Sachverhalt und Lösungsvorschlag, Sitzung Nr. 1 16. September 2013
Sachverhalt und Lösungsvorschlag, Sitzung Nr. 1 16. September 2013
Sachverhalt und Lösungsvorschlag, Sitzung Nr. 1 16. September 2013
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Lektion 1<br />
Übungen OR AT HS <strong>2013</strong>, Universität Freiburg<br />
Rechtsanwalt PD Dr. Arnold F. Rusch LL.M.<br />
<strong>Sachverhalt</strong> <strong>Nr</strong>. 1<br />
Käufer Kurt bestellt bei Verkäufer Viktor eine Tonne „Haakjöringskod“. Kurt meint damit Walfischfleisch,<br />
obwohl „Haakjöringskod“ übersetzt Haifischfleisch bedeutet. Viktor versteht Kurts Wunsch im<br />
Sinne der offiziellen Übersetzung „Haifischfleisch“. 1. Ist ein Vertrag zustande gekommen? 2. Ist ein Vertrag<br />
zustande gekommen, wenn auch Viktor darunter fälschlicherweise Walfischfleisch versteht? 3. Falls<br />
ja, erfüllt Viktor richtig, wenn er Haifischfleisch liefert? 4. Was ist, wenn Viktor unter „Haakjöringskod“<br />
Heringe versteht, Kurt aber Walfischfleisch?<br />
<strong>Lösungsvorschlag</strong> <strong>Nr</strong>. 1<br />
1. Viktor hat Kurt nicht so verstanden, wie es dem inneren Willen Kurts entspricht. Deshalb ist es<br />
angezeigt, die Willensäusserung Kurts nach dem Vertrauensprinzip zu analysieren. Wie durfte<br />
<strong>und</strong> musste Viktor die Aussage Kurts verstehen? Die Analyse ergibt, dass Viktor das Wort<br />
„Haakjöringskod“ im Sinne von Haifischfleisch verstehen durfte <strong>und</strong> musste, weil es die richtige<br />
Übersetzung dieses Wortes darstellt. Der Vertrag ist folglich über eine Tonne Haifischfleisch zustande<br />
gekommen.<br />
2. Beide Parteien wollen dasselbe, benennen es aber falsch. Es besteht kein Anlass, das Vertrauensprinzip<br />
anzuwenden, weil beide Parteien sich richtig verstanden haben. 1 Dieser Fall ist in Art. 18<br />
Abs. 1 OR erfasst. Es liegt ein natürlicher Konsens über den Kauf von Walfischfleisch vor. 2<br />
3. Viktor muss folglich auch Walfischfleisch liefern, wenn er korrekt erfüllen will.<br />
4. Nach dem Vertrauensprinzip durfte <strong>und</strong> musste Viktor unter „Haakjöringskod“ Haifischfleisch<br />
verstehen. Viktor hat aber „Heringe“ verstanden <strong>und</strong> Kurt hat Walfischfleisch gemeint. Dazu äussern<br />
sich Gauch/Schluep/Schmid/Emmenegger, N 353: „Wie bereits ausgeführt, kann nämlich einer<br />
Erklärung auch nach Vertrauensprinzip nie eine Bedeutung zukommen, die sie weder für die<br />
eine noch für die andere Partei hatte (…). Es besteht kein Gr<strong>und</strong>, den Parteien eine solche Bedeutung<br />
aufzuzwingen. Deshalb ist ein rechtlicher Konsens <strong>und</strong> damit ein Vertrag mit einem Inhalt,<br />
den keine Partei so wollte, ausgeschlossen. Hat es beidseitig sogar an einem Abschlusswillen (…)<br />
gefehlt, so gilt das Gesagte umso mehr, sodass es einen «beidseitig unbewussten <strong>und</strong> ungewollten<br />
Vertragsschluss» schlechterdings nicht gibt.“<br />
<strong>Sachverhalt</strong> <strong>Nr</strong>. 2<br />
Verkäufer Viktor ist Juwelier. Im Schaukasten unweit von seinem Geschäft stellte er einen Damenring mit<br />
blauem Opal <strong>und</strong> 25 Brillanten aus. Den Preis für diesen Ring hatte er auf Fr. 13'800 festgesetzt. Aus Versehen<br />
brachte er aber eine Preisanschrift an, auf der ein Verkaufspreis von Fr. 1'380 vermerkt war – er hat<br />
ein Null vergessen. Käufer Kurt betrat das Geschäft Viktors <strong>und</strong> wünschte den ausgestellten Ring zu kaufen.<br />
Ein Angestellter Viktors bedient Kurt, stellt das „Echtheits-Zertifikat“ für den Ring aus <strong>und</strong> übergibt<br />
alsdann Kurt den Ring zum angeschriebenen Preis von Fr. 1'380.<br />
1 Vgl. Gauch/Schluep/Schmid/Emmenegger, N 310.<br />
2<br />
Vgl. den „Haakjöringskod“-Entscheid des deutschen Reichsgerichts (RGZ 99, 147), Internet:<br />
http://lorenz.userweb.mwn.de/urteile/RGZ_99_147.html (abgerufen am 6. <strong>September</strong> <strong>2013</strong>).<br />
1
Haben Viktor <strong>und</strong> Kurt einen Vertrag abgeschlossen? Beschreiben Sie genau, worin Angebot <strong>und</strong> Annahme<br />
bestehen!<br />
<strong>Lösungsvorschlag</strong> <strong>Nr</strong>. 2<br />
Es handelt sich um den bekannten „Opalring“-Fall des B<strong>und</strong>esgerichts. 3 Es stellt sich die Frage, ob zwischen<br />
Viktor <strong>und</strong> Kurt ein Vertrag zustande gekommen ist. Dazu ist nach Art. 1 Abs. 1 OR eine übereinstimmende<br />
gegenseitige Willenserklärung erforderlich. Vordergründig hat sich das auch so ereignet: Käufer<br />
Kurt kommt ins Geschäft, verlangt den im Schaukasten ausgestellten Ring <strong>und</strong> der Angestellte Viktors<br />
hat in dessen Namen den Ring zum angeschriebenen Preis verkauft. Dies ist indes nicht die Sichtweise des<br />
Gesetzes. Nicht Kurt hat den Antrag gestellt, sondern Viktor, indem er den Ring im Schaukasten ausgestellt<br />
hat. Art. 7 Abs. 3 OR bestimmt, dass die Auslage von Waren mit Angabe des Preises in der Regel als<br />
Antrag gelte. Es ist ein Antrag an jedermann, das bereitliegende Kaufobjekt zu kaufen <strong>und</strong> gleich mitzunehmen.<br />
4 Käufer Kurt hat diesen Antrag angenommen, indem er gegenüber Viktor den Wunsch geäussert<br />
hat, den ausgestellten Ring zu kaufen. Der wirkliche Wille Viktors war zwar auf einen höheren Preis gerichtet.<br />
Doch durfte <strong>und</strong> musste Kurt den Antrag Viktors so verstehen. Der Konsens – hier in der normativen<br />
Form, als Anwendung des Vertrauensprinzips 5 – liegt somit vor. Ob dieser Konsens bestehen bleibt<br />
oder anfechtbar ist, bildet Gegenstand der vierten Lektion.<br />
<strong>Sachverhalt</strong> <strong>Nr</strong>. 3<br />
Kurt erhält vom Viktor-Verlag ungefragt eine Sendung mit drei Büchern (ein Liebesroman „Doch die<br />
Sünde ist scharlachrot“ von Elizabeth George, ein Kochbuch „Jamies 30 Minuten Menus“ von Jamie Oliver<br />
<strong>und</strong> „Grissini <strong>und</strong> Alpenbitter“ von Alt B<strong>und</strong>esrätin Ruth Metzler). Mit dem Kochbuch kann er nichts<br />
anfangen <strong>und</strong> wirft es fort. Den Liebesroman schenkt er seiner Fre<strong>und</strong>in. Das Buch von Ruth Metzler will<br />
er kaufen <strong>und</strong> sendet den dafür bestimmten Preis von Fr. 30 dem Viktor-Verlag. Der Viktor-Verlag verlangt<br />
die Bezahlung auch der anderen beiden Bücher. Zeigen Sie die relevanten Willenserklärungen! Sind<br />
Verträge zustande gekommen?<br />
<strong>Lösungsvorschlag</strong> <strong>Nr</strong>. 3<br />
Es geht um Art. 6a Abs. 1 OR: „Die Zusendung einer unbestellten Sache ist kein Antrag.“ Dies würde<br />
allerdings auch ohne Art. 6a OR gelten, denn Schweigen auf einen Antrag hat nur unter besonderen Umständen<br />
Annahmewirkung (vgl. Art. 6 OR). 6 Sofern es sich nicht um irrtümlich zugesandte Sachen handelt,<br />
kann man über die Sachen frei verfügen (Art. 6a Abs. 2 <strong>und</strong> 3 OR). Kurt darf die Bücher folglich<br />
wegwerfen oder behalten, ohne etwas zahlen zu müssen. Art. 6a OR stellt eine Behaltenscausa dar, die zur<br />
Weiterveräusserung berechtigt. 7 Auch die Verwendung als Geschenk, die man vielleicht als konkludent<br />
betätigten Annahmewillen interpretiert könnte (so genanntes Realakzept 8 ), kann aufgr<strong>und</strong> des Art. 6a<br />
Abs. 1 OR keine Wirkung entfalten: Wo kein Antrag ist, gibt es auch keine Annahme. Wie aber verhält es<br />
sich mit dem Buch, das Kurt tatsächlich kaufen will? Da aufgr<strong>und</strong> des klaren Art. 6a Abs. 1 OR kein An-<br />
3 BGE 105 II 23 ff., Internet: http://jumpcgi.bger.ch/cgi-bin/JumpCGI?id=BGE_105_II_23 (6. <strong>September</strong> <strong>2013</strong>).<br />
4 Vgl. BK-Schmidlin, OR 7 N 24.<br />
5 Vgl. BGE 105 II 23 ff., 24: „Aus dem angefochtenen Urteil ergeben sich keine Anhaltspunkte, wonach der Beklagte erkannt hat oder<br />
doch hätte erkennen müssen, dass der Kläger den Ring zu einem höheren als dem auf der Preisetikette vermerkten Preis verkaufen wollte.<br />
Der Vertrag kam somit zustande, als der Beklagte gegenüber dem Angestellten des Klägers (…) die Annahme erklärte (Art. 1 Abs. 1<br />
OR).“<br />
6 Vgl. BSK-Bucher, OR 6a N 2.<br />
7 Vgl. Gauch/Schluep/Schmid/Emmenegger, N 430a: „In sachenrechtlicher Hinsicht ergibt sich aus Art. 6a Abs. 2, dass das Gesetz die<br />
Vermögensverschiebung – unter Vorbehalt des Falls von Abs. 3 – als endgültig betrachtet; Art. 6a stellt mit anderen Worten eine gesetzliche<br />
Behaltenscausa dar. Zu weit geht demgegenüber die b<strong>und</strong>esrätliche Botschaft, die in der unverlangten Zusendung der Sache deren<br />
Dereliktion sehen will. So oder so ist jedoch sachenrechtlich der Empfänger der Sache zur Weiterveräusserung befugt; der Dritterwerber<br />
wird Eigentümer der Sache, ohne dass es auf seinen guten Glauben (im Sinn von ZGB 714 Abs. 2 <strong>und</strong> 933) ankommt.“<br />
8 Vgl. zum Realakzept BK-Kramer, OR 1 N 20 <strong>und</strong> BK-Schmidlin, OR 6 N 77 ff.<br />
2
trag Viktors vorliegen kann, muss der Antrag von Kurt kommen. 9 Die Bezahlung des Kaufpreises ist<br />
Kurts betätigter Wille, das Buch zu kaufen. Nicht Kurt nimmt einen Antrag an, sondern betätigt seinen<br />
eigenen Antrag gleich mit der Erfüllungsleistung. Es handelt sich dabei um eine Realofferte, die zu den<br />
konkludenten Willenserklärungen zählt. 10 Diese kann der Viktor-Verlag annehmen.<br />
<strong>Sachverhalt</strong> <strong>Nr</strong>. 4<br />
Viktor macht Kurt per B-Post folgendes Angebot zu einem Verkauf seines privat genutzten Renault Clio,<br />
den Kurt aus Interesse schon einmal besichtigt hat: „Ich habe mich entschieden. Ich verkaufe meinen<br />
Renault Clio für Fr. 5‘000, wenn Du noch Interesse hast.“ Er übergibt der Post den Brief am Abend des 3.<br />
<strong>September</strong> <strong>2013</strong>. Der Brief landet am 5. <strong>September</strong> <strong>2013</strong> in Kurts Briefkasten. Kurt liest ihn, weil er geschäftlich<br />
unterwegs ist, erst am Abend des 6. <strong>September</strong> <strong>2013</strong>. Er überlegt bis am 8. <strong>September</strong> <strong>2013</strong> <strong>und</strong><br />
verschickt den Brief mit dem Akzept per A-Post am 9. <strong>September</strong> <strong>2013</strong>. Am 10. <strong>September</strong> <strong>2013</strong> wirft ihn<br />
der Briefträger in Viktors Briefkasten. Viktor hat den Renault am Abend des 9. <strong>September</strong> <strong>2013</strong> bereits<br />
Karl verkauft. Ist der Vertrag zustande gekommen? Kommt ein Vertrag zustande, wenn Kurt keine Reaktion<br />
zeigt, Viktor im Brief aber geschrieben hat: „Ohne Gegenbericht gehe ich davon aus, dass Du den<br />
Renault zum besagten Preis kaufen willst“?<br />
<strong>Lösungsvorschlag</strong> <strong>Nr</strong>. 4<br />
Ist der Vertrag zustande gekommen?<br />
Anwendbar sind die Regeln von Antrag <strong>und</strong> Annahme ohne Annahmefrist unter Abwesenden (Art. 5 OR).<br />
„Unter Abwesenden“ bedeutet, dass keine direkte Kommunikation zwischen den Parteien besteht. 11 Beispiele<br />
dafür sind Fax, Email, Post, Bote, Twitter, SMS, nicht aber Chat, Skype, Internettelefon, Funk,<br />
Telefon. 12 Fraglich ist vorliegend, wie lange Viktor an sein Angebot geb<strong>und</strong>en ist. Art. 5 Abs. 1 OR hält<br />
fest, dass der Antragsteller geb<strong>und</strong>en bleibt, bis er bei ordnungsgemässer <strong>und</strong> rechtzeitiger Absendung den<br />
Eingang der Antwort erwarten darf. Viktor darf davon ausgehen, dass sein Brief ordnungsgemäss angekommen<br />
ist (vgl. Art. 5 Abs. 2 OR) – das war vorliegend auch so, am 5. <strong>September</strong> <strong>2013</strong>. Der 6. <strong>September</strong><br />
<strong>2013</strong> ist nicht relevant, denn die Willenserklärung ist dann angekommen, wenn der Zugang erfolgt,<br />
der von der Kenntnisnahme zu unterscheiden ist. 13<br />
Wann gilt eine Willenserklärung als zugegangen?<br />
• Briefpost: Gauch/Schluep/Schmid/Emmenegger, N 199: „Sie geht dem Empfänger zu, sobald der<br />
Erklärungsträger in dessen Machtbereich gelangt, <strong>und</strong> zwar auf eine Weise, dass nach den Gepflogenheiten<br />
des Verkehrs oder nach den vom Empfänger getroffenen Vorkehren erwartet werden<br />
kann, dieser werde den Erklärungsträger wahrnehmen (…).“ Konkret bedeutet dies, dass der<br />
Einwurf in den Briefkasten des Empfängers genügt, sofern mit einer baldigen Leerung zu rechnen<br />
ist. 14<br />
9 Vgl. CHK-Kut, OR 6a N 2.<br />
10 Vgl. BK-Kramer, OR 1 N 20.<br />
11 Vgl. CHK-Kut, OR 5 N 2.<br />
12 Vgl. die Aufzählung bei CHK-Kut, OR 4 N 2 <strong>und</strong> OR 5 N 2.<br />
13 Vgl. CHK-Kut, OR 1 N 19.<br />
14 Vgl. CHK-Kut, OR 1 N 19; vgl. BGE 118 II 42 ff., 44: „Nach diesen Gr<strong>und</strong>sätzen geht eine Willenserklärung in Briefform dem Empfänger<br />
zu, sobald sie in seinen Machtbereich gelangt. Bei einer Sendung, die privat oder durch die Post uneingeschrieben zugestellt wird,<br />
ist dies dann der Fall, wenn sie zu einer Zeit, in der mit der Leerung gerechnet werden darf, in den Briefkasten des Adressaten gelegt<br />
wird (…). Ob der Adressat auch tatsächlich von der Sendung Kenntnis nimmt, ist dagegen nicht entscheidend. Insbesondere trägt der<br />
Adressat das Risiko, dass ihm die mit der Leerung des Briefkastens betraute Person die Sendung verheimlicht.“; vgl. Urteil BGer<br />
4A_89/2011, E. 3: „Une déclaration de volonté émise sous forme de lettre parvient à son destinataire au moment où elle entre dans la<br />
sphère d'influence de celui-ci, d'une manière telle que l'on peut prévoir, selon les usages, qu'il en prendra connaissance (…).“<br />
3
• Email: Eine Email gelangt in den Machtbereich des Empfängers <strong>und</strong> geht deshalb dann zu, wenn<br />
sie auf dem Server zum Abruf bereit steht <strong>und</strong> mit dem Abruf gerechnet werden kann, was wohl<br />
nur bei Bestehen einer nicht selbstverständlichen Abruf-Obliegenheit bejaht werden kann. 15<br />
• Fax: Mit Ausdruck auf dem Faxgerät des Empfängers ist eine Faxmitteilung zugegangen. 16<br />
• Einschreiben: Der Zugang erfolgt mit der tatsächlichen Zustellung oder bei gescheitertem Zustellungsversuch<br />
mit der Möglichkeit der Abholung bei der Post. 17<br />
Dass Kurt den Brief erst am 6. <strong>September</strong> <strong>2013</strong> gesehen hat, spielt keine Rolle. Sodann hat er ihm eine<br />
angemessene Überlegungsfrist zu gewähren. 18 Im kaufmännischen Bereich ist es meist höchstens ein Tag,<br />
in nichtkaufmännischen Verhältnissen ist es anhand der Ware (Verderblichkeit), dem erkennbaren Interesse<br />
anderer Personen, der Bedeutung der Entscheidung zu entscheiden, was eine angemessene Dauer ist.<br />
Bei nichtkaufmännischen Verhältnissen müsste man m.E. sicher eine Woche Zeit geben. 19 Eine längere<br />
Frist ist kaum nötig, denn die Entscheidung zum Erwerb eines Renault Clio ist nicht gerade schwierig. Die<br />
vorliegende Überlegungsfrist war demnach zu kurz. Kurt hat auch beim Versand seines Akzepts angemessen<br />
reagiert, sogar mit dem schnelleren Kommunikationsmittel als Viktor (A-Post). Dies darf <strong>und</strong> soll<br />
berücksichtigt werden. Es kommt nicht auf die einzelnen Schritte an, sondern auf die Gesamtdauer. Eine<br />
schnellere Antwort kann also eine zu lange Überlegungsdauer kompensieren. 20 Viktor hat somit den Wagen<br />
zu früh verkauft. Er ist mit dem Akzept Kurts an den Vertrag geb<strong>und</strong>en.<br />
Kommt ein Vertrag zustande, wenn Kurt keine Reaktion zeigt, Viktor im Brief aber geschrieben hat: „Ohne<br />
Gegenbericht gehe ich davon aus, dass Du den Renault zum besagten Preis kaufen willst“?<br />
Schweigen auf einen Antrag hat nur unter besonderen Umständen die Wirkung eines Akzepts (vgl. Art. 6<br />
OR). Dazu bedarf es einer Usanz im Rahmen einer bestehenden Geschäftsbeziehung oder bereits weitgediehener<br />
Vertragsverhandlungen. 21 Eine solche Gewohnheit ist aus dem <strong>Sachverhalt</strong> nicht ersichtlich. Eine<br />
wie in Art. 6 OR erwähnt besondere Natur des Geschäfts – es müsste ein ausschliesslich begünstigendes<br />
Geschäft wie z.B. die Schenkung sein – liegt ebenfalls nicht vor. Deshalb kann Kurt schweigen, auch<br />
wenn er den Vertrag nicht will.<br />
15 Vgl. Schwenzer, N 27.23 (sie bejaht eine Abrufobliegenheit in gewerblichen Verhältnissen, während bei privaten Empfängern ohne<br />
Aufforderung zur Kommunikation via Email auf das Öffnen der Email abzustellen sei; vgl. CHK-Kut, OR 1 N 19; vgl.<br />
Gauch/Schluep/Schmid/Emmenegger, N 202: „Eine Mitteilung via E-Mail geht dem Empfänger zu, sobald sie von ihm abgerufen werden<br />
kann; eine Obliegenheit zum Abruf (zur «Leerung des elektronischen Briefkastens») besteht jedenfalls dann, wenn eine Person ihre E-<br />
Mail-Adresse einem grösseren Kreis anderer Personen bekannt gegeben (<strong>und</strong> sich dadurch mit diesem Übermittlungsweg einverstanden<br />
erklärt) hat, beispielsweise durch Aufnahme in ihren Briefkopf.“<br />
16 Vgl. Gauch/Schluep/Schmid/Emmenegger, N 200.<br />
17 Vgl. CHK-Kut, OR 1 N 19; vgl. BGer 4A_656/2010, E. 3.1.2: „En ce qui concerne une lettre recommandée, si l'agent postal n'a pas<br />
pu la remettre effectivement au destinataire ou à un tiers autorisé à prendre livraison de l'envoi et qu'il laisse un avis de retrait dans sa<br />
boîte aux lettres ou sa case postale, le pli est reçu dès que le destinataire est en mesure d'en prendre connaissance au bureau de la poste<br />
selon l'avis de retrait; il s'agit soit du jour même où l'avis de retrait est déposé dans la boîte aux lettres si l'on peut attendre du destinataire<br />
qu'il le retire aussitôt, sinon en règle générale le lendemain de ce jour (…).“<br />
18 Vgl. BGE 98 II 109 ff., 111: „Zu prüfen ist daher, welche Überlegungszeit der Kläger der Beklagten einräumen musste. Nach VON<br />
TUHR/SIEGWART, OR I S. 176, ist die Überlegungszeit nach Inhalt <strong>und</strong> Tragweite der Offerte sowie nach den persönlichen, dem Offerenten<br />
bekannten Umständen des Adressaten mit Rücksicht auf die Verkehrssitte zu bemessen. Ferner ist nach BECKER (1. Aufl. N. 3 zu<br />
Art. 5 OR) zu beachten, dass die Beantwortung innerhalb der geschäftsüblichen Zeit erwartet werden kann. Ähnlich äussern sich O-<br />
SER/SCHÖNENBERGER (N. 6 ff. zu Art. 5 OR), jedoch mit dem Hinweis, dass der Sonntag in Geschäftssachen für die Bemessung der<br />
Frist ausser Betracht falle.“<br />
19 Vgl. die Beispiele bei BSK-Bucher, OR 5 N 9. Er geht im nichtkaufmännischen Bereich von einer Überlegungsfrist von sicher einigen<br />
wenigen Tagen aus, doch kann die Überlegensfrist auch mehrere Wochen bis zu einem Monat betragen.<br />
20 Vgl. BK-Schmidlin, OR 5 N 9: „Die drei Zeitabschnitte bilden keine gesonderten Vorgänge, sondern vereinigen sich zu einer Gesamtdauer.<br />
Die Überdehnung des einen kann durch die Verkürzung des andren wieder ausgeglichen werden (…).“; ebenso CHK-Kut, OR 5 N<br />
3.<br />
21 Vgl. die Beispiele bei CHK-Kut, OR 6 N 9; vgl. den Klassiker unter den Beispielen bei Bucher, OR AT, 135: „Schulbuchbeispiel:<br />
Buchhändler lässt einem Stammk<strong>und</strong>en Ansichtssendungen zukommen, bei denen im Falle der Nichtrücksendung ein Vertrag angenommen<br />
werden kann.“<br />
4