Programmheft - kultur forum andermatt gotthard
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Kaum aus der geografischen Mitte verdrängt, auferstand<br />
der Gotthard als Europas mythische Mitte.<br />
Unzählige Dichter und Denker haben das Motiv seither<br />
stilisiert: Ursprung, von dem alles ausgeht, Zentrum,<br />
in dem sich alles vereint, Anfang und Ende, der Gotthard<br />
als ruhender Pol und Weltachse, um die sich<br />
alles dreht. Die Reise zum Gotthard erscheint nun als<br />
existenzieller Vorgang: eine seelische Pilgerfahrt zum<br />
Beginn, zu den Quellen, zur Reinheit – Innehalten, Loslassen,<br />
Überschreitung, Verwandlung, Neubeginn.<br />
Die Wissenschaft hat dem Naturphänomen inzwischen<br />
alle göttlichen Botschaften ausgetrieben. Aber die<br />
magische Chiffre des Gotthard-Kreuzes wirkt in den<br />
Köpfen ungebrochen.<br />
Patriotische Mythologie<br />
Mythen sind immer Deutungen, die das Geschehen<br />
in einen Sinnzusammenhang bringen. Jede Gemeinschaft<br />
kennt solche Mythen, die von ihrem Ursprung<br />
und ihrer Eigenheit künden und den Weg zum Heute<br />
erklären. So wird auch die Gründungsgeschichte der<br />
Schweiz in der Art eines Stammesmythos erzählt und<br />
am heiligen helvetischen Berg Gotthard festgemacht.<br />
Scheinbar zwangsläufig ergibt sich eine direkte Linie<br />
von der Teufelssage und dem Saumpfad über Wilhelm<br />
Tell und den Rütlischwur zum Bundesbrief, und weiter<br />
vom Bundesstaat von 1848 und dem Bau der Gotthardbahn<br />
zum Réduit im II. Weltkrieg und zur Schweiz<br />
der Gegenwart.<br />
Wir wissen heute, dass der Gotthard ein Kraftfeld<br />
war, welches das langsame Werden der<br />
Schweiz beeinflusste. Wir wissen aber auch, dass der<br />
geschichtliche Prozess nicht einzig und allein auf die<br />
<strong>gotthard</strong>ischen Kräfte zurückzuführen ist. Dies jedoch<br />
ist das Wesen des Mythos: Er verschmilzt historische<br />
Fakten, Überlieferungen, Legenden und Sagen und<br />
integriert sie in ein Bedeutungssystem. Der Mythos<br />
biegt das Ende in den Anfang zurück und vor Augen<br />
steht ein gerundetes Bild. Es präsentiert den zu fälligen,<br />
ergebnisoffenen Gang der Geschichte als naturgesetzlichen<br />
Ablauf von Absicht und Erfolg, von Vorsehung<br />
und Erfüllung. Damit übermittelt der Mythos<br />
Botschaften, die das Selbstverständnis seiner Teil haber<br />
bedienen. Am Gotthard sind es die Botschaften von<br />
Tatkraft, Zähigkeit und Schlauheit, von Selbsterhaltungswille,<br />
Mut und Freiheitsliebe, vom Zusammenstehen<br />
gegen «die Arglist der Zeit». Die Schweiz steht<br />
da als «Mutter der Ströme» und «Hüterin der Pässe».<br />
Aus dem Territorium ergibt sich als offenkundige Bestimmung<br />
und Urgrund des Staates, dass die Schweiz<br />
den ihr anvertrauten Gotthard stets durchlässiger<br />
macht und als neutrale Treuhänderin «die Wacht am<br />
Gotthard» hält.<br />
Der Mythos Gotthard – und damit auch die Teufelssage<br />
– vermittelt nicht Wissen von den tatsächlichen<br />
Begebenheiten. Er dient nicht dem Verstehen historischer<br />
Fakten, sondern der Verständigung. Indem wir<br />
die Sagen und Legenden vom Gotthard immer wieder<br />
neu erleben, verständigen wir uns auch darüber, woher<br />
wir kommen, wer wir sind und wohin wir sollen.<br />
Helmut Stalder<br />
ist Historiker und Journalist. Von ihm stammt das<br />
Standardwerk: Mythos Gotthard. Was der Pass bedeutet.<br />
Zürich 2003.<br />
[Seite 33]