Die Nominierungen - Die Deutsche Bühne
Die Nominierungen - Die Deutsche Bühne Die Nominierungen - Die Deutsche Bühne
D E U T S C H E R T H E AT E R P R E I S 2012 Die Nominierungen
- Seite 2 und 3: Premieren 2012/2013 08.09.2012 KISS
- Seite 4 und 5: LEBENSWERK „Wir sind eigentlich e
- Seite 6 und 7: Ursula Ehler Das Wilde ist ja innen
- Seite 8 und 9: egie schauspiel Martin Kušej. Seba
- Seite 10 und 11: Darstellerin I Darsteller Schauspie
- Seite 12 und 13: Regie Musiktheater Lorenzo Fioroni.
- Seite 14 und 15: SängerDarstellerin I Sängerdarste
- Seite 16 und 17: ChoreograFie Mei Hong Lin. Nanine L
- Seite 18 und 19: Darstellerin I Darsteller TANZ Jack
- Seite 20 und 21: Regie Kinder- und Jugendtheater Bar
- Seite 22 und 23: Bühne I Kostüm Victoria Behr. Bar
- Seite 24 und 25: Preis des Präsidenten Alles auf Nu
- Seite 26 und 27: TV- & Kulturmagazin Oktober · Nove
- Seite 28 und 29: Die Online-Jobbörse für alle Beru
- Seite 30 und 31: Nominiert für den Deutschen Theate
- Seite 32 und 33: Verschenken Sie 12 x das volle Büh
- Seite 34 und 35: Universität Hildesheim Wintersemes
- Seite 36: I N F O S & K A R T E N ↗ Düssel
D E U T S C H E R T H E AT E R P R E I S 2012<br />
<strong>Die</strong> <strong>Nominierungen</strong>
Premieren 2012/2013<br />
08.09.2012<br />
KISS ME, KATE<br />
von Cole Porter<br />
BEnJaMin REinERS | BERnd Mottl<br />
09.09.2012<br />
L‘OPERA SERIA<br />
von Florian leoPold Gassmann<br />
MaRK RohdE | MichiEl diJKEMa<br />
21.10.2012<br />
LADY MACBETH VON MZENSK<br />
von dmitri sChostakowitsCh<br />
KaREn KaMEnSEK | FRanK hilBRich<br />
22.12.2012<br />
COSÌ FAN TUTTE<br />
von wolFGanG amadeus mozart<br />
KaREn KaMEnSEK | alExandER chaRiM<br />
08.02.2013<br />
OREST (deutsChe erstauFFührunG)<br />
von manFred trojahn<br />
GREGoR Bühl | EnRico lüBBE<br />
14.04.2013<br />
EUGEN ONEGIN<br />
von Peter i. tsChaikowsky<br />
ivan REpUšić | inGo KERKhoF<br />
08.06.2013<br />
DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG<br />
von riChard waGner<br />
KaREn KaMEnSEK | BEnEdiKt von pEtER<br />
Madame Bovary | Ballett-Uraufführung von Jörg Mannes | Karine Seneca (Emma Bovary) | Foto: Gert Weigelt
Zum siebten Mal wird in diesem Jahr der <strong>Deutsche</strong> Theaterpreis<br />
DER FAUST vergeben, nach Essen, München, Stuttgart, Mainz, erneut<br />
Essen und Frankfurt nun in Erfurt und damit erstmals in<br />
einem Theater der neuen Bundesländer. Unter den Nominierten sind<br />
natürlich Künstler großer Staatsbühnen in Berlin, Hamburg, München<br />
oder Stuttgart. Aber es sind auch wieder ganz „normale“ Stadttheater<br />
wie die in Augsburg oder Bochum dabei. Auch das kleine Theater im<br />
Bauturm hat die Jury überzeugt, das in Köln das Leitungsmodell einer<br />
„Regie-Gruppe“ praktiziert, bei dem neben dem Leiter und der Dramaturgin<br />
mehrere RegisseurInnen für je drei Spielzeiten die künstlerischen<br />
Geschicke des Hauses lenken. Oder (vertreten durch den Schauspieler<br />
Burghart Klaußner) das St. Pauli-Theater in Hamburg: das älteste Privattheater<br />
in einer traditionsreichen Privattheater-Stadt, bei dem das raue<br />
soziale Klima der Reeperbahn nicht nur draußen vor der Tür, sondern<br />
auch durch die Programmdramaturgie des Hauses weht.<br />
Köln<br />
Osnabrück<br />
Oberhausen<br />
Bochum<br />
Duisburg<br />
Düsseldorf<br />
Mainz<br />
Hamburg<br />
Oldenburg<br />
Hannover<br />
Rüsselsheim<br />
Darmstadt<br />
Stuttgart<br />
Augsburg<br />
München<br />
Berlin<br />
Dresden<br />
Theaterland Deutschland und die<br />
Theaterstädte mit <strong>Nominierungen</strong><br />
für den FAUST 2012<br />
Sind diese Nominierten nun<br />
„die Besten“? Ach – das ist<br />
so eine Frage! Wenn sich das<br />
Theater in Deutschland nach<br />
dem Prinzip der Hitparade<br />
organisieren ließe, könnten<br />
wir Kritiker ja gleich zu Hause<br />
bleiben. Aber darum geht<br />
es natürlich nicht, kann es bei<br />
so einem komplexen Gebilde<br />
wie Theater auch nie gehen.<br />
Jedes Ranking würde diese<br />
Komplexität bis zur Unkenntlichkeit<br />
planieren. Weiter<br />
führt es, noch einmal an die<br />
prägende Intention des FAUST<br />
zu erinnern: Es geht darum,<br />
Produktionen und Künstler<br />
auszuzeichnen, die das deutsche<br />
Theater in besonders<br />
überzeugender Weise repräsentieren.<br />
Das jedenfalls kann<br />
man von den 26 Nominierten<br />
und Preisträgern ohne jeden<br />
Zweifel behaupten. Und man muss damit keineswegs leugnen, dass es<br />
andere Beispiele gäbe, die das ebenfalls gekonnt hätten.<br />
VERANSTALTER und Förderer<br />
Förderer 2012<br />
Veranstaltungspartner<br />
Medienpartner<br />
DER FAUST<br />
Einmal im Jahr das zusammenzutragen, in dem sich das deutsche Theater<br />
besonders eindrucksvoll zeigt, und dabei auch die Vielfalt dieser<br />
Theaterszene zu berücksichtigen: die Aufgabe ist des Fleißes der Jury<br />
wert, die aus den rund 500 Vorschlägen der Theater die 24 Nominierten<br />
in acht Kategorien sowie die Träger des Lebenswerk-Preises sowie des<br />
Preises des Präsidenten ausgewählt hat. Nun, bei der Preisverleihung<br />
am Theater Erfurt, hat wieder die <strong>Deutsche</strong> Akademie der Darstellenden<br />
Künste das letzte Wort: Sie wählt aus den Dreiergruppen die Sieger des<br />
Jahres 2012. Viel falsch machen kann sie dabei eigentlich nicht mehr,<br />
aber sie kann acht Theatermachern eine große Freude bereiten. Spannend<br />
bleibt die Sache damit allemal.<br />
detlef Brandenburg<br />
Automobilpartner<br />
<strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 11 I 2012<br />
III
LEBENSWERK<br />
„Wir sind eigentlich<br />
ein Gespräch“<br />
Tankred Dorst erhält mit seiner<br />
Ehefrau und Mitarbeiterin Ursula Ehler<br />
den <strong>Deutsche</strong>n Theaterpreis<br />
DER FAUST 2012 für das Lebenswerk.<br />
Ein Gespräch.<br />
Fotos: Andrea Huber<br />
Interview w<br />
Detlev Baur<br />
Herr Dorst, Sie sind schon über fünf Jahrzehnte<br />
ein erfolgreicher Dramatiker …<br />
Tankred Dorst Man erschrickt!<br />
Doch, doch. Mindestens. Dabei hatten<br />
Sie immer Erfolg und keine Tiefpunkte<br />
zu verkraften. Können Sie die Entwicklung<br />
Ihres Theaterlebens schildern? Wie<br />
fing es denn an?<br />
Tankred Dorst Es ging schon rauf und<br />
runter, es gab auch Niederlagen. Man<br />
muss damit umgehen können. Angefangen<br />
habe ich in einem Studententheater,<br />
einer Marionettenbühne<br />
in Schwabing, für das ich meine ersten<br />
fünf Stücke geschrieben habe. Eines<br />
davon hatte 1958 Premiere und wird<br />
dort jetzt noch gelegentlich gespielt.<br />
Ursula Ehler Du solltest es nach so<br />
langer Zeit vielleicht mal wieder ansehen.<br />
Tankred Dorst Ich sehe mir eigene<br />
Stücke ja nicht gerne an.<br />
Und warum haben Sie Stücke geschrieben<br />
und nicht Regie geführt oder Puppen<br />
gebaut?<br />
Tankred Dorst Figurentheater interessiert<br />
mich heute noch. Es gibt da erstaunliche<br />
Erfindungen. Aber ich wollte<br />
immer schreiben, an Regie habe ich<br />
damals gar nicht gedacht. Inzwischen<br />
denke ich, dass der Regisseur mit seiner<br />
Inszenierung das Stück gewissermaßen<br />
zu Ende schreibt. Es gibt<br />
immer wieder Konflikte zwischen Regisseur<br />
und Autor, es ist entscheidend,<br />
wie der Regisseur mit Figuren und mit<br />
einer Geschichte umgeht; vom Blatt<br />
spielen funktioniert nicht. Regisseur<br />
und Autor sollten gemeinsam an der<br />
Sache arbeiten. Heute sind die Regisseure<br />
oft wie ein Markenzeichen für<br />
einen bestimmten Stil. Das war früher<br />
nicht so. Dafür war früher die Einteilung<br />
zwischen den Gattungen viel<br />
strenger. Man musste in der Gattung<br />
bleiben. Ich hatte Glück mit Regisseuren.<br />
Zadek war eine wichtige Bezugsperson.<br />
Er zwang mich dazu, auf der<br />
eigenen Meinung zu bestehen. Das<br />
war gut. Er hat viel von mir inszeniert:<br />
„<strong>Die</strong> Kurve“, „Große Schmährede an der<br />
Stadtmauer“, „Eiszeit“, „Kleiner Mann,<br />
was nun“, „Rotmord“, die Filmversion<br />
von meinem Theaterstück „Toller“. Ja,<br />
und Molière. Er wollte, dass ich eine<br />
neue Übersetzung und Fassung vom<br />
„Geizigen“ machte. <strong>Die</strong> vorhandenen<br />
Übersetzungen fand er zu „zierlich“.<br />
Ich erinnere mich mit Vergnügen an<br />
die letzte Szene in unserer Version: Peter<br />
Lühr als Harpagon findet sein Geld<br />
wieder, zählt mit feuchten Fingern gierig<br />
die Geldscheine, und in seiner Gier<br />
verschlingt er die Scheine, frisst sie<br />
auf. Aber auch von anderen Regisseuren<br />
habe ich fürs Schreiben gelernt:<br />
von Hans Lietzau, von <strong>Die</strong>ter Dorn, von<br />
Patrice Chéreau, von Peter Palitzsch.<br />
Peter Palitzsch war ein kluger Reflektierer,<br />
Zadek hatte eine ungebrochene<br />
Vitalität. Zadek wollte immer, dass ich<br />
bei den Proben dabei war, andere Regisseure<br />
wollten das nicht.<br />
Und Sie haben sich da immer nach der<br />
Arbeitsweise des Regisseurs gerichtet?<br />
Tankred Dorst Aus meiner eigenen<br />
Erfahrung als Regisseur weiß ich inzwischen,<br />
die Bezugsperson für den<br />
Schauspieler sollte immer der Regisseur<br />
sein. Wenn Regisseur und Autor<br />
gegensätzlicher Meinung sind, ist das<br />
für die Schauspieler äußerst schwierig.<br />
Wann wurde Ihr erstes Stück aufgeführt?<br />
Tankred Dorst „<strong>Die</strong> Kurve“ 1959 in Lübeck.<br />
Es wurden damals kaum neue<br />
deutsche Autoren gespielt. Man kam<br />
gar nicht auf die Idee, nach neuen<br />
deutschen Autoren Ausschau zu halten<br />
oder sie gar zu fördern.<br />
Dann waren Sie also einer der ersten<br />
deutschen Dramatiker nach dem Krieg?<br />
Tankred Dorst Es gab „Draußen vor der<br />
Tür“ von Borchert, – das wars. Es war so<br />
viel nachzuholen: die vormals verbotenen<br />
deutschen und die ausländischen<br />
Autoren. Sartre, Giraudoux, Anouilh,<br />
Tennessee Williams und die beiden<br />
Schweizer Dürrenmatt und Frisch. <strong>Die</strong><br />
vor allem. Und Zuckmayer wurde viel<br />
gespielt, „Des Teufels General“ war mir<br />
ein wichtiges Stück. Ich habe Zuckmay-<br />
IV<br />
<strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 11 I 2012
er nie persönlich kennengelernt, er hat<br />
mir zu einigen Stücken freundschaftlich<br />
zugewandte Briefe geschrieben.<br />
Brecht kam im Westen erst später<br />
auf die Spielpläne, wurde dann aber<br />
zum verbindlichen Vorbild für Nachwuchsautoren:<br />
Schreibt gefälligst wie<br />
Brecht!<br />
Ursula Ehler In der Gruppe 47 warst<br />
du nicht.<br />
Tankred Dorst Ich wollte mich nie einer<br />
Gruppe anschließen. Ich habe einige gute<br />
Freunde, die Schriftsteller sind. Aber<br />
der Begriff Gruppe irritiert mich. Ich<br />
denke, der Autor, das ist der Einzelne.<br />
Aber ein ausgesprochener Einzelgänger<br />
sind Sie auch nicht: Bei der von Ihnen<br />
mitbegründeten Biennale setzten Sie<br />
sich freiwillig mit anderen Theaterleuten<br />
und Dramatikern auseinander.<br />
Tankred Dorst Das ist etwas anderes.<br />
Für das Festival muss man eine Auswahl<br />
treffen. Wir sind ja neugierig, wir<br />
möchten ja wissen, was in all den anderen<br />
Ländern geschrieben wird. Man<br />
beschäftigt sich mit den vorgeschlagenen<br />
Stücken bzw. Inszenierungen. Wir<br />
haben uns immer bemüht, das „Spezielle“<br />
zu finden, nicht das „Typische“,<br />
das „Allgemeine“, den gerade vorherrschenden<br />
Trend bedienen. <strong>Die</strong> Auswahl<br />
ist vielleicht ungerecht gegenüber den<br />
Stücken, die wir nicht einladen.<br />
Und wie ist das mit Ihnen, Frau Ehler?<br />
Wie sieht Ihre Zusammenarbeit<br />
aus? Günther Erken, der Sie gut kennt,<br />
schrieb einmal über Sie als „zweieinige<br />
Werkstatt“.<br />
(Beide lachen)<br />
Ursula Ehler Ich wollte nicht schreiben,<br />
ich habe Kunst studiert, Bildhauerei.<br />
Wir haben uns kennengelernt, als<br />
Tankred schon ein durchgesetzter Autor<br />
war. Es gab damals einen Übersetzungsauftrag<br />
für ihn. Er fragte mich,<br />
ob ich mitarbeiten wollte.<br />
Tankred Dorst Wir haben dann einige<br />
Molière–Stücke übersetzt. Ich wundere<br />
mich heute noch, wie sich das ergeben<br />
hat.<br />
Frau Ehler, ist Ihre Arbeit dann eine Art<br />
Beratertätigkeit?<br />
Ursula Ehler Anfangs war ich wohl eine<br />
Art Test–Kaninchen. Es ergab sich ein<br />
Vertrauensverhältnis, er erzählte mir<br />
von seinen Plänen, so hat sich das weiterentwickelt.<br />
Zu Anfang haben mich<br />
manchmal Frauen gefragt, warum ich<br />
nicht etwas Eigenes mache, warum ich<br />
meine Kreativität in die Arbeit dieses<br />
Mannes stecken müsse. Oder sie haben<br />
gemeint, ich mache für ihn Recherchen<br />
oder tippe die Stücke ab. Das war mir<br />
aber egal, weil ich die Arbeit mit ihm<br />
immer interessant und spannend fand,<br />
die Projekte mir gefielen. Eine Generation<br />
später haben mir dann jüngere<br />
Frauen gesagt, sie fänden es großartig,<br />
dass sich ein Paar gemeinsam einer Sache<br />
widmet. Sie wollten eher wissen,<br />
wie man es hinkriegt, dass sich der Kerl<br />
nicht davor fürchtet.<br />
Tankred Dorst Wir sind ein Gespräch.<br />
Für Dialoge ist es sinnvoll, wenn man<br />
sie spricht und hört, wie sie klingen.<br />
Ursula Ehler Wenn ich bei manchen<br />
Plänen nicht gleich angebissen habe,<br />
wollte er mich immer überzeugen,<br />
wollte so wohl ausprobieren, ob seine<br />
erdachte Geschichte lebendig werden<br />
konnte.<br />
Ihr Leben mit der konstanten Zusammenarbeit,<br />
in München und in dieser<br />
Wohnung hat etwas sehr Beständiges<br />
und nichts von einem anarchischen,<br />
wilden Künstlerleben.<br />
Tankred Dorst wurde 1925 in Sonneberg/Thüringen<br />
geboren und verbrachte<br />
dort seine Kindheit und frühe Jugend.<br />
1944 zur Wehrmacht eingezogen,<br />
geriet er nach wenigen Monaten<br />
in amerikanische Gefangenschaft.<br />
1947 nach Westdeutschland entlassen,<br />
ging er dort wieder zur Schule und<br />
begann nach dem Abitur ein Studium<br />
der Germanistik, Kunstgeschichte<br />
und Theaterwissenschaft. Er schrieb<br />
in dieser Zeit erste Theaterstücke für<br />
eine studentische Marionettenbühne,<br />
ab 1960 mit wachsendem Erfolg für<br />
die große <strong>Bühne</strong>. Er erhielt zahlreiche<br />
Preise und Auszeichnungen, u. a. den<br />
Büchnerpreis, und gehört seit langem<br />
zu den meist gespielten deutschen<br />
Dramatikern mit Stücken wie „<strong>Die</strong> Kurve“,<br />
„Toller“, „Eiszeit“, „Herr Paul“, „Korbes“,<br />
Ich Feuerbach“, „Merlin oder das<br />
wüste Land“. Außerdem entstanden<br />
Drehbücher, Opernlibretti, Erzählungen,<br />
einige Kinderstücke sowie drei Filme<br />
in eigener Regie. 2006 inszenierte<br />
Tankred Dorst für die Bayreuther Festspiele<br />
Wagners „Der Ring des Nibelungen“.<br />
Er ist Mitbegründer der Biennale<br />
„Neue Stücke aus Europa“. Seit vielen<br />
Jahren schreibt er die meisten Stücke<br />
in Zusammenarbeit mit seiner Frau<br />
Ursula Ehler.<br />
DER FAUST<br />
<strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 11 I 2012<br />
V
Ursula Ehler Das Wilde ist ja innen.<br />
Tankred Dorst Wir leben miteinander<br />
und reden über Stücke, über erfundene<br />
Personen, wie wir auch über andere,<br />
reale Menschen reden. Da gibt es<br />
gar keinen Unterschied. Wir leben mit<br />
ihnen.<br />
Und die kommen dann in eine Schublade<br />
in Ihrem Apothekerschrank?<br />
Tankred Dorst Ja, hier. <strong>Die</strong>se Schubladen<br />
sind unser einziges Ordnungsprinzip<br />
für angefangene oder geplante<br />
Projekte. <strong>Die</strong> nicht geschriebenen<br />
Stücke sind für mich genauso lebendig<br />
wie die geschriebenen.<br />
Ursula Ehler Ich finde, dass Stücke ohnehin<br />
nie ganz fertig sind.<br />
Tankred Dorst Bei „Merlin“ haben wir<br />
uns gesagt, dass wir einfach aufhören,<br />
sonst wäre der Stoff immer weitergewuchert.<br />
Wie lange haben Sie denn etwa daran<br />
geschrieben?<br />
Tankred Dorst Über zwei Jahre. Ursprünglich<br />
kam die Anregung von Peter<br />
Zadek. Ich habe dann Mallory gelesen,<br />
„La Mort d’Arthur“, und dachte: Ritter,<br />
die sich totschlagen um ihrer Ehre willen<br />
– mir fällt dazu gar nichts ein. Wir<br />
haben aber dann doch angefangen.<br />
Ursula Ehler Und sind verreist mit unseren<br />
Heften, weil wir gerne unterwegs<br />
in Hotels schreiben, an einem fremden<br />
Ort, umgeben von fremden Menschen<br />
und einer fremden Sprache.<br />
Wer war für Sie ein prägender Autor,<br />
Herr Dorst?<br />
Tankred Dorst Natürlich Büchner, natürlich<br />
Tschechow. Und Gerhart Hauptmann,<br />
wie er seine Personen erfindet<br />
und in seine Vorstellungswelt einbringt.<br />
Ursula Ehler Und natürlich der Allergrößte.<br />
Tankred Dorst Ja. Shakespeare sowieso.<br />
Ich habe ihn schon als Vierzehnjähriger<br />
gelesen und natürlich nicht<br />
verstanden. Ich habe mich dann mein<br />
Leben lang immer wieder mit Shakespeare<br />
beschäftigt, noch heute mache<br />
ich Entdeckungen.<br />
Hatten Sie schon als Jugendlicher den<br />
Wunsch, Schriftsteller zu werden?<br />
Tankred Dorst Ja. Schon immer. Eigentlich<br />
schon als Kind. (Er lacht) Ich habe<br />
mir Menschen, die ich kannte, die ich<br />
sah, immer in Geschichten vorgestellt.<br />
Mir Abenteuer für sie ausgedacht.<br />
Dabei war ihr Vater Unternehmer?<br />
Tankred Dorst Als er starb, war ich<br />
noch sehr klein. Ich kann mich kaum<br />
an ihn erinnern. Dass er tot war, hat<br />
meine Phantasie sehr beschäftigt. Ein<br />
Mann, der jahrelang lungenkrank im<br />
Bett liegt, sich mehr und mehr in die<br />
Krankheit zurückzieht, während draußen<br />
auf den Straßen die Ideologie des<br />
Gesunden, des Starken lärmt. <strong>Die</strong> Nazizeit<br />
hatte begonnen. Ich hatte als Kind,<br />
als Jugendlicher meine eigene Welt,<br />
habe gelesen und gelesen. Gerade in<br />
umfangreiche Bücher kann man sich<br />
als Leser intensiv hineinbegeben, wie in<br />
eine große Höhle mit vielen Schluchten.<br />
Als ich nach Krieg und Gefangenschaft<br />
in einem düsteren Haus in Wuppertal<br />
wohnte und den ganzen Dostojewski<br />
las, dachte ich unter dem Einfluss der<br />
Lektüre, ich sei in einem Dostojewski–<br />
Haus, in dem ein Mord geschieht.<br />
Sie haben früh für Zadek eine Romanadaption<br />
gemacht, „Kleiner Mann, was<br />
nun“ nach Fallada.<br />
Tankred Dorst Damals durfte man so<br />
etwas als Dramatiker eigentlich gar<br />
nicht. Zadek wollte ein Stück auf die<br />
<strong>Bühne</strong> bringen, das nicht brechtisch–<br />
lehrhaft ist, sondern von Menschen<br />
handelt, die den Zuschauer in Bochum<br />
interessieren. Natürlich ist ein Dialog<br />
auf der <strong>Bühne</strong> etwas anderes als ein<br />
Dialog im Roman. Friedrich Luft hat damals<br />
einen großen Verriss geschrieben,<br />
weil er die Idee falsch fand. Zadek hat<br />
die Kritik riesengroß vergrößert ins Foyer<br />
gehängt. Das Stück ist dann trotzdem<br />
viel gespielt worden. Bis heute.<br />
Den grundsätzlichen Einwand gegen<br />
Romanadaptionen gibt es immer noch.<br />
Ursula Ehler Manchmal zu Recht.<br />
Tankred Dorst Aber wie Brecht richtig<br />
sagte: Wenn es denn kein Theater ist,<br />
was wir machen, nennen wir es eben<br />
„Thaeter“. Solange es seine Wirkung<br />
tut und die Geschichte sich erzählt,<br />
ist das doch egal. – Meinungen … Meinungen!<br />
Es wurde ja auch behauptet,<br />
man wolle und könne keine Geschichten<br />
mehr erzählen. Ich wollte das immer.<br />
<strong>Die</strong> Motive und Anregungen, sogar<br />
Technik und Stil kommen aus dem<br />
eigenen Erleben.<br />
Warum haben Sie in den 90er Jahren<br />
die Biennale mitbegründet? War Ihnen<br />
langweilig?<br />
Tankred Dorst Ursprünglich hatte ich<br />
mit Ursula eine andere Idee: Wir hätten<br />
gern in Bamberg ein internationales<br />
Festival mit dem Thema „<strong>Deutsche</strong><br />
Romantik“ ins Leben gerufen. Wir hatten<br />
schon ein reiches Programm, nicht<br />
nur Theater, auch Konzerte, Veranstaltungen<br />
über Kunst, über Politik, auch<br />
über Psychiatrie und andere Themen<br />
aus der Romantischen Bewegung, die<br />
heute noch nachwirken, lebendig sind.<br />
Aber die Stadt zögerte, die Entscheidung<br />
über das Projekt wurde immer<br />
wieder hinausgeschoben. Da besuchte<br />
uns Manfred Beilharz, der damals<br />
Intendant in Bonn war, und erzählte<br />
uns von seinem Plan, eine Biennale zu<br />
machen, Neue Stücke aus Europa, was<br />
gut zu der damaligen Europa–Euphorie<br />
passte.<br />
Ursula Ehler Was schrieben die Autoren<br />
in dieser Zeit des Umbruchs in<br />
Europa? Neugierig sind wir ja immer<br />
gewesen – wir waren gewonnen! So<br />
haben wir uns auf die Reise gemacht.<br />
Tankred Dorst Wir haben schöne, wunderliche,<br />
spannende Sachen gesehen.<br />
In Bialystok, im östlichen Polen, gab es<br />
ein Theater, das nannte sich „Mittelpunkt<br />
der Welt“ – es befand sich sehr<br />
abgelegen im Wald.<br />
Wie kamen Sie dann nach Bayreuth?<br />
Tankred Dorst Ich glaube, Wolfgang<br />
Wagner hatte in den Kammerspielen<br />
in München den „Merlin“ gesehen und<br />
dachte wohl, ich hätte Verständnis<br />
und Interesse für Wagners „Ring“, für<br />
diesen mythischen Stoff. Am Anfang<br />
war die Arbeit dort sehr schwierig,<br />
der Zeitdruck immens – aber es wurde<br />
mir eine wichtige Zeit. Ich denke noch<br />
immer darüber nach, ein Stück über<br />
meine Bayreuther Erfahrungen zu<br />
schreiben, mit dem Titel „<strong>Die</strong> Fußspur<br />
der Götter“.<br />
VI<br />
<strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 11 I 2012
Drei Komponisten<br />
– Drei Jubiläen!<br />
Richard Wagner<br />
Rienzi, der Letzte der Tribunen<br />
konzertante Aufführung<br />
Young<br />
Premiere: 13.1.2013<br />
Giuseppe Verdi<br />
La Traviata<br />
Lange, Erath, Kurz, Murauer<br />
Premiere: 17.2.2013<br />
Benjamin Britten<br />
Gloriana<br />
Young, Jones, Ultz<br />
Premiere: 24.3.2013<br />
»Wagner-Wahn« 12.5-2.6.2013<br />
dirigiert von Simone Young<br />
12.5. Lohengrin - 14.5. Tristan und Isolde<br />
15.5. Der fliegende Holländer<br />
17.5. <strong>Die</strong> Meistersinger von Nürnberg<br />
19.5. Parsifal - 22.5. Tannhäuser<br />
26.5. Das Rheingold - 28.5. <strong>Die</strong> Walküre<br />
31.5. Siegfried - 2.6. Götterdämmerung<br />
Telefon: (040) 35 68 68<br />
www.staatsoper-hamburg.de
egie schauspiel<br />
Martin Kušej.<br />
Sebastian Nübling.<br />
Rüdiger Pape.<br />
1 „<strong>Die</strong> bitteren Tränen der Petra<br />
von Kant“ in der Inszenierung von<br />
Martin Kušej am am Bayerischen<br />
Staatsschauspiel mit Bibiana<br />
Beglau (Mitte) in der Titelrolle.<br />
2 Sebastian Nüblings Inszenierung<br />
von „Three Kingdoms“ an den<br />
Münchner Kammerspielen.<br />
3 Christian Ballhaus und Ursula<br />
Michelis in Rüdiger Papes<br />
Inszenierung von „Wolke 9“<br />
am Theater im Bauturm Köln.<br />
1 2<br />
3<br />
Fotos: Renate Neder, Arno Declair, Anja Reiermann (Porträts v. li. n. re.), Hans Jörg Michel (1), Arno Declair (2), Michael Oreal (3)<br />
VIII <strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 11 I 2012
Martin Kušej<br />
Zerbrochene Tränen<br />
Sebastian<br />
Nübling<br />
Rüdiger Pape<br />
Kleines Welttheater<br />
„<strong>Die</strong> bitteren Tränen der Petra von Kant“<br />
am Bayerischen Staatsschauspiel<br />
Martin Kušejs Start als Intendant am<br />
Münchner Residenztheater war nicht<br />
ganz leicht. Mit „<strong>Die</strong> bitteren Tränen<br />
der Petra von Kant“ in seiner eigenen<br />
Regie, aufgeführt im Marstall gegen<br />
Ende dieser Spielzeit, gelang ihm jedoch<br />
eine sehr überzeugende Inszenierung.<br />
<strong>Die</strong>se besticht nicht durch<br />
Gemütlichkeit oder durch mitreißende<br />
dramatische Entwicklungen: Zu klar ist,<br />
dass die Hauptfigur, gespielt von einer<br />
extrem präsenten Bibiana Beglau, von<br />
Anfang an in ihren Gefühlsverwirrungen<br />
verloren ist. Wie ein Tier schleicht<br />
sie herum, wie eine Leidensfigur posiert<br />
sie vor oder nach den zahlreichen<br />
Blacks zwischen den Szenen. Da ist das<br />
Auftauchen der schönen Karin (Andrea<br />
Wenzl) eher der Vollzug der Katastrophe<br />
mit Ansage. Und doch überzeugen<br />
die Klarheit des Szenarios und die<br />
Intensität des Katastrophenspiels. <strong>Die</strong>se<br />
Film-Adaption nach Rainer Werner<br />
Fassbinder hat überhaupt nichts melancholisch<br />
Romantisierendes, sondern<br />
transportiert das Gefühlsdesaster der<br />
Modeschöpferin knallhart ins Heute.<br />
Das Publikum sitzt an vier Seiten<br />
um einen Kasten herum, mit Einblicken<br />
durch transparente Scheiben (<strong>Bühne</strong>:<br />
Annette Murschetz). Auf der quadratischen<br />
Spielfläche sind Hunderte von<br />
Glasflaschen in engen Reihen aufgestellt.<br />
Hier steht und stakst, kniet und<br />
liegt die modische Schmerzensfrau,<br />
schneidet sich im Liebeskampf mit<br />
ihrer geliebt-gehassten Freundin. <strong>Die</strong><br />
Glas-Hölle wird noch schärfer, als drei<br />
Dutzend Matratzen auf die Flaschen<br />
und Scherben fallen – und die verlorene<br />
Petra in der letzten Szene zur erhängten<br />
Hausangestellten Marlene spricht. Sophie<br />
von Kessels Porträt dieser Liebend-<br />
Leidenden, die zuvor stumm zwischen<br />
den Gefühlseskapaden stand, ist gerade<br />
im Kontrast zur wilden, dann wieder<br />
apathischen Figur der Bibiana Beglau<br />
eine grandiose Erweiterung dieses intensiv-bedrückenden<br />
Kammerspiels.<br />
Detlev Baur<br />
Europa macht eine gute Figur<br />
„Three Kingdoms“ an den<br />
Münchner Kammerspielen<br />
Europa funktioniert nicht? Im Theater<br />
wohl! Der Beweis heißt „Three Kingdoms“<br />
und ist eine Koproduktion des<br />
Londoner Lyric Hammersmith Theatre,<br />
des Tallinner Theater NO99 und der<br />
Münchner Kammerspiele. Das Stück<br />
hat der Engländer Simon Stephens<br />
geschrieben. Es spielt in England,<br />
Deutschland und Estland. Drei Kulturen,<br />
drei Sprachen prallen ungebremst<br />
aufeinander und explodieren in einem<br />
Fest der Schauspieler. Jedenfalls in der<br />
Uraufführung, die Sebastian Nübling<br />
mit Bravour inszeniert hat.<br />
Der Kopf der Prostituierten Vera<br />
Petrova treibt in einer Tasche im Fluss.<br />
Wie kam er da hin? Und vor allem:<br />
Warum? Was wie ein Krimi beginnt,<br />
sprengt schnell die Grenzen des Wellmade-Plays.<br />
<strong>Die</strong> Ermittlungen führen<br />
das britische Polizisten-Duo nach<br />
Deutschland, dann nach Estland. Immer<br />
tiefer in den international florierenden<br />
Handel mit Prostitution, mit<br />
Menschen. Je weiter die Reise geht,<br />
desto undurchsichtiger wird das Treiben,<br />
desto perfekter das babylonische<br />
Sprachgewirr. <strong>Die</strong> Auflösung des Falls<br />
gerät zunehmend in den Hintergrund.<br />
Vorurteile, Sprachlosigkeit, Missverständnisse<br />
– all das wird spielerisch<br />
leicht zum Hauptthema. Sebastian<br />
Nübling jongliert meisterhaft mit Klischees,<br />
hält souverän die Balance zwischen<br />
Witz und Ernst, zwischen Stringenz<br />
und Wahn, zwischen poetischen<br />
Bildern und einer rauhen Wahrheit. In<br />
dem OP-grünen Kubus (<strong>Bühne</strong>: Ene-<br />
Liis Semper) entsteht ein Panoptikum<br />
der Eitelkeiten, der Korruption und der<br />
Einsamkeiten. <strong>Die</strong>ses Europa, das Stephens<br />
und Nübling da kongenial vorführen,<br />
es ist voller Chancen und noch<br />
mehr Stolperfallen, zum Lachen und<br />
Weinen, voller Energie und noch mehr<br />
Hürden.<br />
Anne Fritsch<br />
„Wolke 9“ am Kölner Theater<br />
am Bauturm<br />
Das Theater am Bauturm ist ein kleines<br />
Privattheater an der angesagten<br />
Aachener Straße. Hier treffen sich die<br />
Jungen, Schönen, kreativ Erfolgreichen<br />
und lassen sich sehen. Im Theater<br />
hinter dem Café taucht das Publikum<br />
in eine dunkle, kleine Theaterwelt.<br />
Drei ältere Herrschaften bahnen sich<br />
schließlich den Weg durch den Mittelgang<br />
und betreten die enge <strong>Bühne</strong>. In<br />
den folgenden 90 Minuten umkreist<br />
das Trio die große Welt der Gefühle.<br />
<strong>Die</strong> Dreiecksgeschichte zwischen dem<br />
pensionierten Lehrer und Eisenbahnfan<br />
Walter, seiner Frau Inge und dem<br />
sportlichen Witwer Karl entwickelt<br />
sich zu mehr als einem bloßen Sexualbeziehungsdrama<br />
unter Rentnern.<br />
Vielmehr schaffen der Regisseur und<br />
sein Ensemble ein unaufdringliches,<br />
aber klug dosiertes, nachdrückliches<br />
Drama um Treue zum Partner auf der<br />
einen Seite versus Treue zum aktuellen<br />
Gefühl.<br />
Zwischen den knappen Szenen<br />
wird rhythmische Gitarrenmusik eingespielt,<br />
auch sonst schafft vor allem<br />
der Soundtrack Atmosphäre. Insgesamt<br />
jedoch behandelt Rüdiger<br />
Pape das Sujet abstrakter, als es der<br />
gleichnamige, in Cannes ausgezeichnete<br />
Film von Andreas Dresen tat.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Bühne</strong> mit einem breiten weißen<br />
Möbelteil, das auf der einen Seite<br />
Walter einen Lesesitzplatz bietet, auf<br />
der anderen Karl als Standfläche für<br />
sein Rennrad dient, zielt auf das große<br />
Thema dieser „Wolke 9“: Zeit. Das<br />
Drehen des <strong>Bühne</strong>n-Mittelteils mit<br />
oder gegen den Uhrzeigersinn in den<br />
Szenenwechseln, die Lektüre Walters<br />
(ein „Zeit“-Buch): All das sind wohl dosierte<br />
Hinweise, die sich im Spiel mit<br />
zunehmender Dauer und Verstrickung<br />
Inges in gestaltetes Leben verwandeln.<br />
So schaffen es Regie und Darsteller, die<br />
Zuschauer direkt anzusprechen mit<br />
einer einfachen Geschichte, die an die<br />
ganz großen Lebensthemen rührt.<br />
Detlev Baur<br />
DER FAUST<br />
<strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 11 I 2012<br />
IX
Darstellerin I Darsteller Schauspiel<br />
Fabian Hinrichs. Burghart Klaußner. Jana Schulz.<br />
1 Fabian Hinrichs mit Ensemble<br />
in René Polleschs „Kill your<br />
Darlings! Streets of Berladelphia“<br />
an der Volksbühne am Rosa-<br />
Luxemburg-Platz Berlin.<br />
2 Burghart Klaußner (mit Christian<br />
Sengewald) als Willy Loman in<br />
„Tod eines Handlungsreisenden“<br />
am St. Pauli Theater Hamburg.<br />
3 „Was ihr wollt“ mit Jana<br />
Schulz als Viola / Sebastian am<br />
Schauspielhaus Bochum.<br />
1 2<br />
3<br />
Fotos: Tagesspiegel/Doris Spiekermann-Klaas, Wilhelm Reinke, Diana Küster (Porträts v. li. n. re.), Thomas Aurin (1), Matthias Horn (2), Arno Declair (3)<br />
X <strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 11 I 2012
Fabian Hinrichs<br />
Empathische Ironie<br />
Burghart<br />
Klaußner<br />
Jana Schulz<br />
Zwei Seelen im rasenden Leib<br />
„Kill your Darlings! Streets of<br />
Berladelphia“ an der Volksbühne am<br />
Rosa-Luxemburg-Platz Berlin<br />
René Pollesch und ein Abend über die<br />
Suche nach der wahren Liebe. Wer<br />
hätte geahnt, dass dabei Theater entsteht,<br />
das nicht mit Zitaten in komplizierten<br />
Hirnwindungen stecken bleibt,<br />
sondern das in den Bauch, ja ins Herz<br />
sackt? „Warum bringt sich niemand<br />
mehr aus Liebe um?” fragt Fabian<br />
Hinrichs zu Beginn des 70-minütigen<br />
Monologs „Kill your Darlings! Streets<br />
of Berladelphia“. Der Satz kommt<br />
so überraschend aus seinem Mund,<br />
gleichzeitig so ernsthaft wie bei einem<br />
Kind, das nach der Größe des Universums<br />
fragt. Währenddessen trabt er in<br />
Glitzerhosen pausenlos über die <strong>Bühne</strong>;<br />
der stumme „Chor“ aus Turnern<br />
formt derweil Figuren.<br />
Der Pollesch-Sound: Sprech-Speed,<br />
Diskurs-Geschwurbel und jede Menge<br />
Ironie – er klingt bei Hinrichs kaum an.<br />
Pollesch hat mit diesem Schauspieler<br />
zu einem wärmeren Ton, einer höheren<br />
Temperatur gefunden. Wo sonst<br />
den Pollesch-Stars die Postdramatik<br />
aus jeder Wortkaskade quillt, steht mit<br />
dem schelmischen Hinrichs ein „echter<br />
Mensch“ auf der <strong>Bühne</strong> und will sich<br />
mit uns verbünden. „Das reicht uns<br />
nicht, da fehlt doch was!“ wiederholt<br />
er endlos zum Thema „verbindliche<br />
Beziehung“. „<strong>Die</strong> besten Szenen haben<br />
wir rausgeschnitten, die würden wir<br />
nicht ertragen“, proklamiert er. „Ich<br />
auch nicht, ich könnte nie wieder ein<br />
Theaterstück spielen!“ Und dann erneut:<br />
dieses einverständige Grinsen,<br />
das so viel sagt wie: „Naja, nicht im<br />
Ernst ...“ Seine Ironie ist eine empathische,<br />
dem kalten Zynismus fern. Dabei<br />
seziert und stilisiert er jede Silbe, greift<br />
zu großen Gesten – und spielt doch so,<br />
als würde er mit jedem Zuschauer im<br />
Anschluss am liebsten noch ein Bier<br />
trinken. Es gilt „Love is all around us“:<br />
vom Regisseur zum Schauspieler zum<br />
Publikum – und zurück.<br />
Barbara Behrendt<br />
Erlöschendes Leben<br />
Willy Loman in „Der Tod eines<br />
Handlungsreisenden“ am St. Pauli<br />
Theater Hamburg<br />
Willy Loman ist ein Nichts. Dabei gleicht<br />
er von außen betrachtet dem Durchschnittsamerikaner:<br />
mit Haus, Ehefrau,<br />
zwei Söhnen und einem Job als Vertreter.<br />
Doch hinter dem Schein wartet<br />
der Abgrund: In Wahrheit ist sein Leben<br />
längst zusammengebrochen. Beständig<br />
geht es bergab, bis nach rund zweieinhalb<br />
Stunden der „Tod eines Handlungsreisenden“<br />
eintritt. Am Hamburger<br />
St. Pauli Theater inszenierte Wilfried<br />
Minks den schweren Stoff.<br />
Wenn Burghart Klaußner als Willy<br />
Loman die <strong>Bühne</strong> betritt, muss man<br />
zwei Mal hinschauen, bevor man ihn<br />
wahrnimmt – so grau, gedrückt und<br />
unscheinbar kommt er daher. Er hat<br />
versagt, das aber ist mit seinem Weltund<br />
Selbstbild nicht vereinbar. Und<br />
so betet er die Formeln des American<br />
Dreams unermüdlich vor sich hin und<br />
lügt sich dabei selbst in die Tasche.<br />
Klaußner spielt den zwanghaften Optimisten<br />
derart überzeugend, dass<br />
man sogar in Kenntnis des Dramenausgangs<br />
noch versucht ist, ihm die<br />
Zuversich t abzukaufen, mit der er<br />
sich selbst zu beeinflussen hofft. Entsprechend<br />
nuanciert lässt er zu, dass<br />
die Ausweglosigkeit sein Dasein unermüdlich<br />
untergräbt – Klaußners Seiltanz<br />
ist beängstigend, seine Haltlosigkeit<br />
ohne soziales Netz geht gründlich<br />
unter die Haut. Erst verliert er den<br />
Verstand, dann sein Leben: Um das innere<br />
Verlöschen zum Ausdruck zu<br />
brin-gen, braucht Klaußner keine einzige<br />
große Geste – nur ein Leiser-Werden<br />
bis zur tödlichen Stille und einen<br />
Körper, der allmählich in sich zusammenfällt.<br />
Burghart Klaußner spielt die<br />
Titelfigur so beunruhigend gut, dass<br />
sein Selbstmord nicht nur ihm die finale<br />
Lösung liefert, sondern auch das<br />
Publikum aus dem schier ausweglosen<br />
Spiel gleichsam wie erlöst entlässt.<br />
Dagmar Ellen Fischer<br />
Viola und Sebastian in „Was ihr wollt“<br />
am Schauspielhaus Bochum<br />
Wie viele ist sie? Der Augenblick der<br />
Erkenntnis ist das Grausamste, was<br />
ein gestörter Geist erleben kann. Viola,<br />
die Schiffbrüchige, die Fremde, hat<br />
sich nicht nur als Mann getarnt, um<br />
ihre Überlebenschancen zu erhöhen.<br />
Ihr Zwillingsbruder Sebastian und sie<br />
sind eine Person. Oder vielmehr zwei<br />
Persönlichkeiten, die sich einen Körper<br />
teilen. Gibt es noch mehr? Roger Vontobel<br />
treibt in seiner Inszenierung der<br />
abgründigen Komödie „Was ihr wollt“<br />
am Bochumer Schauspielhaus Shakespeares<br />
Spiel mit den Identitäten ins<br />
Extreme. So weit, bis es die Schauspielerin<br />
Jana Schulz fast zu zerreißen<br />
scheint.<br />
<strong>Die</strong>ses komplexe Regiekonzept<br />
wäre für jede Darstellerin eine große<br />
Herausforderung. Für Jana Schulz<br />
gilt das besonders. Denn sie ist keine<br />
elegante Jongleurin mit Masken und<br />
Tonfällen, sondern immer bis aufs Blut<br />
ehrlich, direkt, authentisch. Kleists bedingungslos<br />
fühlende Heldinnen Penthesilea<br />
und Käthchen kann sie durchfühlen<br />
wie niemand sonst. Nun soll sie<br />
doppelt ehrlich sein oder sogar dreifach,<br />
wenn man Cesario mitrechnet,<br />
den Mann, in den sich Viola bewusst<br />
verwandelt. Ohne zu ahnen, dass in<br />
ihr noch andere schlummern. <strong>Die</strong> Verzweiflung<br />
der Schauspielerin wird zur<br />
Verstörtheit des Menschen, den sie<br />
darstellt. ViolaSebastianCesario wütet,<br />
kämpft, klatscht ins Wasser auf der gefluteten<br />
<strong>Bühne</strong>, sucht tobend die eigene<br />
Mitte und entdeckt, dass sie nicht<br />
nur eine hat. In ihrer kreatürlichen<br />
Kraft findet Jana Schulz Momente gebrochener<br />
Poesie, eine zerbrechliche<br />
Amazone, deren erotische Wirkung auf<br />
Männer und Frauen nur zu größerer<br />
Verwirrung führt. Sie muss noch mehr<br />
kämpfen. Immer mehr. Und das hört<br />
niemals auf.<br />
Stefan Keim<br />
DER FAUST<br />
<strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 11 I 2012<br />
XI
Regie Musiktheater<br />
Lorenzo Fioroni.<br />
Lydia Steier.<br />
Sergio Morabito (links) und Jossi Wieler.<br />
1 Ensemble-Szene aus „Carmen“<br />
in der Inszenierung von Lorenzo<br />
Fioroni am Theater Augsburg.<br />
2 Lydia Steiers Inszenierung<br />
„Saul“ am Oldenburgischen<br />
Staatstheater.<br />
3 Szene aus der Doppelinszenierung<br />
„<strong>Die</strong> glückliche Hand /<br />
Schicksal“ von Jossi Wieler und<br />
Sergio Morabito an der Oper<br />
Stuttgart.<br />
1 2<br />
3<br />
Fotos: privat, Anke Neugebauer, Martin Sigmund (Porträts v. li. n. re.), A.T. Schaefer (1), Andreas J. Etter (2), A.T. Schaefer (3)<br />
XII <strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 11 I 2012
Lorenzo Fioroni<br />
Das Ritual des Lasters<br />
Lydia Steier<br />
Politische Zeitreise<br />
Jossi Wieler I<br />
Sergio Morabito<br />
George Bizets „Carmen“<br />
am Theater Augsburg<br />
Lorenzo Fioroni macht schon mit dem<br />
ersten Bild, das die Zuschauer im Stadttheater<br />
Augsburg sehen, klar, worum es<br />
ihm in seiner „Carmen“-Inszenierung<br />
geht: Noch vor dem ersten Ton gibt der<br />
Vorhang den Blick frei auf ein schummeriges<br />
Restaurant. Blaue Paravents<br />
sperren die Außenwelt aus, Tische und<br />
Stühle stehen in Reih und Glied, ein<br />
Kellner in weißen Handschuhen hält<br />
penibel auf Ordnung. Als er aber einen<br />
der Paravents öffnet, bauscht heftiger<br />
Wind die weißen Vorhänge und bläst<br />
einen Hauch von Chaos herein, den der<br />
Bediente eilig wieder aussperrt. Genau<br />
das ist das Thema des 1972 in Locarno<br />
geborenen Regisseurs: Er fragt nach<br />
dem Widerspiel von Anarchie und Ordnung<br />
und danach, mit welchen Ritualen<br />
und um welchen Preis eine zivilisierte<br />
Gesellschaft ihre vitalen anarchischen<br />
Impulse kanalisieren kann.<br />
<strong>Die</strong> feine Restaurant-Kundschaft<br />
aus schneidigen Soldaten und vornehmen<br />
Bürgersleuten nämlich sperrt<br />
zwar die wilde Außenwelt konsequent<br />
aus. Doch auch das Anarchische im<br />
Inneren will bewältigt werden. Genau<br />
dafür wurde Carmen engagiert, die als<br />
Sängerin dieser Gesellschaft das Verruchte<br />
auf Bestellung liefert. Carmens<br />
exponierteste Kontrahentin aber ist<br />
Micaëla, die Fioroni enorm aufwertet.<br />
Im ersten Akt wirft sie sich dem Beförderungs-Aspiranten<br />
José sehr zielstrebig<br />
als zukünftige Gattin an den Hals.<br />
Dass ihr Bräutigam dem Laster der Libertinage<br />
verfällt, kann sie zwar nicht<br />
verhindern. Doch als am Ende die gesamte<br />
Gesellschaft José zum Corrida-<br />
Ritualmord an der Verführerin treibt,<br />
vollzieht sie eine soziale Reinigung<br />
vom Laster. Und auf Josés resignierende<br />
Schlussworte hin –„Ihr könnt mich<br />
in Arrest nehmen, ich habe sie getötet,<br />
ach meine angebetete Carmen!“ – da<br />
erscheint Micaëla im Brautkleid und<br />
nimmt ihn in Gewahrsam. Er wird fortan<br />
ein braver Ehemann sein.<br />
Detlef Brandenburg<br />
Händels „Saul“ am<br />
Staatstheater Oldenburg<br />
Lydia Steiers Inszenierung von Georg<br />
Friedrich Händels Oratorium „Saul“<br />
in der Halle 10 eines aufgelassenen<br />
Fliegerhorsts, die dem Staatstheater<br />
Oldenburg in der vergangenen Saison<br />
als Ausweichquartier diente: Sie ist eine<br />
furiose politische Zeitreise. Am Anfang<br />
sieht man auf Katharina Schlipfs<br />
zünftiger Gassenbühne Barocktheater,<br />
wie es im Buche steht: Vorn begeben<br />
sich die Haupt- und Staatsaktionen<br />
am Hofe, hinten nimmt der Herrscher<br />
dies alles aufs Gnädigste zur Kenntnis.<br />
Und schon der Kontrast zwischen<br />
plüschiger Ausstattungs-Historie und<br />
nüchterner Hallenarchitektur hat seinen<br />
beträchtlichen ästhetischen Reiz.<br />
In dem Maße aber, in dem Saul sich<br />
in die Intrigen gegen David verstrickt<br />
und in seiner Verblendung die Gesellschaft,<br />
die Familie und damit auch seine<br />
eigene Herrschaftslegitimation ruiniert,<br />
verfällt auch die barocke Pracht:<br />
Perücken und Kleider werden beiseite<br />
geworfen, Anarchie macht sich breit,<br />
Dämonen treiben ihr Wesen. Genau<br />
dieses Vakuum aber schafft erst den<br />
Raum für den Aufstieg Davids zur<br />
Macht. Am Ende erscheint er als moderner<br />
Demagoge im grauen Anzug,<br />
ein politischer Stratege eigener Interessen,<br />
der am Ziel seiner Wünsche genau<br />
die Ängste zu spüren bekommt,<br />
an denen Saul zerbrochen ist.<br />
Unter einem konzeptionell klugen<br />
historischen Spannungsbogen,<br />
in durchweg starker, fesselnder Personenführung<br />
und einer bemerkenswert<br />
profilierten Chorregie zeigt die<br />
1978 in Hartfort/Connecticut geborene<br />
Lydia Steier so die Mechanismen<br />
der Macht – und erinnert beiläufig<br />
daran, dass schon Händel selbst einst<br />
mit dem „Saul“ Position bezogen hatte<br />
im politischen Ränkespiel zwischen<br />
dem etablierten Adel und ehrgeizigen<br />
Emporkömmlingen aus den unteren<br />
Gesellschaftsschichten.<br />
Detlef Brandenburg<br />
Künstlers Erdenwallen<br />
„<strong>Die</strong> glückliche Hand“ und „Osud“<br />
an der Oper Stuttgart<br />
Nein, Schönbergs atonal entfesseltes<br />
Minidrama „<strong>Die</strong> glückliche Hand“<br />
und Janáčeks komprimierten Dreiakter<br />
„Osud“ (Schicksal) in einer Doppelinszenierung<br />
zu koppeln: darauf würde man<br />
so leicht nicht kommen. Zwar geht es<br />
in beiden Opern um das Verhältnis des<br />
Künstlers zum „Weib“. Doch zwischen<br />
expressionistischem Pathos hier und<br />
Tschechow-Realismus dort scheinen<br />
Welten zu liegen. Und in der Tat: So, wie<br />
Jossi Wieler und Sergio Morabito beide<br />
Werke an der Stuttgarter Staatsoper<br />
einander gegenüberstellen, tritt der<br />
Gegensatz grell hervor: In „<strong>Die</strong> glückliche<br />
Hand“ zeigen sie einen Künstler,<br />
der seine Gestik und Mimik offenbar<br />
bei Buster Keaton gelernt hat. Er ringt<br />
mit seiner Inspiration, bis er hinter einem<br />
Glitzervorhang eine atombusige,<br />
aufblasbare Riesenpuppe findet: das<br />
Weib! Zunächst besteigt er das Busengebirge<br />
erfolgreich. Doch als die Schöne<br />
sich abwendet, ist die idealistische Luft<br />
auch schon ’raus aus dem Lustobjekt,<br />
und das Künstlerlein versinkt heillos im<br />
schlappen Weibesleib.<br />
Das hatte sich Schönberg ja nun<br />
doch etwas anders vorgestellt. Aber genau<br />
so, als kommentierendes Satyrspiel<br />
zu Janáčeks Schöpfertragöde „Osud“,<br />
bekommt die Sache ihren frechen Witz.<br />
Auch der Komponist Zivny nämlich versagt<br />
als Liebhaber und Familienvater<br />
und bricht vor der Uraufführung seiner<br />
Oper zusammen, weil er mit diesem<br />
Versagen nicht fertig wird. <strong>Die</strong>se Geschichte<br />
erzählt die Regie nun aber in<br />
detailliertem Realismus mit Hang zur<br />
parodistischen Zuspitzung – und differenziert<br />
genau dadurch die im ersten<br />
Teil salopp hingeworfene Behauptung<br />
über Künstlers Erdenwallen. Unverhofft<br />
entsteht ein brillant sinnstiftender<br />
Kurzschluss zwischen dem Slapstick-<br />
Symbolismus der „Glücklichen Hand“<br />
und dem Detailrealismus von „Osud“.<br />
Detlef Brandenburg<br />
DER FAUST<br />
<strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 11 I 2012<br />
XIII
SängerDarstellerin I Sängerdarsteller<br />
Musiktheater<br />
Nicole Chevalier. Ana Durlovski. Bo Skovhus.<br />
1 Nicole Chevalier als Violetta<br />
Valéry in „La traviata“ an der<br />
Oper Hannover.<br />
2 Ana Durlovski (Mitte)<br />
mit Ensemble als Amina in<br />
„<strong>Die</strong> Nachtwandlerin“ an<br />
der Oper Stuttgart.<br />
3 Bo Skovhus in der Titelrolle<br />
der „Lear“-Inszenierung an der<br />
Hamburgischen Staatsoper.<br />
1 2<br />
3<br />
Fotos: Maurice Korbel, Martin Sigmund, Roland Unger (Porträts v. li. n. re.), Thomas M. Jauk (1), A.T. Schaefer (2), Brinkhoff/Moegenburg (3)<br />
XIV <strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 11 I 2012
Nicole Chevalier<br />
Ana Durlovski<br />
Bo Skovhus<br />
Solo für eine Kurtisane<br />
Zurücktreten hinter die Figur<br />
Das erblindete Herz<br />
Violetta Valéry in Verdis „La traviata“<br />
an der Oper Hannover<br />
Benedikt von Peter, FAUST-Preisträger<br />
des vergangenen Jahres, stellt eine<br />
radikale Frage an Giuseppe Verdis „La<br />
traviata“: Womöglich scheitert die Liebe<br />
der Violetta Valéry gar nicht an „der<br />
Gesellschaft“. Vielleicht ist es vielmehr<br />
so, dass Violettas Liebe so groß, so unbedingt,<br />
so obsessiv ist, dass jede Gesellschaft,<br />
ja, jede Verwirklichung überhaupt,<br />
zu klein für sie wäre. Folglich<br />
sieht man in dieser Inszenierung an der<br />
Staatsoper Hannover auf der nahezu<br />
leeren Vorbühne niemanden als sie: die<br />
vom Wege abgekommene, in die Liebe<br />
verliebte Frau, die ihre Geschichte nur<br />
mehr imaginiert. <strong>Die</strong> Stimmen von Alfredo,<br />
Giorgio, Flora, Annina, die Chöre<br />
der Gäste auf den Bällen – all das klingt<br />
aus dem Zuschauerraum herein, von<br />
den Rängen, aus den Foyers: unwirklich<br />
wie Echos in Violettas Kopf.<br />
Ob das im Sinne Verdis ist: auch das<br />
kann man natürlich infrage stellen.<br />
Dass man es als Zuschauer dennoch<br />
nicht tut, ist allein Nicole Chevalier zu<br />
verdanken. Nach den ersten Minuten<br />
des Erstaunens ist man hingerissen, ja<br />
überwältigt davon, wie diese sängerdarstellerisch<br />
grandiose Sopranistin<br />
den Ansatz ihres Regisseurs in einem<br />
Über-zwei-Stunden-Soloauftritt beglaubigt.<br />
Sie singt famos, stilistisch<br />
in der von Maria Callas begründeten<br />
Tradition eines „psychologischen“ Singens,<br />
vokal mit hellfunkelndem Timbre,<br />
in hochemotional aufgeladener<br />
Stimmführung. Immer wieder staffiert<br />
sie sich mit neuen Kleidern aus: Sie<br />
wirbt um Anerkennung für ihre Liebe,<br />
aber sie wirbt mit den Mitteln der<br />
Kurtisane, die sich als Objekt ausstellt.<br />
Schon in diesem Widerspruch liegt der<br />
Keim des Scheiterns. In einer musiklosen<br />
Sequenz fleht sie geradezu ins Publikum:<br />
„I am Violetta Valéry. This is for<br />
you. Stay here. Stay with me!“. Und das<br />
Publikum liegt ihr zu Füßen.<br />
Detlef Brandenburg<br />
Amina in Bellinis „<strong>Die</strong> Nachtwandlerin“<br />
an der Oper Stuttgart<br />
Immer wieder begegnet man der Behauptung,<br />
die Geschichte von Bellinis<br />
Alpen-Belcanto-Semiaseria „La sonnambula“<br />
(„<strong>Die</strong> Nachtwandlerin“) sei<br />
so hanebüchen, dass man die Oper<br />
kaum sinnstiftend inszenieren könne.<br />
Dass das blanker Unsinn ist, haben<br />
Jossi Wieler und Sergio Morabito an<br />
der Staatsoper Stuttgart schlagend bewiesen.<br />
Sie schauen einfach nur genau<br />
hin, gehen dem sozialen Milieu auf<br />
den Grund, loten die Seelen der Protagonisten<br />
aus – und plötzlich sieht man<br />
eine Geschichte von sozialer Enge und<br />
unterdrückten Wahrheiten, Repression<br />
und neurotischer Verstörung, die<br />
die Figuren mit größter psychischer<br />
Glaubwürdigkeit vorführt.<br />
Dass Wieler und Morabito das so<br />
zeigen können, liegt auch daran, dass<br />
es sich buchstäblich über jede Figur<br />
vermittelt. Dazu braucht man Sänger,<br />
die bereit sind, sich auf dieses Interpretationsniveau<br />
einzulassen. <strong>Die</strong> mazedonische<br />
Sopranistin Ana Durlovski<br />
in der Rolle der Titelheldin Amina ist so<br />
ein Sängerin. Eigentlich ist das ja eine<br />
Bravourpartie, und ja: Ana Durlovski<br />
singt hinreißend; gertenschlank, aus<br />
einer warmen Bronze-Mittellage heraus,<br />
mit lupenreinem Fokus, glockenklar<br />
leuchtend in der Höhe, wunderbar<br />
lyrisch beseelt. Und doch erlebt man<br />
sie in keinem Moment als Opernstar,<br />
der auf dem Hochseil des Belcanto seine<br />
Kunststücke vorführt. Man sieht in<br />
ihr immer und vor allem die Figur: das<br />
zutiefst verletzte Mädchen, mit dem<br />
ein übles Spiel gespielt wurde – und<br />
hört folglich auch die Musik nicht als<br />
selbstzweckhaftes Kunstgebilde, sondern<br />
als Ausdruck dieses Seelenleides.<br />
In diesem Zurücktreten der Künstlerin<br />
hinter die Figur, das doch die Kunst in<br />
keinem Moment an den „Ausdruck“<br />
verrät, ist Ana Durlovski vorbildlich<br />
für ein künstlerisches Ethos, ohne<br />
das zeitgemäßes Musiktheater keine<br />
Überzeugungskraft hätte.<br />
Detlef Brandenburg<br />
König Lear in Aribert Reimanns<br />
Shakespeare-Oper an der<br />
Hamburgischen Staatsoper<br />
Bo Skovhus, der eindrucksvolle Däne<br />
mit der auf unspektakuläre Weise eindringlichen<br />
Bariton-Stimme, ist auf<br />
der <strong>Bühne</strong> ein Verwandlungskünstler.<br />
Das war beispielhaft zu erleben in der<br />
hoch spannenden Produktion von Aribert<br />
Reimanns „Lear“ an der Hamburgischen<br />
Staatsoper – ein Großwerk der<br />
Musiktheatergeschichte im 20. Jahrhundert.<br />
Skovhus hatte die überaus<br />
schwierige Aufgabe, sich die Titelpartie<br />
anzueignen, die Reimann 1978 in<br />
ein Klangmeer von schleichend verwickelten<br />
Tönen und riesigen Akkordbergen<br />
getaucht hatte.<br />
In der Inszenierung von Karoline<br />
Gruber ist Lear kein tattriger Greis,<br />
den die jüngeren Generationen übervorteilen.<br />
Bo Skovhus lässt ihm vielmehr<br />
viel Kraft – körperlich und<br />
stimmlich. Und umso schrecklicher<br />
wirkt deshalb sein Absturz. Wir kennen<br />
ja die Machtmenschen, die Politiker<br />
oder Wirtschaftsbosse, die ihren<br />
würdigen Abgang verpassen oder<br />
vermasseln, weil sie eigentlich von<br />
der Macht nicht lassen können. Auch<br />
Skovhus’ Lear hat sich eingesponnen<br />
in eine bürgerliche Lebenslüge. Als er<br />
seine Nachfolge regeln will, verwirrt<br />
sich im Netz schleimiger Komplimente<br />
und hinterhältiger Intrigen der potentiellen<br />
Erben sein Verstand. Vor allem<br />
aber erblindet sein Herz.<br />
„Wer kann mir hier sagen, wer ich<br />
bin?“, stößt Skovhus hervor. Es ist ein<br />
zutiefst schmerzlicher Prozess der<br />
Selbstvergewisserung, den der 1962 in<br />
Jütland geborene Bariton faszinierend<br />
hörbar macht – verletzlich sanft, tragisch<br />
groß oder bebend verzweifelt ergreifen<br />
Stimme und Akteur vollständig<br />
Besitz von der Partie, die nicht einmal<br />
Reimanns Freund, der in diesem Jahr<br />
gestorbene Jahrhundertsänger <strong>Die</strong>trich<br />
Fischer-<strong>Die</strong>skau, überwältigender<br />
gesungen und deklamiert hat.<br />
Christian Strehk<br />
DER FAUST<br />
<strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 11 I 2012<br />
XV
ChoreograFie<br />
Mei Hong Lin.<br />
Nanine Linning.<br />
Martin Schläpfer.<br />
1 „Romeo und Julia“ in der<br />
Choreografie von Mei Hong Lin<br />
am Staatstheater Darmstadt.<br />
2 Nanine Linnings „Voice Over“<br />
am Theater Osnabrück.<br />
3 Szene aus Martin Schläpfers<br />
„b.09 – Ein <strong>Deutsche</strong>s Requiem“<br />
am Ballett am Rhein Düsseldorf<br />
Duisburg.<br />
1 2<br />
3<br />
Fotos: Barbara Aumüller, Antoinette Mooy, Gert Weigelt (Porträts v. li. n. re.), Barbara Aumüller (1), Kalle Kuikkaniemi (2), Gert Weigelt (3)<br />
XVI <strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 11 I 2012
Mei Hong Lin<br />
Nanine Linning<br />
Martin Schläpfer<br />
Emotionen in der Endlosschleife<br />
Amazonen und Hyänen<br />
<strong>Die</strong> Schönheit des Todes<br />
„Romeo und Julia“<br />
am Staatstheater Darmstadt<br />
Gerade im Verzicht auf Prokofjews bewährte<br />
Komposition zu Shakespeares<br />
„Romeo und Julia“ gelang Mei Hong Lin<br />
ein genialer „Ausreißer“. Statt die Handlung<br />
einmal mehr lediglich in neuer<br />
Bewegungsausprägung zu erzählen,<br />
entschied die gebürtige Taiwanesin,<br />
das Stück radikal anders aufzurollen:<br />
als Rückschau, hochgradig assoziativ,<br />
fokussiert auf das junge Liebespaar.<br />
Ein Jahr später; die Montagues und<br />
Capulets sind weiterhin verfeindet,<br />
Rie Akiyama und Anthony Kirk geben<br />
die Titelhelden als Teenager voller Gier<br />
nach Leben und Glück, immer am Rande<br />
von Gefühlsausbrüchen. Das Paar<br />
wird multipliziert um jeweils sechs<br />
„Alter Egos“, die, zur Gruppe geformt,<br />
von Familienzwist oder gesellschaftlichen<br />
Vergnügen künden. Nebenfiguren<br />
fehlen, ohne dem Zuschauer<br />
deshalb markante Begebenheiten der<br />
Story gänzlich vorzuenthalten. All das<br />
dient dem Ziel, das innere Empfinden<br />
der Charaktere und damit die menschliche<br />
Psyche zu visualisieren.<br />
Das Geschehen, bei dem zwei Tänzer<br />
die hasserfüllte Fehde symbolisieren,<br />
verortete Ausstatter Dirk Hofacker<br />
in einem gruftigen Tonnengewölbe,<br />
das an ein Gefängnis erinnert, dessen<br />
Mauern je nach Stimmungslage<br />
der Insassen in verschiedenes Licht<br />
getaucht werden. Dazu hüllte Serge<br />
Weber die videoclipartig ineinander<br />
übergehenden Bilder in Klänge, die<br />
irgendwie zeitgeistig mal aggressivschrill,<br />
mal sphärisch-sanft in ständiger<br />
Stilvariation das Treiben auf der<br />
<strong>Bühne</strong> anstacheln. 75 Minuten vehementer<br />
Leidenschaft, Verzweiflung<br />
und Tod – so überzeugten die Premiere<br />
und auch Bjanka Ursulovs Kostüme.<br />
Mit renaissanceartigen Versatzstücken<br />
à la geschlitzt-gepuffter Männerpluderhose<br />
oder extravagantem Outfit<br />
für die Maskenballszene trugen sie<br />
zum Verständnis der tanzexpressiven<br />
Inszenierung wesentlich bei.<br />
Vesna Mlakar<br />
„Voice Over“ am Theater Osnabrück<br />
In ihrer letzten Choreografie vor dem<br />
Wechsel nach Heidelberg zeichnet Nanine<br />
Linning das deprimierende Konterfei<br />
heutiger Lebensart nach der Maxime<br />
„immer schneller, billiger, mehr“ bis<br />
zum „geht nicht mehr“. <strong>Die</strong>ses System,<br />
so meint die Niederländerin, habe zu<br />
den globalen Krisen in allen Lebensbereichen<br />
geführt. Auf der <strong>Bühne</strong> spielt<br />
sich das düstere, brutale Szenario eines<br />
permanenten Kampfes von Macht und<br />
Ohnmacht, Mann gegen Frau, Mensch<br />
gegen Meute ab. Entsprechend der Bedeutung<br />
von „voice over“ (Tonspur über<br />
Tonspur) überlagert Michiel Jansen in<br />
seiner Originalkomposition für das ungemein<br />
dynamische, konzise 75-minütige<br />
Tanzstück Sphärenklänge mit Cello-Kantilenen,<br />
ein sanftes Perpetuum<br />
mobile von Windmaschine und Summchören<br />
mit Glockenschlägen.<br />
Auf der leeren <strong>Bühne</strong> lauert unter<br />
einem Scheinwerfer eine kampfbereite<br />
Amazone auf ihre Gegner. Lautlos klettern<br />
Menschtiere mit Fechtmasken in<br />
schwarzen Spitzen-Ganzkörpertrikots<br />
über die Parkettreihen und Zuschauer<br />
auf sie zu. Mit erschreckender Wucht<br />
und Brutalität schlägt die gepanzerte<br />
Frau die Kontrahenten nieder. In einer<br />
späteren Szene dreht sich das Verhältnis<br />
um: Zwei Frauen in lichten langen<br />
Kleidern aalen, duschen, recken sich<br />
unter einem Lichtstrahl. Aber die finstere<br />
Meute bedrängt, umzingelt, vergewaltigt<br />
sie. Irgendwann steht eine<br />
reglos nackt unter dem Strahl. Andere<br />
werden sichtbar im Raum – halbnackt,<br />
jede und jeder für sich. Alle scheinen<br />
sich rein waschen zu wollen. Friedlich<br />
endet die Hetzjagd der wilden Hyänen.<br />
Wie lange wird vermeintliche Harmonie<br />
über latente Gier triumphieren? Nanine<br />
Linning hat mit der kraftvollen Theatralik<br />
ihres menschlichen Panoptikums in<br />
Osnabrück ästhetische Gesamtkunstwerke<br />
inszeniert, die bei allem Ernst der<br />
zeitnahen Themen auf eine faszinierend<br />
poetische Art unterhalten.<br />
MARIELUISE JEITSCHKO<br />
„Ein <strong>Deutsche</strong>s Requiem” am Ballett<br />
am Rhein Düsseldorf/Duisburg<br />
Schwärzer lässt sich ein Totentanz<br />
kaum denken, und doch ist das Dunkel<br />
im Düsseldorfer Opernhaus licht genug,<br />
um das Brahms-Ballett in seiner<br />
ganzen Schönheit sichtbar zu machen.<br />
Martin Schläpfer jedenfalls, in der kurzen<br />
Zeit seines Engagements bereits<br />
bei „b.09” angelangt und damit beim<br />
„<strong>Deutsche</strong>n Requiem”, verfällt angesichts<br />
der schweren Musik keine Sekunde<br />
lang in Totenstarre. Vielmehr bewegt<br />
er sein Ensemble leichtfüßig, wenn<br />
auch nicht unbedingt lebenslustig.<br />
Schwere und Leichtigkeit halten sich<br />
die Waage; Oben und Unten, Himmel<br />
und Erde werden gleichermaßen thematisiert.<br />
Frei genug, sich der eigenen<br />
Phantasie zu überlassen, assoziiert der<br />
Schweizer Choreograf immer wieder<br />
Bilder und Stimmungen, die sich zwar<br />
musikalisch begründen, sich aber dabei<br />
nie so konkretisieren, dass sie aufgesetzt<br />
wirken könnten. Im Gegenteil.<br />
Getanzt wird barfuß, oft in weit<br />
ausholenden Schwüngen, wie wir sie<br />
aus dem Modern Dance einer Martha<br />
Graham kennen. Der Spitzenschuh<br />
kommt nur ein einziges Mal zum Einsatz,<br />
und das nicht als Paar. Marlúcia<br />
do Amaral trägt ihn im sechsten Satz,<br />
während der zweite Fuß der Solistin<br />
nackt bleibt: nicht als Ausdrucksmittel<br />
einer künstlerischen Überhöhung also,<br />
sondern als Hinweis auf seine fehlende<br />
Bodenhaftung – und darauf, dass<br />
der Mensch sein Leben lang ständig<br />
mit einem Bein auf der Schwelle des<br />
Todes steht. Nicht zuletzt in einer solchen<br />
Szene zeigt sich die geradezu einschüchternde<br />
Stärke Schläpfers. Ohne<br />
der Komposition jemals das Wort zu<br />
reden, kommt er ihr doch ganz, ganz<br />
nah. Am Schluss helfen freilich nur<br />
noch Schlaufen, wie man sie aus öffentlichen<br />
Verkehrsmitteln kennt, um<br />
die Tänzer und Tänzerinnen vor einem<br />
abgrundtiefen Absturz zu bewahren.<br />
Der Rest ist Schweigen.<br />
Hartmut Regitz<br />
DER FAUST<br />
<strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 11 I 2012<br />
XVII
Darstellerin I Darsteller TANZ<br />
Jackson Carroll. William Moore. Jörg Weinöhl.<br />
1 Jackson Carroll in „Violakonzert“<br />
im Rahmen des dreiteiligen<br />
Ballettabends b.11 am Ballett am<br />
Rhein Düsseldorf Duisburg.<br />
2 Olivier Brusson getanzt von<br />
William Moore (mit Katja Wünsche)<br />
in „Das Fräulein von S.“ am<br />
Stuttgarter Ballett.<br />
3 Jörg Weinöhl in dem szenischen<br />
Konzert mit Tanz „Nicht ich – Über<br />
das Marionettentheater von Kleist“,<br />
eine Produktion von Isabel Mundry<br />
und Jörg Weinöhl in Rüsselsheim.<br />
1 2<br />
3<br />
Fotos: Gert Weigelt, Sebastien Galtier, Martina Pipprich (Porträts v. li. n. re.), Gert Weigelt (1), Stuttgarter Ballett 2012 (2), Martina Pipprich (3)<br />
XVIII <strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 11 I 2012
Jackson Carroll<br />
William Moore<br />
Jörg Weinöhl<br />
Verheißung von Glück<br />
Mit dem gewissen Etwas<br />
Das Ringen um die Kunst<br />
In „Violakonzert“ am Ballett<br />
am Rhein Düsseldorf/Duisburg<br />
Im Gegensatz zu den anderen Herren<br />
in Martin Schläpfers Kompanie des<br />
<strong>Deutsche</strong>n Balletts am Rhein wirkt<br />
Jackson Carroll schmal, fast flüchtig<br />
in seiner Leichtigkeit. Dass der gebürtige<br />
Kanadier erst 2010 aus seiner<br />
Heimatstadt Toronto in sein erstes<br />
Engagement kam, lässt die technische<br />
Präzision des jungen Tänzers nicht<br />
ahnen. Ausgebildet an der National<br />
Ballet School in Kanada, absolvierte<br />
Jackson Carroll anschließend Kurse<br />
an der Sadler’s Wells School in London<br />
und der Australian Ballet School<br />
in Melbourne. Beim Prix de Lausanne<br />
2008 tanzte er „Yondering“ von<br />
John Neumeier, 2009 erhielt er den<br />
Jeffrey-Kirk-Preis der National Ballet<br />
School of Canada sowie den Developing<br />
Artist Grant der Hnatyshyn Foundation.<br />
In Martin Schläpfers Ballettabend<br />
„b.11“ tanzt Carroll einen herausragenden<br />
Part in „Violakonzert“, dem mittleren<br />
der drei Teile, den der produktive<br />
wie erfolgreiche Choreograf aus seiner<br />
vorigen Ballettdirektion in Mainz nach<br />
Düsseldorf / Duisburg übernommen<br />
hat. Wie ein Lichtstrahl, der aus dem<br />
düsteren Grundtenor von Schläpfers<br />
Choreografie emporsteigt, hebt sich<br />
Jackson Carroll in aller Klarheit und<br />
ohne Ornamente heraus. Seine pure<br />
Körperlichkeit scheint sagen zu wollen:<br />
„Hier bin ich – ich und nicht mehr!“ Er<br />
ist der unaufdringliche Hoffnungsträger<br />
dieser Choreografie, der durch<br />
seine technische Flexibilität so leicht<br />
wirkt, als ob er der Zeit entfliehen könnte.<br />
Und dies in einem Werk, welches einen<br />
Erlösungsgedanken – dem Entfliehen<br />
der erbarmungslos dahinrasenden<br />
Zeit – eher negiert. Schläpfers Choreografie<br />
changiert zwischen latenter<br />
Bedrohung und inniger Zärtlichkeit,<br />
doch gerade gegen jene finsteren Momente<br />
verkörpert Jackson Carroll die<br />
Verheißung von Glück.<br />
Jochen Ulrich<br />
Olivier Brusson in „Das Fräulein<br />
von S.“ am Stuttgarter Ballett<br />
In seinem Abschiedsstück für das<br />
Stuttgarter Ballett hat der langjährige<br />
Hauschoreograf Christian Spuck für<br />
und mit William Moore eine Hauptrolle<br />
entwickelt: Moore tanzte in der<br />
Uraufführung den Olivier Brusson,<br />
den Gehilfen des Goldschmieds Cardillac,<br />
der zu Unrecht der Morde verdächtigt<br />
wird, die sein Chef begangen<br />
hat. Spucks E.T.A.-Hoffmann-Ballett ist<br />
relativ abstrakt gehalten. Der Erste Solist<br />
muss den Charakter auf der <strong>Bühne</strong><br />
also anders plausibel machen als<br />
etwa mit schauspielerischen Gesten.<br />
Und das gelingt ihm dank seiner hervorragenden<br />
Technik, seiner enormen<br />
<strong>Bühne</strong>npräsenz und dem gewissen individuellen<br />
Etwas, das ihn auszeichnet,<br />
formidabel. Etwa wenn er in Zeitlupenschritten<br />
– Spucks typisches Arm- und<br />
Handspiel kunstvoll herausarbeitend –<br />
ins Dunkel zurückweicht, dann wieder<br />
geschmeidig und blitzschnell seine Pirouetten<br />
und hohen Sprünge auf die<br />
Tanzfläche zaubert. Oder als souveräner<br />
Partner mit Katja Wünsche einen<br />
expressiven Pas de deux tanzt.<br />
Der Brite kam 2005 ins Corps de<br />
ballet des Stuttgarter Ballett und hat<br />
sich in kurzer Zeit zu einem der herausragenden<br />
Darsteller des Ensembles<br />
und zum Publikumsliebling entwickelt.<br />
Zur Spielzeit 2010/11 ist er zum Ersten<br />
Solisten befördert worden. Moore ist<br />
kein typischer Danseur noble, obwohl<br />
seine Technik makellos ist und er das<br />
Aussehen dafür hat. Ob in klassischen<br />
Partien oder in zeitgenössischen Stücken:<br />
Er wirkt immer ein bisschen<br />
spitzbübisch und nicht so stromlinienförmig<br />
glatt wie manch anderer<br />
Tänzer. Das mag ein wenig an seinem<br />
wuscheligen Lockenkopf liegen, aber<br />
hauptsächlich liegt es an seinen eigenständigen<br />
Interpretationen, die<br />
die Eleganz, Leichtigkeit und Virtuosität<br />
des Balletts mit einer vibrierenden<br />
Energie und einer gewissen kraftvollen<br />
Erdigkeit anreichern.<br />
Claudia Gass<br />
In „Nicht ich – über das Marionettentheater<br />
von Kleist“ in Rüsselsheim<br />
Musiker und Sänger sind im Halbkreis<br />
aufgestellt: Im Zentrum der <strong>Bühne</strong><br />
bewegt sich ein Tänzer, der mit dem<br />
Rücken zum Publikum kurze, reduzierte<br />
Bewegungen ausführt. Den<br />
Körper bis zum äußersten gespannt,<br />
schnellt plötzlich ein Zeigefinger in die<br />
Höhe. <strong>Die</strong> Sänger artikulieren einzelne<br />
Vokale, schlagen Papier in Wellen, reiben<br />
Styropor gegeneinander. Aus dem<br />
Off ertönt ein Text Heinrich von Kleists:<br />
„Über das Marionettentheater“. Der<br />
Essay – das Ringen um die Kunst als<br />
Ausdruck von Perfektion – bildet das<br />
philosophische Grundgerüst für dieses<br />
außergewöhnliche, szenische Konzert,<br />
das die Komponistin Isabel Mundry<br />
gemeinsam mit dem Choreografen<br />
und Tänzer Jörg Weinöhl entwickelt<br />
hat – ein präzise komponiertes Werk<br />
aus experimenteller Musik, Tanz und<br />
literarischen Texten.<br />
„Nicht ich – über das Marionettentheater<br />
von Kleist“ befasst sich mit einem<br />
nach Perfektion strebenden Individuum,<br />
das an mechanischen, bildhaften<br />
wie auch natürlichen Vorbildern<br />
scheitert, darunter auch in Szenen<br />
einer Schifffahrt. Mal wechseln sich<br />
Bewegung und Musik miteinander ab,<br />
mal scheinen sich beide Künste zu vermischen.<br />
<strong>Die</strong> Musiker schaffen Atmosphäre,<br />
indem sie auf Flöten Windgeräusche<br />
erzeugen oder Gläser klirren<br />
lassen. Sänger bilden eine Diagonale<br />
im Raum, zeigen gar schauspielerische<br />
Qualitäten, wenn sie den Tänzer mit<br />
ihren Blicken abschätzen oder höhnisch<br />
auslachen. Jörg Weinöhl beeindruckt<br />
durch <strong>Bühne</strong>npräsenz und klar<br />
choreografierte Bewegungen: Ein Blick<br />
genügt, den innewohnenden Wahnsinn<br />
des Individuums zu vermitteln,<br />
eine Haltung, um in den gesichtslosen<br />
Ausdruck der Puppe zu wechseln. Eingeklemmt<br />
in das Korsett seiner Unzulänglichkeit,<br />
wirkt der Tänzer bis zum<br />
Schluss tatsächlich wie eine Marionette,<br />
seelenlos und unfrei.<br />
Isabell Steinböck<br />
DER FAUST<br />
<strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 11 I 2012<br />
XIX
Regie Kinder- und Jugendtheater<br />
Barbara Bürk. Jan Gehler. Tobias Ribitzki.<br />
1 „Alice im Wunderland“<br />
(mit Angelina Häntsch vorne) in<br />
der Inszenierung von Barbara<br />
Bürk am Jungen Schauspielhaus<br />
Hamburg.<br />
2 Sebastian Wendelin und<br />
Benjamin Pauquet in Jan Gehlers<br />
Inszenierung von „Tschick“<br />
am Staatsschauspiel Dresden.<br />
3 Tobias Ribitzkis Inszenierung<br />
„Freunde!“ mit Tiina Lönnmark,<br />
Neele Kramer und Seongsoo Ryu<br />
an der Jungen Oper Hannover.<br />
1 2<br />
3<br />
Fotos: Matthias Horn, Matthias Horn, Thomas M. Jauk (Porträts v. li. n. re.), Sinje Hasheider (1), Matthias Horn (2), Daniel Kunzfeld (3)<br />
XX <strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 11 I 2012
Barbara Bürk<br />
Jan Gehler<br />
Tobias Ribitzki<br />
Böse Geschichte<br />
Abenteuer in Deutschland<br />
Sinnlich, fröhlich, ansteckend<br />
„Alice im Wunderland“ am Jungen<br />
Schauspielhaus Hamburg<br />
Lewis Caroll schrieb „Alice im Wunderland“<br />
zwar für ein Kind, ein Kinderbuch<br />
ist es aber nicht unbedingt geworden.<br />
Trotzdem dient es nach wie vor als beliebte<br />
Vorlage für fantastisches Kindertheater.<br />
<strong>Die</strong> Verrückt- und Ungereimtheiten<br />
des Textes scheint Regisseurin<br />
Barbara Bürk in ihrer Version noch toppen<br />
zu wollen: Ihre dritte Regiearbeit<br />
für das Junge Schauspielhaus Hamburg<br />
ist großartiges, anarchisches Theater.<br />
Wie der Autor, so fühlt sich auch Barbara<br />
Bürk keineswegs einem logischen<br />
Erzählstrang verpflichtet, Szenen und<br />
Situationen gehen dennoch organisch<br />
auseinander hervor. Alice (Angelina<br />
Häntsch) ist das verbindende Element,<br />
aber ein ganz neuer Mädchen-Typ im<br />
bekannten Stück: Sie ist weder niedlich<br />
noch liebenswert, sondern eine besserwisserische,<br />
zickige Spielverderberin.<br />
Folglich darf die gehässige Gesellschaft<br />
einer Tee-Party der altklugen Alice eine<br />
Lektion in Absurditäten verpassen, an<br />
die sie gefälligst glauben soll.<br />
Barbara Bürk lässt Alice eher schlecht<br />
aussehen, sie darf zwar im hellblauen<br />
Kleid als roter Faden herhalten, mutiert<br />
aber letztlich zur Randfigur im eigenen<br />
Phantasiereich. Und diese Wunderwelt<br />
darf wild wuchern. Schlechtes Benehmen<br />
wird karikiert und doch kultiviert,<br />
ein Schlaflied gerät zur Drohgebärde<br />
des überforderten Erwachsenen. <strong>Die</strong><br />
wunderbare Tanzeinlage zu stilistisch<br />
sich ständig verändernder Musik bildet<br />
den Höhepunkt des Stücks. Waren es<br />
bei Carroll noch ein Flamingo und ein<br />
Igel, die tierfeindlich als Schläger und<br />
Ball für den Sport zweckentfremdet<br />
wurden, so sind es hier Kuscheltiere,<br />
die mit einem Holz Prügel auf den Kopf<br />
kriegen. Und auch hier setzt Bürk noch<br />
einen drauf: Wer weint, wird zum Trost<br />
auf den Arm genommen – und brutal<br />
im Müll entsorgt. Wie Barbara Bürk die<br />
Scheinheiligkeit der Erwachsenenwelt<br />
entlarvt, hätte selbst Lewis Carroll noch<br />
das Staunen gelehrt.<br />
Dagmar Ellen Fischer<br />
„Tschick“ am Staatsschauspiel<br />
Dresden<br />
Wolfgang Herrndorfs Roman „Tschick“<br />
wurde in Robert Koalls Theaterfassung<br />
zum Erfolgsstück des Jahres 2012.<br />
Durch Jan Gehlers Uraufführungsinszenierung<br />
am Staatsschauspiel Dresden<br />
erfuhr es dabei einen idealen Start.<br />
Auf einfacher <strong>Bühne</strong> aus einer halben<br />
Halfpipe, die Bewegung im Spiel andeutet<br />
und zugleich nach hinten einen<br />
Abschluss zur Erwachsenenwelt bietet,<br />
konzentriert sich die Inszenierung<br />
auf das phantastische Spiel der beiden<br />
Darsteller sowie die so witzige wie einfühlsame<br />
Sprache des Textes.<br />
Zwei 14-Jährige Jungs fahren mit<br />
einem geklauten Lada von Berlin in<br />
die deutsche Provinz. Aber ein Auto<br />
spielt keine sichtbare Rolle in der Inszenierung.<br />
Vielmehr übernimmt ein<br />
alter Ghettoblaster, auf dem die beiden<br />
Hauptdarsteller sitzen, die Rolle des<br />
Gefährts. Auf ihrer sonderbaren Reise<br />
erleben sie ungewöhnliche, lustige und<br />
ergreifende Dinge. Vor allem aber kommen<br />
sie zu sich und zueinander: Der<br />
russischstämmige, coole Autoknacker<br />
Tschick erweist sich als schwul, der Erzähler<br />
Maik, der panische Angst davor<br />
hat, langweilig zu sein, outet sich dagegen<br />
als Abenteurer. In Sebastian Wendelins<br />
Darstellung verwandelt sich Tschick<br />
aus einem Klischee in eine faszinierende<br />
Figur. Benjamin Pauquet als Maik<br />
bewältigt seine Erzählpassagen bei hohem<br />
Tempo mit einer präzisen Darstellung<br />
jugendlicher Unsicherheiten – und<br />
naiv-lapidarer Einsichten. <strong>Die</strong> Figuren<br />
sind grandios gespielt, die Regie gibt<br />
ihnen an den entscheidenden Stellen<br />
Zeit für die berührenden Momente des<br />
Textes. Das entspricht dem Geist des<br />
Romans, wie er am Ende zugespitzt<br />
deutlich wird, wenn Maik mit seiner<br />
Mutter im Pool untertaucht: Das Glück<br />
ist einfach da, vor deiner Tür – und es ist<br />
doch nicht auf Dauer zu greifen. Aber<br />
vielleicht für einmal Luft-Anhalten, oder<br />
für einen besonderen Sommer – oder<br />
eine tolle Theateraufführung.<br />
Detlev Baur<br />
„Freunde!“ an der Jungen Oper<br />
Hannover<br />
Inge, das kleine rosa Ferkel, kippt einen<br />
Haufen Dreck aus einer Blechwanne<br />
und suhlt sich versunken darin. Philipp,<br />
ein Vogelkind, übt Gleitflug, Ruderflug,<br />
Salto Mortale. Und das Fischkind Harald<br />
spuckt Fontänen in die Luft. Blöd<br />
nur, dass all das allein ziemlich langweilig<br />
ist. Einzelkinder haben’s eben<br />
schwer, aber mit dem Anderssein<br />
könnte man ja umgehen. So tun sich<br />
die drei zusammen und lernen allerhand<br />
voneinander ...<br />
<strong>Die</strong> Junge Oper Hannover hat aus<br />
dem Bilderbuchkleinod „Wir können<br />
noch viel zusammen machen“ von<br />
F.K.Waechter das Musiktheaterkleinod<br />
„Freunde!“ für Kinder ab fünf Jahren<br />
gezaubert. In der Komposition von Peter<br />
Androsch blubbert und piepst es<br />
lautmalerisch, eingängige Lieder verlocken<br />
zum Mitsingen und das Libretto<br />
von Dorothea Hartmann findet klug<br />
den Grat zwischen kindgerechter Sprache<br />
und gesunder Ernsthaftigkeit fürs<br />
Thema. Regisseur Tobias Ribitzki schafft<br />
das Kunststück, die drei Lebenswelten<br />
der Tierkinder mit viel Fantasie und wenig<br />
Requisiten auf eine quadratische<br />
Holzbühne zu bringen (der Dreckhaufen,<br />
ein Wasserschwamm, eine Leiter<br />
als Flugstation). <strong>Die</strong> drei jungen Sänger<br />
(Tiina Lönnmark als Vogel, Neele Kramer<br />
als Ferkel und Seongsoo Ryu als<br />
Fisch) sowie deren Eltern (die zeitweise<br />
auch Erzähler sind) agieren in sprudelnder<br />
Lebensfreude, keine Minute zieht<br />
Langeweile auf und das Publikum lässt<br />
sich merklich anstecken. Streicher, Klarinette,<br />
Akkordeon und Schlagzeug sind<br />
sichtbar schräg hinter der <strong>Bühne</strong> postiert<br />
und treten nach Stückschluss in<br />
einer Art musikalischem Bastelbogen<br />
in die Szene, improvisieren mit Sängern<br />
und den kleinen Zuschauern gemeinsam<br />
getreu dem Motto „Wir können<br />
noch viel zusammen machen“. Selten<br />
gelingt es, Kindermusiktheater gleichzeitig<br />
so sinnlich und voll ansteckender<br />
Fröhlichkeit zu gestalten.<br />
Ulrike Lehmann<br />
DER FAUST<br />
<strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 11 I 2012<br />
XXI
<strong>Bühne</strong> I Kostüm<br />
Victoria Behr. Barbara Ehnes I Chris Kondek. Paul Zoller.<br />
1 Herbert Fritschs Inszenierung<br />
„Emilia Galotti“ in den Kostümen<br />
von Victoria Behr am Theater<br />
Oberhausen.<br />
2 <strong>Bühne</strong> und Video von Barbara<br />
Ehnes und Chris Kondek zu<br />
„Quijote. Trip zwischen Welten“<br />
am Thalia Theater Hamburg.<br />
3 „Le Grand Macabre“ am<br />
Staatstheater Mainz im <strong>Bühne</strong>nbild<br />
von Paul Zoller.<br />
1 2<br />
3<br />
Fotos: Marvin Zilm, Barbara Ehnes, Marc Löhrer, Ingo Höhn (Porträts v. li. n. re.), Klaus Fröhlich (1), Krafft Angerer (2), Martina Pipprich (3)<br />
XXII <strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 11 I 2012
Victoria Behr<br />
Prächtige Puppen voller Gefühle<br />
Barbara Ehnes I<br />
Chris Kondek<br />
Paul Zoller<br />
Labyrinth der Narren<br />
„Emilia Galotti“ am Theater<br />
Oberhausen<br />
Vielleicht wurde Victoria Behr mal in<br />
einem Opernfundus vergessen und<br />
erst Tage später wieder heraus geholt.<br />
In einem opulenten, riesigen Kostümlager,<br />
einem Märchenland mit eigenen<br />
Gesetzen, in dem die Gewänder vergangener<br />
Jahrhunderte lagern. Kei-ne<br />
Kostümbildnerin bedient sich so hemmungslos<br />
bei historisierenden Klamotten<br />
wie die Frau aus dem Herbert-<br />
Fritsch-Team. Wobei Victoria Behr nicht<br />
rekonstruiert, sondern neu schafft. Sie<br />
verbindet barocke Elemente mit der<br />
Commedia dell‘arte, knallbunt in den<br />
Farben, als wären selbst die Kostüme<br />
noch geschminkt. <strong>Die</strong> Filme Tim Burtons<br />
scheinen eine Inspirationsquelle<br />
zu sein.<br />
Puderperücken, gelockt und getürmt.<br />
Bunte Strümpfe, schwarzweiße<br />
Jacken, Rüschenhemden, lange Gewänder.<br />
Das Outfit des Oberhausener Ensembles<br />
in Gotthold Ephraim Lessings<br />
bürgerlichem Trauerspiel „Emilia Galotti“<br />
ist typisch Behr-ig. <strong>Die</strong> Gewänder<br />
sind die Grundlage für outrier te Gesten,<br />
ausgestellte Künstlichkeit, hysterische<br />
Überdrehtheit – die wiederum<br />
typisch Fritschige Theaterästhetik. <strong>Die</strong><br />
Kostüme setzen krasse optische Zeichen,<br />
definieren eine Phantasiewelt<br />
des puren Spiels. Besonders spannend<br />
wird es, wenn es Schauspielern gelingt,<br />
durch die prächtige Puppenhaftigkeit<br />
wahre Gefühle durchschimmern zu<br />
lassen. In der „Emilia Galotti“ gibt es<br />
solche Momente existentieller Verzweiflung<br />
und Traurigkeit im Rahmen<br />
knalliger Komik.<br />
Victoria Behrs Kostüme haben eine<br />
riesige Definitionsmacht, sie scheinen<br />
psychologisches Spiel nicht zuzulassen.<br />
Doch es lohnt sich, auch mal gegen<br />
sie zu spielen, die grellen Signale<br />
mit Innerlichkeit anzufüllen. Getragen<br />
von kantigen Schauspielerpersönlichkeiten<br />
bekommen die Kostüme eine<br />
Vielschichtigkeit, die überwältigt.<br />
Stefan Keim<br />
Im Dazwischen<br />
„Quijote. Trip zwischen den Welten“<br />
am Hamburger Thalia Theater<br />
Ihre Architekturen wölben sich in den<br />
Raum, verschachteln sich, besetzen die<br />
<strong>Bühne</strong> und stehen den Schauspielern<br />
gern mal im Weg – Hemmnis und Herausforderung<br />
zugleich: Barbara Ehnes‘<br />
<strong>Bühne</strong>nbilder bringen die Welt,<br />
wie wir sie sehen, aus dem Lot und die<br />
Menschen in Konfrontation mit sich<br />
selbst. Am Thalia Theater geschah das<br />
zuletzt im vergangenen Januar mit<br />
Stefan Puchers „Quijote. Trip zwischen<br />
den Welten“.<br />
Ein rätselhaftes Spiegelkabinett<br />
steht da auf der <strong>Bühne</strong>. Irritierendes<br />
Sammelsurium aus Ecken, Treppen, Wänden,<br />
die sich wundersam zur Schachtel,<br />
zur Hütte, zum Ufo fügen – je nachdem,<br />
in welcher Seelenabteilung Don Quijote<br />
und der Zuschauer sich gerade herumtreiben.<br />
Spiegelkabinett und Projektionsfläche<br />
für das <strong>Bühne</strong>ngeschehen<br />
wie für die Video-Sequenzen von Chris<br />
Kondek. Der Videokünstler aus Boston<br />
arbeitete mit Robert Wilson und Laurie<br />
Anderson, lebt seit 1999 in Berlin,<br />
war eine feste Größe zunächst an der<br />
Volksbühne, später überall für Stefan<br />
Pucher. Dessen Inszenierungen wachsen<br />
gern aus dem <strong>Bühne</strong>nraum heraus;<br />
und wenn in „Don Quijote“ Film und<br />
Schauspiel einander überblenden, sich<br />
wilde Spektralfarben einmischen, dann<br />
verwaschen Konserve und Live-Act zum<br />
psychedelischen Rausch.<br />
Realität nachzubilden, käme Barbara<br />
Ehnes, die zunächst Theater- und<br />
Literaturwissenschaft studierte, wohl<br />
nicht in den Sinn. <strong>Die</strong> <strong>Bühne</strong>nbilder<br />
der Schülerin von Wilfried Minks und<br />
Marina Abramovic lassen die Nähe zur<br />
freien Kunst spüren. Sie schaffen Situationen,<br />
fordern Reaktionen. Puchers<br />
aufwändigen Inszenierungen kommen<br />
ihre Räume besonders entgegen.<br />
Weil sie das Theater ins Dazwischen<br />
versetzen, irgendwo zwischen Welt<br />
und Vorstellung.<br />
Ruth Bender<br />
Ligetis „Le Grand Macabre“ am<br />
Staatstheater Mainz<br />
Wie denn: Das soll Breughelland sein?<br />
Das abgebrannte, verhurte, versoffene<br />
Breughelland des belgischen Autors<br />
Michel de Ghelderode, dem György Ligeti<br />
in seiner Oper „Le Grand Macabre“<br />
ein so bizarres Klangdenkmal gesetzt<br />
hat? Man sieht kahle Aufbauten und<br />
Versatzstücke, in dezentem Grau und<br />
feiner Fugenführung gekachelt. Und<br />
man ertappt sich unversehens bei<br />
dem Gedanken, dass nun sicher bald<br />
die Installateure kommen und hier das<br />
Sortiment eines gehobenen Sanitärhauses<br />
präsentieren werden.<br />
Aber dann! Dann nämlich wird dieses<br />
<strong>Bühne</strong>nbild lebendig. Es beginnt<br />
sich zu drehen, die Versatzstücke bewegen<br />
sich, es wird in Besitz genommen<br />
von einer Bande Vergnügungstollwütiger,<br />
die weniger dem mittelalterlichen<br />
Breughelland entsprungen scheinen<br />
als vielmehr der heutigen Spaßgesellschaft.<br />
Live gefilmte Videos überblenden<br />
die Konturen – und plötzlich ist<br />
aus der anfangs so klaren <strong>Bühne</strong> ein<br />
lebenspralles, sinneverwirrendes Labyrinth<br />
geworden, das für all die Besoffenen,<br />
Verzweifelten, erotisch Besessenen<br />
und gelegentlich nur leicht Bekleideten<br />
in Lorenzo Fioronis Inszenierung am<br />
Staatstheater Mainz eine Unmenge an<br />
Räumen, Nischen und Winkel bietet.<br />
Paul Zoller, in Innsbruck geboren und<br />
den Opernregisseuren Thilo Reinhardt<br />
und Lorenzo Fioroni sowie dem Choreografen<br />
Mario Schröder durch häufigere<br />
Zusammenarbeit verbunden, ist etwas<br />
Erstaunliches gelungen: Mit scheinbar<br />
einfachen Mitteln, mit Drehbühne, beweglichen<br />
Versatzstücken, Licht und Videos<br />
schafft er die raffinierte Architektur<br />
eines Weltuntergangs-Spektakels.<br />
Er spielt das Spiel, das Ligeti verlangt<br />
und das Lorenzo Fioronis Inszenierung<br />
braucht – lässt aber immer erkennen,<br />
dass es eben ein Spiel ist. Genau so<br />
aber passt es wunderbar zur grotesken<br />
Kunst-Klang-Welt, die György Ligeti<br />
1978 ans Licht der <strong>Bühne</strong> gebracht hat.<br />
Detlef Brandenburg<br />
DER FAUST<br />
<strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 11 I 2012<br />
XXIII
Preis des Präsidenten<br />
Alles auf Null<br />
Nicht weniger als ein<br />
Theater-Erfinder: Matthias<br />
Lilienthal im Porträt<br />
Fotos Christian Kleiner<br />
Michael<br />
laages<br />
Was er wohl wirklich denkt?<br />
Was er bisher wollte, und<br />
wohin er von nun an will?<br />
Und warum? Keine Ahnung.<br />
Jedenfalls nicht wirklich – ein Gespräch<br />
mit Matthias Lilienthal, bis zum Ende<br />
der vergangenen Spielzeit Intendant<br />
des Berliner Theaterkombinats Hebbel<br />
am Ufer, kurz und knackig: HAU, kann<br />
exakt so ergebnislos verlaufen; und<br />
was er dabei vom jeweiligen Gegenüber<br />
hält, bleibt erst recht ein Rätsel.<br />
Nur dass er weiß, wie es wirkt, was er<br />
sagt und was er tut – das steht außer<br />
jedem Zweifel. Gerade im vielstimmigen<br />
Abschiedsreigen für den scheidenden<br />
Chef vom HAU, diesem Stadttheater<br />
neuen Typs, haben viele Lilienthals<br />
phänomenale Gesprächsstrategie erleben<br />
dürfen: Understatement pur ist<br />
eins der Geheimnisse dieser freundlich-gemütlichen<br />
Sphinx aus Neukölln.<br />
Jedem skeptischen Einwand der viel<br />
gerühmten Arbeit am HAU gegenüber<br />
kommt er gerne zuvor, mühelos steht<br />
er zu Irrtümern und Flops – und es<br />
fehlt im Grunde nur noch das grundsätzliche<br />
Bekenntnis, dass er selber<br />
doch überhaupt gar nicht wisse, was<br />
er da tue; und erst recht nicht, wie es<br />
habe kommen können zu derart haltbarem<br />
Erfolg.<br />
Denn dass Lilienthal erfolgreich Abschied<br />
genommen hat vom HAU, ist<br />
unbestritten – mit der fiktiven „Weltausstellung“<br />
auf dem Gelände des<br />
ehemaligen Flughafens in Berlin-<br />
Tempelhof und mit der spektakulären<br />
Realisierung des Roman-Monstrums<br />
„Unendlicher Spaß“ von David Foster<br />
Wallace in Form einer West-Berliner<br />
Stadterkundungsreise hat er noch einmal<br />
nachhaltig die Bedeutung markieren<br />
können, die ein Produktionszentrum<br />
wie das im HAU trotz aller naturgegebenen<br />
Beschränkungen für sich<br />
in Anspruch nehmen kann. Und nicht<br />
weniger als ein „Theatererfinder“ wird<br />
Matthias Lilienthal sein in den Theater-Annalen<br />
der Hauptstadt.<br />
Lilienthal hatte gerade eine überaus<br />
bemerkenswerte Ausgabe vom Theater<br />
der Welt absolviert, dem internationalen<br />
Theaterfestival der deutschen<br />
Sektion des Internationalen Theater-Instituts<br />
(ITI), damals im Sommer 2002,<br />
als Berlins Kulturpolitik rief und Lilienthal,<br />
zuvor bis 2000 Chefdramaturg von<br />
Frank Castorfs Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz,<br />
mit der Neugestaltung<br />
des Erbes beauftragte, das Nele Hertling<br />
am Hebbel-Theater hinterlassen<br />
hatte, dieser etwas in die Jahre gekommenen<br />
Top-Adresse für internationale<br />
Gastspiele aus dem Bereich des freien<br />
Theaters. Auf der andere Seite des Karrees<br />
zwischen Stre se mann straße und<br />
Landwehrkanal benötigte außerdem<br />
auch noch das Theater am Halleschen<br />
Ufer, Nachfolger der alten Schaubühne,<br />
dringend frisches Profil, und jenseits<br />
vom Kanal dümpelte obendrein<br />
Andrzej Worons Teatr Kreatur, immer<br />
vom Konkurs bedroht. All diese drei<br />
<strong>Bühne</strong>n wurden organisatorisch und<br />
programmgestalterisch miteinander<br />
verzahnt. So was hatte es noch nirgends<br />
gegeben; und was zunächst nur<br />
wie eine Sparmaßnahme aussah, ähnlich<br />
den Zwangsverschmelzungen von<br />
Theatern in den neuen Bundesländern,<br />
wurde zum Senkrechtstart; an drei immens<br />
flexibel gestaltbaren Spielorten,<br />
mit einer fulminanten PR-Kampagne,<br />
die den Auftakt begleitete und junge<br />
Boxer vom Kreuzberger Kiez mit bunt<br />
gehauenen Augen zeigte, HAU eben;<br />
mit schmaler Eigenproduktion und<br />
all den Gästen, die vielleicht ohnedies<br />
auch weiterhin zu Nele Hertling und<br />
ans Hallesche Ufer gekommen wären;<br />
und mit derart viel hymnischer Resonanz,<br />
dass das neue HAU im Sommer<br />
2004 amüsanterweise schon Theater<br />
des Jahres war.<br />
Und mittendrin, umgeben von einem<br />
fabelhaften Kuratoren- und Berater-<br />
Stab im nicht überaus gemütlichen<br />
HAU-Büro wie auf Reisen von Festival<br />
zu Festival überall auf der Welt, schaltete<br />
und waltete dieser sonderbare<br />
Kraftmensch Lilienthal: kein Typ für die<br />
Intendanten-Gala, eher der letzte Hippie<br />
– immer in schlabbrig hängenden<br />
XXIV<br />
<strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 11 I 2012
Jeans und dem Hemd immer draußen,<br />
fusselige Mähne rechts und links der<br />
hohen Stirn. In Gesprächen auf den<br />
Ebenen von Verwaltung und Politik<br />
hat er immer wie die pure Provokation<br />
wirken müssen. Bei ihm wurde nie<br />
etwas geschönt durch Äußerlichkeiten,<br />
und das galt und gilt auch für’s<br />
Theater; wer sich mit ihm auseinander<br />
(oder zusammen) setzen musste,<br />
durfte stets sicher sein, dass es nur um<br />
die Sache gehen würde, um sonst gar<br />
nichts. Nur um welche – das war womöglich<br />
nie ganz klar. Theater? Performance?<br />
Postmoderne?<br />
Nur eins war immer klar: Über das<br />
Theater, wie es für Jahrzehnte prägend<br />
war, mag Lilienthal schon hinaus gewesen<br />
sein, als der Berliner Student<br />
vom Jahrgang 1959 nach ersten journalistischen<br />
Jahren in Folge des Studiums<br />
von Geschichte, Germanistik und<br />
Theaterwissenschaft an der Freien<br />
Universität in Berlin erstmals das Theater<br />
von innen erforschte; das war am<br />
Theater Basel im Team des Intendanten<br />
Frank Baumbauer. Dessen Blick auf<br />
„neues“ Theater war der innovativste<br />
in Wende-Zeiten; und nach der ersten<br />
West-Arbeit bei Klaus Pierwoß in<br />
Köln kam der viel umraunte Regisseur<br />
Frank Castorf mit Lilienthals Vermittlung<br />
auch nach Basel. Aus dieser Zusammenarbeit<br />
in Basel resultierte für<br />
Castorf wie Lilienthal der gemeinsame<br />
Neubeginn an der Ostberliner Volksbühne,<br />
in diesem Herbst vor 20 Jahren.<br />
Hier, am Rosa-Luxemburg-Platz, fand<br />
nun das aufregendste Theater der<br />
Epoche statt; mit gestaltet von Matthias<br />
Lilienthal.<br />
und Duisburg. Lilienthal hat immer<br />
gern darauf hingewiesen, wie wenig<br />
er im Vorhinein wisse, ob eine neue<br />
Arbeit überhaupt realisierbar sei –<br />
doch dass er persönlich eben dann<br />
am besten funktioniere, wenn ihm<br />
eine eigentlich nicht zu bewältigende<br />
Aufgabe vor den Latz geknallt werde.<br />
Theater der Welt am Rhein war so ein<br />
Knaller, die HAU-Gründung danach allemal<br />
auch – und wenn Lilienthal eigenen<br />
Wagemut beschwört, dann ist das<br />
nicht bloß (siehe oben) strategische<br />
Koketterie. Wenn jemand sich selber<br />
wie neu erfinden muss in neuen Arbeitszusammenhängen,<br />
dann – dafür<br />
spricht vieles – entwickelt sich halt das<br />
Maximum an Beweglichkeit. An diesen<br />
Punkt ist Matthias Lilienthal schon<br />
einige Male gekommen. Und wenn er<br />
in diesem Herbst mit Bildenden Künstlern<br />
in Beirut arbeitet (ohne sonderlich<br />
klare Vorstellungen vom Ziel dieser<br />
Kunst-Erkundung), sucht er vielleicht<br />
wieder diesen ganz speziellen Punkt,<br />
an dem alles auf Null gestellt werden<br />
muss.<br />
Eigentlich fehlt nur noch ein Abenteuer<br />
– wenn Matthias Lilienthal mittelfristig<br />
mal ein „ganz normales“ Theater<br />
als Intendant übernehmen würde; wie<br />
es Barbara Mundel, der Weggefährtin<br />
aus der Basler Baumbauer-Zeit, ja sehr<br />
eindrucksvoll gelungen ist; zunächst<br />
in Luzern und jetzt, seit geraumer Zeit<br />
schon, in Freiburg. Das Theater der<br />
Welt, das Matthias Lilienthal für den<br />
Sommer 2014 am Nationaltheater in<br />
Mannheim planen wird in den verbleibenden<br />
zwei Jahren, ist da fast Routine.<br />
Das kann er ja schon.<br />
DER FAUST<br />
Auf andere Weise aber als es Castorf<br />
konnte, blieb Lilienthal in Bewegung,<br />
hielt sich auch Baumbauers alte Weisund<br />
Wahrheit, dass Arbeitsbeziehungen<br />
nicht zweistellig dauern sollen. Der<br />
Dramaturg brauchte nicht nur neue<br />
Aufgaben im alten Gefüge, er suchte<br />
den Aufbruch am neuen Ort: Theater<br />
der Welt wurde Lilienthals großer Wurf,<br />
obwohl oder gerade weil der so große<br />
Risiken barg; immerhin wurde das<br />
Festivalprogramm verteilt auf gleich<br />
vier Städte, Bonn und Köln, Düsseldorf<br />
Foto: Bresadola/drama-berlin.de<br />
1 „<strong>Die</strong> große Weltausstellung 2012“ auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof<br />
in Berlin: Detail aus „Feldpost 2012“, inszeniert von Hans-Werner Kroesinger.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 11 I 2012<br />
XXV
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Premiere 8. 2. 2013 p Leben des Galilei von Bertolt Brecht, Musik von Hanns Eisler, Regie: Armin Petras, Premiere 9. 3. 2013 p<br />
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v i e r aUto r e n treffen vier r e G i s s e U r e<br />
i n zUsammenarbeit m i t<br />
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die Göttliche<br />
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a b 20. J a n U a r 2013<br />
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a b 2 . m ä r z 2013<br />
I n s z en I er u n g v i K to r bodó<br />
Pr e m i e r e i n m a i n z a m 16 . m a i 2013<br />
ein<br />
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a b 12 . o K to b e r 2012<br />
don<br />
carlos<br />
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i n f Ü n f a K t e n<br />
vo n f r i e d r i c h schiller<br />
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I n s z en I er u n g J a n - c h r i s to Ph G o c K e l<br />
a b 8 . m ä r z 2013<br />
was<br />
ihr wollt<br />
w i l l i a m s h a K e s Pe a r e<br />
I n s z en I er u n g Jan PhiliPP G l o G e r<br />
a b 14. J U n i 2013<br />
w w w. s ta at s t h e at e r - m a i n z . d e<br />
Foto: Julian Röder; Gestaltung: www.nordisk-buero.com
Universität Hildesheim Wintersemester 2012/13 Institut für Kulturpolitik www.theaterpolitik.de<br />
Theater. Entwickeln. Planen.<br />
Kulturpolitische Konzeptionen zur Reform der Darstellenden Künste<br />
Ringvorlesung, mittwochs, 12–14 Uhr, H1<br />
Deutschlands Theaterlandschaft ist<br />
einmalig. Entstanden durch Fürstenstaat<br />
und Bürger gesell schaft, institutionell<br />
mitten in der Stadt konstituiert und infrastrukturell<br />
mit Ensemble und Repertoire<br />
organisiert, als Stadt- und Staats theater<br />
oder als Landesbühne. Vom Gegenspieler<br />
zum Kooperations partner entwickelte sich<br />
eine freie Theater szene, die mittlerweile<br />
ebenfalls die Etablierung sucht – in Tanzund<br />
Theaterhäusern sowie Kunst- und<br />
Kulturzentren. Das alles lassen sich vor<br />
allem Kommunen und Länder jährlich fast<br />
drei Milliarden Euro kosten.<br />
Doch immer wieder ist kein Geld vorhanden,<br />
um die Preis- und Tarifsteigerungen<br />
der personalintensi ven Apparate zu<br />
finanzieren. Theater fusionieren, Sparten<br />
werden abgewickelt, im schlimmsten Fall<br />
wird Insolvenz angemeldet. <strong>Die</strong> Freien<br />
Gruppen hangeln sich von Projekt zu<br />
Projekt, allen gemein ist die prekäre wirtschaftliche<br />
und soziale Lage der Tanz- und<br />
Theaterschaffenden und die drohende<br />
Alters armut der KünstlerInnen.<br />
Welche Reformen sind überfällig, welche<br />
Produktionsformen braucht Theater, welche<br />
Neuorientierungen sind notwendig,<br />
um die Not zu wenden?<br />
Das Institut für Kulturpolitik der Uni ver -<br />
si tät Hildesheim lädt im Wintersemester<br />
2012/2013 Expert Innen der Theorie<br />
und Praxis ein, Theater entwicklungsüberlegungen<br />
zu denken, vorzutragen<br />
und zur Diskussion zu stellen. <strong>Die</strong><br />
Ring vorlesung will die Debatte um das<br />
deutsche <strong>Bühne</strong>nwesen konkretisieren,<br />
Theater entwickeln, Theater planen.<br />
24. 10. Prof. Dr. Wolfgang Schneider (Universität Hildesheim):<br />
Under Construction. Reformbedarfe auf der Baustelle Theater<br />
31. 10. Prof. Dr. Birgit Mandel (Universität Hildesheim):<br />
Interkulturelles Audience Development.<br />
Eine Strategie für Reformprozesse öffentlicher Theater?<br />
7. 11. Prof. Dr. Jens Roselt (Universität Hildesheim):<br />
Mythos Stadttheater<br />
14. 11. Prof. Dr. Joost Smiers (Universität Utrecht):<br />
»No Copyright«? »Laxheit« in Fragen geistigen Eigentums<br />
21. 11. Prof. Dr. Annemarie Matzke (Universität Hildesheim):<br />
Kollektives Produzieren im Theater –<br />
Proben, Kooperationen, Institutionen<br />
28. 11. Prof. Thomas Schmidt (Hochschule für Musik<br />
und Darstellende Kunst Frankfurt am Main):<br />
<strong>Die</strong> Transformation des deutschen Theatersystems –<br />
Struktur, Herausforderungen und Modelle<br />
5. 12. Prof. Dr. Friedemann Kreuder (Johannes Gutenberg<br />
Universität Mainz): Un/doing differences –<br />
ein Auftrag für zeitgenössische Theaterinstitutionen?<br />
12. 12. Prof. Dr. Geesche Wartemann (Universität Hildesheim):<br />
Zwischen Lektion und Labor. <strong>Die</strong> Zukunft der Theatervermittlung<br />
19. 12. Prof. Dr. Ingrid Hentschel (Fachhochschule Bielefeld):<br />
Laboratorien der Gegenwart – Wieviel Theater braucht Europa?<br />
9. 1. Prof. Dr. Christopher Balme<br />
(Ludwig-Maximilians-Universität München):<br />
Theater als Kulturindustrie: Globale Perspektiven<br />
16. 1. Prof. Dr. Günther Heeg (Universität Leipzig):<br />
<strong>Die</strong> (Auf)Lösung des Stadttheaters<br />
23. 1. Prof. Dr. Matthias Rebstock (Universität Hildesheim):<br />
MusikTheater: Spielräume schaffen!<br />
30. 1. Dr. Thomas Oberender (Intendant der Berliner Festspiele):<br />
Zeitgenössisch ist das, worüber man spricht. Theaterstrukturen<br />
zwischen Saison und Festival, Haus und Event<br />
6. 2. Prof. Dr. Peter W. Marx (Universität Köln):<br />
»Berlin hat kein Theaterpublikum!« Überlegungen<br />
zum Theater zwischen Kulturkonsum und Subvention<br />
Foto: Bernhard Janitschke
SAUL<br />
von Georg Friedrich Händel<br />
Inszenierung: Lydia Steier<br />
Vorstellungen im Oldenburg<br />
1., 4. und 15. November 2012<br />
4. und 12. Mai 2013<br />
Gastspiele im Heilbronn<br />
8., 9. und 10. Februar 2013<br />
13. und 14. April 2013<br />
Nominiert für den FAUST<br />
in der Kategorie Regie Musiktheater.<br />
www.staatstheater.de
I N F O S & K A R T E N ↗ Düsseldorf: Tel. + 49 (0) 211. 89 25 - 211 ↗ Duisburg: Tel. + 49 (0) 203 . 940 77 77 www.ballettamrhein.de<br />
G E N E R A L I N T E N D A N T Christoph Meyer<br />
B A L L E T T D I R E K T O R & C H E F C H O R E O G R A P H Martin Schläpfer<br />
B A L L E T T A M R H E I N<br />
SPIELZEIT 2012/13<br />
—<br />
P R E M I E R E N<br />
b.09<br />
EIN DEUTSCHES REQUIEM<br />
MARTIN SCHLÄPFER<br />
—<br />
15.09.2012 ↗ Theater Duisburg<br />
14.12.2012 ↗ Opernhaus Düsseldorf (WA)<br />
b.13<br />
CONCERTO BAROCCO<br />
GEORGE BALANCHINE<br />
KLEINES REQUIEM<br />
HANS VAN MANEN<br />
URAUFFÜHRUNG<br />
MARCO GOECKE<br />
—<br />
10.11.2012 ↗ Opernhaus Düsseldorf b.14<br />
THE LEAVES ARE<br />
FADING –<br />
PAS DE DEUX<br />
ANTONY TUDOR<br />
FIVE BRAHMS WALTZES<br />
IN THE MANNER<br />
OF ISADORA DUNCAN<br />
FREDERICK ASHTON<br />
JARDIN AUX LILAS<br />
ANTONY TUDOR<br />
JOHANNES BRAHMS –<br />
SYMPHONIE NR. 2<br />
MARTIN SCHLÄPFER<br />
URAUFFÜHRUNG<br />
—<br />
02.02.2013 ↗ Theater Duisburg b.15<br />
„WE WERE RIGHT HERE!!“<br />
MARTIN CHAIX<br />
URAUFFÜHRUNG<br />
REBOUND –<br />
TOPPLE – SPLASH<br />
ANTOINE JULLY<br />
URAUFFÜHRUNG<br />
POND WAY<br />
MERCE CUNNINGHAM<br />
CROP<br />
AMANDA MILLER<br />
URAUFFÜHRUNG<br />
INCLINATION<br />
REGINA VAN BERKEL<br />
URAUFFÜHRUNG<br />
—<br />
12.04.2013 ↗ Opernhaus Düsseldorf b.16<br />
AFTERNOON OF A FAUN<br />
JEROME ROBBINS<br />
WITHOUT WORDS<br />
HANS VAN MANEN<br />
NACHT UMSTELLT<br />
MARTIN SCHLÄPFER<br />
URAUFFÜHRUNG<br />
—<br />
05.07.2013 ↗ Opernhaus Düsseldorf<br />
Foto: Gert Weigelt und bpk / Gemäldegalerie, SMB / Jörg P. Anders / Design: Markwald & Neusitzer