diphthonge und dendes Buchstaben, Deutschen, diez.<br />
B.<br />
in den Wörtern wir verwenden, ihr, er, für, um Stör, die Laute Uhr zuund verschriften, Ohr (zu nennt ihrer man Artikulation Phonem-Graphem- vgl. Kohler<br />
1999, 88). Korrespondenz (oder -verhältnis).<br />
Aufgabe • 3: Wie Transkribieren wir an vielen Beispielen Sie folgende gesehenSätze haben, im ist die IPA-System: Phonem-Graphem-Korrespondenz<br />
(a) Die Katze im Deutschen kippte den kein Milchtopf 1:1-Verhältnis.<br />
um und verschwand im Keller.<br />
(b) Der Ötzi schwang die Keule, bevor er im ewigen Eis erfror.<br />
(c) Die Mäuse fraßen Löcher in den Käse.<br />
(d) Goethe brach zu seiner italienischen Reise in den Süden auf.
32 Phonetik und Phonologie<br />
• Deshalb benutzen wir für die phonetische Wiedergabe Symbole des International<br />
Phonetic Alphabet (IPA).<br />
Das Graphem-Phonem-Verhältnis kann in zwei Richtungen von einem 1:1-Verhältnis<br />
abweichen:<br />
1. Ein Laut kann durch mehrere orthografische Zeichen wiedergegeben werden.<br />
2. Ein orthografisches Zeichen kann mehrere Laute symbolisieren.<br />
⎧⎪<br />
/k/ ⎨<br />
⎪⎩<br />
Kanal, kochen<br />
Lack, blicken<br />
Tag, sagt<br />
joggt, flaggt<br />
chic, Cuba<br />
Wachs, Christ<br />
quer, Äquator<br />
fix, Hexe<br />
⎧⎪<br />
⎨<br />
⎪⎩<br />
[x] Dach, Docht, Buche<br />
[ç] China, ich, echt, Lerche<br />
[k] Chor, Achse, Fuchs<br />
[S] Charme<br />
[tS] Chip<br />
• Darüber hinaus wird der Glottisverschlusslaut [P] im Deutschen überhaupt nicht<br />
verschriftet.<br />
2.4.2 Das Phonem<br />
• Für das System einer Sprache spielen nur eine beschränkte Anzahl von Lautäußerungen<br />
eine Rolle.<br />
Beispiele<br />
(7) a. Rakete [Raket@] vs. Rakete [raket@]<br />
b. Gasse [gas@] vs. Kasse [kas@]<br />
• Die verschiedenen r-Realisierungen verändern die sprachliche Information nicht,<br />
man kann sowohl [R] als auch [r] artikulieren, ohne dass sich die Bedeutung des<br />
Worts Rakete ändert.<br />
• Anders verhält es sich zwischen [k] und [g]: sie können zwischen zwei Wörtern<br />
mit verschiedener Bedeutung unterscheiden.<br />
• Wortpaare wie Gasse – Kasse nennt man Minimalpaare.<br />
Minimalpaare<br />
Wortpaare einer Sprache, die sich in der Artikulation nur an einer Stelle (in einem<br />
Laut) unterscheiden und dadurch unterschiedliche Bedeutung haben.
Beispiel für Minimalpaare<br />
(8) a. danken vs. tanken /d/ vs. /t/<br />
b. Rachen vs. Lachen /R/ vs. /l/<br />
c. Welle vs. Felle /v/ vs. /f/<br />
Phonologie 33<br />
• Mithilfe von Minimalpaaren findet man heraus, welche Laute im System einer<br />
Sprache verankert sind (Phoneminventar).<br />
• Die Einheiten, die im System einer Sprache zwei Wörter differenzieren können,<br />
nennt man Phoneme.<br />
Phonem (1. Definition)<br />
Ein Phonem bildet die kleinste bedeutungsdifferenzierende Einheit einer Sprache. (EGLI:<br />
81)<br />
Klassischer Phonembegriff (2. Definition)<br />
Ein Phonem ist ein (zu Lautfolgen kombinierbarer) Lauttyp, der im Sprachbewusstsein<br />
in relevanter (d.h. bedeutungs-unterscheidender) Opposition zu einem anderen Lauttyp<br />
steht, ohne selbst bedeutungstragend zu sein. (Welte 1974: 431)<br />
• In den Definitionen wird deutlich, dass Phoneme selbst nichts bedeuten.<br />
• An ihnen unterscheiden sich jedoch die bedeutungstragen- den Einheiten, die<br />
Wörter bzw. Morpheme.<br />
• Phoneme lassen sich durch Minimalpaare ermitteln.<br />
• Man schreibt Phoneme zwischen Schrägstrichen (z.B. /b/, /d/, /g/).<br />
Betrachten wir z. B. folgendes Minimalpaar: Rinde [rInd@] vs. Linde [lInd@].<br />
• [r] und [l] stehen in diesem Minimalpaar ” in Opposition zueinander“, sie ” kontrastieren“.<br />
• Rinde und Linde haben eine unterschiedliche Bedeutung.<br />
• Die betreffenden Einheiten enthalten offenbar Merkmale, die für den Bedeutungsunterschied<br />
verantwortlich sind.<br />
➞ Phoneme stellen Bündel distinktiver Merkmale dar.<br />
2.4.3 Phonem, Phon, Allophonie<br />
• Phoneme sind abstrakte funktionale Einheiten der Phonologie.<br />
• Phoneme werden auf der Äußerungsebene durch Phone realisiert.<br />
• Phone sind die konkret realisierten Lautäußerungen.
34 Phonetik und Phonologie<br />
• Phone werden in eckigen Klammern [·] geschrieben (im Gegensatz zu /·/ bei<br />
Phonemen).<br />
Phon<br />
Ein Phon ist die kleinste, durch das Verfahren der Segmentierung gewonnene, lautliche<br />
Einheit der gesprochenen Sprache, die noch nicht als Repräsentant eines bestimmten<br />
Phonems klassifiziert worden ist.<br />
• Bei Phonen und Phonemen handelt es sich um Einheiten unterschiedlicher Beschreibungsebenen.<br />
• Die Phonetik untersucht in erster Linie Phone.<br />
• Die Phonologie untersucht in erster Linie Phoneme.<br />
• Die unterschiedlichen Realisationen eines Phonems nennt man Allophone.<br />
Allophon<br />
Ein Allophon ist eine Realisierungsvariante eines Phonems.<br />
Beispiel für Allophonie<br />
(9) a. Rakete [Raket@] vs. Rakete [raket@]<br />
b. Phonem: /r/<br />
Allophone: [R] [r]<br />
Allophone eines Phonems können in unterschiedlichen Relationen zueinander stehen:<br />
1. in freier (bzw. regionaler) Variation<br />
2. in komplementärer Distribution<br />
Freie Variation<br />
Freie Variation liegt dann vor, wenn zwei Allophone im gleichen Lautkontext austauschbar<br />
sind, ohne dass sich die Bedeutung ändert.<br />
Es gibt zwei Arten freier Variation:<br />
1. Variation beim gleichen Sprecher (freie Variation i. e. S.)<br />
2. regional bedingte Variation
Phonologie 35<br />
• Freie Variation im engeren Sinne liegt z. B. bei Aspiration vs. Nicht-Aspiration<br />
vor.<br />
Freie Variation bei der Aspiration<br />
(10) a. [p] vs. [p h ], z. B. in schlapp<br />
b. [t] vs. [t h ] , z. B. in Mut<br />
c. [k] vs. [k h ], z. B. in Dreck<br />
• Ein Bedeutungsunterschied ist damit jedoch nicht verbunden.<br />
• Es handelt sich also um Allophone eines Phonems.<br />
• Regionale Variation liegt beispielsweise im Fall der verschiedenen r-Realisierungen<br />
vor.<br />
• Gerolltes [r] und Zäpfchen-[R] sind Allophone eines Phonems /r/.<br />
• Die Wahl einer Variante hängt von der regionalen Herkunft ab.<br />
• Gerolltes [r] wird u. a. von bayerischen und österreichischen Sprechern gesprochen.<br />
Komplementäre Distribution<br />
Komplementär distribuiert sind Allophone, wenn sie nie im gleichen Lautkontext vorkommen.<br />
• Der klassische Fall von komplementärer Distribution von Allophonen ist der<br />
ach-Laut [x] und ich-Laut [ç].<br />
• Das Phonem /x/ wird nach Hintervokalen als [x], in allen anderen Positionen<br />
(nach Konsonanten, Vordervokalen sowie im Morphemanlaut) als [ç] realisiert.<br />
Komplementäre Distribution von [x] und [ç]<br />
(11) a. [x] ach, noch, wach, Buch, Sache, Schacht, lochen<br />
b. [ç] ich, reich, Pech, flüchten, manche, Milch, Chemie, Häuschen<br />
• Man spricht jedoch nur dann von komplementären Allophonen, wenn sie phonetisch<br />
ähnlich sind.<br />
• So werden /h/ und /�/ nicht als komplementäre Varianten eines Phonems angesehen,<br />
weil sie phonetisch nicht ähnlich sind, obwohl sie komplementär distribuiert<br />
sind.
36 Phonetik und Phonologie<br />
2.4.4 Kontraste und Neutralisation<br />
• Die Phoneme /m/ und /n/ kontrastieren immer, d. h. in allen Positionen.<br />
Kontraste zwischen /n/ und /m/<br />
(12) a. [mus] vs. [nus]<br />
b. [kem@n] vs. [ken@n]<br />
c. [am] vs. [an]<br />
• Die Phoneme /b/ und /p/ kontrastieren im An- und Inlaut.<br />
• Sie konstrastieren jedoch nicht im Auslaut und vor stimmlosen Konsonanten.<br />
• Im Auslaut tritt Neutralisierung ein.<br />
• Im Deutschen werden die stimmhaften Obstruenten/b/, /d/, /g/, und /v/ im Auslaut<br />
stimmlos.<br />
• Dies nennt man Auslautverhärtung.<br />
Auslautverhärtung im Deutschen<br />
(13) Die-be [b] Dieb [p] Dieb-stahl [p]<br />
Kin-der [d] Kind [t] Kind-heit [t]<br />
Ber-ge [g] Berg [k] Berg-station [k]<br />
doo-fer [v] doof [f] Doof-mann [f]<br />
• Die Phoneme /z/ und /s/ kontrastieren im Inlaut nach gespannten Vokalen und<br />
Diphthongen.<br />
• Im Auslaut und vor stimmlosen Konsonanten tritt Neutralisierung ein.<br />
/s/ vs. /z/<br />
(14) a. Kontrast: reisen [raIz@n] vs. reißen [raIs@n]<br />
b. Neutralisierung: Grä-ser [z] vs. Gras [s] & Gras-halm [s]
alfall bildung. sollten [+sonorant] alle verwendeten sind Laute, Merkmale die spontan in stimmhaft allen drei sind. phonetischen Aufgrund Manifestations-<br />
des nicht<br />
bereichen verengten definierbar Stimmtraktes sein, und d. h. angenäherter 1) artikulatorisch, Stimmbänder 2) akustisch ist der supraglottale und 3) auditiv. Jakobson/Fant/Halle<br />
Luftdruck gegenüber (1951) dem und subglottalen Jakobson/Halle klein genug, (1956) um die geben Stimmbänder zumindest beim Definitionen<br />
Ausatmen artikulatorischer automatisch und zum akustischer Schwingen Art zu an, bringen später (vgl. begnügt Chomsky/Halle man sich in 1968, der phonologischen<br />
300–302). Praxis Stimmhafte meist mit Obstruenten rein artikulatorischen (wie [z], [d] etc.) Definitionen sind dagegen (so zwar z. B. stimm- teilweise in<br />
Chomsky/Halle haft, aber nicht 1968 spontan oder stimmhaft. Wurzel 1970). D. h., damit die Stimmbänder bei der supraglottalen<br />
Im Folgenden Behinderung werden des die Luftstroms einzelnen während für das der Deutsche Produktion relevanten dieser Laute Merkmale<br />
trotzdem schwingen, ist zusätzlicher artikulatorischer Aufwand, z. B. eine stär-<br />
eingeführt und definiert. Die sogenannten Oberklassenmerkmale Phonologie (engl. ›major 37 class<br />
kere Öffnung der Glottis, erforderlich. Dies bedeutet, Vokale und Sonoranten<br />
features‹) dienen der Differenzierung der Hauptklassen eines Lautsystems. In (28) ist<br />
sind im unmarkierten Fall [+stimmhaft], der unmarkierte Wert für Obstruenten<br />
eine 2.4.5 ist<br />
mögliche<br />
dagegen Phonologische [–stimmhaft].<br />
Klassifikation Merkmale In aller<br />
mit<br />
Regel<br />
Hilfe<br />
werden<br />
solcher<br />
Laute,<br />
Merkmale<br />
die [+sonorant]<br />
für das<br />
sind,<br />
Deutsche<br />
auch<br />
dargestellt<br />
stimmhaft (nach Kloeke realisiert. 1982, Diese 3 Kopplung und Ramers besteht 1998, jedoch 55): nicht zwangsläufig. Im Deut-<br />
(28) schen beispielsweise werden Vokale alle Laute, Sonoranten auch die Sonoranten Obstruenten und Vokale, Laryngale beim<br />
Flüstern<br />
konsonantisch<br />
stimmlos ausgesprochen.<br />
–<br />
In einigen<br />
+<br />
Sprachen kommen<br />
+<br />
stimmlose<br />
–<br />
Sonoranten<br />
sonorant<br />
auch als reguläre<br />
+<br />
Phoneme vor,<br />
+<br />
z. B. stimmlose<br />
–<br />
Nasale im Burmesi-<br />
–<br />
schen und ein stimmloser Lateral in der dravidischen Sprache Toda. Zu letzterem<br />
Fall führt Hall (2000, 21) das Minimalpaar [kal] Segmentale ›Perle‹ vs. [kal9] Phonologie ›studieren‹ 91 an<br />
(das diakritische Zeichen [ 9] kennzeichnet die Stimmlosigkeit von Lauten, die<br />
(35) unmarkierterweise Artikulationsstellen stimmhaft und Ortsmerkmale sind, also im von Deutschen Vokalen und Sonoranten).<br />
Labiale Dentale/ Postalveolare Palatale Velare Uvulare<br />
Zur Lautklasse der Laryngale gehören im Deutschen nur zwei Segmente, [h] und der<br />
Alveolare<br />
Glottisverschlusslaut [/]. Diese beiden Laute sind zum einen nicht spontan stimm-<br />
labial + – – – – –<br />
haft wie die Vokale und Sonoranten, sondern im unmarkierten Fall stimmlos. Zum<br />
koronal – + + – – –<br />
anderen findet bei ihrer Artikulation keine Behinderung des Luftstroms oberhalb der<br />
Glottis statt hinten wie bei den Konsonanten.<br />
– – – – + +<br />
Im hoch Folgenden werden – die drei – Subklassen + ›Obstruenten‹, + ›Sonoranten‹ + – und<br />
Die<br />
›Vokale‹<br />
Lautklasse<br />
näher beleuchtet.<br />
der Sonoranten<br />
Eine Möglichkeit<br />
ist in der Merkmalsmatrix<br />
zur Klassifikation<br />
(36)<br />
der<br />
erfasst;<br />
Obstruentenpho-<br />
die bei allen<br />
Sonoranten<br />
neme des Deutschen<br />
übereinstimmenden<br />
mit Hilfe distinktiver<br />
Werte [+konsonantisch]<br />
Merkmale ist in<br />
und<br />
(29)<br />
[+sonorant]<br />
abgebildet:<br />
sind weggelassen<br />
(29) Merkmalsmatrix (vgl. dazu Tab. für 28): die Obstruentenphoneme des Deutschen Segmentale Phonologie<br />
91<br />
(36) Merkmalsmatrix für die Sonorantenphoneme des Deutschen<br />
(35) Artikulationsstellen und<br />
p<br />
Ortsmerkmale<br />
b f v<br />
im<br />
t<br />
Deutschen<br />
d s z S Z J k g x<br />
(a) sth – + – m+ – + n – + – N + + l – + R –<br />
nasal kont Labiale – – + Dentale/<br />
+ + – Postalveolare – + + + Palatale + + + + Velare<br />
– – Uvulare – – +<br />
Alveolare<br />
kontinuierlich (b) lab + + + – + – – – – – – – – – – – – + –<br />
labial + – – – – –<br />
labial kor – – – + – + + – + + + – + – – – – – –<br />
koronal – + + – – –<br />
koronal hint – – – – – – – + – – – – – – + + + – +<br />
hinten – – – – + +<br />
hinten hoch – – – – – – – – – – + + + + – + + + +<br />
hoch – – + + + –<br />
Kürzel: hoch sth = stimmhaft, kont = kontinuierlich, – lab – = labial, kor + = koronal, – hint = hinten –<br />
Die Lautklasse der Sonoranten ist in der Merkmalsmatrix (36) erfasst; die bei allen<br />
In Sonoranten der Tabelle übereinstimmenden wird ein uvulares /R/ Werte zugrunde [+konsonantisch] gelegt. Bei Annahme und [+sonorant] eines vorderen sind weg- /r/<br />
wären gelassen die (vgl. entsprechenden dazu Tab. 28): Merkmalswerte [+koronal, –hinten]. Das Merkmal [+/–<br />
lateral] ist ganz weggelassen. Es ist im Deutschen aus folgender Merkmalskombina-<br />
(36) Merkmalsmatrix für die Sonorantenphoneme des Deutschen<br />
tion ableitbar: [+kons, +son, –nas, –kont] � [+lateral]. Daher bildet es ein redundantes<br />
und kein distinktives Merkmal m(vgl. dazu auch n Wiese 1996, N 23 lf.). R<br />
Im nasal ›Merkmalbaum‹ (37) ist die + Einteilung der + Konsonanten + in – Unterklassen –<br />
mit Hilfe<br />
kontinuierlich<br />
distinktiver Merkmale illustriert:<br />
– – – – +<br />
(37) Konsonantenklassen<br />
labial + – – – –<br />
koronal<br />
Konsonanten<br />
–<br />
[+kons]<br />
+ – + –<br />
hinten – – + – +<br />
hoch – – + – –<br />
Obstruenten [–son] Sonoranten [+son]<br />
In der Tabelle wird ein uvulares /R/ zugrunde gelegt. Bei Annahme eines vorderen /r/<br />
wären die entsprechenden Merkmalswerte [+koronal, –hinten]. Das Merkmal [+/–<br />
lateral] Frikative ist ganz weggelassen. Es Plosive ist im Deutschen aus Liquide folgender Merkmalskombina-<br />
Nasale<br />
tion ableitbar: [+kont] [+kons, +son, [–kont] –nas, –kont] � [+lateral]. [–nasal] Daher bildet es [+nasal] ein redundantes<br />
und kein distinktives Merkmal (vgl. dazu auch Wiese 1996, 23 f.).<br />
Im ›Merkmalbaum‹ (37) ist die Einteilung der Konsonanten in Unterklassen<br />
Laterale Vibranten<br />
mit Hilfe distinktiver Merkmale illustriert:<br />
[–kont] [+kont]<br />
(37) Konsonantenklassen<br />
Klassen wie in (37), die durch eine Menge gemeinsamer Merkmale charakterisierbar<br />
sind, werden als natürliche Klassen Konsonanten bezeichnet. [+kons]<br />
Eine mögliche Matrix der Merkmalsrepräsentation für die Vokalphoneme des<br />
Deutschen bildet (38):
hoch – – + – –<br />
In der Tabelle wird ein uvulares /R/ zugrunde gelegt. Bei Annahme eines vorderen /r/<br />
wären die entsprechenden Merkmalswerte [+koronal, –hinten]. Das Merkmal [+/–<br />
lateral] ist ganz weggelassen. Es ist im Deutschen aus folgender Merkmalskombination<br />
ableitbar: [+kons, +son, –nas, –kont] � [+lateral]. Daher bildet es ein redundantes<br />
und kein distinktives Merkmal (vgl. dazu auch Wiese 1996, 23 f.).<br />
Im ›Merkmalbaum‹ (37) ist die Einteilung der Konsonanten in Unterklassen<br />
38 Phonetik und Phonologie<br />
mit Hilfe distinktiver Merkmale illustriert:<br />
(37) Konsonantenklassen<br />
Konsonanten [+kons]<br />
Obstruenten [–son] Sonoranten [+son]<br />
Frikative Plosive Liquide Nasale<br />
[+kont] [–kont] [–nasal] [+nasal]<br />
Laterale Vibranten<br />
[–kont] [+kont]<br />
Klassen wie in (37), die durch eine Menge gemeinsamer Merkmale charakterisierbar<br />
sind, werden als natürliche Klassen bezeichnet.<br />
2.4.6 Phonologische Regeln und Prozesse<br />
Eine mögliche Matrix der Merkmalsrepräsentation für die Vokalphoneme des<br />
Deutschen bildet (38):<br />
Format für phonologische Regeln<br />
(15) Input → Output / Kontext Kontext<br />
Kontexte<br />
(16) a. Wortanfang: #<br />
b. Wortende #<br />
c. Silbenende: $<br />
d. Silbenanfang: $<br />
e. vor Vokal: V<br />
f. nach Vokal: V<br />
g. vor Konsonant: C<br />
h. nach Konsonant: C<br />
Phonologische Regel für die Auslautverhärtung<br />
(17) [−son, +kons, +sth] → [−son, +kons, −sth] / $<br />
Generelles Format<br />
(18) Input: /Phonologische Repräsentation/ →<br />
Output/Input: /Phonologische Repräsentation/Ê→<br />
Output/Input: /Phonologische Repräsentation/ →<br />
......
Output/Input: /Phonologische Repräsentation/ →<br />
Output/Input: /Phonologische Repräsentation/ →<br />
Output: [phonetische Repräsentation]<br />
Phonologie 39<br />
• Die Anwendung einer Reihe von phonologischen Regeln ist u.U. geordnet!<br />
Typen von Phonologische Regeln<br />
• Epenthese (Hinzufügung in der Silbe)<br />
• Prothese (Hinzufügung am Silbenanfang)<br />
• Elision (Tilgung)<br />
• Assimilation/Dissimilation (Veränderung)<br />
• Metathese (Umstellung)<br />
Prothese<br />
Hinzufügung eines Segmentes am Silbenanfang<br />
Glottalisierung am Silbenanfang im Deutschen vor einem betonten Vokal<br />
(19) a. /ab/ wird zu [Pap]<br />
b. ∅ → P/$ V<br />
Assimilation<br />
Angleichung eines vorhergehenden oder folgenden Segmentes bezüglich der Artikulationsstelle.<br />
Progressive Assimilation<br />
nachfolgendes Segment wird beeinflusst.<br />
Regressive Assimilation<br />
vorhergehendes Segment wird beeinflusst
40 Phonetik und Phonologie<br />
Beispiel Nasalassimilation<br />
Koronale Nasale gleichen sich an den nachfolgenden oder vorhergehenden Dorsal an.<br />
Regel (für die regressive Ass.)<br />
(20) a. /ank5/ wird zu [a�k5]<br />
b. [+nas,+kor] → [+nas,+dor]/ [-son, -kont, -kor, +dor]<br />
Elision<br />
Tilgung eines Segmentes oder Merkmals innerhalb einer Silbe.<br />
Beispiel: Tilgung von dorsalen Segmenten<br />
(21) a. /lang/ (wird zu /la�g/ (Assimilation)) wird zu [la�] (Ellision)<br />
b. [-kont,+dor,+sth] → ∅/ [+nas,+dor]<br />
c. lang, Mangel, Hengst, hängt, Ingmar, Anhänger<br />
d. Aber: Ungar, Ingoldstadt<br />
Beispiel: AuslautverhärtungTilgung des Merkmals [+stimmhaft]<br />
(22) a. [−son, +kons, +sth] → [−son, +kons, −sth] / $<br />
b. /loz/ wird zu [los] (das Los)<br />
Epenthese<br />
Hinzufügung eines Segmentes/Merkmals innerhalb einer Silbe.<br />
Beispiel: Plosiv-Epenthese zwischen Nasal und Frikativ/Plosiv.<br />
(23) a. /tSOmski/ wird zu [tSOmpski]<br />
b. ∅ → [-son, +kons, -kont, αdor, βkor, γlab] /<br />
[+nas, αdor, βkor, γlab] [-son, +kor, -sth]<br />
c. kommt, rennst, singt, fünf, Senf
Metathese<br />
Vertauschung von Segmenten<br />
(24) a. Rolando – Orlando<br />
b. Kirsche – Chriesi<br />
c. Brunnern – Born<br />
Nichtlineare Phonologie 41<br />
• Auch Versprecher basieren auf Vertauschung von Segmenten: Zaum und Reit<br />
Regelordnung: Nasalassimilation/g-Tilgung/Auslautverhärtung<br />
Korrekt<br />
(25) /ding/<br />
→ /di�g/ (Nasalassimilation)<br />
→ [di�] (g-Tilgung)<br />
(Auslautverhärtung kann nicht mehr angewendet werden)<br />
Nicht korrekt<br />
(26) /ding/<br />
→ /di�g/ (Nasalassimilation)<br />
→ /di�k/ (Auslautverhärtung)<br />
(g-Tilgung kann nicht mehr angewendet werden)<br />
2.5 Nichtlineare Phonologie<br />
• Die segmentale oder lineare Phonologie behandelt Phoneme als Segmente einer<br />
Lautkette, die linear angeordnet sind.<br />
• Die nichtlineare Phonologie beschäftigt sich mit Aspekten, die sich über die Grenzen<br />
des einzelnen Segments hinaus auf größere Domänen wie Silbe und Wort<br />
erstrecken.<br />
• Es handelt sich dabei um eine Reihe von Lautphänomenen, die gewissermaßen<br />
unabhängig sind von einzelnen Segmenten.<br />
• So können diese Phänomene ohne zugeordnetes Segment vorkommen, oder der<br />
betroffene Bereich ist kleiner oder größer als ein Segment.
42 Phonetik und Phonologie<br />
2.5.1 Die Silbe<br />
• Inwiefern ist die Silbe ein phonologischer Begriff?<br />
• Zwei Argumente sollen dies veranschaulichen:<br />
1. Identische Phonemfolgen können verschieden syllabifiziert (= in Silben unterteilt)<br />
sein und haben dann unterschiedliche Bedeutung.<br />
Beispiele aus dem Englischen<br />
(27) a. /naItreIt/ /naIt|reIt/ ‘night rate’ (Nachttarif)<br />
/naI|treIt/ ‘nitrate’ (Nitrat)<br />
b. /laItni�/ /laIt|ni�/ ‘lightning’ (Blitz)<br />
/laIt|n|i�/ ‘lightening (Erleuchtung)<br />
2. Viele phonologische Prozesse können nur sinnvoll erklärt werden, wenn man eine<br />
Silbenstruktur annimmt.<br />
• So lässt sich bei der sog. Auslautverhärtung beispielsweise beobachten, dass die<br />
Entstimmung von Obstruenten (= Plosive und Frikative) nicht nur am Wortende,<br />
sondern auch vor Silbengrenzen vorkommt<br />
Auslautverhärtung an Silbengrenzen<br />
(28) a. Ebene [e:|b@n@] vs.ebnen [e:p|n@n]<br />
b. edel [e:|d@l] vs. edle [e:t|l@]<br />
• Der entstimmte Obstruent steht jeweils am Ende der Silbe steht.<br />
• Man kann daher annehmen, dass die Regel für die Auslautverhärtung auf die<br />
Beschreibungsgröße Silbe Bezug nimmt.<br />
Regel für die Auslautverhärtung im Deutschen<br />
(29) [+obstruent] �→ [−stimmhaft] / $<br />
• Diese Regel liest sich wie folgt:<br />
– Wenn etwas ein Obstruent ist,<br />
– dann wird es stimmlos,<br />
– wenn es vor einer Silbengrenze steht.<br />
• Man nimmt an, dass auch Silben eine Struktur haben.
Silbenstruktur<br />
– Eine Silbe gliedert sich in den Kopf (Onset) und den Reim.<br />
Nichtlineare Phonologie 43<br />
– Der Reim wird darüber hinaus in den Nukleus und die Koda unterteilt.<br />
(30) Silbe<br />
Kopf (Onset) Reim<br />
Nukleus Koda<br />
a. ab ∅ a b<br />
b. sah s A: ∅<br />
c. trost tr o: st<br />
d. strumpfs Str U mp f s<br />
• Silbenkopf (Onset), Nukleus und Reim (Nukleus+Koda) spielen auch für die<br />
Literaturwissenschaft eine Rolle.<br />
• Die Begriffe Reim, Assonanz und Stabreim z. B. nehmen auf diese Größen Bezug.<br />
(reiner) Reim<br />
Der (reine) Reim ist die Übereinstimmung der Reime (im phonologischen Sinne) der<br />
letzten betonten Silbe (und evtl. folgender unbetonter Silben).<br />
Beispiele für Reime (R. M. Rilke: Ich fürchte mich so...)<br />
(31) Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.<br />
Sie sprechen alles so deutlich aus:<br />
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,<br />
und hier ist der Beginn und das Ende ist dort.<br />
Assonanz<br />
Bei der Assonanz genügt die Übereinstimmung der Nuklei.
108 Phonologie<br />
In der Regel bilden Vokale den Silbengipfel und Konsonanten nicht, aber es<br />
existieren Ausnahmen in zwei Richtungen:<br />
1. Kommen zwei Vokale in einer Silbe vor (Diphthonge), so bildet nur einer den<br />
Silbengipfel und der andere ist unsilbisch. In (78) sind die entsprechenden CV-Strukturen<br />
für die Diphthonge [aI8], [aU8] und [OI8] (in heiß, Haus, Heuss) dargestellt:<br />
44 Phonetik und Phonologie<br />
(78) a. C V C C b. C V C C c. C V C C<br />
Beispiele für Assonanzen<br />
(32) h Grab a I– Pfad, s Hof – Lob, schenken h – awenden U s h O I s<br />
Die Vokale [a] und [O] sind offener als [I] und [U]; deshalb bilden sie jeweils den<br />
Silbengipfel. StabreimDie<br />
letzteren beiden Segmente werden daher, obwohl sie Vokale sind,<br />
mit einer Stabreime C-Position stimmen assoziiert. im Silbenkopf Sie besitzen überein. quasi schwächere Vokaleigenschaften als<br />
die vorangehenden offenen Vokale, weil sie über weniger Schallfülle verfügen. In der<br />
Transkription Beispiele Stabreime wird der unsilbische Status dieser Vokale übrigens durch das diakritische<br />
Zeichen [ 8] unter dem Vokal markiert.<br />
(33) a. Seine sieben Sachen<br />
2. ›V‹ ist in folgendem b. Und dieses Fall heißt nicht Hund mit und einem jenesvokalischen heißt Haus Segment assoziiert: Fehlt in<br />
einer Silbe ein Vokal, so bildet ein sonoranter Konsonant den Silbengipfel. Dies ist<br />
im Deutschen • Sprachen immer unterscheiden dann der Fall, sich darin, wenn was Schwa für mögliche vor einem Silbenstrukturen Sonoranten sieausfällt, zulassen. z. B.<br />
in den Reduktionsketten in Beispiel (50). Für die jeweils zweiten Silben der Wörter<br />
Leben und Segel ergeben sich bei einer Realisierung ohne Schwa (also: [le:bn`] und<br />
Silbenstruktur des Deutschen<br />
[ze:gl`]) die CV-Strukturen in (79):<br />
(34) a. Im Kopf der Silbe können null bis drei Konsonanten stehen.<br />
(79) a. � b. �<br />
b. Im Nukleus steht typischerweise ein Vokal.<br />
c. In der Koda stehen wiederum Konsonanten.<br />
C V C V<br />
• ad (34a): vgl. Strumpfs [StrUmp f s]<br />
b n g l<br />
• ad (34b): Nasale oder Liquida sind auch möglich, z.B. in Ekel [e:|kl ]), leben [le:|bn ]<br />
" "<br />
Da diese Silben keinen Vokal enthalten, bilden die Sonoranten den Silbengipfel. Die<br />
Affinität 2.5.2eines Sonoritätshierarchie<br />
Segments zur Bildung des Silbengipfels hängt offensichtlich von zwei<br />
Faktoren ab: (a) vom Lautkontext innerhalb der Silbe (vgl. 78 und 79) und (b) vom<br />
inhärenten Öffnungsgrad des Segments. Nach dem Grad ihrer Affinität zur Silbengipfelposition<br />
Lautfolge innerhalb können Segmente der Silbe in einer Sprache anhand einer Skala geordnet werden,<br />
der Sonoritätsskala (Sonoritätshierarchie).<br />
• Eine Silbe verläuft von einer Verschlussphase mit minimaler Schallintensität über<br />
den Silbengipfel mit maximaler Schallintensität und minimalem Verschluss zu<br />
3.4.2.2 Die Sonoritätshierarchie<br />
einem Verschluss mit minimaler Schallintensität.<br />
›Sonorität‹ kann zunächst grob als das Bündel der phonetischen Eigenschaften ›Öffnungsgrad‹,<br />
• Zum ›Intensität‹ Silbengipfel und hin›Lautstärke‹ stehen also Laute, eines dieSegmentes vokalhafter sind charakterisiert (sonore Laute), werden. während Wie<br />
das Schema die(77) Silbenränder zeigt, bildet eher von die konsonatitischeren Silbe insgesamt Lauten eine Phase (weniger steigender sonoren) Lauten und wieder<br />
abfallender gebildet Sonorität. werden Die ($ = Abbildung Silbengrenze): (80) zeigt das typische Sonoritätsprofil einer<br />
Silbe (nach Lenerz 1985, 19) ($ = Silbengrenze):<br />
(80) Sonoritätsprofil der Silbe<br />
Sonorität<br />
$ Silbengipfel $
Silbengipfel jedes Segment sonorer ist als das vorangehende, und vom Gipfel an jedes<br />
Segment weniger sonor als das vorangehende. Selkirk (1984, 116) erfasst diese phonotaktische<br />
Gesetzmäßigkeit in der ›Sonority Sequencing Generalization (SSG)‹ in (81):<br />
(81) In any syllable, there is a segment constituting a sonority peak that is preceded and/or<br />
followed by a sequence of segments with progressively decreasing sonority values. [In<br />
jeder Silbe bildet ein Segment den Sonoritätsgipfel, dem eine Sequenz von Segmenten<br />
mit progressiv fallenden Sonoritätswerten vorangeht oder folgt; H.R.]<br />
Segmente in einer Sprache können aufgrund ihres Sonoritätsgrades Nichtlineare Phonologie (›sonority 45value‹)<br />
auf einer Skala angeordnet werden (diese Erkenntnis geht übrigens auf die Arbeiten<br />
des Phonetikers Eduard Sievers zurück; vgl. Sievers 1901). Aufgrund einer solchen<br />
Skala Sonoritäthierarchie<br />
und der SSG in (81) sind dann die möglichen und nicht-möglichen Segmentabfolgen<br />
Die innerhalb Laute einerder Sprache Silbe können voraussagbar. aufgrundFür ihresdas Sonoritätsgrades Deutsche schlägt auf einer Wiese Skala(1988, ange- 91)<br />
die Skala ordnetin werden. (82) vor:<br />
(82) Sonoritätsskala<br />
zunehmende Sonorität<br />
Plosive Frikative Nasale /l/ /r/ hohe Vokale Vokale<br />
Diese Skala kann die Phonotaktik innerhalb der Silbe im Deutschen relativ genau<br />
prognostizieren. Zusammen mit So dem sind Sonoritätsverlauf die monosyllabischen kann dieses Wörter Sonoritätshierarchie in (83a) wohlgeformt, Vorhersagen weil sie<br />
der Sonoritätshierarchie<br />
über mögliche und nicht-mögliche<br />
in (82) und<br />
Lautabfolgen<br />
der Bedingung<br />
innerhalb<br />
(81)<br />
einer<br />
entsprechen,<br />
Silbe machen.<br />
die in (83b)<br />
dagegen Mögliche sind vs. nicht nicht-mögliche wohlgeformt: Silben<br />
(83) (35) a. Klaus a. [klaU8s], Knast, Klaus, Preis [pRaI8s], Preis, Kerl, Kerl Halm, [kERl], Kraft Halm [halm], Kraft [kRaft]<br />
b. *Lkaus, b. *Nksat, *Rpeis, *Lkaus, *Kelr, *Rpeis, *Haml, *Kelr, *Kratf *Haml, *Kratf<br />
Sonoritätsskalen wie (82) sind in ihren Grundzügen nicht einzelsprachspezifisch, sondern<br />
2.5.3 universal, Akzent da das Konzept ›Sonorität‹ – wie bereits erläutert – phonetisch fundiert<br />
ist. Die einzelnen Sprachen machen allerdings in ihren phonotaktischen Regeln einen<br />
unterschiedlichen • Mit dem Akzent Gebrauch ist die von Betonung der universalen einer SilbeSonoritätshierarchie. gemeint.<br />
Außerdem bildet<br />
diese • Hierarchie Im Allgemeinen in zweierlei sind SilbenHinsicht entweder betont nur ein oder grobes unbetont, Erklärungsmuster oder halbbetont. für die<br />
Phonotaktik der Silbe: a) Bestimmte Segmentfolgen sind phonotaktisch zugelassen,<br />
obwohl<br />
Akzente<br />
sie dem Sonoritätsprofil nicht entsprechen. b) Bestimmte Sequenzen sind phonotaktisch<br />
nicht wohlgeformt, obwohl sie der Sonoritätshierarchie entsprechen.<br />
1 2 (36) Zunächst a. Ball zum spiel ersten Fall: Folgen von Segmenten mit gleichem Sonoritätsgrad<br />
1 3 2<br />
sind z. T. zugelassen. b. Kar tenDies spielbetrifft<br />
u. a. Sequenzen zweier Plosive, deren zweiter Be-<br />
1 3 2 4<br />
standteil /t/ c. ist (vgl. Kar ten (84)): spie len<br />
(84) Abt [pt], kippt [pt], Magd [kt], Takt [kt]<br />
• In (25) ist die Akzentstärke jeweils mit einem Index vor der Silbe markiert.<br />
Außerdem sind im Deutschen Sequenzen aus stimmlosen Frikativen und Plosiven am<br />
• Dabei bezeichnet 1 den stärksten Akzent und die folgenden Zahlen schwächere<br />
Silbenanfang (vgl. 85a) und die umgekehrten Sequenzen am Silbenende möglich (vgl.<br />
Akzente.<br />
85b), obwohl Frikative sonorer sind als Plosive:<br />
• Wenn man einfach vom Akzent“ eines Wortes spricht, meint man damit meist<br />
”<br />
die Silbe mit dem stärksten Akzent.<br />
• Phonetisch wird der Akzent meist durch die Höhe des Stimmtons realisiert, aber<br />
auch die Höhe der akustischen Energie spielt eine Rolle.<br />
• Im Gegensatz zu Sprachen, in denen der Akzent genau vorausgesagt werden kann<br />
(im Französischen stets auf der letzten Silbe, im Tschechischen stets auf der ersten<br />
Silbe des Wortes), ist der Akzent im Deutschen im wesentlichen frei, d.h. Wörter<br />
tragen spezifische Akzentmuster, und der Akzent wird als distinktives Merkmal<br />
eingesetzt:<br />
l
46 Phonetik und Phonologie<br />
Akzent als distinktives Merkmal<br />
(37) a. umfáhren – úmfahren<br />
b. übersétzen – űbersetzen<br />
c. Vollzúg – Vóllzug<br />
• Die Untersuchung des Akzents und der relativen lautlichen Gewichtung von<br />
Äußerungsteilen sind Gegenstand der metrischen Phonologie.<br />
• Man stellt diese Gewichtung mithilfe von Baumstrukturen dar, wobei meist binäre<br />
Verzweigungen angenommen werden.<br />
• Von zwei Schwesterknoten muss immer einer stark (strong, s) und einer schwach<br />
(weak, W) sein:<br />
Akzentstrukturen<br />
(38) a.<br />
S W<br />
b. W S<br />
c.<br />
d.<br />
*S S<br />
*W W<br />
• Betrachten wir nun den Akzent deutscher Nominalkomposita, die aus drei Gliedern<br />
bestehen.<br />
• Wie wir wissen, haben diese eine innere Struktur, z. B.:<br />
Struktur mehrgliedriger N+N-Komposita<br />
(39) a. Bundes+[kriminalamt] – *Bundeskriminal+[amt]<br />
b. Straßenbahn+[depot] – *Straßen+[bahndepot]<br />
• Zugleich ist auch klar, wie akzentuiert werden muss:<br />
Akzentuierung mehrgliedriger N+N-Komposita<br />
(40) a. Bundeskriminálamt<br />
b. Stráßenbahndepot<br />
• Versucht man, mithilfe der stark-schwach-Kennzeichnung diese Akzentuierung<br />
zu erfassen, gelangt man zu den folgenden Strukturdiagrammen:<br />
Silbenstrukturen für (28)
(41) a.<br />
W<br />
Bundes<br />
S<br />
kriminal<br />
S<br />
W<br />
amt<br />
b.<br />
S<br />
Straßen<br />
S<br />
Nichtlineare Phonologie 47<br />
W<br />
bahn<br />
W<br />
depot<br />
• Um eine Regel zu formulieren, ersetzen wir in diesen Strukturen die Wortbestandteile<br />
durch Großbuchstaben:<br />
linksverzweigend vs. rechtsverzweigend<br />
(42) a. A C<br />
D B<br />
b. A<br />
B C<br />
D<br />
• Aufgrund der Ausgangsbeispiele kann man die folgende Hypothese formulieren:<br />
Kompositaakzent<br />
In einer Kompositumstruktur A+B ist die Komponente B dann und nur dann stark, wenn<br />
B verzweigt.<br />
• Durch den Akzent besteht auch die Möglichkeit der Disambiguierung von Komposita:<br />
Disambiguierung durch Akzent<br />
(43) Kindergartenfest<br />
a.<br />
S<br />
S<br />
Kinder<br />
W<br />
garten<br />
W<br />
fest<br />
b.<br />
W<br />
Kinder<br />
a. = Kíndergartenfest ❀ ‘Fest des Kindergartens’<br />
b. = Kindergártenfest ❀ ‘Gartenfest für Kinder’<br />
S<br />
garten<br />
S<br />
W<br />
fest
<strong>Kapitel</strong> 3<br />
Morphologie<br />
3.1 Wort und Wortform<br />
• Wörter kommen meist als Baueinheiten von Sätzen vor.<br />
• Dabei kann man zwischen einem Wort und einer Wortform unterscheiden.<br />
Wort vs. Wortform<br />
(1) a. Deine neuen Schuhe gefallen mir gar nicht.<br />
b. Dein linker Schuh sitzt besser als der rechte.<br />
c. Die Schnürsenkel des rechten Schuhs sind locker.<br />
➞ Die gleiche Lexikoneinheit Schuh, aber unterschiedliche Wortformen.<br />
• Eine Wortform wie Schuh+e ist komplex.<br />
• -e ist ein Flexionelement.<br />
• Die Bildung von Wortformen eines Wortes nennt man Flexion.<br />
• Die Menge der Wortformen eines Wortes nennt man Flexionsparadigma.<br />
• Das Flexionsparadigma eines Nomens umfasst z. B. acht Flexionsformen:<br />
Flexionsparadigma von Tisch<br />
(2)<br />
Nominativ Genitiv Dativ Akkusativ<br />
Singular Tisch Tisch-es Tisch(+e) Tisch<br />
Plural Tisch-e Tisch-e Tisch-en Tisch-e
50 Morphologie<br />
➞ Nicht jede Wortform muss durch ein Flexionselement gekennzeichnet werden.<br />
• Wortformen unterscheiden sich in ihren Flexionsmerkmalen oder grammatischen<br />
Merkmalen.<br />
• Diese kann man zu Merkmalklassen zusammenfassen:<br />
Merkmalklassen und Merkmale<br />
(3) Merkmalklasse Merkmale<br />
Numerus Singular, Plural<br />
Genus Maskulinum, Femininum, Neutrum<br />
Person 1. Person, 2. Person, 3. Person<br />
Kasus Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ<br />
Tempus Präsens, Perfekt, Präteritum,<br />
Plusquamperfekt, Futur I, Futur II<br />
Modus Indikativ, Imperativ, Konjunktiv I, Konjunktiv II<br />
Genus verbi Aktiv, Passiv<br />
Nicht alle Wortarten sind von der Flexion betroffen:<br />
• Konjunktionen (und, aber)<br />
• Präpositionen (auf, zwischen)<br />
• Gradpartikeln (sogar, nur)<br />
• Modalpartikeln (halt, schon)<br />
• Adverbien (sehr, hoffentlich)<br />
• Interjektionen (au, pst)<br />
Betroffen von der Flexion sind:<br />
• Nomen (Haus, Tisch)<br />
• Pronomen (sie, ich)<br />
• Artikel (der, ein)<br />
• Verben (studieren, denken)<br />
• Adjektiv (groß, rot)<br />
• Nicht jede Merkmalklasse trifft auf jede Wotart zu:<br />
Wortarten und Merkmalklassen
Morphologische Grundbegriffe 51<br />
(4) Wortart Merkmaleklassen<br />
Nomen, Artikel, Pronomen Kasus, Numerus, Genus<br />
Adjektiv Kasus, Numerus, Genus, Komparation<br />
Verb Person, Numerus, Modus,<br />
Tempus, Genus verbi<br />
• Die Flexion muss man von der Wortbildung unterscheiden.<br />
• Wenn man in der Wortbildung von komplexen Wörtern redet, meint man immer<br />
komplexe Wörter in ihrer Nennform.<br />
• Sowohl Wortbildungstheorie als auch die Flexionstheorie befassen sich mit der<br />
Struktur von Wörtern.<br />
• Die Theorie über den Strukturaufbau von Wörtern heißt Morphologie.<br />
Morphologie<br />
(5) Morphologie<br />
Flexion Wortbildung<br />
3.2 Morphologische Grundbegriffe<br />
• Der wichtigste morphologische Grundbegriff ist der des Morphems:<br />
Morphem<br />
Kleinste bedeutungstragende Einheit. Ein einfaches sprachliches Zeichen, das nicht<br />
mehr in kleinere Einheiten mit bestimmter Lautung und Bedeutung zerlegt werden<br />
kann.<br />
Beispiele für Morpheme<br />
(6) Haus, rot, auf, neben, -er, -lich, -ung, be-, ver-, um-<br />
Morpheme vs. Silben<br />
• Morphem ≠ Silbe<br />
(7) Hunde<br />
a. Silben: [hun] + [de]<br />
b. Morpheme: Hund + e
52 Morphologie<br />
Vergleich Morphem- und Silbenstruktur:<br />
(8) Tomate Birnen fliegt<br />
Morpheme Tomate Birne-n flieg-t<br />
Silben To-ma-te Bir-nen fliegt<br />
➞ Morphemgrenzen ≠ Silbengrenzen<br />
Wurzel<br />
• Einfache Wörter, wie Haus, rot, auf etc., die zugleich Morpheme sind, nennt man<br />
Basismorphem oder Wurzel.<br />
• Wurzel sind die unverzichtbaren lexikalischen Kerne von Wörtern → sie stehen<br />
im Lexikon.<br />
• Wörter müssen mindestens eine Wurzel enthalten.<br />
• In der Regel kommen Wurzeln frei vor.<br />
• ACHTUNG: Verbstämme sind Wurzeln, obwohl sie nicht alleine stehen können,<br />
sondern immer ein Flexionsmorphem oder eine Infinitivendung brauchen.<br />
• Dagegen kommen manche Morpheme, wie die, die zur Flexion dienen, niemals<br />
frei vor, sie sind gebunden.<br />
• Gebundene Morpheme werden Affixe genannt.<br />
• Affixe gibt es in zweierlei Form.<br />
Präfix<br />
Präfixe sind Affixe, die vor einer Wurzel stehen.<br />
Suffix<br />
Suffixe sind Affixe, die hinter einer Wurzel stehen.<br />
Beispiele für Präfixe<br />
(9) be-nutzen, ent-decken, ver-gessen, ...<br />
Beispiele für Suffixe<br />
(10) Entdeck-ung, grün-lich, denk-st, ...
Morphologische Grundbegriffe 53<br />
• Da sich im Deutschen die Flexionselemente immer hinten am Wort befinden,<br />
handelt es sich also um Suffixe.<br />
• Ein Element wie -er in Lehr-er ist ein Morphem.<br />
• Es ist keine Wurzel, da es nicht frei vorkommt.<br />
• Es ist ein Suffix, da es hinten an eine Wurzel tritt.<br />
• Es ist jedoch kein Flexionssuffix!<br />
➞ Ein Element wie -er ist ein Derivationssuffix.<br />
Derivationssuffix<br />
Ein Derivationssuffix wird hinten an ein Wort angefügt und macht aus dem Wort ein<br />
neues, komplexes Wort.<br />
(11) lehrV + -er �→ LehrerN<br />
Derivationspräfix<br />
Ein Derivations¨präfix wird vorne an ein Wort angefügt und macht aus dem Wort ein<br />
neues, komplexes Wort.<br />
(12) un- + cool �→ uncool<br />
• Die besprochenen morphologischen Grundbegriffe lassen sich wie folgt gliedern:<br />
Morphologische Grundbegriffe<br />
(13) Morphem<br />
Wurzel Affix (Präfix, Suffix)<br />
Flexionsaffix Derivationsaffix
54 Morphologie<br />
3.3 Weitere Begriffe<br />
• Neben dem Begriff der Wurzel verwendet man noch den Begriff des Stamms.<br />
Stamm<br />
Ein Stamm ist ein Morphem oder eine Morphemkonstruktion, an das bzw. an die<br />
Flexionsmorpheme treten können<br />
Stamm vs. Wurzel<br />
(14) a. schön ➞ Stamm = Wurzel<br />
b. un+schön ➞ Stamm mit der Wurzel schön<br />
c. schön+geist+ig ➞ Stamm mit den Wurzeln schön und geist<br />
• Wenn es nicht darauf ankommt, ob etwas ein Stamm oder eine Wurzel ist, spricht<br />
man auch einfach von der Basis einer Affigierung.<br />
• Darüber hinaus benötigen wir noch den Begriff des Konfixes.<br />
• Konfixe sind weder Wurzeln (sie kommen nicht frei vor) noch Affixe (sie können<br />
zu Wörtern kombiniert werden).<br />
Beispiele für Konfixe<br />
(15) a. Fanat+iker, Fanat+ismus, fanat+isch, fanat+isier+en; *Fanat<br />
b. bio-, geo-, stief-, schwieger-, ...<br />
c. -nom, -loge, -thek, ...<br />
• Unikale Morpheme sind im Unterschied zu Konfixen fest an einen Wortkontext<br />
gebunden.<br />
Beispiele für unikale Morpheme<br />
(16) Him+beere, Brom+beere, Schorn+stein, Tausend+sassa<br />
• Fugenelemente sind vor allem bei Nominalkomposita auftretende Verbindungselemente,<br />
die keine Bedeutung tragen. (Sie sind also keine Morpheme!)<br />
Beispiele für Fugenelemente<br />
(17) Kind+er+garten, Staat+s+feind, Pferd+e+wagen, Herz+ens+wunsch, Fleisch+es+lust,<br />
Blume+n+vase, Held+en+mut<br />
• Als Zirkumfixe bezeichnet man die diskontinuierlichen Morphemkombinationen.
Beispiele für Zirkumfixe<br />
(18) a. ge...t: gespielt<br />
b. ge...en: gelesen<br />
c. Ge...e: Gerenne<br />
3.4 Typen der Wortbildung<br />
Typen der Wortbildung 55<br />
• Die wichtigsten Typen der Wortbildung im Deutschen sind die Komposition und<br />
die (explizite) Derivation.<br />
Komposition<br />
Unter einer Komposition versteht man die Bildung eines Wortes aus zwei (oder mehreren)<br />
vorhandenen Wörtern.<br />
Beispiele für Kompositionen<br />
(19) a. Spiel+automat, tief+blau, schwing+schleif+en<br />
b. Donau+dampf+schiff+fahrts+kapitäns+dienst+ handy, Steuer+erhöhungs+beschluss+vorlagen+sitzungs+protokoll<br />
(explizite) Derivation<br />
Unter der (expliziten) Derivation versteht man die Bildung eines Wortes aus einem<br />
vorhandenen Wort und einem Derivationsaffix.<br />
Beispiele für Derivationen<br />
(20) a. An+pfiff, un+gut, be+wirk+en<br />
b. Penn+er, lieb+lich, marsch+ier+en<br />
• Ein dritter wichtiger Wortbildungstyp ist die Konversion.<br />
Konversion<br />
Von Konversion spricht man, wenn ein Wortartwechsel vorliegt, der nicht durch ein<br />
explizites Derivationsaffix gekennzeichnet wird.<br />
Beispiele für Konversion<br />
(21)<br />
a. V→N schau+en→ Schau, lauf+en → Lauf<br />
b. N→V Fisch → fisch+en, Nerv → nerv+en<br />
c. A→V blau → bläu+en, link → link+en<br />
• Fälle der Konversion, bei denen Vokalwechsel vorliegt (Stammalternation), wie<br />
z. B. werfen → Wurf oder entziehen → Entzug, werden bei Fleischer & Barz (1995,<br />
51 ff.) als implizite Derivation bezeichnet.
56 Morphologie<br />
• Komposition, Derivation und Konversion gelten als die Haupttypen der deutschen<br />
Wortbildung.<br />
• Daneben gibt es aber noch eine Reihe weiterer Typen, nämlich die Kontamination,<br />
die Kürzung, die Abkürzung und das Akronym (Initialwort).<br />
Kontamination<br />
Bei der Kontamination werden zwei Wörter so verschmolzen, dass Wortmaterial aus<br />
den Originalwörtern gelöscht wird.<br />
Beispiele für Kontaminationen<br />
(22) Bürotel (Büro+Hotel), Ossimilierung (Ossi+Assimilierung), mainzigartig (Mainz+<br />
einzigartig), verschlimmbessern (verschlimmern+verbessern), jein (ja+nein)<br />
Kürzung<br />
Bei der Kürzung wird Wortmaterial am Ende oder am Anfang der Originalwörter getilgt.<br />
Hier kommt der Fall vor, dass aus einem komplexen Wort ein einfaches Wort (mit der<br />
gleichen Bedeutung) wird.<br />
Beispiele für Kürzungen<br />
(23) Uni (Universität), Bus (Omnibus), [ich bekomme drei] Mohn (Mohnbrötchen)<br />
Abkürzung<br />
Bei einer Abkürzung wird aus einem komplexen Wort oder mehreren Wörtern ein neues<br />
Wort gebildet, das wie eine Folge von Lauten gesprochen wird.<br />
Akronym (Initialwort)<br />
Bei einem Akronym wird aus einem komplexen Wort oder mehreren Wörtern ein neues<br />
Wort gebildet, das wie ein eigenständiges phonetisches Wort gesprochen wird.<br />
Beispiele für Abkürzungen<br />
(24) a. VW (Volkswagen(werk))<br />
b. AKW (Atomkraftwerk)<br />
c. UB (Universitätsbibliothek)<br />
d. SB (Selbstbedienung)<br />
Beispiele für Akronyme<br />
(25) a. DIN (Deutsche Industrienorm)<br />
b. AIDS (acquired immunity deficiency syndrom)<br />
c. Gröschaz (Größter Schuldenmacher aller Zeiten)<br />
d. Bafög (Bundesausbildungsförderungsgesetz)
Wortstruktur 57<br />
• Möglicherweise muss über diese Wortbildungstypen hinaus noch ein weiterer Typ<br />
angenommen werden: die Rückbildung.<br />
Rückbildung<br />
Bei der Rückbildung wird ein weniger komplexes Wort durch Löschung von Wortmaterial<br />
eines komplexen Originalwortes gebildet.<br />
Beispiele für Rückbildungen<br />
(26) a. uraufführen (←Uraufführung)<br />
b. staubsaugen (←Staubsauger)<br />
3.5 Wortstruktur<br />
• Komplexe Wörter haben eine Struktur.<br />
Struktur von Kindlichkeit<br />
(27) a. Kindlichkeit<br />
b. kind+lich+keit<br />
c. kindNomen + lichSu f f ix + keitSu f f ix<br />
• Nicht jede Reihenfolge ist dabei möglich.<br />
Lineare Abfolge<br />
(28) a. kind+lich+keit<br />
b. *kind+keit+lich<br />
c. *keit+kind+lich<br />
Beispiel<br />
d. *lich+kind+keit<br />
e. *keit+lich+kind<br />
f. *lich+keit+kind<br />
• Bestimmte Elemente scheinen dabei enger zusammenzugehören als andere.<br />
(29) [kind+lich]+keit, *kind+[lich+keit]<br />
• Wir können die Struktur eines Wortes, die sich in der Abfolge und Zusammengehörigkeit<br />
von morphologischen Baueinheiten zeigt, in einem Baumdiagramm<br />
wiedergeben.
58 Morphologie<br />
Baumdiagramm<br />
(30) N<br />
N<br />
kind<br />
A<br />
Sx<br />
lich<br />
Sx<br />
keit<br />
• Mithilfe von Strukturbäumen kann man die Ambiguität (Doppeldeutigkeit) mancher<br />
Wortbildungen erfassen:<br />
Ambige Wortstruktur<br />
(31) Touristenblutwurst<br />
(32) a. N<br />
N<br />
tourist(en)<br />
N<br />
blut<br />
N<br />
N<br />
wurst<br />
b. N<br />
N<br />
N<br />
tourist(en)<br />
N<br />
blut<br />
N<br />
wurst<br />
❀ ’ Blutwurst für Touristen‘ ❀ ’ Wurst aus Touristenblut‘<br />
• Es ist üblich, über Strukturdiagramme in folgender Weise zu reden.<br />
Relationen in Strukturbäumen<br />
(33) C<br />
A B<br />
a. A und B sind Schwestern.<br />
b. C ist die Mutter von A und B.<br />
c. A und B sind Töchter von C.<br />
d. C dominiert A und B (Dominanz).<br />
e. A geht B voraus (Präzedenz).<br />
f. A und B sind Konstituenten von C.<br />
Weitere Relationen in Strukturbäumen<br />
(34) C<br />
A<br />
D E<br />
B
a. D und E sind unmittelbare Konstituenten von A<br />
b. D und E sind mittelbare Konstituenten von C.<br />
c. C dominiert A unmittelbar.<br />
d. C dominiert D und E mittelbar.<br />
3.6 Wortbildungsregeln<br />
Wortbildungsregeln 59<br />
• An Strukturdiagrammen kann man Regeln der Wortbildung ablesen.<br />
Strukturbaum<br />
(35) N<br />
N<br />
Kampf<br />
Wortbildungsregel<br />
N<br />
hund<br />
(36) N �→ N + N<br />
• Der Pfeil �→ bedeutet dabei soviel wie ” besteht aus“ oder ” expandiert zu“.<br />
• Nach dem Muster solcher Regeln können viele weitere Bildungen erzeugt werden.<br />
• Für N muss man dabei immer ein Nomen einsetzen.<br />
Beispiel für N �→ N + N<br />
(37) Kampf+hund, Computer+tisch, Wesens+test, Elch+test, Ozon+loch, Steuer+reform<br />
• Da ein durch diese Regel erzeigtes Kompositum wie Kampfhund selbst ein Nomen<br />
ist, kann man auch ein solches Kompositium wieder in die Wortbildungsregel für<br />
N einsetzten.<br />
• Man wendet die Regel also auf sich selbst an.<br />
• Es handelt sich also um eine rekursive Regel.<br />
Bildung eines komplexen Kompositums<br />
(38) a. N �→ N + N<br />
b. Kampfhund �→ Kampf + hund<br />
c. Wesenstest �→ Wesens + test<br />
d. Kampfhundwesenstest �→ Kampfhund + wesenstest
60 Morphologie<br />
Strukturbaum für Kampfhundwesenstest?<br />
(39) N<br />
N<br />
Kampf<br />
N<br />
N<br />
hund<br />
N<br />
wesen(s)<br />
N<br />
N<br />
test<br />
• Eine rekursive Regel wie N→N+N ist theoretisch beliebig oft anwendbar.<br />
• Dabei gibt es nur eine psychische, mit unserem Fassungsvermögen zusammenhängende<br />
Grenze.<br />
• Im Deutschen gibt es sehr komplexe mögliche N+N-Komposita:<br />
(40) Krankenkassenkostendämpfungsgesetzbeschlussvorlagenberatungsprotokollüberprüfungsausschussvorsitzende<br />
• Diese Bildung ist vollkommen korrekt und in einem sehr speziellen Kontext auch<br />
sinnvoll.<br />
• Dass man sie nicht verwenden würde, liegt daran, dass sie nur sehr schwer zu<br />
verarbeiten ist.<br />
• Die Regel N→N+N beschreibt nur einen Spezialfall der Nominalkomposition, die<br />
N+N-Komposition.<br />
Weitere Arten der Nominalkomposition<br />
(41) a. N �→ N + N Computer+tisch<br />
b. N �→ A + N Rot+licht<br />
c. N �→ V + N Dreh+griff<br />
d. N �→ P + N Auf+wind<br />
• Die Voraussetzung dafür, dass die gesamte Bildung ein N ist, ist, dass das rechte<br />
Element ein N ist.<br />
(42) a. RotA + weinN �→ RotweinN<br />
b. weinN + rotA �→ weinrotA<br />
• Man nennt daher das rechte Element den Kopf der Wortbildung.
• Der Kopf bestimmt die Eigenschaften der Gesamtbildung.<br />
Wortbildungsregeln 61<br />
• Mit dem Kopfbegriff ist auch eine wichtige semantische Eigenschaft verbunden,<br />
die traditionell in dem Begriff Determinativkompositum zum Ausdruck kommt.<br />
• Die Bedeutung des rechten Elements wird durch die Bedeutung des linken Elements<br />
determiniert bzw. modifiziert.<br />
Modifikation in Determinativkomposita<br />
(43) a. Computertisch ❀ ein Tisch für Computer<br />
b. Tischcomputer ❀ ein Computer für den Tisch<br />
• Nicht alle Komposita sind Determinativkomposita. In Kopulativkomposita z. B.<br />
sind Erstglied und Zweitglied semantisch nebengeordnet.<br />
Kopulativkompositia<br />
(44) a. Spieler-Trainer ❀ ein Spieler und Trainer<br />
b. süß-sauer ❀ süß und sauer<br />
c. rot-weiß ❀ rot und weiß<br />
• Der Unterschied zwischen Determinativ- und Kopulativkomposita ist rein semantisch.<br />
• Morphologisch gesehen haben sie dieselbe Oberflächenstruktur.<br />
Determinativ- vs. Kopulativkompositum<br />
(45) a. A<br />
A<br />
A<br />
hell rot<br />
c. A �→ A + A<br />
b. A<br />
A<br />
taub<br />
A<br />
stumm<br />
Morphologischer Kopf in Kopulativkomposita<br />
• Trotz der koordinativen Semantik, ist das rechte Elemente auch in Kopulativkomposita<br />
der morphologische Kopf.<br />
• Dis zeigt das Genus bei nominalen Kopulativkomposita:<br />
(46) Hassmask + Liebefem = Hassliebefem
62 Morphologie<br />
• Bei vielen Komposita sind beide Interpretationen möglich.<br />
Ambiges Kompositum<br />
(47) rotbrau<br />
Determinativkompositum Kopulativkompositum<br />
’ rotes braun‘<br />
’ rot und braun‘<br />
• Bei Determinativkomposita kann weiter zwischen endozentrischen und exozentrischen<br />
Komposita unterschieden werden.<br />
Endozentrisch vs. exozentrisch<br />
• 2. UK ist semantischer Head = endozentrisch<br />
• Bedeutung existiert außerhalb der beiden UK = exozentrisch<br />
→ Dies ist bei Possessivkomposita der Fall.<br />
Possessivkomposita<br />
= Ganzes Kompositum ist jemand oder etwas, der/das die im Kompositum enthaltende<br />
Eigenschaft besitzt oder dem diese Eigenschaft metaphorisch zugeschrieben<br />
wird:<br />
(48) Rotkehlchen ❀ ’ Ein Vogel, der ein rotes Kehlchen hat‘Nicht: ’ eine rotes Kehlchen‘<br />
→ Es liegt eine pars-pro-toto-Relation vor (ein Teil steht für das Ganze).<br />
• Intern liegt eine Modifikator-Kopf-Relation vor, weshalb es sich dabei um ein<br />
Unterart des Determinativkompositums handelt.
Der Kopfbegriff in der Wortbildung 63<br />
• Liegt keine pars-pro-toto-Relation vor, sondern bereits ein ganzheitlicher Ausdruck<br />
(in Form einer Metapher), handelt es sich nicht um ein Possessivkompositum:<br />
(49) Angsthase<br />
Arten der Komposition<br />
(50)<br />
Kopulativkomposita<br />
Determinativkomposita<br />
endozentrisch exozentrisch<br />
(Possesivkomposita)<br />
3.7 Der Kopfbegriff in der Wortbildung<br />
• Vom semantischen Kopfbegriff ist der morphologische Kopfbegriff zu unterscheiden.<br />
• Der Kopf bestimmt die Kategorie einer Wortbildung.<br />
• In einem Nominalkompositum ist das rechte Element der Kopf.<br />
• Was ist der Kopf einer Derivation?<br />
• Da viele Suffixe die Kategorie der Wurzel, an die sie treten, verändern, kann man<br />
das Suffix als Kopf zu betrachten.<br />
Köpfe in der Derivation<br />
(51) a. [ZiehV+ungSx]N<br />
b. [EitelA+keitSx]N<br />
c. [machV+barSx]A<br />
d. [LehrV+erSx]N<br />
• Doch was ist mit folgenden Fällen, in denen die Wortart nicht verändert wird?<br />
Kein Wortartwechsel<br />
(52) a. [FleischN+erS f ]N<br />
b. [WissenschaftN+lerS f ]N
64 Morphologie<br />
c. [BriefN+chenS f ]N<br />
d. [[LehrV+erS f ]N+inS f ]N<br />
• Hier wird das Genus oder die Flexionsklasse verändert.<br />
Genuswechsel<br />
(53) a. das Fleisch der Fleischer<br />
b. die Wissenschaft der Wissenschaftler<br />
c. der Brief das Briefchen<br />
d. der Lehrer die Lehrerin<br />
Flexionsklassenwechsel<br />
(54) a. der Brief die Brie+e<br />
b. der Liebesbrief die Liebesbrief+e<br />
c. das Briefchen die Briefchen+∅<br />
➞ Der Kopf bestimmt also nicht nur die Wortart, sondern auch die anderen grammatischen<br />
Merkmale wie Genus oder Flexionsklasse.<br />
Präfixe<br />
• Sind Präfixe auch Köpfe?<br />
(55) [UrPx+WaldN]N, [bePx+nutzenV]V, [unPx+gutA]A<br />
• Präfixe verändern nicht die Kategorie der Wurzel und bestimmen nicht das Genus<br />
und die Flexionsklasse.<br />
➞ Präfixe sind im Deutschen keine Köpfe.<br />
➞ Im Deutschen scheint der Kopf immer rechts zu sein.<br />
➞ Kopf-rechts-Prinzip: In komplexen Wortbildungen ist das rechte Element der<br />
Kopf.<br />
3.8 Wortbildungsstrukturen im Überblick<br />
(56) Komposition<br />
N<br />
A<br />
rot<br />
N<br />
wein
(57) Konfixkomposition<br />
A<br />
K<br />
home<br />
K(A)<br />
gen<br />
(58) Suffixderivation<br />
A<br />
N<br />
glück<br />
Sx(A)<br />
lich<br />
(59) Präfixderivation<br />
A<br />
Px<br />
un<br />
A<br />
schön<br />
(60) Zirkumfigierung<br />
N<br />
V<br />
renn<br />
Zx(N)<br />
Ge...e<br />
(61) Konversion<br />
V<br />
N<br />
fisch<br />
Wortbildungsstrukturen im Überblick 65
<strong>Kapitel</strong> 4<br />
Syntax<br />
4.1 Warum Syntax?<br />
• Wenn wir sprechen (oder etwas schreiben), sind unsere Äußerungen nicht einzelne,<br />
unzusammenhängende Wörter, sondern größere Kombinationen von Wörtern,<br />
d. h. Sätze.<br />
• Dabei scheint es spezifische Regeln für das Zusammensetzen der Wörter zu Sätzen<br />
zu geben:<br />
Ein Beispiel aus Sick 2005: 160<br />
(1)<br />
” Können wir nicht mal das Thema wechseln?“, fragt Philipp, weil das Grammatik-<br />
”<br />
gerede macht mich langsam müde!“ Henry und Maren blicken ihn gleichermaßen<br />
strafend an. Philipp knurrt: Also schön: weil mich das Grammatikgerede langsam<br />
”<br />
müde macht!“<br />
Ein Beispiel aus der Jugendsprache<br />
(2) a. Ich hab voll den krassen Professor in Linguistik, der hat einfach alle durchfallen<br />
lassen.<br />
b. Das Angebot von Mike war total die Abzocke.<br />
c. Laura hat voll den gruseligen Film gesehen.<br />
• Nicht jede Kombination von Wörtern ist möglich:<br />
grammatische und ungrammatische ‘Sätze’<br />
(3) a. Ich höre morgen auf zu rauchen.<br />
b. *Ich höre morgen auf, dass ich rauche.
68 Syntax<br />
c. *Ich höre morgen auf das Rauchen.<br />
d. *Ich höre morgen zu rauchen.<br />
e. *Ich höre morgen auf zu rauchen den Baum.<br />
• Doch auch die lineare Abfolge der Wörter ist wichtig:<br />
grammatische vs. ungrammatische Abfolge<br />
(4)<br />
a. Poldi spielt Fußball<br />
b. dass Poldi Fußball spielt<br />
c. spielt Poldi Fußball?<br />
d. *spielt Fußball Poldi<br />
e. Fußball spielt Poldi<br />
f. *Fußball Poldi spielt<br />
• Von diesen Sätzen sind (d) und (f) auf keinen Fall akzeptabel.<br />
• Die Kette (b) kommt in dieser Abfolge in deutschen Nebensätzen vor.<br />
Als Sprecher des Deutschen kann man...<br />
• beurteilen, ob die Sätze in (4) korrekte Abfolgen sind,<br />
• deutsche Sätze korrekt bilden.<br />
➞ Man verfügt über eine syntaktische Kompetenz.<br />
• Das Teilgebiet der Linguistik, das sich mit dem Satzaufbau beschäftig, ist die<br />
Syntax.<br />
Syntax (von griech. ” s´yntaxis“ ’ Zusammenstellung‘)<br />
Gegenstand der Syntax ist die Beschreibung des Strukturaufbaus von Sätzen.<br />
• Die Syntax einer Sprache zu beschreiben bedeutet, ein Modell der syntaktischen<br />
Kompetenz der Sprecher dieser Sprache zu entwickeln.<br />
• Notwenige Bestandteile einer Beschreibung dieser Kompetenz sind die<br />
– syntaktischen (Bau-)Einheiten der Sätze und die<br />
– syntaktischen Regeln ihrer Anordnung.<br />
➞ Eine adäquate Syntax einer Sprache muss beschreiben können, welche Kombinationen<br />
von Wörtern grammatische Sätze der Sprache sind und warum es nur diese<br />
sind.<br />
➞ Es müssen also alle grammatischen Sätze ein- und alle ungrammatischen Strukturen<br />
durch die Syntax ausgeschlossen werden.
4.2 Topologische Felder<br />
Topologische Felder 69<br />
• Wie wir gesehen haben, spielt die lineare Abfolge eine entscheidende Rolle für die<br />
Grammatikalität einer Wortfolge.<br />
• Betrachten wir alle grammatischen Kombinationen der Wörter dort, Peter, jeder<br />
und kennt.<br />
V2-Permutationen von ‘Dort kennt jeder Peter ’<br />
(5) a. Dort kennt jeder Peter.<br />
b. Dort kennt Peter jeder.<br />
c. Jeder kennt Peter dort.<br />
d. Jeder kennt dort Peter.<br />
e. Peter kennt dort jeder.<br />
f. Peter kennt jeder dort.<br />
➞ Beobachtung: Das finite Verb kennt steht immer an zweiter Stelle.<br />
• Das finite Verb muss aber nicht immer an zweiter Stelle stehen:<br />
weitere Verbstellungstypen<br />
(6) a. Kennt Peter dort jeder?<br />
b. Kennt jeder dort Peter?<br />
(7) a. ...dass Peter dort jeden kennt?<br />
b. Ob jeder dort Peter kennt?<br />
➞ Beobachtung: Das finite Verb kennt kann auch an erster oder letzter Stelle stehen.<br />
Wir können für das Deutsche somit drei Verbstellungstypen unterscheiden:<br />
1. Verbzweitsätze (V2-Sätze)<br />
2. Verberstsätze (V1-Sätze)<br />
3. Verbletztsätze (VL-Sätze)<br />
• Für die Klassifizierung eines Satzes ist die Stellung des finiten Verbs entscheidend.<br />
Welcher Stellungstyp?<br />
(8) a. Hast du schon die Blumen gegossen? ➞ V1-Satz<br />
b. Mitmachen werde ich nicht. ➞ V2-Satz
70 Syntax<br />
• Manchmal scheint das Verb jedoch auch in einer anderen Position als an erster,<br />
zweiter oder letzter Stelle zu stehen.<br />
Mehr als ein Wort vor dem finiten Verb<br />
(9) a. [Der Kapitän des dänischen CSC-Rennstalls] hatte in diesem Jahr schon<br />
zwei Etappen gewinnen können.<br />
b. [An einem einer Schlange nachgebildeten Schreibtisch] sitzen die Grafikspezialisten.<br />
• Handelt es sich hier etwa um V6- bzw. V7-Sätze? Natürlich nicht!<br />
• Entscheidend für die Verbstellung ist die Anzahl der Konstituenten, nicht der<br />
Wörter (auf Konstituenten gehen wir später noch genauer ein).<br />
• Die Wörter vor dem finiten Verb in (9) bilden jeweils eine Konstituente.<br />
• Ein weiteres scheinbares Problem gibt es für VL-Sätze.<br />
Konstituenten nach der VL-Position<br />
(10) a. ...der sich fürchterlich aufregt über die Klausur<br />
b. ...ob es regnen wird am Wochenende<br />
• Man muss hier aufpassen: Verbletztposition bedeutet nicht dasselbe wie letzte<br />
Position im Satz!<br />
• Es gibt hinter der Verbletztposition noch eine weitere Position, die besetzt sein<br />
kann.<br />
• Wir haben jetzt mehrere Positionen im Satz ausgemacht: die Positionen, in denen<br />
Verben stehen können, und die Positionen links und rechts von diesen Verbpositionen.<br />
1. Man nimmt an, dass das finite Verb in V1- und V2-Sätzen in der linken Klammer<br />
(LK) steht.<br />
2. In VL-Sätzen steht das finite Verb in der rechten Klammer (RK).<br />
3. Die Position vor der LK in V2-Sätzen wird als Vorfeld (VF) bezeichnet.<br />
4. Die Position hinter der rechten Klammer ist das Nachfeld (NF).<br />
5. Die Positionen zwischen LK und RK bilden das Mittelfeld (MF).<br />
➞ Wir kommen somit auf fünf verschiedene Positionen, oder topologische Felder.<br />
V2-Sätze und topologische Felder
(11)<br />
VF LK MF RK NF<br />
Ich habe mich sehr geärgert über das Spiel.<br />
Es regnet!<br />
Bei dem Wetter nehme ich das Auto.<br />
Nun hör endlich auf!<br />
Wen hast du heute getroffen?<br />
V1-Sätze und topologische Felder<br />
(12)<br />
VF LK MF RK NF<br />
Glauben die denn daran?<br />
Kommt!<br />
Meldest du dich auch an für das Seminar?<br />
Hör endlich auf damit!<br />
Topologische Felder 71<br />
• In VL-Sätzen kann die linke Klammer nur mit bestimmten Ausdrücken anderer<br />
Art besetzt sein: Subjunktionen wie dass und ob, Relativausdrücke wie den und<br />
deren Katze, w-Ausdrücke wie wen und mit welchen Büchern und gewisse andere),<br />
aber nicht mit einem Verb.<br />
VL-Sätze und topologische Felder<br />
(13)<br />
VF LK MF RK NF<br />
Ob es wohl regnen wird morgen?<br />
Wenn das mal gut geht mit den beiden!<br />
um nach dem Ball zu suchen<br />
Sofort anhalten!<br />
es morgen zu reparieren<br />
deren Katze ich nicht leiden kann<br />
wen du heute getroffen hast<br />
• Anhand dieser Übersichten lassen sich einige Generalisierungen über die deutsche<br />
Satzstruktur aufstellen:<br />
Generalisierungen zu den topologischen Feldern<br />
(14) a. Mittelfeld und Nachfeld müssen nie besetzt sein.<br />
b. In allen V1- und V2-Sätzen muss LK besetzt sein, RK jedoch nicht.<br />
c. Weil infinite Verben nicht in LK stehen können, sind alle V1- und V2-Sätze<br />
finit und alle infiniten Sätze VL-Sätze.<br />
d. In allen VL-Sätzen muss RK besetzt sein.<br />
e. In allen finiten VL-Sätzen muss neben RK auch LK besetzt sein, das heißt,<br />
alle finiten VL-Sätze werden durch einen Ausdruck bestimmter Art eingeleitet.<br />
f. Nur V2-Sätze haben ein Vorfeld.
72 Syntax<br />
4.3 Konstituentenstruktur<br />
• Die Feldereinteilung, die wir bis hierhin entwickelt haben, ist für eine angemessene<br />
Beschreibung der deutschen Satzstruktur noch nicht ausreichend.<br />
• Wie wir beim Vorfeld gesehen haben, brauchen wir noch den Begriff der Konstituente.<br />
(➞ ’ Im VF darf nur eine Konstituente stehen‘).<br />
• Der Begriff der Konstituente ist z. B. auch dazu nötig, um das Mittelfeld feinkörniger<br />
analysieren zu können.<br />
• Intuitiv ist eine Konstituente eine Menge von Wörtern, die zusammen eine Einheit<br />
bilden.<br />
• Dass der Begriff der Konstituente relevant ist, kann man an Sätzen zeigen, die je<br />
nach Konstituentenstruktur etwas anderes bedeuten, also ambig sind.<br />
Ambiguität durch unterschiedliche Konstituentenstruktur<br />
(15) a. Leider schmeckt ihr selbst gebackenes Brot nicht.<br />
b. Leider schmeckt [ihr] [selbst gebackenes Brot] nicht. ❀ ’ Leider mag sie kein<br />
selbst gebackenes Brot‘<br />
c. Leider schmeckt [ihr selbst gebackenes Brot] nicht. ❀ ’ Leider schmeckt das<br />
selbst gebackene Brot von ihr nicht‘<br />
• Dass es sich bei den zwei Lesarten von (15) um zwei verschiedene Konstituentenstrukturen<br />
handelt, sieht man auch, wenn man die Konstituenten z. B. durch das<br />
ersetzt.<br />
Ersetzung von Konstituenten<br />
(16) Leider schmeckt ihr selbst gebackenes Brot nicht.<br />
a. Leider schmeckt [ihr] [das] nicht.<br />
b. Leider schmeckt [das] nicht.<br />
• Somit haben wir einen ersten Konstituententest, der es uns ermöglicht, den Status<br />
einer Wortfolge als Konstituente zu testen.<br />
Ersetzungstest (Substitutionstest)<br />
Wenn die Wortfolge durch ein Wort ersetzt werden kann, deutet das darauf hin, dass sie<br />
eine Konstituente ist.<br />
• Ein weiterer Test beruht auf den folgenden Beobachtungen:
Umstellung von Konstituenten<br />
Konstituentenstruktur 73<br />
(17) a. Selbst gebackenes Brot schmeckt ihr leider nicht. ❀ ’ Leider mag sie kein<br />
selbst gebackenes Brot‘<br />
b. Ihr schmeckt selbst gebackenes Brot leider nicht. ❀ ’ Leider mag sie kein<br />
selbst gebackenes Brot‘<br />
c. Ihr selbst gebackenes Brot schmeckt leider nicht. ❀ ’ Leider schmeckt das<br />
selbst gebackene Brot von ihr nicht‘<br />
d. *Brot schmeckt ihr selbst gebackenes nicht.<br />
e. *Selbst schmeckt ihr gebackenes Brot nicht.<br />
Umstellungstest (Permutationstest, Bewegungstest)<br />
Wenn die Wortfolge ins Vorfeld, ins Mittelfeld oder ins Nachfeld umgestellt werden kann,<br />
deutet das darauf hin, dass sie eine Konstituente ist.<br />
• Der Fragetest, der oft als ein weiterer Test verwendet wird, ist nichts anderes als<br />
eine Kombination aus Ersetzungstest und Umstellungstest.<br />
• Hier wird eine Wortfolge durch ein w-Wort wie was, wen oder wann ersetzt und<br />
dieses w-Wort ins Vorfeld umgestellt.<br />
Erfragung von Konstituenten<br />
(18) a. [Was] schmeckt ihr nicht? Selbst gebackenes Brot.<br />
b. [Was] schmeckt nicht? Ihr selbst gebackenes Brot.<br />
Fragetest<br />
Wenn die Wortfolge erfragt werden kann, deutet das darauf hin, dass sie eine Konstituente<br />
ist.<br />
• Der ebenfalls oft verwendete Pronominalisierungstest fällt unter den Ersetzungstest.<br />
• Hier wird eine Wortfolge durch ein Pronomen ersetzt.<br />
• Der Ersetzungstest ist allerdings besser geeignet als der Pronominalisierungstest,<br />
weil es in vielen Fällen kein passendes Pronomen für die Ersetzung gibt.<br />
Probleme beim Pronominalisierungstest<br />
(19) a. Heute scheint [in Leipzig] endlich wieder die Sonne.<br />
b. *Heute scheint [er/sie/es] endlich wieder die Sonne.<br />
c. Heute scheint [hier/dort/wo] endlich wieder die Sonne. (hier, dort, wo sind<br />
keine Pronomen)
74 Syntax<br />
• Wir haben die Konstituentests bewusst vorsichtig formuliert, da sie weder notwendige<br />
noch hinreichende Bedingungen sind für den Konstituentenstatus einer<br />
Wortfolge sind.<br />
Vorsicht bei Konstituententest<br />
(20) Die meisten Witze [über die Schwaben] findet sie nicht sehr komisch.<br />
a. *Die meisten Witze das/Bücher/er findet sie nicht sehr komisch. (Ersetzungstest-<br />
/Pronominalisierungstest)<br />
b. *Über die Schwaben findet sie die meisten Witze nicht sehr komisch.<br />
• Eine weiterer Test zeigt jedoch, dass über die Schwaben eine Konstituente ist.<br />
Koordination<br />
(21) Die meisten Witze [über die Schwaben] und [über die Hamburger] findet sie<br />
nicht sehr komisch.<br />
Koordinationstest<br />
Wenn die Wortfolge mit einer anderen Wortfolge koordiniert werden kann, deutet das<br />
darauf hin, dass sie eine Konstituente ist.<br />
• In dem Satz Die meisten Witze über die Schwaben findet sie nicht lustig ist nicht<br />
nur über die Schwaben eine Konstituente, sondern auch Die meisten Witze über<br />
die Schwaben.<br />
• Wir erhalten somit eine hierarchische Struktur, in der Konstituenten einander<br />
über- und untergeordnet sind.<br />
hierarchische Konstituentenstruktur<br />
(22) [Die meisten Witze [über die Schwaben] ] findet sie nicht sehr komisch.<br />
• Untersuchen wir das Konzept der hierarchischen Konstituentenstruktur etwas<br />
genauer, anhand eines Beispielsatzes:<br />
Was ist die Konstituentenstruktur?<br />
(23) ...ob ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre.<br />
• Frage:Was ist die Konstituentenstruktur von ich nächste Woche mit dem Rauchen<br />
in ???<br />
• Testen wir zunächst den Status von nächste Woche und mit dem Rauchen
Anwendung des Ersetzungstests<br />
(24) ...ob ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre.<br />
a. ...ob ich dann mit dem Rauchen aufhöre.<br />
b. ...ob ich nächste Woche damit aufhöre.<br />
Anwendung des Umstellungstest<br />
(25) ...ob ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre.<br />
a. ...ob ich mit dem Rauchen nächste Woche aufhöre.<br />
b. ...ob ich nächste Woche aufhöre mit dem Rauchen.<br />
c. ...ob ich mit dem Rauchen aufhöre nächste Woche.<br />
Konstituentenstruktur 75<br />
➞ Sowohl nächste Woche als auch mit dem Rauchen sind Konstituenten.<br />
• Allerdings ist auch dem Rauchen eine Konstituente:<br />
(26) mit dem Rauchen und dem Trinken oder mit ihr<br />
• Wir erhalten somit für das Mittelfeld von ?? die folgenden drei komplexen Konstituenten:<br />
komplexe Konstituenten<br />
(27) ...ob ich [nächste Woche] [mit [dem Rauchen] ] aufhöre.<br />
• Wir können allerdings noch weiter gehen.<br />
• Bilden z. B. mit dem Rauchen und das Verb aufhöre eine Konstituente?<br />
Anwendung des Koordinationstests<br />
(28) ...ob ich nächste Woche [mit dem Rauchen aufhöre] und [mit dem Joggen<br />
anfange].<br />
➞ mit dem Rauchen aufhöre bildet eine Konstituente.<br />
• Doch damit nicht genug ...<br />
weitere Anwendung des Koordinationstests<br />
(29) ...ob ich [nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre] und [übernächste Woche<br />
mit dem Joggen anfange].
76 Syntax<br />
(30) ...ob [ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre] und [mein Arzt mich<br />
dafür lobt].<br />
➞ nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre ist eine Konstituente.<br />
➞ ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre ist eine Konstituente.<br />
• Wir erhalten folglich für den Satz ob ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre<br />
eine sehr komplexe Konstituentenstruktur:<br />
eine sehr komplexe Konstituentenstruktur<br />
(31) ...ob [ich [[nächste Woche] [[mit [dem Rauchen]] aufhöre]]].<br />
• Für solch komplexe Strukturen nutzen wir in der Syntax oft Baumdiagramme, wie wir sie<br />
bereits aus der Morphologie und Phonologie kennen:<br />
Baumdiagramme für ??<br />
(32) ob ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre<br />
ob ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre<br />
ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre<br />
nächste Woche<br />
nächste Woche<br />
mit dem Rauchen aufhöre<br />
mit dem Rauchen<br />
mit dem Rauchen<br />
dem Rauchen<br />
aufhöre<br />
• Im nächsten Abschnitt werden wir uns mit lexikalischen und phrasalen Kategorien<br />
beschäftigen.<br />
Vorschau darauf, wie der Baum später aussehen wird:
(33) (31’) CP<br />
C<br />
ob<br />
NP<br />
ich<br />
A<br />
nächste<br />
VP<br />
NP<br />
N<br />
Woche<br />
V’<br />
P<br />
mit<br />
4.4 Lexikalische Kategorien<br />
PP<br />
D<br />
dem<br />
NP<br />
V’<br />
N<br />
Rauchen<br />
Lexikalische Kategorien 77<br />
V<br />
aufhöre<br />
• Wir wissen nun, wie man bei einem bestimmten Satz herausfinden kann, welche<br />
Wortfolgen Konstituenten bilden und welche nicht.<br />
• Die Regeln für die Konstituentenstruktur beziehen sich jedoch auf syntaktische<br />
Kategorien, zu denen die Konstituenten gehören.<br />
• Wir müssen also zuerst klären, welche syntaktischen Kategorien es im Deutschen<br />
gibt.<br />
• Wir werden mit den lexikalischen Kategorien beginnen, zu denen die einfachen<br />
Konstituenten, die Wörter zählen.<br />
• Statt von lexikalischen Kategorien wird oft auch einfach von Wortarten gesprochen.<br />
• Ein Beispiel dafür, dass sich die Regeln für die Konstituentenstruktur auf ganze<br />
Klassen von Wörtern und nicht nur auf einzelne Wörter beziehen:<br />
Bezug auf lexikalische Kategorien<br />
(34) a. nachdem ich Walter entdeckt hatte<br />
b. obwohl Kathrin ihn kannte<br />
c. *ich nachdem Walter entdeckt hatte<br />
d. *Kathrin obwohl ihn kannte<br />
• Subjunktionen (traditionell ” subordinierende Konjunktionen“) wie in (32) müssen<br />
im VL-Satz immer in einer bestimmten syntaktischen Position, nämlich in der LK<br />
stehen.
78 Syntax<br />
Subjunktionen in der LK<br />
(35)<br />
VF LK MF RK NF<br />
a. nachdem ich Walter entdeckt hatte<br />
b. obwohl Kathrin ihn kannte<br />
c.* ich nachdem Walter entdeckt hatte<br />
d.* Kathrin obwohl ihn kannte<br />
• Dass (35c–d) ungrammatisch ist, liegt offensichtlich daran, dass nachdem bzw.<br />
obwohl nicht in der LK stehen, denn das ist der einzige Unterschied zwischen<br />
(35a–b) und (35c–d).<br />
• Die (35c–d) bleiben auch dann ungrammatisch, wenn man nachdem und obwohl<br />
durch da, wenn, seit oder irgendeine andere Subjunktion ersetzt.<br />
• Wir haben hier also eine Regel, die sich auf eine ganze Klasse von Wörtern bezieht,<br />
also auf eine lexikalische Kategorie (Wortart).<br />
• Ein weiteres Beispiel:<br />
Adverbien und Nomen<br />
(36) a. die Vorlesung heute, der Betrüger dort, die Wohnung vorne<br />
b. *die heute Vorlesung, der dort Betrüger, die vorne Wohnung<br />
• Wenn ein Adverb wie heute, dort oder vorne als Attribut zu einem Nomen fungiert,<br />
muss dieses Adverb postnominal (hinter) dem Nomen stehen wie in (36a).<br />
• Aufgrund der Eigenschaften von Wortarten ist es uns möglich, auch in einem<br />
Nonsensesatz Wörter bestimmten Wortarten zuzuordnen.<br />
Beispiel aus Pittner/Berman (2004: 14)<br />
(37) Der Benziplauk prümst das Wenzipül.<br />
• Wir würden die Wörter aus (37) wohl so zuordnen:<br />
– Benziplauk und Wenzipül zu den Nomen (erscheinen in einer für Nomen<br />
typischen Position nach Artikel).<br />
– prümst zu den Verben (mögliche Flexionsendung -st und für Verben typische<br />
Position im V2-Satz).<br />
• Da es also offensichtlich einen Zusammenhang gibt zwischen der lexikalischen<br />
Kategorie eines Wortes und den syntaktischen Positionen, in denen es stehen kann,<br />
kann man folgende Generalisierung aufstellen:
Lexikalische Kategorien 79<br />
Wortart und Wortstellung<br />
Die Position eines Wortes im Satz hängt von seiner Wortart ab. Die Wörter, die in<br />
denselben syntaktischen Positionen stehen können (dieselbe syntaktische Distribution<br />
haben), gehören zur selben Wortart.<br />
• Indem man Wörter zu Wortarten zusammenfasst, behauptet man, dass alle Wörter<br />
dieser Wortart eine Menge von charakteristischen Eigenschaften haben (z.B. die<br />
syntaktische Position).<br />
• Welche Wortarten man für die syntaktische Beschreibung verwendet, hängt davon<br />
ab, nach welchen Eigenschaften man sich bei der Einteilung richtet.<br />
• Grundsätzlich können wir zwischen flektierbaren Wortarten und nicht-flektierbaren<br />
Wortarten unterscheiden.<br />
Wortarten<br />
(38) Wort<br />
flektierbar nicht-flektierbar<br />
• Kann ein Wort flektiert werden und in unterschiedlichen Formen auftreten, kann<br />
man es den flektierbaren Wortarten zuordnen.<br />
• Zu welcher der flektierbaren Wortarten das jeweilige Wort gehört, hängt davon ab,<br />
was für Flexionsmerkmale die Formen dieses Wortes haben.<br />
➞ Klassifikation nach morphologischen Eigenschaften<br />
• Die nicht-flektierbaren Wörter besitzen keine unterschiedlichen Wortformen.<br />
• Sie unterscheiden sich darin, in was für Positionen sie stehen können und mit was<br />
für Konstituenten sie kombiniert werden können.<br />
➞ Klassifikation nach syntaktischen Eigenschaften<br />
4.4.1 Flektierbare Wortarten<br />
• Schauen wir uns einige Wortarten genauer an.<br />
• Wir beginnen dabei mit der Klasse der flektierbaren Wortarten.<br />
Verben (V)<br />
Verben werden in [± finit] unterschieden, und – wenn sie finit sind – nach Person,<br />
Numerus, Modus, Tempus, und Genus verbi flektiert.
80 Syntax<br />
(39) a. ich laufe<br />
b. du läufst<br />
c. wir liefen<br />
d. lauf<br />
e. zu laufen<br />
Nomen (N)<br />
Nomen werden nach Kasus und Numerus flektiert und haben ein festes Genus.<br />
(40) a. der Baum<br />
b. des Baumes<br />
c. die Bäume<br />
d. den Bäumen<br />
e. *die Baum<br />
Adjektive (A)<br />
Adjektive sind nach Kasus, Numerus und Genus stark, schwach und gemischt flektierbar<br />
und sind oft komparierbar.<br />
(41) a. ein kleiner Mann<br />
b. ein kleines Haus<br />
c. das kleine Haus<br />
d. dem kleinen Haus<br />
e. die kleinen Häuser<br />
f. das kleinere Haus<br />
g. das kleinste Haus<br />
Determinierer (D)<br />
Determinierer werden nach Kasus, Numerus und Genus flektiert, sind nicht steigerbar<br />
und treten mit einem Nomen auf, mit dem sie kongruieren ( ” Begleiter des Nomens“).<br />
(42) a. Das Schreiben muss man dem Direktor doch geben!<br />
b. Ein Kandidat wird das Rätsel lösen.<br />
c. Beim letzten Mal sind alle Gäste pünktlich erschienen<br />
Pronomen (Pro)<br />
Pronomen werden nach Kasus, Numerus und Genus flektiert, sind nicht steigerbar und<br />
treten ohne Nomen auf ( ” Stellvertreter des Nomens“).<br />
(43) a. Das muss man ihm doch geben!<br />
b. Einer wird es lösen.<br />
c. Beim letzten Mal sind alle pünktlich erschienen.<br />
Die flektierbaren Wortarten im Überblick I
(44) Wortart typische Eigenschaft<br />
V Verb finit oder infinit, konjugierbar<br />
N Nomen unterschiedlicher Kasus und Numerus,<br />
festes Genus<br />
A Adjektiv unterschiedlicher Kasus, Genus und<br />
Numerus; oft komparierbar; stark,<br />
schwach und gemischt flektierbar<br />
D Determinierer unterschiedlicher Kasus, Genus und<br />
Numerus; mit Nomen<br />
Pro Pronomen unterschiedlicher Kasus, Genus und<br />
Numerus; ohne Nomen<br />
Die flektierbaren Wortarten im Überblick II<br />
(45) flektierbar<br />
konjugierbar<br />
Verb<br />
festes<br />
Genus<br />
Nomen<br />
deklinierbar<br />
keine feste<br />
Flexionsklasse<br />
Adjektiv<br />
4.4.2 Nicht-flektierbare Wortarten<br />
kein festes<br />
Genus<br />
mit Nomen<br />
Determinierer<br />
Lexikalische Kategorien 81<br />
feste<br />
Flexionsklasse<br />
ohne Nomen<br />
Pronomen<br />
• Schauen wir uns nun die nicht-flektierbaren Wortarten genauer an.<br />
Präpositionen (P)<br />
Präpositionen sind nicht-flektierbar und werden typischerweise mit einer Konstituente<br />
kombiniert, deren Kasus von der Präposition festgelegt oder, wie man auch sagt, regiert<br />
wird.<br />
(46) a. mit der Taschenlampe mit regiert den Dativ
82 Syntax<br />
b. ohne eine Ahnung ohne regiert den Akkusativ<br />
c. jenseits des Tales jenseits regiert den Genitiv<br />
Konjunktionen (K)<br />
Konjunktionen sind nicht-flektierbar und werden mit mehreren in der Regel gleichartigen<br />
Konstituenten kombiniert, die auch als Konjunkte bezeichnet werden. Diese Konjunkte<br />
können Wörter sein (47a–b) oder auch komplexere Konstituenten (47c–d).<br />
(47) a. Die meisten [Unfälle] und [Staus] passieren tagsüber.<br />
b. Sind sie [für] oder [gegen] Tiertransporte?<br />
c. Ich hätte gerne [vier Falafel] und [eine kleine Pizza].<br />
d. [Voller Ärger] und [maßlos enttäuscht] verließ Peter die Vorlesung.<br />
Adverbien (Adv)<br />
Die Adverbien sind nicht-flektierbar und zeichnen sich dadurch aus, dass sie allein im<br />
Vorfeld stehen können.<br />
Beispiele für Adverbien<br />
(48) a. Dummerweise muss ich bleiben.<br />
b. Morgen habe ich keine Zeit.<br />
c. Darauf kannst du noch lange warten!<br />
d. Warum hast du das getan?<br />
e. Daher verstehe ich die Griechen nicht.<br />
PartikelnDirekt zu Partikeln<br />
• Ein schwieriges Problem ist die Klassifizierung von Wörtern wie schnell und<br />
vorsichtig in Sätzen wie den folgenden:<br />
Adverbien?<br />
(49) a. Sherlock Holmes läuft schnell zur Polizeistation.<br />
b. Der Täter klaute vorsichtig die Handtasche.<br />
• Dass die Wörter schnell und vorsichtig in (49a–b)<br />
– allein ins Vorfeld umgestellt werden können und<br />
– dort stehen, wo typischerweise Adverbien stehen können<br />
spricht dafür, dass es sich um Adverbien handelt.<br />
alleine im Vorfeld
(50) a. Schnell läuft Sherlock Holmes zur Polizeistation.<br />
b. Vorsichtig klaute der Täter die Handtasche.<br />
typische Position von Adverbien<br />
Lexikalische Kategorien 83<br />
(51) a. Sherlock Holmes läuft schnell/gleich/nun/sofort zur Polizeistation.<br />
b. Der Täter klaute vorsichtig/dort/gerne/deshalb die Handtasche.<br />
• Andererseits können schnell und vorsichtig stark, schwach oder gemischt flektiert<br />
werden (wenn auch nicht in dieser Position) und pränominale Attribute sein, was<br />
dafür spricht, dass es sich um Adjektive handelt.<br />
Flexion und pränominale Attribute<br />
(52) a. ein schneller Zug - der schnelle Zug<br />
b. vorsichtige Einbrecher - alle vorsichtigen Einbrecher<br />
• Es gibt also gute Gründe für die Klassifizierung als Adverbien und gute Gründe<br />
für die Klassifizierung als Adjektive.<br />
• Wir nehmen hier an, dass es sich bei schnell und vorsichtig in (52) um Wörter<br />
handelt, die syntaktisch Adverbien sind, auch wenn sie im Lexikon Adjektive sind.<br />
• So, wie es Adjektive gibt, die syntaktisch als Nomen auftreten (wie etwa Schreckliches<br />
in In den Nachrichten kam Schreckliches), gibt es auch Adjektive, die syntaktisch<br />
als Adverbien auftreten.<br />
Partikeln (Part)<br />
Partikeln zeichnen sich dadurch aus, dass sie bestimmte Eigenschaften anderer Wortarten<br />
nicht besitzen:<br />
(i) Sie sind nicht flektierbar<br />
(ii) können nicht alleine im Vorfeld oder im Nachfeld stehen<br />
(iii) bilden nie den Kopf einer größeren Phrase (dazu später mehr)<br />
(iv) sind anders als etwa Subjunktionen und Konjunktionen typischerweise weglassbar.<br />
(53) a. Axel ist ja schon betrunken.<br />
b. Ob er wohl rechtzeitig kommt?<br />
c. Peter interessiert sich nur für Linguistik.<br />
d. Ich kann nicht tanzen.
84 Syntax<br />
Die nicht-flektierbaren Wortarten im Überblick<br />
(54) Wortart typische Eigenschaft<br />
Adv Adverb kann allein im Vorfeld stehen<br />
P Präposition regiert Kasus<br />
C Subjunktion nur in der LK<br />
K Konjunktion mit mehreren Konjunkten<br />
Part Partikel nicht alleine im VF oder NF<br />
Die nicht-flektierbaren Wortarten im Überblick II<br />
(55) nicht<br />
flektierbar<br />
kann alleine<br />
im VF stehen<br />
Adverb<br />
regiert Kasus<br />
Präposition<br />
kann nicht alleine<br />
im VF stehen<br />
mit mehreren<br />
Konjunkten<br />
Konjunktion<br />
verknüpfend<br />
regiert keinen Kasus<br />
nur in der LK<br />
Subjunktion<br />
nicht<br />
verknüpfend<br />
Partikel<br />
Da wir nun die lexikalischen Kategorien kennengelernt haben, können wir diese in das<br />
Baum Diagramm eintragen:
Baudiagramm mit lexikalischen Kategorien<br />
(56) ob ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre<br />
C<br />
ob<br />
ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre<br />
Pro<br />
ich<br />
nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre<br />
nächste Woche<br />
A<br />
nächste<br />
N<br />
Woche<br />
Phrasale Kategorien 85<br />
mit dem Rauchen aufhöre<br />
mit dem Rauchen<br />
P<br />
mit<br />
dem Rauchen aufhöre<br />
D<br />
dem<br />
N<br />
Rauchen<br />
Im Folgenden gilt es nun, die Bezeichnungen für die restlichen Knoten kennenzulernen.<br />
wasssindköpfezurück<br />
4.5 Phrasale Kategorien<br />
• Wir haben gesehen, wie sich die einfachen Konstituenten, die Wörter, zu größeren<br />
Klassen, den Wortarten, zusammenfassen lassen.<br />
• Anschließend haben wir die lexikalischen Kategorien (Wortarten) für diese einfachen<br />
Konstituenten kennengelernt.<br />
• Damit können wir nun herausfinden, welche Klassen von komplexen Konstituenten<br />
es im Deutschen gibt und wie diese aufgebaut sind.<br />
eine bestimmte Art von komplexen Konstituenten<br />
(57) a. alle [sehr großen] Wale<br />
b. eine [auf einer abgelegenen Insel versteckte] Schatztruhe<br />
c. kein [im letzten Jahr wegen Veruntreuung angeklagter] Kommissar<br />
• Bei den eingeklammerten Wortfolgen handelt es sich um Konstituenten, wie ein<br />
Ersetzungstest mit der passenden Form von solche zeigt:<br />
V
86 Syntax<br />
Ersetzungstest<br />
(58) alle solchen Wale, eine solche Schatztruhe, kein solcher Kommissar<br />
• Die komplexen Konstituenten gleichen sich darin, dass sie ein Adjektiv enthalten,<br />
das direkt vor dem Nomen steht.<br />
• Die Bestandteile außer den Adjektiven sind fakultativ.<br />
• Die Adjektive sind obligatorische Bestandteile dieser Konstituenten.<br />
obligatorische Adjektive<br />
(59) alle [großen] Wale<br />
* alle [sehr] Wale<br />
eine [versteckte] Schatztruhe<br />
* eine [auf einer Insel] Schatzkarte<br />
kein [angeklagter] Kommissar<br />
* kein [im letzten Jahr wegen Veruntreuung] Kommissar<br />
• Damit erhalten wir die wichtigste Regel für komplexe Konstituenten:<br />
(syntaktischer) Kopf<br />
Jede komplexe Konstituente muss ein Wort enthalten, das der (syntaktische) Kopf der<br />
komplexen Konstituente ist und nicht wegfallen kann. Der Kopf einer komplexen Konstituente<br />
legt fest, welche Eigenschaften sie hat.<br />
• Man sagt auch, dass eine komplexe Konstituente eine Erweiterung oder eine<br />
Projektion des Kopfes ist.<br />
• Den Kopfbegriff kennen wir schon aus der Morphologie.<br />
• Morphologische Köpfe bestimmen in komplexen morphologischen Ausdrücken<br />
Wortart, Genus und Flexionsklasse.<br />
morphologische Köpfe<br />
(60) a. hochA + HausN�→HochhausN<br />
b. SchneeN + weißA�→schneeweißA<br />
➞ Haus und weiß sind die morphologischen Köpfe<br />
• Syntaktische Köpfe bestimmen in komplexen syntaktischen Ausdrücken unter<br />
anderem die Phrasenart und mögliche Positionen des Ausdrucks.<br />
• Unser Beispielsatz ob ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre besteht aus<br />
sieben komplexen Konstituenten. Baumzum Strukturbaum
Phrasale Kategorien 87<br />
• Wir müssen nun für diese Konstituenten überlegen, welches Wort jeweils der Kopf<br />
ist.<br />
• Vergleichen wir dazu zunächst folgende Sätze:<br />
Subjunktionen<br />
(61) a. Arno denkt, dass er später mal Hirnforscher werden wird.<br />
b. *Arno denkt, ob er später mal Hirnforscher werden wird.<br />
c. *Arno fragt sich, dass er später mal Hirnforscher werden wird.<br />
d. Arno fragt sich, ob er später mal Hirnforscher werden wird.<br />
• Mit dem Verb denken kann offensichtlich nur ein mit dass eingeleiteter Satz kombiniert<br />
werden, aber nicht ein mit ob eingeleiteter Satz.<br />
➞ denken selegiert einen dass-Satz .<br />
➞ fragen hingegen selegiert einen ob-Satz.<br />
• Der Kopf einer komplexen Konstituente legt unter anderem fest, mit welchen<br />
anderen Konstituenten die Konstituente kombiniert werden kann.<br />
• Die jeweilige Subjunktion bestimmt, unter welches Verb der Satz eingebettet werden<br />
kann.<br />
➞ Die Subjunktionen sind die Köpfe der Sätze, die sie einleiten.<br />
Verben<br />
• Mit Subjunktionen kann man auch leicht zeigen, dass der Kopf der Konstituente<br />
ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre das finite Verb aufhöre ist.<br />
(62) a. dass/da/ob/weil [ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre].<br />
b. *dass/da/ob/weil [nächste Woche mit dem Rauchen aufzuhören].<br />
c. *statt/um [ich nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre].<br />
d. statt/um [nächste Woche mit dem Rauchen aufzuhören].<br />
• Da das finite Verb aufhöre der Kopf der Konstituente ich nächste Woche mit dem<br />
Rauchen aufhöre ist, ist es zugleich auch der Kopf der kleineren Konstituenten<br />
nächste Woche mit dem Rauchen aufhöre und mit dem Rauchen aufhöre.<br />
• Dass die beiden Nomen Woche und Rauchen die Köpfe von nächste Woche und<br />
dem Rauchen sind, kann man an folgenden Beispielen illustrieren:
88 Syntax<br />
Nomen<br />
(63) a. Ich trinke gerne [frische Milch].<br />
b. *Ich trinke gerne [frische].<br />
c. Ich trinke gerne [Milch].<br />
(64) a. Vor [den Löwen] erschreckt Arno sich nicht mehr.<br />
b. *Vor [den] erschreckt Arno sich nicht mehr.<br />
c. Vor [Löwen] erschreckt Arno sich nicht mehr.<br />
• In komplexen Konstituenten wie mit dem Rauchen ist der Kopf die Präposition<br />
mit und nicht das Nomen.<br />
• Das sieht man daran, dass das Verb aufhören nur mit einer Konstituente kombiniert<br />
werden kann, die mit enthält, und nicht mit Konstituenten, die eine andere<br />
Präposition enthalten.<br />
Präpositionen<br />
(65) a. Ich höre nächste Woche mit dem Rauchen auf.<br />
b. *Ich höre nächste Woche auf dem Rauchen auf.<br />
c. *Ich höre nächste Woche in dem Rauchen auf.<br />
• So, wie denken einen dass-Satz selegiert, selegiert aufhören eine Konstituente, die<br />
die Präposition mit als Kopf enthält.<br />
• Da die Köpfe die Kategorie der komplexeren Konstituenten bestimmen, können<br />
wir die Kategorien der Köpfe nun in unserem Baum ” nach oben projizieren“.<br />
(66) C<br />
C<br />
ob<br />
N<br />
ich<br />
A<br />
nächste<br />
V<br />
N<br />
N<br />
Woche<br />
V<br />
P<br />
mit<br />
P<br />
D<br />
dem<br />
N<br />
V<br />
N<br />
Rauchen<br />
V<br />
aufhöre
Phrasale Kategorien 89<br />
• Die verschiedenen Projektionen enden in einem bestimmten Knoten.<br />
• Diese Knoten, die eine Projektion abschließen und für eine maximale Konstituente<br />
stehen, werden mit einem P wie Phrase versehen.<br />
(67) CP<br />
C<br />
ob<br />
N<br />
ich<br />
A<br />
nächste<br />
VP<br />
NP<br />
N<br />
Woche<br />
V<br />
P<br />
mit<br />
PP<br />
D<br />
dem<br />
NP<br />
V<br />
N<br />
Rauchen<br />
V<br />
aufhöre<br />
• Die Schwester von ob ist entsprechend eine VP, eine Verbalphrase.<br />
• Neben Verbalphrasen gibt es natürlich auch noch verschiedene andere Phrasenarten,<br />
z.B.:<br />
– NP – Nominalphrase (nächste Woche)<br />
– AP – Adjektivphrase (sehr groß)<br />
– AdvP – Adverbphrase (dort, wo die Murmeltiere leben)<br />
– PP – Präpositionalphrase (mit dem Rauchen)<br />
• In der Syntax geht es um die Beschreibung dieser komplexen Konstituenten und<br />
nicht so sehr um die Beschreibung der einfachen Konstituenten (der Wörter).<br />
• Deshalb wird statt von Konstituentenstruktur auch oft von Phrasenstruktur gesprochen<br />
und entsprechend von Phrasenstrukturbäumen.<br />
• Bei der Untersuchung der Phrasenstrukturen unterschiedlicher Sprachen hat sich<br />
etwas sehr Verblüffendes herausgestellt:<br />
• Es scheint, dass die Strukturen der Phrasen gewisse generelle Bedingungen erfüllen<br />
müssen, die nicht nur in der jeweiligen Einzelsprache Gültigkeit haben, sondern<br />
universell zu sein scheinen.
90 Syntax<br />
• Es wurde versucht, diese generellen Bedingungen in einem einheitlichen Schema<br />
für den Aufbau der Phrasen festzuhalten.<br />
• Eine Versuch, ein solches Schema zu formulieren, ist die sog. X ′ -Theorie, von der<br />
wir das Kopfprinzip bereits kennengelernt haben.<br />
• Wie dieses X ′ -Schema genau aussieht, ist umstritten und hängt von vielen Details<br />
ab.<br />
• Ein vereinfachtes X ′ -Schema sieht wie folgt aus.<br />
X ′ -Theorie<br />
(68) a. Konstituenten sind unterschiedlich komplex. Es gibt drei Komplexitätsebenen:<br />
X, X’ und XP. X ist eine lexikalische Kategorie, X’ und XP sind phrasale<br />
Kategorien.<br />
b. X’ und XP enthalten ein X, das ihr Kopf ist und ihre Kategorie festlegt. XP<br />
ist die höchste Projektion von X, alle anderen Projektionen zwischen XP<br />
und X sind X’.<br />
c. X projiziert nur, wenn X mit einer anderen Konstituente kombiniert wird,<br />
das heißt, wenn X erweitert wird.<br />
• Mit diesen Annahmen können wir unseren Baum sehr einfach vervollständigen:<br />
(69) CP<br />
C<br />
ob<br />
N<br />
ich<br />
A<br />
nächste<br />
VP<br />
NP<br />
N<br />
Woche<br />
V’<br />
P<br />
mit<br />
PP<br />
D<br />
dem<br />
NP<br />
V’<br />
N<br />
Rauchen<br />
V<br />
aufhöre
Arbeitsschritte zur Ermittlung der Struktur eines komplexen Ausdrucks<br />
1. Ordnen Sie jedes Wort einer syntaktischen Kategorie zu.<br />
2. Überlegen Sie, welche Wörter Köpfe sind.<br />
Phrasale Kategorien 91<br />
3. Überlegen Sie, welche Wörter zusammen komplexe Konstituenten bilden.<br />
4. Ordnen Sie jede komplexe Konstituente einer syntaktischen Kategorie zu. (Beachten<br />
Sie dabei, dass jede komplexe Konstituente einen Kopf hat, der ihre Kategorie<br />
festlegt.)<br />
• Für die Phrasenstrukturbäume gelten bestimmte Beschränkungen:<br />
Beschränkungen an Phrasenstrukturbäume<br />
1. Linien beginnen und enden in Knoten, jeder Knoten steht für eine Konstituente.<br />
2. Knoten, von denen nur eine Linie ausgeht, sind nicht-verzweigende Knoten, und<br />
Knoten, von denen mehrere Linien ausgehen, verzweigende Knoten. Durch eine<br />
Linie wird angezeigt, dass eine Konstituente in einer anderen Konstituente<br />
enthalten ist.<br />
3. Ein Knoten ist mit höchstens einem Knoten direkt über ihm verbunden (ein<br />
Knoten kann nicht mehr als eine Mutter haben).<br />
4. Jeder Knoten hat eine Bezeichnung, die der Name einer Kategorie ist.<br />
5. Die Linien sollen sich nicht überkreuzen.<br />
• Nach der Bedingung (69c) des X ′ -Schemas oben gibt es in den syntaktischen<br />
Strukturen keine nicht-verzweigenden Knoten und<br />
• die verzweigenden Knoten sind immer binär verzweigend, das heißt, es gehen<br />
zwei Linien von ihnen aus.<br />
4.5.1 Übungen zu Phrasenstrukturbäumen<br />
• Zeichnen Sie für die folgenden Phrasen Phrasenstrukturbäume:<br />
A1 sofort nach der Sitzung<br />
1. Zuerst muss jedem Wort eine Wortart zugeordnet werden.
92 Syntax<br />
Wortarten?<br />
(70) Adv P D N<br />
sofort nach der Sitzung<br />
Köpfe?<br />
2. Welche Ausdrücke sind Köpfe?<br />
(71) Adv P D N<br />
sofort ¡2-¿nach der ¡2-¿Sitzung<br />
3. Welche Wörter bilden zusammen komplexe Konstituenten?<br />
Konstituentenstruktur?<br />
(72) Adv P D N<br />
[sofort [nach [der Sitzung]]]<br />
als Baum<br />
(73)<br />
Adv<br />
sofort P<br />
nach D<br />
der<br />
N<br />
Sitzung<br />
4. Als letztes müssen die Kategorien der Projektionen festgelegt werden. Zur Erinnerung:<br />
die Kategorie einer Projektion ist die Kategorie ihres Kopfes (plus ′<br />
bzw.P).<br />
Phrasale Kategorien?<br />
(74) PP<br />
Adv<br />
sofort<br />
P<br />
nach<br />
P ′<br />
D<br />
der<br />
NP<br />
• Weitere Übungsaufgaben:<br />
N<br />
Sitzung<br />
A2 mit einem Eis in ihrer kleinen Hand
Lösung für A2<br />
A3 an einem einer Schlange nachgebildeten Schreibtisch<br />
A4 um den Teppich schnell zur Reinigung zu bringen<br />
(75) PP<br />
P<br />
mit<br />
Lösung für A3<br />
D<br />
einem<br />
(76) PP<br />
P<br />
an<br />
D<br />
einem<br />
NP<br />
N<br />
Eis<br />
D<br />
einer<br />
NP<br />
N’<br />
P<br />
in<br />
NP<br />
PP<br />
D<br />
ihrer<br />
N<br />
Schlange<br />
AP<br />
NP<br />
A<br />
kleinen<br />
N’<br />
N’<br />
A<br />
nachgebildeten<br />
N<br />
Hand<br />
Phrasale Kategorien 93<br />
N<br />
Schreibtisch
94 Syntax<br />
Lösung für A4<br />
(77) CP<br />
C<br />
um<br />
D<br />
den<br />
NP<br />
4.6 Bewegung<br />
N<br />
Teppich<br />
VP<br />
Adv<br />
schnell<br />
P<br />
zur<br />
V’<br />
PP<br />
V’<br />
N<br />
Reinigung<br />
V<br />
zu bringen<br />
• Bisher haben wir uns nur die Struktur von VL-Sätzen angeschaut.<br />
• Ob und wie die Struktur der V1- und V2-Sätze und die Struktur der VL-Sätze im<br />
Deutschen zusammenhängen, ist eine schwierige Frage.<br />
V1 – V2 – VL<br />
(78) a. Liest Markus gerne Bücher? (V1-Satz)<br />
b. Markus liest gerne Bücher. (V2-Satz)<br />
c. weil Markus gerne Bücher liest (VL-Satz)<br />
• Eine Möglichkeit wäre, dass V1-, V2- und VL- Sätze völlig unterschiedliche Strukturen<br />
haben.<br />
• Eine zweite Möglichkeit wäre, dass V1-, V2- und VL-Sätze dieselbe uniforme<br />
Struktur haben und sich nur darin unterscheiden, wo das Verb steht.<br />
• Wir werden hier annehmen, dass die grundlegende Stellung die Verbletztstellung<br />
ist und die Verberst- und Verbzweitstellung daraus abgeleitet sind.<br />
• Bevor wir sehen werden, wie die verschiedenen Verbstellungstypen zusammenhängen,<br />
wollen wir unsere (vielleicht etwas überraschende) Annahme motivieren.
Indiz 1:<br />
Bewegung 95<br />
• Eine Reihe von Verben hat eine Art V1- und V2-Phobie und kann nur in der<br />
VL-Position (RK) stehen.<br />
• Zu diesen Verben gehören<br />
infinite Verben<br />
– infinite Verben<br />
– trennbaren Verben (nur der zweite Teil kann in der LK stehen)<br />
– viele rückgebildete Verben wie kopfrechnen, generalüberholen und zweckentfremden.<br />
(79) a. Bitte nicht auf den Rasen treten!<br />
b. *Bitte treten nicht auf den Rasen!<br />
trennbare Verben<br />
(80) a. ob ich morgen nach Neuseeland aufbreche<br />
b. *Ich aufbreche morgen nach Neuseeland.<br />
c. Ich breche morgen nach Neuseeland auf.<br />
rückgebildete Verben<br />
(81) a. weil die Kinder in der Grundschule noch gerne kopfrechnen<br />
b. *In der Grundschule kopfrechnen die Kinder noch gerne.<br />
c. *In der Grundschule rechnen die Kinder noch gerne kopf.<br />
Indiz 2:<br />
• Ein weiteres Argument lässt sich aus dem kindlichen Spracherwerb anführen:<br />
• In den ersten komplexeren Äußerungen von Kindern, die aus mehr als einem<br />
Wort bestehen, stehen die Verben in der Regel nicht vorne, sondern hinten.<br />
• So findet man in der Phase der Zweiwortäußerungen sehr viele Beispiele wie die<br />
in (82), aber nur wenige wie die in (83).<br />
Zweiwortäußerungen<br />
(82) Puppe weint, Oma kommt, Maxe aufstehen, Schuhe holen, Kuchen essen, Stange<br />
turnen, Müll schmeißen, nochmal reiten<br />
(83) huste Maxe, weint Robert, zumachen Mami, backe Kuchen
96 Syntax<br />
• Trennbare Verben wie aufstehen zeigen dabei, dass die Verben in (82) wirklich in<br />
der letzten Position stehen.<br />
• Kinder beginnen also mit der Verbletztstellung und gehen dann erst zur Verbzweitstellung<br />
über.<br />
• Nachdem wir unsere Annahme, dass VL die Grundstruktur im Deutschen ist,<br />
motiviert haben, müssen wir uns nun fragen, wie sich die Struktur von V1- und<br />
V2-Sätzen aus dieser ableiten lässt.<br />
• Betrachten wir dazu nochmals die folgenden Beispiele:<br />
VL – V1 – V2<br />
(84) a. weil Markus gerne Bücher liest (VL-Satz)<br />
b. Liest Markus gerne Bücher? (V1-Satz)<br />
c. Markus liest gerne Bücher. (V2-Satz)<br />
• Wenn wir diese Sätze in die topologischen Felder überführen, wird der Unterschied<br />
in der Struktur schnell klar.<br />
VL – V1 – V2 in topologischen Feldern<br />
(85) VF LK MF RK NF<br />
a. (weil) Markus gerne Bücher liest<br />
b. Liest Markus gerne Bücher<br />
c. Markus liest gerne Bücher<br />
• Was sind die Unterschiede zwischen (74a), (74b) und (74c)?<br />
• Im VL-Satz befindet sich das Verb liest in der RK, während es sich im V1- und<br />
V2-Satz in der LK befindet.<br />
• Im VL- und V1-Satz befindet sich die NP Markus im MF, während sie im V2-Satz<br />
im VF steht.<br />
• Eine intuitiv plausible Idee ist nun anzunehmen, dass man die Struktur von V1und<br />
V2-Sätzen durch Umstellung oder Bewegung von Elementen aus VL-Sätzen<br />
ableiten kann:<br />
– In einem V1-Satz wird das finite Verb aus der RK in die LK bewegt.<br />
– In einem V2-Satz wird das finite Verb aus der RK in die LK bewegt und ein<br />
Element aus dem MF ins VF bewegt.
Bewegungen<br />
(86) a. Markus gerne Bücher liest.<br />
⇐� Bewegung des finiten Verbs in die LK<br />
b. Liest Markus gerne Bücher?<br />
⇐� Bewegung von Markus ins VF<br />
c. Markus liest gerne Bücher.<br />
Bewegung 97<br />
• Die Annahme von Bewegungen ist auch der Weg, der in den meisten Syntaxtheorien<br />
beschritten wird, um den Zusammenhang zwischen verschiedenen Satzstrukturen<br />
zu erklären.<br />
Bewegung<br />
Umstellung eines Elements aus einer bestimmten Position in eine andere Position. Bewegte<br />
Elemente lassen eine ” Spur“ zurück. Spuren werden mit t (von engl. trace) bezeichnet.<br />
Sinn dieser Spurenmarkierungen ist es, die Bewegungen von Konstituenten genau beschreiben<br />
zu können.<br />
• In der generativen Syntax werden solche Bewegungen, die Wörter oder Phrasen<br />
umstellen und so die syntaktische Struktur verändern, seit Chomsky (1957)<br />
traditionell Transformationen genannt.<br />
• In unseren Beispielen müssen wir nun also noch die Spuren eintragen.<br />
• Wenn es Spuren von mehreren Elementen gibt, benutzt man Indices, um diese zu<br />
unterscheiden.<br />
Bewegungen mit Spuren<br />
(87) a. Liesti Markus gerne Bücher ti?<br />
b. Markusj liesti tj gerne Bücher ti.<br />
• Oft wird angenommen, dass es im Deutschen folgende Arten der Bewegung gibt:<br />
Bewegungen im Deutschen<br />
1. V2-Bewegung Bewegung des finiten Verbs in die LK<br />
2. Topikalisierung Bewegung einer nicht-w-Konstituente ins Vorfeld<br />
3. w-Bewegung Bewegung eines w-Worts ins Vorfeld<br />
4. Bewegungen im Mittelfeld (Scrambling) Umstellungen von Konstituenten innerhalb<br />
des Mittelfeldes<br />
5. Bewegung ins Nachfeld (Extraposition) Umstellung einer Konstituente ins Nachfeld
98 Syntax<br />
Beispiele für V2-Bewegung<br />
(88) a. Liesti Markus gerne Bücher ti?<br />
b. Markusj liesti tj gerne Bücher ti.<br />
Beispiele für Topikalisierung<br />
(89) a. Markusj liesti tj gerne Bücher ti .<br />
b. Bücherj liesti Markus gerne tj ti .<br />
Beispiele für w-Bewegung<br />
(90) a. Werj liesti tj gerne Bücher ti?<br />
b. Wasj liesti Markus gerne tj ti ?<br />
Beispiele für Scrambling<br />
(91) a. ...weil esi Peter gestern ti geschafft hat.<br />
b. ...weil ihrj Peterk das Buchi immer tk tj ti vorgelesen hat.<br />
Beispiele Extraposition<br />
(92) a. ...weil er gerne ti spazieren geht in Mainzi.<br />
b. ...weil es ti die ganze Zeit geregnet hat am Wochenendei.
<strong>Kapitel</strong> 5<br />
Semantik<br />
5.1 <strong>Einleitung</strong><br />
• Bisher haben wir uns vorwiegend mit der Struktur sprachlicher Ausdrücke befasst:<br />
– Lautstruktur (Phonologie)<br />
– Wortstruktur (Morphologie)<br />
– Satzstruktur (Syntax)<br />
• Im folgenden Teil wenden wir uns nun der Bedeutung von Ausdrücken zu.<br />
• Das Teilgebiet der Linguistik, das sich mit dem Inhalt oder der Bedeutung von<br />
Ausdrücken beschäftigt, ist die Semantik.<br />
Semantik<br />
Gegenstand der Semantik ist die Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken.<br />
• Im Gegensatz zur Phonologie, Morphologie und Syntax ist der Gegenstandsbereich<br />
der Semantik etwas schwerer zu fassen.<br />
• Laute können wir akustisch und artikulatorisch bestimmen und Wörter und Sätze<br />
zumindest aufnehmen oder schriftlich festhalten und in Korpora sammeln.<br />
• Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke lässt sich dagegen nicht ohne Weiteres<br />
messen oder aufschreiben.<br />
• Deshalb bleibt uns nur ein indirekter Zugang zur Bedeutung von sprachlichen<br />
Ausdrücken.<br />
• Eine wichtige Rolle spielen dabei die Intuitionen von Muttersprachlern.<br />
Warum sind die Intuitionen von Muttersprachlern wichtig?
100 Semantik<br />
• Muttersprachler können sprachliche Ausdrücke meist problemlos verstehen und<br />
korrekt gebrauchen.<br />
• Sie kennen meist auch die Beziehungen, die zwischen den Bedeutungen einzelner<br />
Ausdrücke bestehen.<br />
• Sie haben meist keinerlei Probleme, neue Sätze, die sie noch nie vorher gehört<br />
haben, zu verstehen.<br />
• Schauen wir uns folgenden Satz an:<br />
ein ‘neuer’ Satz<br />
(1) In Berlin hat gestern wieder ein rosa Elefant harmlose Passanten hinterhältig<br />
beleidigt.<br />
• Es ist unwahrscheinlich, dass wir den Satz in (1) schon gehört haben.<br />
• Dennoch haben wir keine Probleme, den Satz in (1) zu verstehen.<br />
• Wir können also die Wörter unserer Sprache wie in (1) zu immer neuen Sätzen<br />
mit neuen Bedeutungen verbinden.<br />
➞ Dies bezeichnet man als Produktivität.<br />
• Auch wenn sie uns trivial erscheinen mag, ist die Produktivität eine bedeutende<br />
und fazinierende Eigenschaft der natürlichen Sprache.<br />
• Man stelle sich nur vor, die Sprache wäre nicht produktiv...<br />
Ektisch – eine nicht-produktive Sprache<br />
(Aus: Franz Hohler, Der Granitblock im Kino)<br />
(2) Das Ektische gehört zu den ausgestorbenen Sprachen und scheint mir deshalb die interessanteste<br />
von allen zu sein, weil sie nur zwei Wörter hatte. Das erste hieß ” M“ und das<br />
zweite ” Saskrüptloxptqwrstfgaksolömpääghrcks“. ” M“ ist weiblich und heißt: ” Was ist denn<br />
jetzt schon wieder los“, und ” Saskrüptloxptqwrstfgaksolömpääghrcks“ ist männlich und<br />
heißt ” nichts“. [...]<br />
Einmal kam es [...] zu politischen Demonstrationen, bei denen eine große Zahl von Ektern<br />
vor das Rathaus zog und in Sprechchören die Worte ” M!M!M!“ rief, worauf der ektische<br />
Präsident [...] in einer großen Rede versicherte: ” Saskrüptloxptqwrstfgaksolömpääghrcks!“.<br />
Dies stimmte allerdings nicht ganz, und der Präsident selbst wußte das auch, aber unglücklicherweise<br />
hatte er keine weiteren Ausdrücke zur Verfügung, und so gehört das Ektische<br />
heute zu den ausgestorbenen Sprachen.<br />
• Im Gegensatz zu den Ektern verfügen wir glücklicherweise nicht nur über zwei<br />
Wörter.
<strong>Einleitung</strong> 101<br />
• Doch noch viel wichtiger ist, dass wir unsere Wörter produktiv zu immer neuen<br />
Sätzen mit neuen Bedeutungen verbinden können.<br />
• Erstaunlich in Anbetracht der Produktivität ist, dass wir überhaupt in der Lage<br />
sind, all die produktiv neugebildeten Sätz zu verstehen.<br />
• Neben einer morphologischen und syntaktischen verfügen wir also auch über<br />
eine entsprechende semantische Kompetenz, die es uns ermöglicht, die (neuen)<br />
Bedeutungen dieser Wörter und Sätze berechnen und bewerten zu können.<br />
• Eine erste offensichtliche Antwort auf die Frage, wie wir Sätze verstehen können,<br />
ist, dass wir ja selbst in einem Satz wie (2) die wörtliche Bedeutung der Einzelteile<br />
verstehen.<br />
der ‘neue’ Satz<br />
(3) In Berlin hat gestern wieder ein rosa Elefant harmlose Passanten hinterhältig<br />
beleidigt.<br />
• Da wir die Bedeutung von in, Berlin, hat, gestern, wieder, ein, rosa, Elefant, harmlose,<br />
Passanten, hinterhältig, beleidigt kennen, kennen wir auch die Bedeutung von (3).<br />
• Dass diese erste Antwort aber nicht ausreicht, kann man leicht zeigen:<br />
Bedeutungsunterschiede trotz gleicher Einzelteile<br />
(4) a. Sabine wurde von Stefan gesehen. ≠<br />
b. Stefan wurde von Sabine gesehen.<br />
• Neben der Bedeutung der Einzelteile spielt also auch die Art der Zusammensetzung<br />
– d. h. die syntaktische Struktur – eine Rolle für die Bedeutung eines Satzes.<br />
• Dies mündet in einer einflussreichen Antwort auf die Frage, wie wir die Bedeutung<br />
neuer Sätze verstehen können, dem Kompositionalitätsprinzip.<br />
Kompositionalitätsprinzip<br />
Die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks ergibt sich aus der Bedeutung seiner Einzelteile<br />
und der Art ihrer Zusammensetzung.<br />
• Dieses Prinizp wird meist auf den Philosophen, Logiker und Mathematiker Gottlob<br />
Frege (1848-1925) zurückgeführt.
102 Semantik<br />
• Wenn wir über die Bedeutung von Wörtern und Sätzen sprechen, verwenden wir<br />
häufig die Methode des Paraphrasieren (Umschreibens).<br />
Paraphrasen<br />
(Aus: Douglas Adams, Per Anhalter durch die Galaxis)<br />
(5)<br />
” Ganz einfach, ein Fopper hat mich mitgenommen?“<br />
” Ein Fopper?“ [...]<br />
” Foppers sind Kinder reicher Leute, die nichts zu tun haben. Sie zischen in der Gegend<br />
rum und suchen nach Planeten, die noch keine interstellaren Verbindungen haben und<br />
besummen sie.“<br />
” Besummen sie?“ [...]<br />
” Sie suchen sich eine abgelegene Gegend [...], dann landen sie direkt vor den Augen<br />
eines nichtsahnenden Trottels, dem niemand jemals glauben wird, stolzieren mit albernen<br />
Antennen auf dem Kopf vor ihm auf und ab und machen piep piep.“<br />
• Paraphrasen können unsere Intuitionen über die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke<br />
mehr oder weniger präzise umschreiben, sie liefern aber keinen Aufschluss<br />
darüber, was Bedeutungen sind.<br />
• Paraphrasen bestehen selbst wieder aus sprachlichen Ausdrücken, deren Bedeutung<br />
wiederum nur durch neue Paraphrasen umschrieben werden kann.<br />
Beispiel aus dem Duden<br />
malen mit Farbe streichen; Farbe auf etw. auftragen<br />
streichen mithilfe eines Pinsels o. Ä. mit einem Anstrich versehen; anstreichen<br />
anstreichen Farbe auf etw. streichen<br />
• Ein lustiges Beispiel aus dem<br />
Metzler Lexikon Sprache (2. Auflage)<br />
Paraphrase?<br />
Circumfix ↗ Zirkumfix<br />
Zirkumfix ↗ Circumfix<br />
• Neben diesem Problem der Zirkularität, liefern Paraphrasen eine nur unzureichende<br />
Umschreibung der Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks.<br />
• Um die Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke genau zu bestimmen, bedarf es der<br />
Formulierung präziser wissenschaftlicher Theorien, die im Idealfall auch experimentell<br />
überprüfbar sind.<br />
• Dies ist das Ziel der Semantik.
5.2 Semantische Grundbegriffe<br />
Semantische Grundbegriffe 103<br />
• Wir sind aufgrund unserer semantischen Kompetenz nicht nur in der Lage neue<br />
Sätze zu verstehen, wir können auch beurteilen, welche semantische Relationen<br />
zwischen Sätzen bestehen.<br />
• Wir wissen z. B., wann ein Satz aus einem anderen folgt, wann zwei Sätze das Gleiche<br />
bedeuten oder sich zwei Sätze widersprechen, oder wann ein Satz verschiedene<br />
Bedeutungen hat.<br />
• Die Relation ” ein Satz folgt aus einem anderen“ nennt man semantische Implikation<br />
(oft dargestellt durch → oder ⊃).<br />
semantische Implikation<br />
Ein Satz p impliziert einen Satz q (p→q), wenn gilt: Wenn p wahr ist, dann ist auch q<br />
wahr.<br />
Beispiel für Implikationen<br />
(6) a. Der Junge hat Maria dreimal geküsst.<br />
b. Der Junge hat Maria geküsst.<br />
c. Der Junge hat Maria mit seinen Lippen berührt.<br />
• Immer wenn (6a) wahr ist, dann sind sowohl (6b) als auch (6c) wahr. (also:<br />
(6a)→(6b), (6a)→(6c)).<br />
• (6b) hingegen impliziert nicht (6a).<br />
• Wenn zwei Sätze dieselbe Bedeutung haben, sind sie synonym oder semantisch<br />
äquivalent (oft dargestellt durch ↔ oder ≡).<br />
Synonymie/Äquivalenz<br />
Zwei Sätze p und q sind synonym/äquivalent, wenn gilt: p impliziert q und q impliziert p.<br />
Beispiel für Äquivalenz<br />
(7) a. Maria ist mit Peter verheiratet.<br />
b. Peter ist mit Maria verheiratet.<br />
• Immer wenn (7a) wahr ist, ist (7b) wahr, und immer wenn (7b) wahr ist, dann ist<br />
auch (7a) wahr.<br />
• Es sollt ergänzt werden, dass vollständige Synonymie in der natürlichen Sprache<br />
nur selten zu finden sind.<br />
• Zwischen annähernd synonymen Sätzen bestehen oft subtile Bedeutungsunterschiede:
104 Semantik<br />
keine vollständige Synonymie<br />
(8) a. Peter hat einen neuen Job.<br />
b. Peter hat eine neue Arbeit.<br />
• Eine dritte wichtige semantische Relation liegt vor, wenn sich zwei Sätze widersprechen.<br />
• Dies nennt man Kontradiktion (oft dargestellt durch ↮).<br />
Kontradiktion<br />
Zwei Sätze p und q sind kontradiktorisch, wenn gilt: Wenn p wahr ist, ist q falsch und<br />
wenn p falsch ist, ist q wahr (d. h. p und q können nicht gleichzeitig wahr oder falsch<br />
sein).<br />
Beispiele für Kontradiktion<br />
(9) a. Peter hat den Ball geküsst.<br />
b. Peter hat den Ball nicht mit den Lippen berührt.<br />
• Wenn (9a) wahr ist, ist (9b) falsch, und wenn (9a) falsch ist, dann ist (9b) wahr.<br />
• Eine weitere wichtige semantische Eigenschaft ist die Ambiguität.<br />
• Ein Ausdruck ist ambig, wenn er mehrdeutig ist, d. h. wenn er mehr als eine<br />
Bedeutung hat.<br />
• Ambiguitäten kommen auf allen grammatischen Ebenen vor, so dass es verschiedene<br />
‘Arten’ von Ambiguitäten gibt.<br />
lexikalische Ambiguitäten<br />
(10) a. Sven liebt Schlösser.<br />
b. Das Geld liegt auf der Bank.<br />
• Die Wörter Schlösser und Bank in (10) sind ambig.<br />
• Schloss1: ‘Vorrichtungen zum Verschließen’<br />
Schloss2: ‘großes Wohngebäude fürstlicher Herrschaften’<br />
• Bank1: ‘Sitzgelegenheit’<br />
Bank2: ‘Geldinstitut’<br />
ambige Nominalkomposita<br />
(11) a. Maria versucht, durch das Milchglas zu schauen.<br />
b. Peter ist gerade zum Holzhaus gegangen.
• N+N-Komposita wie in (11) sind sehr oft ambig.<br />
Semantische Grundbegriffe 105<br />
• Das liegt daran, dass die Art, in der Kopf durch den anderen Teil determiniert<br />
wird, nicht festgelegt ist.<br />
• So kann Milchglas z. B. ein Glas bezeichnen, in dem Milch ist, das für Milch gedacht<br />
ist oder das ‘milchig’ ist.<br />
• Ein Holzhaus kann z. B. ein Haus aus Holz oder ein Haus sein, in dem Holz gelagert<br />
oder verkauft wird.<br />
• In Beispiel (12) liegt eine strukturelle Ambiguität vor, die mit der syntaktischen<br />
Interpretation des obwohl-Satzes zu tun hat.<br />
strukturelle Ambiguität<br />
(12) Der Trainer sieht, dass ich trainiere, obwohl es neblig ist.<br />
a. [Der Trainer sieht, dass ich trainiere],<br />
obwohl es neblig ist.<br />
b. Der Trainer sieht,<br />
[dass ich trainiere, obwohl es neblig ist].<br />
• In der Lesart (12a) modifiziert der obwohl-Satz den Satz Der Trainer sieht, dass ich<br />
trainiere.<br />
• In der Lesart (12b) bezieht sich der obwohl-Satz auf den Nebensatz dass ich trainiere.<br />
• In (13) liegt eine Skopusambiguität vor, die mit der relativen Interpretation der<br />
beiden Quantoren einen und jeder zu tun hat.<br />
Skopusambiguität<br />
(13) Einen Philosophen kennt jeder Student.<br />
• Der Skopus eines Quantors ist sein ‘Wirkungsbereich’.<br />
• In der einen Lesart hat der Quantor einen Skopus über jeder, in der anderen Lesart<br />
ist es umgekehrt.<br />
• Die beiden Lesarten lassen sich zur Verdeutlichung wie folgt paraphrasieren:<br />
Skopusambiguität<br />
(14) Einen Philosophen kennt jeder Student.<br />
a. Es gibt einen Philosophen, für den gilt, dass ihn jeder Student kennt.<br />
b. Für jeden Studenten gilt, dass es einen Philosophen gibt, den er kennt.
106 Semantik<br />
• In der Lesart (14a) ist es also der gleiche Philosoph, den alle Studenten kennen<br />
(z. B. Kant).<br />
• In der Lesart (14b) kennt jeder Student einen Philosophen, dieser muss aber nicht<br />
der gleiche sein (z. B. Peter kennt Kant, Maria kennt Wittgenstein, Hans kennt<br />
Grice,...).<br />
• Man sagt auch, dass in (14a) der sogenannte Existenzquantor (oft dargestellt durch<br />
∃) Skopus über den sogenannten Allquantor (∀) hat. In (14b) ist es umgekehrt.<br />
• Wie viele andere Sprachen auch hat das Deutsche zahlreiche komplexe Ausdrücke,<br />
bei denen sich die Bedeutung des komplexen Ausdrucks nicht mehr kompositional<br />
aus den Bedeutungen seiner Teile ergibt.<br />
• Solche komplexe Ausdrücke werden Idiome oder Phraseologismen genannt:<br />
Phraseologismen<br />
(15) a. Unser Wellensittich hat gestern plötzlich den Löffel abgegeben.<br />
b. Dieser Dummkopf hat nicht mehr alle Tassen im Schrank!<br />
• Im Gegensatz zu Satz (15b) kann die Bedeutung von Satz (16) kompositional<br />
ermittelt werden.<br />
kein Phraseologismus<br />
(16) Oma ist gestern von einem Einbrecher bestohlen worden. Sie hat nicht mehr alle<br />
Tassen im Schrank, wir haben dreimal nachgezählt.<br />
• Abschließend betrachten wir das schwierige Feld der semantischen Abweichung<br />
oder Anomalie.<br />
eine Anomalie<br />
(17) Der kleine Toaster besuchte seine elektrischen Freunde im Badezimmer.<br />
• Satz (17) ist seltsam, weil er mit unserem Wissen über die Welt, in der wir leben,<br />
nicht übereinstimmt.<br />
• Wir können allerdings die Bedeutung des Satzes problemlos verstehen.<br />
• Der Satz auch kann durchaus sinnvoll sein, wenn er in einem geeigneten Kontext<br />
(zum Beispiel in einem Märchen oder einem Zeichentrickfilm) geäußert wird.<br />
• In (18) ist dies nicht mehr so einfach möglich, weshalb der Grad der semantischen<br />
Abweichung in (18) größer zu sein als in (17).
noch eine Anomalie<br />
(18) Farblose grüne Ideen schlafen wild.<br />
Zeugma<br />
Semantische Grundbegriffe 107<br />
• Die Konstituenten sind teilweise nicht kompatibel miteinander, so dass hier höchstens<br />
noch eine metaphorische Interpretation möglich scheint.<br />
• In (19) liegt ein sog. Zeugma-Effekt vor:<br />
(19) Die Zeitung liegt auf dem Tisch und hat angerufen.<br />
• Die beiden Sätze Die Zeitung liegt auf dem Tisch und Die Zeitung hat angerufen<br />
sind für sich normal.<br />
• In jedem Satz bezeichnet die Nominalphrase die Zeitung ein anderes Objekt (ein<br />
Stück bedrucktes Papier oder eine Person aus der Redaktion).<br />
• Die Nominalphrase die Zeitung kann allerdings nicht gleichzeitig zwei verschiedene<br />
Dinge bezeichnen wie in (19).<br />
• In Satz (20) liegt nicht nur eine semantische Abweichung vor, dieser Satz ist notwendigerweise<br />
falsch.<br />
eine weitere Anomalie<br />
(20) Peter ist der Vater seines Vaters.<br />
• Die Bedeutung von Vater ist so beschaffen, dass Satz (20) unweigerlich zu einem<br />
Widerspruch führt.<br />
• Semantisch anomale Sätze sollten von syntaktisch ungrammatischen Sätze unterschieden<br />
werden:<br />
ein ungrammatischer Satz<br />
(21) a. *Der Spion lesen die Zeitung unauffällig.<br />
b. Der Spion liest unauffällig die Zeitung.<br />
• Der ungrammatische Satz (21a) kann durch Umstellen der Wörter und Veränderung<br />
der Flexionselemente zu einem grammatikalisch korrekten Satz verbessert werden<br />
(18b), ohne dass sich dabei die Bedeutung des Satzes ändert<br />
• (vorausgesetzt, dass (21a) überhaupt eine Bedeutung hat, was nicht unumstritten<br />
ist).<br />
• Semantische Anomalien können dagegen nicht durch das Austauschen von einem<br />
oder mehreren Wörtern (oder Morphemen) beseitigt werden, ohne dass sich die<br />
Bedeutung ändert.
108 Semantik<br />
5.3 Bereiche der Semantik<br />
• Die Semantik kann etwas vereinfacht in zwei große Bereiche aufgeteilt werden:<br />
1. lexikalische Semantik<br />
2. Satzsemantik<br />
• Die lexikalische Semantik (oder auch Wortsemantik) befasst sich mit der Bedeutung<br />
von einfachen Wörtern (Tür, schnell, laufen) und komplexen Wörtern<br />
(Haustürschlüssel, Furchtsamkeit, Schnellzug)<br />
• Dabei wird die u. a. untersucht:<br />
1. die Bedeutung von Affixen (z.B. -lich, -heit, be-, Ex-)<br />
2. die Bedeutung von Wurzeln (Baum, Nacht, nass)<br />
3. die semantischen Relationen bei der Komposition (Schokoladenkuchen ‘Kuchen<br />
aus Schokoloade’ vs. Hundekuchen ‘Kuchen für Hunde’ vs. Marmorkuchen ‘Kuchen,<br />
der nach Marmor aussieht’)<br />
4. die Relationen zwischen Wörtern und Wortfeldern (kalt-heiß, Tier-Katze-Hund,<br />
Montag-Dienstag)<br />
• Untersuchungsgegenstand der Satzsemantik ist die Bedeutung komplexer sprachlicher<br />
Ausdrücke, wie zum Beispiel der Satzteile (19a), einfacher (19b) oder komplexer<br />
Sätze (19c+d):<br />
Ein Fall für die Satzsemantik<br />
(22) a. der grüne Papagei, in der Burg, das Buch lesen<br />
b. Maria besucht ihre Tante.<br />
c. Peter glaubt, dass Schweine fliegen können.<br />
d. Jeder Bauer, der einen Esel hat, schlägt ihn.<br />
• Sätze stehen im Mittelpunkt vieler Semantiktheorien, weil sie die kleinsten unabhängigen<br />
Informationseinheiten bilden, mit denen wir kommunizieren und<br />
sprachlich handeln.<br />
• In der Satzsemantik geht es wesentlich um die Frage<br />
(i) wie die Bedeutung der Einzelteile in die Bedeutung des komplexen Ausdrucks<br />
eingeht.<br />
(ii) was die Bedeutung verschiedener Satztypen wie Deklarativsatz oder Interrogativsatz<br />
ist.<br />
• Die Bedeutung komplexer Ausdrücke kann in der Regel systematisch aus den<br />
Bedeutungen der einzelnen Teile und der Art der Zusammenfügung berechnet<br />
werden (Kompositionalitätsprinzip)
Bereiche der Semantik 109<br />
• Darüber hinaus befasst sich die Semantik auch mit der Bedeutung von noch<br />
größeren sprachlichen Einheiten wie Diskursen und Texten.<br />
• Eines der zentralen Themen der Textsemantik und Diskurssemantik ist die semantische<br />
Kohärenz von Texten und Diskursen.<br />
Anaphern<br />
(23) a. Ein Zeuge kam in das Zimmer. Der Zeuge erzählte seine Beobachtungen.<br />
b. Der Zeuge kam in das Zimmer. Ein Zeuge erzählte seine Beobachtungen.<br />
• Nur in (23a), nicht aber in (23b), können sich die beide NPs auf dieselbe Person<br />
beziehen.<br />
• Eine definite NP kann sich also auf eine vorher erwähnte indefinite NP beziehen,<br />
aber nicht umgekehrt.<br />
• Mit definiten NPs wird normalerweise auf etwas Bezug genommen, das schon<br />
erwähnt wurde, zum gemeinsamen Hintergrundwissen gehört oder sich im Kontext<br />
eindeutig identifizieren lässt.<br />
indirekte Anaphern<br />
(24) a. Der Dealer wurde gefasst. Die Drogen fand die Polizei im Schrank.<br />
b. Der Dealer wurde gefasst. Die Geige fand die Polizei im Schrank.<br />
• In (24a) können wir die definite NP die Drogen relativ einfach in den Textzusammenhang<br />
integrieren (etwa ‘die Drogen, mit denen der Dealer gehandelt hat’).<br />
• Die Integration von die Geige in (24b) bereitet im Gegensatz dazu größere Probleme<br />
(etwa ‘die Geige, in denen die Drogen versteckt waren’).<br />
• Das Schema in (25) gibt einen vereinfachten Überblick über das Zusammenspiel<br />
der Semantik mit den bisher vorgestellten Teilgebieten der Linguistik:<br />
Semantik und Grammatik<br />
(25) Satz (Syntax) → Satzbedeutung (Satzsemantik)<br />
Wort und (Morphologie) → Wortbedeutung und (Lexikalische<br />
Morphem Morphembedeutung Semantik)<br />
Phonem (Phonologie) → keine Bedeutung<br />
bedeutungsunterscheidend<br />
• Die Semantik steht damit in einem direkten Zusammenhang mit der Morphologie<br />
und der Syntax.<br />
• Phoneme tragen zwar keine Bedeutung, trotzdem gibt es auch Verbindungen<br />
zwischen der Phonologie und der Semantik.
110 Semantik<br />
• Die Akzentzuweisung in einem Satz hat z. B. durchaus semantische Konsequenzen,<br />
wie der Bedeutungsunterschied von (26a) und (26b) zeigt:<br />
Fokusakzent<br />
(26) a. Mike hat nur eine SILBERNE Halskette.<br />
b. Mike hat nur eine silberne HALSKETTE.<br />
5.4 Bedeutung und Referenz<br />
• Auf die Frage, was die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke ist, wurden im Wesentlichen<br />
drei Antworten gegeben:<br />
1. die realistische Antwort<br />
2. die kognitivistische Antwort<br />
3. die gebrauchstheoretische Antwort<br />
• Wir werden im Folgenden besonders auf die erste Antwort eingehen.<br />
• Auf die dritte Antwort kommen wir im Abschnitt über ‘Pragmatik’ ausführlich zu<br />
sprechen.<br />
• Anzumerken ist, dass die drei Antworten nicht prinzipiell unvereinbar sind.<br />
• Die erste realistische Antwort geht davon aus, dass die Bedeutung von sprachlichen<br />
Ausdrücken in ihrer Beziehung zur Welt liegt.<br />
• Vereinfacht gesprochen bezeichnen Ausdrücke Dinge in der Welt.<br />
• Diese Eigenschaft bezeichnet man als Referenz:<br />
Referenz<br />
(27) Ausdruck<br />
Referenz<br />
Referent<br />
• Ausdrücke referieren auf Dinge in der Welt, ihre Referenten.<br />
• Diese Sicht scheint besonders für Eigennamen plausibel zu sein.<br />
• Eigennamen referieren auf die Person, die den Namen trägt.<br />
Referenz von Eigennamen<br />
(28) a. Bart<br />
Referenz<br />
¦
. Lisa<br />
Referenz<br />
¢<br />
Bedeutung und Referenz 111<br />
• Da man den Referenten eines Ausdrucks meist nicht auf Papier bringen kann,<br />
wird oft vereinfacht geschrieben:<br />
• ” Peter“ (der Ausdruck) referiert auf Peter (die Person in der Welt).<br />
• Die Annahme, dass die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke in ihrer Referenz liegt,<br />
ist auch für andere Ausdrücke als Eigennamen plausibel.<br />
• Zu diesen Ausdrücken gehören unter anderem die sog. definiten Kennzeichnungen:<br />
definite Kennzeichnungen<br />
(29) der Autor der Dreigroschenoper �→<br />
• Vor einer allzu naiven Auffassung der referentiellen Theorie der Bedeutung muss<br />
jedoch gewarnt werden.<br />
• Wenn wir sagen, dass Ausdrücke auf ‘Dinge’ in der Welt referieren, müssen dies<br />
keine konkreten Dinge wie Personen oder bestimmte Objekte sein.<br />
• Wir können z. B. problemlos auf fiktive Dinge referieren:<br />
Referenz auf fiktive Dinge<br />
(30) Humpty Dumpty �→<br />
(31) die rosa Grinsekatze �→<br />
• Ebenso ist der Referent mancher Ausdrücke ein sehr abstraktes ‘Ding’.
112 Semantik<br />
Referenz auf abstrakte ‘Gegenstände’<br />
(32) a. Peters Plan, morgen ins Schwimmbad zu fahren<br />
b. die Hoffnung auf den Weltfrieden<br />
c. das Jahr 2008<br />
d. 5<br />
• Die Referenz von Adjektiven, Nomen und einstelligen Verben ist ebenfalls recht<br />
abstrakt, auch wenn es intuitiv nicht so erscheint.<br />
• All diese Wortarten werden in der Semantik als Prädikate behandelt, die auf<br />
Mengen referieren:<br />
Referenz von Prädikaten<br />
(33) rot �→ { , , , , . . .}<br />
• ” rot“ referiert auf die Menge der roten Objekte.Ein Verb wie ” laufen“ referiert auf<br />
die Menge der Dinge, die laufen.<br />
• Die Referenz von zweistelligen Prädikaten kann folgerichtig als eine Menge geordneter<br />
Paare betrachtet werden:<br />
Referenz von zweistelligen Prädikaten<br />
⎧⎪<br />
⎫⎪<br />
(34) ist Schwester von �→ ⎨⟨<br />
¦, ¢⟩ , ⟨ ¦, �⟩ , . . . ⎬<br />
⎪⎩<br />
• Zum Schluss fragen wir uns, was die Referenz von Ausdrücken wie und, oder und<br />
nicht ist, die keine Objekte oder Mengen zu bezeichnen scheinen.<br />
• Dazu müssen wir zunächst die Frage beantworten, was die Referenz eines Satzes<br />
ist.<br />
• In der traditionellen Semantik wird davon ausgegangen, dass die Referenz eines<br />
Satzes sein Wahrheitswert ist.<br />
• Nach dieser Sichtweise bezeichnet ein Satz entweder den Wert ‘wahr’ (1), oder<br />
‘falsch’ (0).<br />
• Wir werden später bei der Besprechung der Satzsemantik noch genauer auf diese<br />
Position zurückkommen. Dann werden auch die Vorteile dieser etwas unintuitiven<br />
Ansicht klar werden.<br />
⎪⎭
Referenz von Sätzen<br />
(35) a. Hamburg ist die größte Stadt Norddeutschlands. �→ 1<br />
b. Hamburg liegt am Rhein. �→ 0<br />
Probleme der Referenztheorie 113<br />
• Um der Bedeutung von nicht auf die Sprünge zu kommen, vergleichen wir (35)<br />
mit (36):<br />
Referenz negierter Sätze<br />
(36) a. Hamburg ist nicht die größte Stadt Norddeutschlands. �→ 0<br />
b. Hamburg liegt nicht am Rhein. �→ 1<br />
• Wir wollen hier nicht ins Detail gehen, aber wir können an dieser Stelle festhalten,<br />
dass nicht zwar nicht referiert, aber eine Funktion ist, die den Wahrheitswert eines<br />
Satzes – d. h. seine Referenz – umgekehrt.<br />
• Somit haben wir ein erstes einfaches Beispiel für das Kompositionalitätsprinzip:<br />
Die Bedeutung eines negierten Satzes ergibt sich aus dem Wahrheitswert des Satzes<br />
und der Funktion der Negation.<br />
• Ähnliche Überlegungen lassen sich für Ausdrücke wie und aufstellen. (Überlegen<br />
Sie selbst...)<br />
• Wir behalten dies im Hinterkopf und kommen darauf ausführlich in der Satzsemantik<br />
zurück.<br />
5.5 Probleme der Referenztheorie<br />
• Die Bedeutungstheorie, die wir kennen gelernt haben, sieht die Bedeutung sprachlicher<br />
Ausdrücke in ihrer Beziehung zur Welt – ihrer Referenz – begründet.<br />
• Diese einfache Referenztheorie der Bedeutung führt jedoch zu einigen Problemen,<br />
die in zahlreichen klassischen Debatten der Sprachphilosophie und Semantik<br />
münden.<br />
• Da unsere einfache Theorie auf der Idee beruht, dass die Bedeutung von Ausdrücken<br />
ihr Referent ist, müssten zwei Ausdrücke, die den gleichen Referenten<br />
haben, die gleiche Bedeutung haben.<br />
gleicher Referent<br />
(37)<br />
a. Bundeskanzlerin �→<br />
b. Vorsitzende der CDU �→
114 Semantik<br />
• Wenn zwei Ausdrücke die gleiche Bedeutung haben, müsste man sie innerhalb<br />
eines Satzes problemlos austauschen können, ohne dass sich der Wahrheitswert<br />
ändert:<br />
Ersetzung bedeutungsgleicher Ausdrücke<br />
(38) a. Die Bundeskanzlerin ist Physikerin. �→ 1<br />
b. Die Vorsitzende der CDU ist Physikerin. �→ 1<br />
• Es gibt aber Sätze, in denen sich der Wahrheitswert ändert, obwohl die ausgetauschten<br />
Ausdrücke die gleiche Referenz haben.<br />
• Nehmen wir an, die beiden folgenden Ausdrücke referieren auf die gleiche Person:<br />
1. der Vorsitzende des Wohltätigkeitsvereins<br />
2. der Boss des Drogenhändlerrings<br />
• Nehmen wir zusätzlich an, dass Peter nicht weiß, dass es sich bei dem Drogenbaron<br />
und dem Wohltäter um dieselbe Person handelt...<br />
• Obwohl beide Ausdrücke den gleichen Referenten haben, kann sich der Wahrheitswert<br />
der folgenden Sätze unterscheiden:<br />
Wahrheitswertwechsel<br />
(39) a. Peter glaubt, dass der Vorsitzende des Wohltätigkeitsvereins ein gesetzestreuer<br />
Bürger ist.<br />
b. Peter glaubt, dass der Boss des Drogenhändlerrings ein gesetzestreuer<br />
Bürger ist.<br />
• Konstruktionen, wie glauben/wissen/denken, dass oder auch suchen, die den Erhalt<br />
des Wahrheitswertes nicht garantieren, nennt man opake oder intensionale<br />
Kontexte.<br />
• Ein weiteres problem für unsere naive Bedeutungstheorie stellen sog. Identitätsaussagen<br />
der Art ‘A ist B’(A = B) dar.<br />
Identitätsaussage A = B<br />
(40) a. Angela Merkel ist die Bundeskanzlerin.<br />
b. Angela Merkel ist die Vorsitzende der CDU.<br />
c. Die Bundeskanzlerin ist die Vorsitzende der CDU.<br />
• Das Problem dabei: Wenn die Bedeutung eines Ausdrucks nur sein Referent ist,<br />
dann müsste die Sätze (40) gleichbedeutend mit denen in (41) sein:
Identitätsaussage A = A<br />
(41) a. Angela Merkel ist Angela Merkel.<br />
b. Die Bundeskanzlerin ist die Bundeskanzlerin.<br />
c. Die Vorsitzende der CDU ist die Vorsitzende der CDU.<br />
Probleme der Referenztheorie 115<br />
• Nun scheint es aber einen entscheidenden Unterschied zwischen Aussagen der<br />
Form A = B und A = A zu geben.<br />
• Aussagen der Form A = B sind informativ! Wir können durch sie etwas Neues<br />
erfahren und über die Welt lernen.<br />
• Aussagen der Form A = A sind trivial wahr. Sie bieten uns keine neuen Informationen.<br />
• Philosophisch sagt man auch, dass A = B – wenn es denn wahr ist – kontingent<br />
wahr ist, d. h. ‘es hätte auch anders kommen können’ (vgl. Das Auto ist rot.)<br />
• A = A hingegen ist analytisch wahr, d. h. die Wahrheit ergibt sich schon aus<br />
begrifflichen Gründen (vgl. Dieser Junggeselle ist unverheiratet.)<br />
• Es muss also noch eine weitere Komponente geben, die neben dem Referenten,<br />
eine Rolle für die Bedeutung eines Ausdrucks spielt.<br />
• Diese Komponente wurde von Frege Sinn genannt – im Gegensatz zur Bedeutung<br />
(der Referenz).<br />
• Üblicher ist es jedoch in Anlehnung an Carnap von Intension und Extension zu<br />
sprechen.<br />
Abbildung 5.1: Rudolp Carnap (1891-1970)<br />
• Die Intension ist es, die einen Ausdruck quasi mit seinem Referenten verbindet.<br />
• Die Intension liefert für jede ‘Welt’ z. B. die Extension des Ausdrucks der Präsident<br />
der USA:
116 Semantik<br />
Intension und Extension<br />
(42) a. der Präsident der USA 2007<br />
�→ George W. Bush<br />
b. der Präsident der USA 2011<br />
�→ Barack Obama<br />
c. der Präsident der USA 2011′<br />
�→ John McCain<br />
d. der Präsident der USA 2017<br />
�→ ?<br />
• In unserer Welt im Mai 2011 ist die Extension von der Präsident der USA Barack<br />
Obama.<br />
• In unserer Welt im Jahr 2007 ist die Extension George W. Bush.<br />
• In einer alternativen möglichen Welt 2011’ ist die Extension John McCain<br />
• Die Extension für unsere Welt in 2017 kennen wir noch nicht.<br />
• Die Intension ist es, die es uns ermöglicht, den jeweiligen Referenten für eine Welt<br />
‘herauszupicken’.<br />
• Die Einführung der Intension in unsere Theorie hilft uns auch, die angesprochenen<br />
Probleme zu lösen.<br />
1. In den sog. opaken oder intensionalen Kontexten geht es um die Intension und<br />
nicht um die Extension. Ein Austausch von extensionsgleichen Ausdrücken, die<br />
eine unterschiedliche Intension haben, kann deshalb den Wahrheitswert ändern.<br />
2. Identitätsaussagen der Form A = B sind deshalb informativ, weil wir erfahren, dass<br />
die Extension zweier Ausdrücke gleich ist, was nicht trivial ist, wenn sie nicht die<br />
gleiche Intension haben.<br />
Aussagen der Form A = A hingegen haben die gleiche Intension und somit<br />
zwangsläufig die gleiche Extension.<br />
5.6 Bedeutung und Wahrheit<br />
• Bisher haben wir gelernt, was die Extension von Wörtern und Sätzen ist:<br />
1. Die Extension eines Wortes ist seine Referenz.<br />
2. Die Extension eines Satzes ist sein Wahrheitswert.<br />
• Nun werden wir sehen, wie sich die Bedeutung eines Satzes aus der Bedeutung<br />
seiner Bestandteile und der Art ihrer Zusammensetzung berechnen lässt<br />
(→ Kompositionalitätsprinzip).<br />
• Dabei greifen wir auf den Begriff der Wahrheit zurück.
Bedeutung und Wahrheit 117<br />
• Die Sichtweise, dass die Bedeutung von Sätzen mit dem Begriff der Wahrheit<br />
zusammenhängt, wurde z. B. von dem Philosophen Ludwig Wittgenstein so formuliert:<br />
Bedeutung und Wahrheit<br />
(aus Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus: §4.024)<br />
Einen Satz verstehen heißt, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist. (Man kann ihn also<br />
verstehen, ohne zu wissen, ob er wahr ist.)<br />
Abbildung 5.2: Ludwig Wittgenstein (1889-1951)<br />
• Es geht also darum, dass man die Bedingungen kennen muss, unter denen ein Satz<br />
wahr ist, und nicht den konkreten Wahrheitswert.<br />
• Dies bildet die Grundidee der Wahrheitsbedingungensemantik.<br />
Wahrheitsheitbedingen vs. Wahrheitswert<br />
(43) Ede trinkt gerade Kaffee.<br />
• Auch wenn wir nicht wissen, ob (43) wahr ist, wissen wir, was der Fall sein muss,<br />
damit er wahr ist:<br />
Ede trinkt gerade Kaffee.<br />
• Diese Grundidee wird in dem sogenannten T-Schema ausgedrückt, das auf den<br />
Logiker Alfred Tarski zurückgeht.<br />
T-Schema<br />
(T) Für jede Aussage p gilt: ” p“ ist wahr genau dann, wenn p.<br />
T-Sätze<br />
• In dieses Schema lassen sich beliebige Aussagen einsetzen:
118 Semantik<br />
(44) a.<br />
b.<br />
” Markus trinkt Kaffee“ ist wahr gdw. Markus Kaffee trinkt.<br />
” Peter schläft“ ist wahr gdw. Peter schläft.<br />
• Ziel der formalen Wahrheitsbedingungensemantik ist es, die Idee der Wahrheitsbedingungen,<br />
die durch die T-Sätze ausgedrückt werden, zu formalisieren.<br />
• Wichtig ist, dass in der formalen Wahrheitsbedingungensemantik Wahrheit meist<br />
relativ zu einem Modell oder einer Situation formuliert wird.<br />
• Das bedeutet, dass Sätze nie für sich genommen wahr oder falsch sind, sondern in<br />
Bezug auf eine Situation interpretiert werden.<br />
• Situationen können wir uns etwas vereinfacht als kleine Weltausschnitte vorstellen,<br />
zum Beispiel in Form einer kleinen Theaterszene.<br />
• In einer Situation gibt es eine bestimmte Menge von Individuen, die bestimmte<br />
Eigenschaften haben und in bestimmten Relationen zueinander stehen.<br />
• Stellen wir uns z. B. eine sehr einfache Situation vor, in der es vier Individuen<br />
gibt: Lisa, Bart, Maggie und Mr. Burns. Außerdem lachen Bart und Lisa und sonst<br />
niemand.<br />
Individuen, die lachen<br />
¦<br />
¢<br />
�<br />
�<br />
Situation S1<br />
• In Bezug auf diese Situation S1 können wir nun wie gewohnt die Extension der<br />
einfachen Ausdrücke (Wörter) festlegen.<br />
Abbildung 5.3: Alfred Tarski (1901-1983)
• Die Extension von z. B. Bart“ in S1 ist¦.<br />
”<br />
• Dies schreibt man in der Semantik oft wie folgt:<br />
�Bart� S1 =<br />
�Lisa� S1 =<br />
�Maggie� S1 =<br />
�Mr. Burns� S1 =<br />
¦<br />
¢<br />
�<br />
�<br />
Bedeutung und Wahrheit 119<br />
• Die doppelten eckigen Klammmern ” � �“ sollen dabei so viel wie ” die Bedeutung<br />
von“ heißen.<br />
• Während Ausdrücke wie ” Bart“ und ” Lisa“ Individuen in S1 bezeichnen, bezeichnet<br />
das Verb ” lachen“, wie wir bereits wissen, eine Menge von Individuen.<br />
• Wir haben unsere Situation so definiert, dass Bart und Lisa lachen.<br />
Individuen, die lachen<br />
¦<br />
¢<br />
• Wir können also schreiben:<br />
�<br />
�<br />
�lacht�S1 = { ¦, ¢}<br />
• Erinnern wir uns an das Kompositionalitätsprinzip:<br />
Situation S1<br />
Kompositionalitätsprinzip<br />
Die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks ergibt sich aus der Bedeutung seiner Einzelteile<br />
und der Art ihrer Zusammensetzung.
120 Semantik<br />
• Die Bedeutung der ” Einzelteile“ des Satzes Lisa lacht haben wir bereits bestimmt.<br />
• Damit unsere Semantik dem Kompositionalitätsprinzip folgt, müssen wir nun<br />
also noch Bezug auf die ” Art ihrer Zusammensetzung“ – also die Syntax – Bezug<br />
nehmen.<br />
• Um unsere Einführung einfach zu halten, gehen wir von folgender Struktur von<br />
(45) aus:<br />
(vereinfachte) Syntax von ” Lisa lacht“<br />
(45) S<br />
NP<br />
Lisa<br />
VP<br />
lacht<br />
• Dem Strukturbaum in (45) kann man folgende syntaktische Phrasenstrukturregel<br />
entnehmen:<br />
eine einfache Phrasenstrukturregel<br />
(46) S �→ NP VP<br />
• Um unsere Semantik nun kompositional aufzubauen, müssen wir eine entsprechende<br />
semantische Regel formulieren.<br />
• Um dies zu erreichen, müssen wir uns zunächst nochmals mit der Extension des<br />
Verbs ” lachen“ beschäftigen.<br />
• Bisher haben wir angenommen, dass ein einstelliges Verb eine Menge von Objekten<br />
bezeichnet.<br />
• Wir haben für unsere Situation also geschrieben:<br />
�lacht�S1 = { ¦, ¢}<br />
• Eine weitere Möglichkeit dies aufzuschreiben ist:<br />
�lacht� S1 = {x: x lacht in S1}<br />
• Für unsere Semantik ist es nun aber nützlicher, anstatt von Mengen von Funktionen<br />
zu reden.<br />
• Die Grundidee dahinter ist, dass wir statt von einer Menge von einer Funktion<br />
reden können, die ein Individuum als Argument nimmt und einen Wahrheitswert<br />
ergibt.
Bedeutung und Wahrheit 121<br />
• Die Funktion bildet dabei alle Individuen, die in die Extension des Ausdrucks<br />
fallen, auf den Wahrheitswert 1 ab, alle anderen auf 0.<br />
�lacht� als Funktion<br />
(47) �lacht� S1 = die Funktion f , so dass für jedes Individuum x in S gilt, f (x) = 1 gdw.<br />
x ∈ {x: x lacht in S1}<br />
• Um sich diese mathematische Redeweise ein wenig zu veranschaulichen, können<br />
wir uns eine Funktion wie folgt vorstellen:<br />
Funktion – metaphorisch<br />
Eine Funktion ist eine kleine Maschine, die wir mit einem passenden Objekt füttern<br />
müssen, damit es ein anderes Objekt ausspuckt.<br />
(48)<br />
• Die Extension unseres Verbs ” lachen“ ist also eine Funktion, die wir mit einem<br />
Individuum füttern müssen, damit ein Wahrheitswert herauskommt.<br />
• Werden die Individuen, die in S1 lachen, verfüttert, bekommen wir eine 1 heraus.<br />
• Füttern wir unsere Funktion hingegen mit nicht-lachenden Individuen, erhalten<br />
wir eine 0.<br />
¢<br />
�<br />
(49) �lacht�Si ⎡<br />
⎢<br />
= ⎢<br />
⎣<br />
�lacht� Si<br />
¦ ↦ 1<br />
� ↦ 0<br />
¢ ↦ 1<br />
� ↦ 0<br />
⎤<br />
⎥<br />
⎦<br />
• Nun, da wir uns die Bedeutung des Verbs ” lachen“ genauer angeschaut haben, ist<br />
es nicht mehr weit, bis wir die Bedeutung von ” Lisa lacht“ berechnen können.<br />
1<br />
0
122 Semantik<br />
• Erinnern wir uns nochmals an die Argumentstruktur, die wir im Syntax-<strong>Kapitel</strong><br />
für einstellige Verben angenommen haben:<br />
Argumentstruktur für lachen<br />
(50) NPNom1<br />
lachen(x1)<br />
• Der Eintrag in (50) liefert uns den entscheidenen Hinweis darauf, wie wir die<br />
Bedeutung des Verbs ” lachen“ mit der der NP ” Lisa“ semantisch verknüpfen<br />
müssen.<br />
• Wir müssen also die Bedeutung der NP für die Leerstelle x einsetzen.<br />
• Wir können zu der syntaktischen Phrasenstrukturregel in (51) nun also auch eine<br />
entsprechende semantische Regel angeben:<br />
eine einfache Phrasenstrukturregel<br />
(51) S �→ NP VP<br />
eine entsprechende, einfache semantische Regel: Funktionale Applikation<br />
(52) � [S NP VP] � = �VP�(�NP�)<br />
• Die Regel (52) besagt, dass die Bedeutung eines Satzes, der aus einer NP und VP<br />
besteht, gleich der Anwendung der Bedeutung der VP – also einer Funktion – auf<br />
die Bedeutung der NP ist.<br />
• In das Schema (52) können wir nun unseren Beispielsatz einsetzen...<br />
Anwendung der semantischen Regel auf ” Lisa lacht“<br />
(53) � [S Lisa lacht] � = �lacht�(�Lisa�)<br />
• Darüber hinaus hatten wir festgehalten:<br />
�lacht� als Funktion<br />
(54) �lacht� S1 = die Funktion f , so dass für jedes Individuum x in S gilt, f (x) = 1 gdw.<br />
x ∈ {x: x lacht in S1}<br />
• Wir erhalten dann aus (53) und (54):<br />
Wahrheitsbedingungen für ” Lisa lacht“
(55) � [S Lisa lacht] � S1 = 1 gdw. �Lisa� S1 ∈ {x: x lacht in S1}<br />
Bedeutung und Wahrheit 123<br />
• Zur Erinnerung: �p� S1 ist die Bedeutung des Ausdrucks ” p“ in der Situation S1.<br />
• Wir können für die Ausdrücke in doppelten eckigen Klammern die jeweilige<br />
Bedeutung hinschreiben.<br />
• Und da {x: x lacht in S1} die Menge der Lachenden ist, können wir auch diese<br />
hinschreiben:<br />
Wahrheitsbedingungen für ” Lisa lacht“<br />
(56) � [S Lisa lacht] �S1 = 1 gdw. ¢∈ { ¦, ¢}<br />
• Daraus ergibt sich dann, dass die Bedeutung von ” Lisa lacht“ gleich 1 ist.<br />
• Wir haben also die Bedeutung des Satzes korrekt und kompositional abgeleitet.<br />
In der Funktionschreibweise:<br />
⎡<br />
⎢<br />
(57) �Lisa lacht� = �lacht�(�Lisa�) = ⎢<br />
⎣<br />
¦ ↦ 1<br />
� ↦ 0<br />
¢ ↦ 1<br />
� ↦ 0<br />
⎤<br />
⎥ ⎛<br />
⎥ ⎜<br />
⎥ ⎜<br />
⎥ ⎜¢<br />
⎥ ⎜<br />
⎥ ⎜<br />
⎥ ⎝<br />
⎥<br />
⎦<br />
⎞<br />
⎟ = 1<br />
⎟<br />
⎠
<strong>Kapitel</strong> 6<br />
Pragmatik<br />
6.1 <strong>Einleitung</strong><br />
Grundlage der Vorlesung zur Pragmatik<br />
Dieser Teil der Vorlesung basiert auf folgender Einführug: Meibauer, Jörg (2001): Pragmatik.<br />
Eine Einführung.2., verbesserte Auflage. Tübingen: Stauffenburg.<br />
• Nachdem wir uns im letzten <strong>Kapitel</strong> mit der Semantik beschäftigt haben, wenden<br />
wir uns nun der anderen linguistischen Teildisziplin zu, die sich ebenfalls mit<br />
Aspekten der Bedeutung beschäftigt: der Pragmatik.<br />
• Wie wir gesehen haben, ist der Gegenstand der Pragmatik die kontextabhängige<br />
Bedeutung von Äußerungen.<br />
Pragmatik<br />
Gegenstand der Pragmatik sind die kontextabhängigen Bedeutungsaspekte.<br />
• Die Pragmatik steht damit in Opposition zur Semantik:<br />
Semantik<br />
Gegenstand der Semantik sind die kontextunabhängigen Bedeutungsaspekte.<br />
• Da wir die Semantik als Wahrheitsbedingungensemantik aufgefasst haben, können<br />
wir die Pragmatik in Abgrenzung dazu wie folgt definieren...<br />
Pragmatik vs. Semantik (Levinson 1983: 90)<br />
Pragmatics has as its topic those aspects of the meaning of utterances which cannot<br />
be accounted for by straightforward reference to the truth conditions of the sentences<br />
uttered. Put crudely: PRAGMATICS = MEANING − TRUTH CONDITIONS
126 Pragmatik<br />
• Die Formel oben geht auf Gerald Gazdar (1979) zurück, und wird deshalb auch oft<br />
nur Gazdar-Formel genannt.<br />
• Kontextabhängige Bedeutungsaspekte sind sehr vielfältig, weshalb die Pragmatik<br />
sehr unterschiedliche Phänomene behandelt.<br />
• Diese Phänomene reichen von Kontextabhängigkeiten auf der Ebene der Äußerungsbedeutung<br />
über individuelle Aspekte der Sprecherbedeutung einer Äußerung<br />
bis hin zu ‘globalen’ Phänomenen wie Diskursen.<br />
• Daraus resultiert, dass die Pragmatik ein recht inhomogenes Feld ist, in die formal<br />
orientierte Arbeiten zu Präsuppositionen, philosophische Werke zur Bedeutungstheorie<br />
ebenso wie Untersuchung zu Arzt-Patienten-Gesprächen fallen.<br />
• Einige wichtige Phänomene, die in der Pragmatik untersucht werden, lassen sich<br />
an folgendem Beispiel illustrieren:<br />
Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog:<br />
(1) Ich habe mich nie mit der Rechtschreibreform befaßt. Ich befasse mich nur mit<br />
wichtigen Dingen.<br />
1. Deixis Die Referenz von ich<br />
2. Implikatur ” Die Rechtschreibreform ist nicht wichtig“<br />
3. Präsupposition ” Es gibt eine Rechtschreibreform“<br />
4. Sprechakt Behauptung<br />
5. Konversationsanalyse Rolle der Äußerung im Gespräch<br />
6.2 Deixis<br />
Deixis<br />
Deixis ist eine spezielle Form sprachlicher Bezugnahme, die prinzipiell kontextabhängig<br />
ist.<br />
(2) Ich bin jetzt hier.
6.2.1 Typen der Deixis<br />
• Personaldeixis<br />
• Temporaldeixis<br />
• Lokaldeixis<br />
Personaldeixis<br />
• Identität der Gesprächspartner<br />
• Personalpronominalsystem<br />
Deixis 127<br />
• Worauf die Personalpronomen referieren, weiß man, wenn man die Äußerungssituation<br />
kennt.
128 Pragmatik<br />
Numerus und Personaldeixis<br />
1. Ps. ➞ Sprecher oder Sprechergruppe<br />
2. Ps. ➞ Hörer oder Hörergruppe<br />
3. Ps. ➞ nicht angesprochene Person(en), über die etwas ausgesagt wird<br />
Sozialdeixis<br />
bei Höflichkeit, Mittel um soziale Beziehungen auszudrücken; höflichkeitsbezogene<br />
Ausdrucksmittel ➞ Honorifikum, du vs. Sie<br />
Temporaldeixis<br />
betrifft die zeitliche Orientierung<br />
v.a. bei Adverbien zu erkennen, wie heute, gestern, morgen, aber auch vorhin, jetzt
morgen = Mittwoch (30.04.08)<br />
heute = Dienstag (29.04.08)<br />
Auch Tempora sind deiktisch!<br />
Mittwoch (30.04.08) = heute<br />
Deixis 129<br />
Man muss den Sprechzeitpunkt kennen, um zu wissen, auf welchen Zeitpunkt sich der<br />
Sprecher bezieht:<br />
(3) a. Boris Becker schlägt ein As.<br />
b. Boris Becker schlug ein As.<br />
c. Boris Becker wird ein As schlagen.<br />
Lokaldeixis<br />
betrifft die räumliche Orientierung der Gesprächspartner:<br />
• Lokaladverbien wie z.B. hier, da, dort<br />
• lokale Präpositionen wie z.B. vor, hinter, links<br />
• Demonstrativpronomina wie z.B. dieser, jener
130 Pragmatik<br />
hier = Honolulu hier = Deutschland<br />
dort = Honolulu<br />
zwei Referenzsysteme bei der Lokaldeixis<br />
• positional<br />
• dimensional<br />
Gemeinsamkeiten beider Referenzsysteme<br />
Die deiktische Referenz ist von der Position des Sprechers und des Hörers abhängig.<br />
Unterschiede<br />
Nur bei der dimensionalen Lokaldeixis spielt die Orientierung, d.h. die Wahrnehmungsrichtung<br />
eine Rolle.<br />
Verdeutlichung durch Redewiedergabe: Positionaldeixis<br />
(4) a. [A:] Hier scheint die Sonne.<br />
b. [B zu C:] Sie sagt, dort/da (*hier) scheint die Sonne.<br />
➞ positionaldeiktische Äußerungen müssen umgeformt wiedergegeben werden.<br />
Verdeutlichung durch Redewiedergabe: Dimensionaldeixis
(5) a. [A:] Der Stuhl steht rechts.<br />
b. [B zu C:] Sie sagte, der Stuhl stehe rechts (*links).<br />
Deixis 131<br />
➞ dimensionaldeiktische Äußerungen können nicht umgeformt wiedergegeben werden!<br />
Textdeixis<br />
Ausdrücke beziehen sich auf Teile des vorangehenden Textes.<br />
(6) a. Tack, tack, tack: so ging es die ganze Nacht.<br />
b. Wie wir oben gesehen haben, handelt es sich dabei um Textdeixis.<br />
6.2.2 Interpretationsprobleme<br />
Probleme der deiktischen Interpretation<br />
(7) a. Problem der Origo-Festlegung<br />
b. Koordinationsproblem<br />
c. Abgrenzungsproblem<br />
Origo-Festlegung<br />
a. Problem der Origo-Festlegung<br />
Was ist Origo?<br />
• deiktisches Zentrum, egozentrische Sichtweise<br />
• die Origo ist nicht von vornherein klar; sie muß daher durch die Beteiligten<br />
festgelegt werden.<br />
Welche 2 Sichtweisen existieren?<br />
intrinsisch: aus der Perspektive des Referenzobjektes<br />
extrinsisch: aus der Perspektive des Betrachters
132 Pragmatik<br />
(8) Der Ball ist vor dem Bus.<br />
Koordinationsproblem<br />
b. Koordinationsproblem<br />
• Normalerweise haben Sprecher und Hörer ein gemeinsames Zeigfeld ➞ umfasst<br />
deiktische Ausdrücke<br />
• In vielen Fällen liegt aber nur ein partielles Zeigfeld vor oder es muss vom Hörer<br />
rekonstruiert werden:<br />
(9) [Ansichtskarte:] Hier regnet es den ganzen Tag.<br />
• Sprecher/Schreiber und Hörer/Leser sind nicht in der gleichen Äußerungssituation:<br />
der Hörer muss die Umgebung des Sprecherorts rekonstruieren.<br />
• Sprecher und Hörer müssen den relevanten Sprecherort oder die relevante Sprechzeit<br />
miteinander koordinieren.<br />
Abgrenzungsproblem<br />
c. Abgrenzungsproblem<br />
• Der Raum, auf den sich hier beziehen kann, kann unterschiedlich groß ausfallen;<br />
die Zeitspanne, auf die sich jetzt beziehen kann, ebenfalls:<br />
(10) a. Hier geht es uns gut. ➞ Landau, Pfalz, Deutschland, Europa<br />
b. Früher war Verhütung ein Problem; jetzt hat man die Pille. ➞ heute, in den<br />
90ern, in den 50ern<br />
• Die gemeinte räumliche und zeitliche Ausdehnung muss abgegrenzt werden.
6.3 Referenz<br />
6.3.1 Referieren<br />
Welche referierenden Ausdrücke haben keinen deiktischen Charakter?<br />
Eigennamen: Boris Becker, Montblanc, Struppi<br />
Referenz 133<br />
definite Kennzeichnungen: der Mann von Nastassja, der höchste Berg Europas, der<br />
Hund von Tim<br />
➞ Eigennamen haben eine ” feste“ Referenz, sie identifizieren genau ein Individuum<br />
dieses Namens.<br />
➞ Definite Kennzeichnungen sind zusammengesetzte Ausdrücke, die ein Individuum<br />
aufgrund seiner Eigenschaften identifizieren.<br />
Welche Ausdrücke können nicht referieren?<br />
Gattungsnamen: Katze, Berg, etc.<br />
Substanznamen: Milch, Holz, etc.<br />
➞ Diese Ausdrücke referieren nur zusammen mit anderen Ausdrücken wie Artikeln,<br />
Quantoren (zwei, manche, einige, viele), Possessivpronomen etc.:<br />
• unsere Katze, der Berg, auf dem ich wohne<br />
• diese Milch, das Holz dort drüben<br />
Zeichen, dass der Sprecher einen bestimmten Referenten im Sinn hat<br />
• bestimmter Artikel ABER:<br />
– Referenz ist auch mit indefiniten Nominalphrasen möglich: Da draußen ist<br />
ein Mann, der auf dich wartet<br />
• Definite Nominalphrasen müssen nicht immer referieren: Der Bundeskanzler<br />
bestimmt die Richtlinien der Politik.<br />
• Es ist möglich, mit zwei unterschiedlichen definiten Kennzeichnungen auf das<br />
gleiche Individuum zu referieren:
134 Pragmatik<br />
Attributiver und referentieller Gebrauch<br />
(11) Der Ministerpräsident muss sich einiges gefallen lassen.<br />
➞ Zwei Gebrauchsweisen der NP der Ministerpräsident<br />
referentiell: Kurt Beck muss sich einiges gefallen lassen.<br />
attributiv: Wer auch immer Ministerpräsident ist, muss sich einiges gefallen lassen.<br />
Referenz<br />
Sprachliche Bezugnahme auf Personen, Gegenstände, Sachverhalte<br />
Referieren als eine sprachliche Handlung (Searle 1971)<br />
• Sprachliche Handlungen sind Teil von Konventionen und können gelingen und<br />
misslingen.<br />
• Damit sie gelingen oder glücken, gibt es Bedingungen, die ein Sprecher einhalten<br />
muss ➞ Glückensbedingungen<br />
Glückensbedingungen für referentielle Akte<br />
1. Der Sprecher muss sich eines Ausdrucks bedienen, der für seine Referenzabsicht<br />
geeignet ist.<br />
2. Bedingung der Existenz: Der Gegenstand, auf den referiert wird, muss zum Zeitpunkt<br />
der Äußerung in einer aktuellen oder möglichen Welt als existent angenommen<br />
werden, und zwar von Sprecher und Hörer.<br />
3. Bedingung der Identifizierung: Der zur Referenz verwendete Ausdruck muss<br />
den gemeinten Gegenstand eindeutig identifizieren, d.h. nur auf einen als existent<br />
betrachteten Gegenstand zutreffen.<br />
4. Der Sprecher muss einen Ausdruck verwenden, der dem Hörer die Identifizierung<br />
des gemeinten Gegenstands ermöglicht.
Verstoß gegen Glückensbedingungen<br />
(12) [Schaufenster: Ein roter und ein grüner Pulli]<br />
A: *Ich nehme einen/den.<br />
➞ Verstoß gegen Bedingung 1<br />
(13) [Schaufenster ohne Pullis]<br />
A: *Ich nehme einen/den.<br />
➞ Verstoß gegen Bedingung 2<br />
(14) [Schaufenster: 4 rote mit unterschiedlichen Mustern]<br />
A: *Ich nehme den roten.<br />
➞ Verstoß gegen Bedingung 3<br />
(15) [Hörer sieht mehrere Pullis zum ersten Mal]<br />
A: *Ich nehme den, den ich gestern schon anprobiert habe.<br />
➞ Verstoß Bedingung 4, da identifiziert, aber nicht vor dem Hörer<br />
6.3.2 Arten der Referenz<br />
Anaphorische Referenz<br />
Referenz 135<br />
• Anaphern beziehen sich zurück auf andere Ausdrücke im Text = Antezedenten<br />
• Sie referieren auf das gleiche Individuum = Koreferenz<br />
Kataphorische Referenz<br />
Kataphern vorverweisen auf einen anderen Ausdruck.<br />
6.3.3 Anaphorische Relation<br />
Anaphorische Relationen<br />
(16) Ein Mann kommt ins Zimmer. Der Kerl sah ungepflegt aus.<br />
➞ Anapher durch semantisches Wissen des Hörers erschlossen<br />
(17) Nachts stürzt ein Mann auf die Polizeiwache und berichtet erregt, daß er soeben<br />
im Dunkeln an seiner Gartenpforte niedergeschlagen worden sei. Ein Polizist<br />
wird beauftragt, am Ort des Überfalls Spuren zu sichern. Kurz darauf kommt er<br />
mit einer Riesenbeule am Kopf zurück: ” Ich habe den Fall aufgeklärt.“ ” Bravo“,<br />
sagt sein Chef, ” und wie?“ ” Ich bin auch auf die Harke getreten!“
136 Pragmatik<br />
6.3.4 Indirekte Anapher<br />
Indirekte Anapher<br />
• Es gibt keinen Antezedenten, sondern einen ” Auslöser“.<br />
• Antezedenten = Harke, Auslöser, dass er soeben im Dunkeln an seiner Gartenpforte<br />
niedergeschlagen wurde<br />
• Auslöser und Anapher stehen in einer ” assoziativen“ Beziehung.<br />
• Man weiß, dass man nicht auf Harken treten sollte, da man sich dann den Stiel an<br />
den Kopf schlagen kann = Weltwissen<br />
• Eine Ersetzung der Anapher durch eine pronominale Anapher ist nicht möglich.<br />
• Zur Auflösung der anaphorischen Relation ist nicht nur sprachliches Wissen,<br />
sondern auch Wissen über die Welt nötig.<br />
• Solche Schlussprozesse sind komplexer Art, da verschiedene Wissensbereiche<br />
beteiligt sind.<br />
6.4 Kooperation und Implikaturen<br />
• Sprecher und Hörer müssen im Gespräch oft eng zusammenarbeiten, z. B. wenn<br />
es um Deixis und Referenzzuweisung geht:<br />
Zusammenarbeit zwischen Sprecher und Hörer<br />
(18) Mein Porsche muss dringend in die Werkstatt.<br />
• Man geht als Hörer von (2) davon aus, ...<br />
1. dass der Porsche dem Sprecher gehört.<br />
2. dass der Sprecher nicht ” Porsche“ sagt, wenn er z. B. einen Jaguar meint.<br />
➞ Sprecher und Hörer kooperieren in der Kommunikation.<br />
• Dies scheint allerdings nicht immer der Fall zu sein. Ein Beispiel:<br />
Joschka Fischer auf die Frage, welchen SPD-Kanzlerkandidaten seine Partei bevorzuge:<br />
(19) Wir haben uns auf der Klausurtagung für August Bebel
Abbildung 6.1: H. Paul Grice (1913-1988)<br />
• August Bebel war zum Sprechzeitpunkt schon lange tot.<br />
• Hat Joschka Fischer die Reporter dreist belogen?<br />
• Diese Lüge wäre allerdings zu offensichtlich.<br />
Kooperation und Implikaturen 137<br />
• Fischer wollte wohl etwas anderes zu verstehen geben, z. B., dass man sich nicht<br />
einigen konnte, oder dass alle potentiellen Bewerber abgelehnt wurden.<br />
• Man kann schließen, dass Fischer nur scheinbar nicht kooperativ war.<br />
• Wir verhalten uns in der Kommunikation grundsätzlich kooperativ.<br />
• Die Annahme, dass unsere Gesprächspartner kooperativ sind, ermöglicht uns<br />
Schlussfolgerungen, die weit über das wörtlich Gesagte hinausgehen.<br />
• Diese Ideen gehen auf den Sprachphilosophen Paul Grice zurück.<br />
Kooperationsprinzip und Konversationsmaximen<br />
• Grundlagen der rationalen Kommunikation sind nach Grice:<br />
1. das Kooperationsprinzip<br />
2. die Konversationsmaximen<br />
• Schauen wir uns diese beiden Grundlagen genauer an ...<br />
• Das Kooperationsprinzip bildet die Grundlage jeder rationalen Kommunikation.<br />
Kooperationsprinzip<br />
Make your conversational contribution such as is required, at the stage at which it occurs,<br />
by the accepted purpose or direction of the talk exchange in which you are engaged.<br />
Kooperationsprinzip (Übersetzung)<br />
Mach deinen Beitrag zur Konversation genau so, wie es der Punkt der Konversation, an<br />
dem er erfolgt, erfordert, wobei das, was erforderlich ist, bestimmt ist durch den Zweck<br />
oder die Richtung des Gesprächs, in dem du dich befindest.
138 Pragmatik<br />
• Das Kooperationsprinzip wird weiter spezifiziert durch vier Konversationsmaximen.<br />
Konversationsmaximen<br />
1. Maxime der Quantität<br />
2. Maxime der Qualität<br />
3. Maxime der Relevanz (Relation)<br />
4. Maxime der Modalität (Art und Weise)
Maxime der Quantität<br />
Kooperation und Implikaturen 139<br />
1. Make your contribution as informative as is required (for the current purposes of<br />
exchange). Mach deinen Beitrag so informativ, wie es der gegenwärtige Konversationszweck<br />
verlangt.<br />
2. Do not make your contribution more informative than is required. Mach deinen<br />
Beitrag nicht informativer, als verlangt.<br />
Maxime der Qualität<br />
Try to make your contribution one that is true. Versuche, einen wahren Beitrag zu<br />
geben.<br />
1. Do not say what you believe to be false. Sage nichts, was du für falsch hältst.<br />
2. Do not say that for which you lack adequate evidence. Sage nichts, für dessen<br />
Wahrheit du keine adäquaten Gründe/Beweismittel anführen kannst.<br />
Maxime der Relevanz<br />
Be relevant.Sei relevant.<br />
Maxime der Modalität<br />
Be perspicuous. Sei klar.<br />
1. Avoid obscurity of expression. Vermeide obskure Ausdrucksweise.<br />
2. Avoid ambiguity. Vermeide Doppeldeutigkeit.<br />
3. Be brief (avoid unnecessary prolixity). Sei kurz (vermeide unnötige Weitschweifigkeit).<br />
4. Be orderly. Verwende die richtige Reihenfolge.<br />
Funktion der Maximen<br />
Die Maximen sind keine Anleitungen zu richtigem kommunikativem Verhalten. Es handelt<br />
sich also nicht um moralische Normen, sondern um ➞ Regeln rationalen Verhaltens.<br />
Beispiel Qualitätsmaxime<br />
Es geht nicht um den moralischen Status von Lügen, sondern darum, dass die Kommunikation<br />
erheblich erschwert wäre, wenn wir immer zunächst annehmen, unser<br />
Gesprächspartner könnte gerade lügen.<br />
(20) a. Anton: Wie spät ist es?<br />
b. Berta: Der Postbote war gerade da.<br />
• Die wörtliche Bedeutung von dem, was Bertas gesagt hat, enthält folgende Informationen:
140 Pragmatik<br />
➞ ” Der Postbote war gerade da.“<br />
• Je nach Situation kann Berta aber mehr meinen:<br />
➞ ” Es ist kurz nach 9 Uhr.“<br />
• Diese zusätzliche Bedeutung steckt nicht in der wörtlichen Bedeutung von Bertas<br />
Äußerung, sondern muss aus dem Kontext erschlossen werden.<br />
6.4.1 Konversationelle Implikaturen<br />
Konversationelle Implikaturen<br />
Solche Schlüsse heißen nach Grice konversationelle Implikaturen.<br />
Schlussprozess<br />
Vorgang zum Ermitteln von konversationellen Implikaturen<br />
Schlussprozess für dieses Beispiel<br />
1. Schritt:<br />
• Verletzung der Maxime der Relation: die Antwort hat auf den ersten Blick nichts<br />
mit der Frage zu tun.<br />
• Verletzung der Maxime der Quantität: Berta hat mehr gesagt, als nötig.<br />
➞ Trotzdem gibt es keinen Grund zur Annahme, dass Berta das Kooperationsprinzip<br />
bzw. die Konversationsmaximen verletzen wollte.<br />
Schlussprozess für dieses Beispiel<br />
2. Schritt:<br />
• Anton weiß, dass der Postbote üblicherweise um 9 Uhr die Post bringt, und er<br />
weiß, dass Berta das auch weiß.<br />
• Anton kann die Äußerung von Berta nur dann als relevant ansehen (und folglich<br />
annehmen, dass Berta das Kooperationsprinzip einhalten will), wenn er annimmt,<br />
dass Berta die genaue Uhrzeit nicht weiß, aber weiß, dass der Postbote gerade da<br />
war.<br />
Schlussprozess für dieses Beispiel<br />
3. Schritt:<br />
• Berta weiß, dass Anton diese Implikatur herausarbeiten kann,und sie hat Anton<br />
nicht daran gehindert, es zu tun.<br />
• Also nimmt Anton an, dass Berta implikatieren wollte, dass es so spät ist, wie<br />
immer wenn der Postbote kommt.
6.4.2 Auslöser für Implikaturen<br />
Auslöser für Implikaturen<br />
scheinbare Verletzung/Ausbeutung des KPs oder der Maximen<br />
Schlussprozess Implikaturen<br />
Befolgung des KPs oder der Maximen<br />
Verletzung von Maximen<br />
Verletzung der Qualitätsmaxime:<br />
(21) A: Ich habe gestern 325 Liegestützen gemacht.<br />
B: Klar, und ich bin der Kaiser von China.<br />
Verletzung gegen die Quantitätsmaxime<br />
Kooperation und Implikaturen 141<br />
(22) A: Warum sollen wir nicht verkleidet zur Arbeit kommen?<br />
B: Arbeit ist Arbeit und Fasching ist Fasching. +¿ ’ Faschingskostüme vertragen<br />
sich nicht mit der gewünschten Ernsthaftigkeit bei der Arbeit.‘<br />
Tautologien<br />
” x ist x“ ➞ immer wahr und deshalb uninformativ, lösen jedoch konversationelle Implikaturen<br />
aus<br />
Verletzung der Modalitätsmaxime<br />
(23) Papa: Sollen wir den Kindern was Süßes kaufen?<br />
Mama: Aber kein E-I-S.<br />
+¿ ’ Wenn die Kinder das Wort Eis hören, wollen sie gerade das.‘<br />
(24) Frau Sänger brachte Töne aus einer Arie hervor.+¿ ’ Sie sang nicht richtig.‘<br />
Verletzung der Relevanzmaxime<br />
(25) A: Was hältst du eigentlich von Marias neuem Freund?<br />
B: Ich habe gerade einen Artikel zur Relevanzmaxime gelesen.
142 Pragmatik<br />
Ironie – Verletzung der Qualitätsmaxime<br />
(26) [Streitgespräch zwischen dem Unternehmervertreter Hans Joachim Langmann<br />
und dem Umweltminister Joschka Fischer, ZEIT 29.8.1986]<br />
L.: Also, da wird doch ein Problem künstlich erzeugt, das so gar nicht besteht.<br />
Es ist eine nicht belegbare Behauptung, daß zum Beispiel aus unseren<br />
Müllverbrennungsanlagen so viel Dioxin kommt, das die Gesundheit<br />
gefährdet. Menschen sind dem Dioxin ausgesetzt, seit es Feuer – seit es<br />
Lagerfeuer – gibt...<br />
F.: Ich finde es ja richtig herzig, daß Sie die heutige Chlorchemie mit einem<br />
Lagerfeuer vergleichen. +¿ ’ Es ist unverantwortlich, die heutige Chlorchemie<br />
mit einem Lagerfeuer zu vergleichen.‘<br />
Befolgung von Maximen<br />
Befolgung der Maxime der Modalität<br />
(27) Heinz trank den Schnaps und ging in die Kneipe.<br />
Auslöser der Implikatur<br />
Konjunktion und ➞ Reihenfolge der Konjunkte im Satz<br />
(28) Heinz ging in die Kneipe und trank den Schnaps. +¿ ’ Hans trank den Schnaps in<br />
der Kneipe‘<br />
Befolgung der Quantitätsmaxime<br />
(29) Einige Autoverkäufer sind Betrüger., ja sogar alle.<br />
• Der Sprecher in (29) befolgt die Maxime und sagt nur so viel, wie er tatsächlich<br />
meint.<br />
• Die Implikatur kann trotzdem gestrichen werden.<br />
• Solche Implikaturen heißen skalare Implikaturen.<br />
• Die Skala hier: <br />
• Linksstehende Ausdrücke sind ‘stärker’ (informativer) als rechtsstehende.<br />
• Skalare Implikaturen sind interessant, da sie gewisse pragmatische Regularitäten<br />
aufzeigen.
Kooperation und Implikaturen 143<br />
skalare Implikaturen<br />
Bei einer Skala < p, q > gilt: Aus der Behauptung, dass q, läßt sich die Implikatur ¬p<br />
ableiten.<br />
Beispiele für Skalen<br />
(30) , , ,, ...<br />
Befolgung der Maxime der Qualität<br />
(31) Hans hat alle Romane von Karl May gelesen.<br />
Befolgung der Maxime der Relevanz<br />
(32) a. Anna: Mir ist gerade das Benzin ausgegangen.<br />
b. Berta: Gleich um die Ecke ist eine Tankstelle.<br />
• Halten wir fest: Nach Grice kann man die Bedeutung, die ein Sprecher mittels<br />
einer Äußerung kommuniziert (Sprecherbedeutung), in zwei Teile aufteilen.<br />
(33) Sprecherbedeutung nach Grice (Speaker Meaning) I<br />
speaker meaning<br />
what is said what is implicated<br />
• Die Entdeckung des Kooperationsprinzips und der Konversationsmaximen und<br />
die Entwicklung der Implikaturentheorie gilt als Meilenstein der Pragmatik.<br />
• Seitdem lassen sich in der pragmatischen Forschung etliche Veränderungsvorschläge<br />
des Grice’schen Ansatzes finden.<br />
• Erweiterung der Maximen: z. B. Maximen ästhetischer, sozialer oder moralischer<br />
Art. Zum Beispiel findet man bei Leech (1983) konkrete Vorschläge für Höflichkeit.<br />
• Reduktion der Maximen, z. B.: Levinson (1987): drei Maximen (Q, I, M) Sperber<br />
& Wilson (1986): nur eine Maxime (Relevanz)<br />
6.4.3 Implikaturentests<br />
• Im Folgenden werden wir uns nun fragen, was für Eigenschaften konversationelle<br />
Implikaturen ausmachen.<br />
• Eine Liste solcher Eigenschaften ist wünschenwert, damit wir eine geeignete Diagnostik<br />
haben, um konversationelle Implikaturen erkennen und von anderen<br />
Bedeutungsaspekten unterscheiden zu können.
144 Pragmatik<br />
Rekonstruierbarkeit<br />
• Eine Eigenschaft konversationeller Implikaturen kennen wir bereits:<br />
• Konversationelle Implikaturen lassen sich durch einen Schlussprozess ermitteln.<br />
Rekonstruierbarkeit<br />
Konversationelle Implikaturen sind aus der wörtlichen Bedeutung des geäußerten Satzes,<br />
dem Kooperationsprinzip und seinen Konversationsmaximen und dem jeweiligen<br />
Kontext mithilfe eines Schlußprozesses rekonstruierbar.<br />
(34) A: Mein Benzin ist alle.<br />
B: Um die Ecke ist eine Tankstelle.+¿ ’ An der Tankstelle kann A Benzin bekommen.‘<br />
Schlussprozess für diese Implikatur<br />
• B hat gesagt, dass gleich um die Ecke eine Tankstelle ist.<br />
• Allem Anschein nach verhält sich B kooperativ.<br />
• Doch nur wenn B denkt, dass ich mich dort mit Benzin versorgen kann, folgt B der Maxime<br />
der Relation.<br />
• Nun weiß B (und ich weiß, dass B weiß), dass ich erkennen kann, dass die Annahme, dass B<br />
denkt, dass ich mich dort mit Benzin versorgen kann, erforderlich ist, damit B’s Äußerung<br />
kooperativ war.<br />
• B hat nichts getan, um mich davon abzuhalten, zu glauben, dass ich mich dort mit Benzin<br />
versorgen kann.<br />
• B beabsichtigt offensichtlich, dass ich glaube, dass ich mich dort mit Benzin versorgen kann.<br />
• Folglich implikatiert B konversationell, dass ich mich dort mit Benzin versorgen kann.<br />
Schlussprozess – allgemeines Schema<br />
• B hat gesagt, dass p.<br />
• Man kann annehmen, dass B die Maximen oder zumindest doch das KP beachtet.<br />
• Nur wenn B denkt, dass q, folgt B den Maximen bzw. dem KP.<br />
• B weiß (und ich weiß, dass B weiß), dass ich erkennen kann, dass die Annahme,<br />
dass B denkt, dass q, erforderlich ist, wenn B das KP beachten will.<br />
• B hat nichts getan, um mich davon abzuhalten, zu glauben, dass q.<br />
• B beabsichtigt, dass ich glaube, dass q.<br />
• Also implikatiert B konversationell, dass q.
Kontextabhängigkeit<br />
Kooperation und Implikaturen 145<br />
Kontextabhängigkeit<br />
Konversatzionelle Implikaturen sind kontextabhängig. Die gleiche Äußerung kann in<br />
verschiedenen Kontexten unterschiedliche Implikaturen auslösen.<br />
(35) a. Anna: Und wie geht es Charlie in seinem neuen Job?<br />
b. Berta: Ach, bisher gut; im Gefängnis ist er noch nicht gelandet.+¿ ’ Charlie<br />
ist potentiell unehrlich.‘<br />
• Die Implikatur ändert sich, wenn sich der Kontext ändert, auch wenn die Äußerung<br />
dieselbe ist.<br />
Ein anderer Kontext<br />
(36) [Anna und Berta sprechen über einen gemeinsamen Freund Charlie, der jetzt in<br />
einer Bank arbeitet, die eine Geldwaschanlage der Mafia ist.]<br />
a. Anna: Und wie geht es Charlie in seinem neuen Job?<br />
b. Berta: Ach, bisher gut; im Gefängnis ist er noch nicht gelandet. +¿ ’ Charlie<br />
ist in Gefahr.‘<br />
Streichbarkeit<br />
• Statt eines anderen Kontextes kann auch ein sprachlicher Zusatz in der Lage sein,<br />
eine Implikatur zu löschen:<br />
Streichung von Implikaturen<br />
(37) Einige Linguisten sind cool., ja sogar alle. + > Nicht alle Linguisten sind cool.<br />
+ > Nicht alle Linguisten sind cool.<br />
• Dies ist eine sehr wichtige, weitere Eigenschaft:<br />
Streichbarkeit<br />
Implikaturen sind streichbar, d. h. sie lassen sich im selben Kontext durch einen Zusatz<br />
zurücknehmen, ohne dass dies widersprüchlich wirkt.<br />
• Mit der Rekonstruierbarkeit, Kontextabhängigkeit und Streichbarkeit haben wir<br />
nun drei wichtige Eigenschaften konversationeller Implikaturen gefunden, die uns<br />
gleichzeitig auch als Test dienen können.<br />
• Diese Eigenschaften sind zugleich Abgrenzungskriterien gegenüber wörtlicher<br />
Bedeutung:
146 Pragmatik<br />
wörtliche Bedeutung vs. konversationelle Implikaturen<br />
wörtliche konversationelle<br />
Bedeutung Implikaturen<br />
rekonstruierbar ✗ ✓<br />
kontextabhängig ✗ ✓<br />
streichbar ✗ ✓<br />
• Zusätzlich können diese Eigenschaften zur Unterscheidung zwischen Semantik<br />
und Pragmatik dienen.<br />
6.5 Sprechakte<br />
Sprechakte<br />
• Mit ” Sprechakt“ werden sprachliche Handlungen eines bestimmten Typs bezeichnet:<br />
• z.B. Fragen, Aufforderungen, Behauptungen, etc.<br />
• Die Sprechakttheorie wird von manchen Forschern als Kernstück der Pragmatik<br />
bezeichnet.<br />
➞ Pragmatik ohne den Begriff der sprachlichen Handlung nicht denkbar<br />
Äußerungen als Handlungen<br />
Warum Sprechakttheorie? ➞ Äußerungen sind – jedenfalls wenn sie intentional sind –<br />
bestimmte Handlungen.<br />
Beleidigung<br />
(38) [Angestellter zum Chef]: Arschloch!<br />
Landesarbeitsgerichts Hessen: Arbeitnehmer riskiert die fristlose Kündigung, wenn er<br />
einen Geschäftsführer als Arschloch bezeichnet.<br />
Beleidigungen sind Handlungen<br />
Bei erfolgreichen Beleidungen entsteht ein Schaden für den Beteiligten. ➞ Beleidigungen<br />
sind Handlungen, die sich prinzipiell nicht von anderen Handlungen, z.B. eine<br />
Fensterscheibe einschlagen, unterscheiden.<br />
Unterschied zu anderen Handlungen?<br />
• Sie sind sprachliche Handlungen.<br />
• Sie verfügen somit über eine bestimmte sprachliche Struktur, die durch die Grammatik<br />
festgelegt ist.
Sprechakttheorie<br />
Die Sprechakttheorie untersucht die Relation zwischen ...<br />
1. einer Äußerung (eines Satzes mit einer sprachlichen Struktur) und<br />
Der Sprechakt 147<br />
2. einem sprachlichen Handlungstyp (Sprechakttyp) in einer Äußerungssituation.<br />
➞ Sprechakttheorie setzt grammatische Kenntnisse voraus.<br />
Verhältnis Sprache – Sprechakte<br />
Nicht jeder Satz kann zur Realisierung jedes beliebigen Sprechakts verwendet werden.<br />
(39) Du bist nicht nett zu mir gewesen!<br />
➞ Behauptung<br />
➞ Vorwurf<br />
➞ Vorschlag<br />
➞ Kompliment<br />
6.6 Der Sprechakt<br />
6.6.1 Sprechakttheoretiker<br />
Wichtige Sprechakttheoretiker<br />
John L. Austin<br />
• How to Do Things with Words (1962)<br />
• Begründer der Sprechakttheorie<br />
John R. Searle<br />
• Speech Acts. An Essay in Language Philosophy (1969)<br />
• Searle stellt den Sprechakt als Analyseeinheit neben Einheiten wie dem Phonem,<br />
dem Morphem, dem Wort und dem Satz.<br />
• Diese Einheiten dienen zur Realisierung von Sprechakten.
148 Pragmatik<br />
6.6.2 Teilakte<br />
Sprechakt ➞ 3 Teilakte<br />
Nach Searle besteht jeder Sprechakt aus drei Teilakten. Manchmal wird hier noch ein<br />
vierter Teilakt genannt.<br />
1. Äußerungsakt<br />
Äußerung von Wörtern (Morphemen, Sätzen)<br />
2. Propositionaler Akt<br />
Referenz und Prädikation<br />
3. Illokutionärer Akt<br />
Behaupten, Fragen, Befehlen, Versprechen etc.<br />
4. Perlokutionärer Akt<br />
Wirkungen, die der Sprecher durch seinen Sprechakt hervorbringt<br />
1. Äußerungsakt<br />
• Äußerung von sprachlichen Einheiten (Lauten, Wörtern, Sätzen), die den grammatischen<br />
Bedingungen der Sprache entsprechen.<br />
• Kerngebiete: Phonetik/Phonologie, Morphologie und Syntax<br />
• nach Searle ein Akt<br />
• nach Austin zwei Akte:<br />
a) phonetischer Akt (Äußerung von Sprachlauten, wie sie in der Phonetik<br />
beschrieben werden)<br />
b) phatischer Akt (Äußerung von Wörtern, die nach den grammatischen Regeln<br />
einer Sprache kombiniert werden)<br />
2. Propositionaler Akt<br />
(Proposition: Inhalt eines Satzes, den man nach dem Gehalt der Wahrheit erfassen kann)<br />
• Mit dem propositionalen Akt sagt man etwas über die Welt aus. In dem Satz<br />
Hans schläft referiert der Sprecher auf das Individuum Hans und spricht ihm die<br />
Eigenschaft des Schlafens zu. Propositionen können (in einer bestimmten Welt)<br />
wahr oder falsch sein.<br />
• Kerngebiet: Semantik<br />
• Nach Austin bilden der Äußerungs- und der propositionale Akt zusammen den<br />
lokutionären Akt.
3. Illokutionärer Akt<br />
Der Sprechakt 149<br />
• Mit Äußerungen eines Satzes wird nicht nur etwas über die Welt ausgesagt, sondern<br />
es wird auch eine Handlung ausgeführt.<br />
• Der Sprecher eines Satzes kann den Adressaten durch die Äußerung eines Satzes z.<br />
B. warnen, informieren, ihm von etwas abraten ....<br />
• Die Handlung, die der Sprecher vollzieht, indem er etwas sagt, heißt illokutionärer<br />
Akt.<br />
• Kerngebiet: Pragmatik<br />
4. Perlokutionärer Akt<br />
• Mit Äußerungen kann man jemanden einschüchtern, überzeugen, umstimmen,<br />
beleidigen, ...<br />
• Die kausalen Effekte, die der Sprecher beim Adressaten durch ihre Äußerung<br />
erzielt, nennt man perlokutionären Akt.<br />
• Ziel des illokutionären Aktes des Drohens ist, dass der Adressat sich bedroht fühlt.<br />
Diese Wirkung ist der perlokutionäre Akt.<br />
• Kerngebiet: Pragmatik<br />
Übersicht über die Teilakte eines Sprechakts<br />
Teilakt Lokutionärer Illokutionärer Perlokutionärer<br />
Akt Akt Akt<br />
Äußerungsakt Propositionaler Akt<br />
Resultat Äußerung Proposition Illokution Perlokution<br />
(Laute, Wörter, Sätze) (Aussagen über (Handlungswert) (Intendierte Reaktion<br />
die Welt) des Hörers)<br />
Beurteilungs- (nicht) wahr oder (nicht) (nicht)<br />
kriterien grammatisch falsch geglückt erfolgreich<br />
Beispiel /de5 hunt ıst bısıç/ . . . , dass der MITTEILUNG Der Hörer weiß, was<br />
Der Hund ist bissig. Hund bissig ist oder der Sprecher weiß<br />
WARNUNG Hörer lässt von<br />
Vorhaben ab
150 Pragmatik<br />
6.7 Sprechaktklassen<br />
Sprechaktklassifikation<br />
Drei Kriterien zur Sprechaktklassifikation<br />
Searle verwendet drei wesentliche Kriterien, die erfasst werden durch ...<br />
1. die wesentliche Regel<br />
2. die Anpassungsrichtung<br />
3. der psychische Zustand<br />
Anpassungsrichtung<br />
Das Kriterium der Anpassungsrichtung erläutert Searle anhand der Geschichte vom<br />
Detektiv im Supermarkt.<br />
(40) a. Ein Mann geht einkaufen. Er legt in seinen Einkaufswagen alles, was auf<br />
seinem Einkaufzettel steht. ➞ Welt-an-Wort<br />
b. Eine Detektivin, die ihm folgt, notiert sich, was der Mann in seinen Einkaufswagen<br />
legt. ➞ Wort-an-Welt<br />
Die Anpassungsrichtung sagt etwas über die Funktion propositionaler Gehalte: sollen<br />
sie erfüllt werden, oder sollen sie etwas repräsentieren.<br />
Sprechaktklassen<br />
Searle unterscheidet fünf Klassen illokutionärer Akte:<br />
1. Assertive<br />
Wesentliche Regel: Der Sprecher legt sich (in unterschiedlichem Maße) auf die Wahrheit<br />
einer Proposition fest.<br />
Bsp.: behaupten, feststellen, andeuten, prophezeien etc.<br />
Anpassungsrichtung: Wort-an-Welt, die Worte sollen dem Zustand der Welt entsprechen.<br />
Psychischer Zustand: glauben bzw. überzeugt sein (dass p)
2. Direktive<br />
Sprechaktklassen 151<br />
Wesentliche Regel: Der Sprecher will den Hörer zu einer Handlung bewegen bzw. ihn<br />
auf etwas festlegen.<br />
Bsp.: auffordern, befehlen, bitten, anordnen, einladen etc.<br />
Anpassungsrichtung: Welt-an-Wort, d.h. die Welt soll an die Worte angepasst werden.<br />
Psychischer Zustand: Wunsch<br />
Searle rechnet auch Fragen zu den Direktiva, weil er sie als Aufforderungen, eine<br />
Antwort zu geben, versteht.<br />
3. Kommissive<br />
Wesentliche Regel: Der Sprecher verpflichtet sich auf die Ausführung einer zukünftigen<br />
Handlung.<br />
Bsp.: versprechen, geloben, drohen, vereinbaren etc.<br />
Anpassungsrichtung: Welt-an-Wort, die Welt soll an die Worte angepasst werden.<br />
Psychischer Zustand: Absicht<br />
4. Expressive<br />
Wesentliche Regel: Der Sprecher bringt einen psychischen Zustand zum Ausdruck, der<br />
sich auf eine bestimmte Sachlage bezieht.<br />
Bsp.: danken, gratulieren, entschuldigen, kondolieren etc.<br />
Anpassungsrichtung: —<br />
Psychischer Zustand: variiert abhängig vom illokutionären Akt<br />
5. Deklarationen<br />
Wesentliche Regel: Deklarationen erfordern gewöhnlich eine bestimmte soziale Institution,<br />
wie z.B. Schule, Kirche, Parlament.<br />
Bsp.: zurücktreten, taufen, ernennen, Krieg erklären etc.<br />
Anpassungsrichtung: Welt-an-Wort, Wort-an-Welt<br />
Psychischer Zustand: —
152 Pragmatik<br />
Übersicht über die Sprechaktklassen<br />
(41)<br />
Zweck Anpassungsrichtung psychischer Zustand<br />
assertiv Wort-an-Welt Glaube<br />
direktiv Welt-an-Wort Wunsch<br />
kommissiv Welt-an-Wort Absicht<br />
expressiv keine variabel<br />
deklarativ beide keiner