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Invictus – Unbesiegt . . .? - Deutsches Ärzteblatt

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THEMEN DER ZEIT<br />

MEDIZINGESCHICHTE<br />

<strong>Invictus</strong> – <strong>Unbesiegt</strong> . . .?<br />

Der Tetanusentdecker Arthur Nicolaier und sein Suizid vor 70 Jahren<br />

Foto: Erika Wagner<br />

Arthur Nicolaier (1862–1942)<br />

gilt als Entdecker des Tetanuserregers.<br />

Während es in anderen<br />

Sprachräumen noch heute Bezeichnungen<br />

wie Nicolaier’s Bacillus<br />

oder Bacille de Nicolaier gibt, ist<br />

der Name hierzulande der Vergessenheit<br />

anheimgefallen. Nicolaier<br />

Versteckte Botschaft<br />

in Arthur Nicolaiers<br />

Abschiedsbrief<br />

wurde Opfer der nationalsozialistischen<br />

Verfolgung; er beendete sein<br />

Leben selbst am 29. August 1942 in<br />

Berlin, kurz vor der anstehenden<br />

Deportation nach Theresienstadt.<br />

Sein Fall steht exemplarisch für viele<br />

weitere Verfolgte, die im Suizid<br />

den letzten Ausweg sahen.<br />

Meist tödliche Infektion<br />

Der Durchbruch erfolgte 1884: Gerade<br />

erst 22-jährig, gelang dem Medizinstudenten<br />

Arthur Nicolaier in Versuchen<br />

am Hygienischen Institut in<br />

Göttingen, den Erreger des Wundstarrkrampfs<br />

nachzuweisen. Damit<br />

endete die jahrhundertelange Suche<br />

nach den Ursachen für die schon in<br />

der Antike gefürchtete Erkrankung,<br />

die noch heute mit einer hohen Letalität<br />

einhergeht. Nicolaier lag mit seinem<br />

Ansatz richtig, in den Versuchen<br />

auf kontaminierten Erdboden zu setzen.<br />

Er verimpfte verschiedene Erdproben<br />

an Versuchstiere, wodurch es<br />

ihm gelang, bei diesen Wundstarrkrampf<br />

auszulösen sowie im Blut das<br />

charakteristische Bakterium (Clostridium<br />

tetani) zu beobachten und zu<br />

beschreiben. Damit war Tetanus als<br />

Infektionskrankheit identifiziert.<br />

Auf Nicolaiers Veröffentlichung<br />

„Ueber infectiösen Tetanus“ in der<br />

„Deutschen Medizinischen Wochenschrift“<br />

noch im selben Jahr folgten<br />

weitere gezielte Forschungsanstrengungen:<br />

1889 gelang dem Japaner<br />

Shibasaburo Kitasato (1853–1931)<br />

in Berlin die erste Reinzüchtung des<br />

Erregers, im Jahr darauf publizierte<br />

dieser gemeinsam mit Emil von<br />

Behring (1854–1917) erstmalig über<br />

die Wirkung von Antitoxinen gegen<br />

Tetanus und Diphtherie.<br />

Behring war es auch, der die<br />

weitere Impfstoffentwicklung vor -<br />

antrieb: Ein Toxin-Antitoxin-Gemisch<br />

gegen Tetanus kam erstmals<br />

Foto: Familie Blumenthal<br />

massenhaft im Ersten Weltkrieg<br />

zum Einsatz und zeitigte große Erfolge,<br />

wie die Berichte des Heeressanitätswesens<br />

bezeugen. Über alle<br />

Zeiten hinweg war der in bis zu<br />

70 Prozent der Fälle tödlich verlau -<br />

fende Wundstarrkrampf gehäuft in<br />

Kriegen oder im Zusammenhang<br />

mit Kampfhandlungen aufgetreten<br />

– in den Weltkriegsjahren bewahrten<br />

Impfungen nun erstmalig Tausende<br />

Soldaten vor dem Tod durch<br />

eine Tetanusinfektion.<br />

Arthur Nicolaier hatte mit dieser<br />

Entdeckung den Grundstein für eine<br />

Forscherkarriere gelegt: Ab 1901<br />

lebte er in Berlin und arbeitete als<br />

Professor an der renommierten<br />

Friedrich-Wilhelms-Universität. Neben<br />

regelmäßigen Vorlesungen und<br />

Kursen in Innerer Medizin sowie<br />

seiner ärztlichen Tätigkeit – privat<br />

wie in Polikliniken – prägte besonders<br />

die Zusammenarbeit mit der<br />

Firma Schering (1) seine zweite Lebenshälfte.<br />

Im Laufe der Jahre kam<br />

es dort unter seiner Leitung und Mitwirkung<br />

zur Entwicklung von Atophan<br />

(Antirheumatikum) und Urotropin<br />

(Harnwegsdesinfiziens), deren<br />

therapeutische Wirksamkeit und<br />

damit langjährige Verbreitung ihm<br />

ein gutes Auskommen sicherten.<br />

Das Jahr 1933 bedeutete die elementare<br />

Zäsur in Nicolaiers Biografie.<br />

Zwar war er bereits 1921 aus<br />

dem Judentum ausgetreten und in<br />

der Folge konfessionslos geblieben,<br />

doch änderte das aus Sicht der<br />

Nationalsozialisten nichts: Wenige<br />

Monate nach der Machtübernahme<br />

wurde Arthur Nicolaier – wie im<br />

Laufe der Jahre mehr als einem<br />

Drittel der Hochschullehrer der<br />

Berliner Universität (2) – die Lehrbefugnis<br />

entzogen. Noch im Jahr<br />

zuvor waren in zahlreichen Tageszeitungen<br />

anlässlich seines 70. Geburtstages<br />

Artikel „zu Ehren des<br />

Tetanusentdeckers“ erschienen.<br />

Nach dem Entzug der Lehrbefugnis<br />

folgten das Ende der Mit-<br />

A 266 <strong>Deutsches</strong> Ärzteblatt | Jg. 110 | Heft 7 | 15. Februar 2013


THEMEN DER ZEIT<br />

gliedschaft in der Berliner Medi -<br />

zinischen Gesellschaft und 1938<br />

schließlich das Erlöschen der Approbation.<br />

Gerade der Verlust der<br />

beruflichen Grundlage traf viele<br />

Ärzte existenziell – die meisten Betroffenen<br />

versuchten danach, ihre<br />

Heimat zu verlassen. Für Nicolaier<br />

kam dieser Schritt in seinem Alter<br />

nicht mehr infrage. Er blieb bis zuletzt<br />

in Berlin und musste die wei -<br />

tere öffentliche Isolierung erleiden,<br />

die mit einer Unzahl an Repressionen<br />

und Schikanen einherging.<br />

Im Frühjahr 1941 wurde dem<br />

mittlerweile 79-Jährigen mitgeteilt,<br />

er habe innerhalb von 14 Tagen seine<br />

Wohnung zu verlassen – für „arische“<br />

Mieter wurde der Wohnraum<br />

„freigemacht“, das Inventar zugunsten<br />

der Staatskasse versteigert. Nicolaier<br />

blieb danach nicht mehr<br />

als ein kleines Zimmer zur Untermiete<br />

in einem „jüdischen Wohnhaus“.<br />

Erhaltene Briefe Nicolaiers<br />

aus dieser Zeit vermitteln Ein -<br />

blicke in die Welt des Isolierten,<br />

dem als „gekennzeichneten“ Juden<br />

eine Teilhabe am öffentlichen Leben<br />

nach und nach unmöglich gemacht<br />

wurde.<br />

Am 28. August 1942 erhielt er<br />

das Schreiben, aus dem für ihn un -<br />

zweifelhaft hervorging, dass er für<br />

den nächsten „Alterstransport“ nach<br />

Theresienstadt vorgesehen war. Nach<br />

einigen vorangegangenen Bemühungen,<br />

die drohende Deportation<br />

noch abzuwenden, bedeutete dies<br />

das Ende aller Hoffnungen. Noch<br />

am selben Tag regelte er einige letzte<br />

Dinge und setzte schließlich seinem<br />

Leben ein Ende – Arthur Nicolaier<br />

starb in den frühen Morgenstunden<br />

des 29. August 1942 an<br />

einer Überdosis Morphium.<br />

Botschaft an die Nachwelt<br />

Zuvor war es ihm unter großen<br />

Schwierigkeiten mit Hilfe eines Anwalts<br />

und seiner Nichte gelungen,<br />

sein Vermögen vor dem Zugriff der<br />

NS-Behörden zu schützen. Nicht<br />

zuletzt seine Selbsttötung spielte<br />

dabei im Nachhinein eine Rolle,<br />

war er doch im Inland gestorben<br />

und fiel somit nicht unter das zynische<br />

Konstrukt von NS-Juristen,<br />

demzufolge das Vermögen „mit der<br />

Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts<br />

ins Ausland“ (3) – im Klartext:<br />

mit der Deportation – an das<br />

Deutsche Reich fiel.<br />

Vielleicht war dies neben anderen<br />

einer der Gründe dafür, dass<br />

Nicolaier in seinem Abschiedsbrief,<br />

der nur einen Satz enthält („Ich<br />

scheide freiwillig aus dem Leben“),<br />

eine versteckte Botschaft unterbrachte.<br />

Das nur im Gegenlicht<br />

sichtbare Wasserzeichen im Papier<br />

besteht aus einem einzigen Wort:<br />

INVICTUS – lateinisch für: unbesiegt,<br />

unbezwungen.<br />

Das Lebensende von Arthur Nicolaier<br />

ist nur ein Beispiel dafür,<br />

dass viele Suizide im Kontext der<br />

NS-Verfolgung – bei aller Verzweiflung<br />

und Hilflosigkeit – durchaus<br />

auch Signaturen von Selbstbehauptung<br />

und Würde tragen konnten,<br />

die oftmals in dem Wunsch nach<br />

einem möglichst selbstbestimmten<br />

Ende zum Ausdruck kamen. Wenigstens<br />

in dieser letzten aller Entscheidungen<br />

wahrten die Betroffenen<br />

somit eine Autonomie, die die<br />

Nationalsozialisten ihnen längst<br />

abgesprochen hatten. Viele der<br />

Menschen, die wie Arthur Nicolaier<br />

diesen Weg wählten, gerieten<br />

nach 1945 in Vergessenheit. ▄<br />

Tim Ohnhäuser<br />

Institut für Geschichte, Theorie und Ethik<br />

der Medizin, Universitätsklinikum Aachen<br />

tohnhaeuser@ukaachen.de<br />

ANMERKUNGEN<br />

1. Damals noch: „Chemische Fabrik auf<br />

Actien (vormals E. Schering)“.<br />

2. Vgl. Sven Kinas: Massenentlassungen und<br />

Emigration, in: Michael Grüttner u.a.: Die<br />

Berliner Universität zwischen den Weltkriegen<br />

1918–1945, Berlin 2012, S. 386.<br />

3. Aus dem „Reichsbürgergesetz“, Elfte Verordnung<br />

vom 25. November 1941.<br />

4. Fischer, Anna: Erzwungener Freitod. Spuren<br />

und Zeugnisse in den Freitod getriebener<br />

Juden der Jahre 1938–1945 in Berlin, Berlin<br />

2007.<br />

SUIZID IM NATIONALSOZIALISMUS<br />

Die Selbsttötungen im Nationalsozialismus als<br />

Reaktion auf Ausgrenzung und Verfolgung stellen<br />

bis heute einen wenig beachteten Forschungsgegenstand<br />

dar. Dabei waren sie spätestens<br />

ab 1941 allgegenwärtig, blieb doch<br />

der Suizid neben dem Untertauchen in die „Illegalität“<br />

und beschwerlichen Fluchtversuchen<br />

die einzige Möglichkeit, sich einer Deportation<br />

zu entziehen. Suizid als symbolischer Akt eines<br />

politischen Widerstands oder als spontane Tat<br />

in höchster Verzweiflung – zwischen diesen<br />

beiden Extremen gab es eine große Bandbreite<br />

an situativen Entscheidungen von Einzelpersonen,<br />

Eheleuten und ganzen Familien. Die<br />

Selbsttötung kann allgemein als ein widerständiger<br />

Akt interpretiert werden – der „reibungslose“<br />

Ablauf der Deportationen wurde so oftmals<br />

empfindlich gestört, zudem wurde so den<br />

Behörden der Zugriff auf das Vermögen erschwert<br />

oder sogar verbaut. Noch wichtiger erscheint<br />

aus der Perspektive der Betroffenen,<br />

mit diesem letzten Akt der Selbstbestimmung<br />

über die Umstände und den Zeitpunkt des Lebensendes<br />

selbst zu entscheiden.<br />

Wie viele Menschen während der NS-Zeit<br />

ihr Leben durch eigene Hand beendeten, wird<br />

sich nie exakt bestimmen lassen. Von 1938<br />

bis 1945 wurden alleine auf dem Jüdischen<br />

Friedhof Berlin-Weißensee mindestens 1 677<br />

Menschen bestattet, die Suizid verübt hatten<br />

(4). Im Berliner Jüdischen Krankenhaus übertrafen<br />

die Einlieferungen nach Suizidversuch<br />

im Zusammenhang mit den „Osttransporten“<br />

ab Herbst 1941 alle anderen Aufnahmegründe.<br />

Wie mit diesen Patienten zu verfahren sei,<br />

löste Diskussionen unter den behandelnden<br />

Ärzten aus. Denn oftmals wurden die nach<br />

Suizidversuch Eingelieferten auf Veranlassung<br />

der Gestapo nach ihrer Stabilisierung „vorrangig“<br />

deportiert. Der omnipräsente ärztliche<br />

Konflikt zwischen der Pflicht zur Lebenserhaltung<br />

und einem Sterbenlassen zur Verhin -<br />

derung weiterer Leiden verlief hier unter infernalischen<br />

Begleitumständen. Viele Ärzte<br />

hatten auch in anderen Situationen mit der<br />

Suizidthematik zu tun – ob als Behandelnde<br />

nach einem Notruf, als Eingeweihte in Selbsttötungspläne<br />

langjähriger Patienten oder<br />

durch das Ausstellen von Rezepten (zumeist<br />

für die Barbiturate Veronal und Luminal). Jedoch<br />

ist darüber bis heute wenig überliefert<br />

und bekannt.*<br />

*Der Autor ist sehr dankbar für Hinweise zu dieser Thematik,<br />

die strikt vertraulich behandelt werden.<br />

A 268 <strong>Deutsches</strong> Ärzteblatt | Jg. 110 | Heft 7 | 15. Februar 2013

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