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Der »gräßliche Fatalismus der Geschichte« und die Funktion des ...

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G eorg Büchners Dantons Tod 125<br />

»Man muß <strong>die</strong> Menschheit lieben«, lässt Büchner seine literarische Figur<br />

Lenz sagen, »um in das eigentümliche Wesen je<strong>des</strong> einzudringen, cs darf einem<br />

keiner zu gering, keiner zu häßlich sein, erst dann kann man sie verstehen«<br />

(SW 1, S. 235). Kurz davor hatte er <strong>die</strong> Notwendigkeit hervorgehoben,<br />

»sich in das Leben <strong>des</strong> Geringsten« zu senken, um es »in den Zuckungen,<br />

den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel« wie<strong>der</strong>zugeben<br />

(SW 1, S. 234). Auch <strong>die</strong>se Liebe <strong>und</strong> <strong>die</strong>se mitleidende Teilnahme<br />

am Schicksal <strong>des</strong> Einzelnen <strong>und</strong> Geringsten müssen allerdings als Ausdruck<br />

einer gr<strong>und</strong>sätzlicheren <strong>und</strong> umfassen<strong>der</strong>en Einstellung betrachtet werden,<br />

nämlich als Resultat eines pantheistischen Strebens.52 Wenn Büchner vom<br />

ästhetischen Prinzip <strong>der</strong> Naturnachahmung schreibt, denkt er nicht so sehr<br />

an eine Kopie <strong>der</strong> Wirklichkeit, son<strong>der</strong>n vielmehr an eine Nachahmung <strong>der</strong><br />

natura naturans,5i einer »Schöpfung, <strong>die</strong> glühend, brausend <strong>und</strong> leuchtend<br />

[...] sich jeden Augenblick neu gebiert« (SW 1, S. 45), »eine[r] unendliche[n]<br />

Schönheit, <strong>die</strong> aus einer Form in <strong>die</strong> andre tritt, ewig aufgeblättert, verän<strong>der</strong>t«<br />

(SW 1, S. 234).<br />

Eine solche pantheistische Auffassung <strong>des</strong> mimetischen Prinzips erklärt<br />

auch Büchners zuerst überraschend wirkenden Rückgriff auf <strong>die</strong> Theodizee,<br />

um seine Kritik an <strong>der</strong> idealistischen Kunst zu rechtfertigen. Wenn er nämlich<br />

behauptet, dass »[d]er liebe Gott [...] <strong>die</strong> Welt wohl gemacht [hat] wie sie<br />

sein soll«, sodass <strong>die</strong> Künstler »nicht was Besseres klecksen« können (SW 1,<br />

S. 234),54 so versteht er darunter nicht so sehr einen persönlichen Gott, son<strong>der</strong>n<br />

vielmehr das schaffende Prinzip <strong>der</strong> Natur selbst, dem <strong>der</strong> Künstler<br />

»ein wenig nach[-]schaffen« soll: »Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit<br />

<strong>des</strong> Daseins, <strong>und</strong> dann ist’s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön,<br />

ob es häßlich ist, das Gefühl, daß Was geschaffen sei, Leben habe, stehe über<br />

<strong>die</strong>sen Beiden, <strong>und</strong> sei das einzige Kriterium in Kunstsachen« (SW 1, S. 234).<br />

Die Kunst soll also nach Büchner nicht einfach <strong>die</strong> tote Kopie einer toten<br />

Wirklichkeit, son<strong>der</strong>n vielmehr <strong>die</strong> Nachahmung einer werdenden, lebendigen,<br />

sich stets wandelnden Natur sein, <strong>die</strong> auch das Hässliche, das Leiden<br />

<strong>und</strong> das Böse in sich enthält. Eine solche schaffende Nachahmung kann<br />

Quellen. Bearb. v. Burghard Dedner, Thom as Michael Mayer u. Eva-M aria Vering. D arm ­<br />

stadt 2000, S. 421).<br />

52 Ohne freilich je von >Pantheismus< zu reden, hat Schings <strong>die</strong>sen Zusammenhang am deutlichsten<br />

erkannt, indem er Lenzens Kunstgespräch zu Recht in Verbindung mit jener naturmystischen<br />

Sympathielehre betrachtet hat, <strong>die</strong> in den unmittelbar vorhergehenden Szenen<br />

von Büchners Novelle zum Vorschein kommt (Hans-Jürgen Schings: <strong>Der</strong> mitleidigste<br />

Mensch ist <strong>der</strong> beste Mensch. Poetik <strong>des</strong> Mitleids von Lessing bis Büchner. München 1980,<br />

S. 68-79).<br />

53 Vgl. Albert Meier: G eorg Büchners Ästhetik (Anm. 50), S. 97-102. Ü ber <strong>die</strong> Verbreitung<br />

<strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> N achahm ung <strong>der</strong> natura naturans in <strong>der</strong> Ästhetik <strong>des</strong> 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts in<br />

Deutschland vgl. Alessandro C ostazza: Genie <strong>und</strong> tragische K unst (Anm. 12), S. 13-23.<br />

54 Vgl. auch SW 2, S. 411 <strong>und</strong> SW 1, S. 45.

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