„Solidarität als Lebensform“ - Die Deutsche Bühne

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14.01.2014 Aufrufe

36 ▲ SCHWERPUNKT Gilt das auch für die zeitgenössische Dramatik? In den letzten Jahren ging es doch viel mehr um Singles, also um Einzelfiguren oder um Beziehungen ohne Kinder. Aber beispielsweise die Probleme von Alleinerziehenden kommen im Theater doch sehr kurz. Julia Lochte Das glaube ich nicht. Der junge Autor Dirk Laucke, der jetzt den Kleist-Förderpreis bekommen hat, schreibt kenntnisreich über prekäre Familienverhältnisse. Das ist bei Christoph Nußbaumeder ähnlich: In „Liebe ist nur eine Möglichkeit“, das kürzlich an der Berliner Schaubühne Premiere hatte, gibt es zwei Brüder und eine Neben-„Familie“ aus Arbeitskollegen und vermeintlichen Freunden – aus der Konfrontation dieser beiden Kreise entstehen die Konflikte. Und welche Art von Familie beschreiben diese Autoren? Matthias Günther Jonigk und Mayenburg zeigen nach dem Motto „Vater Alkoholiker, Mutter Putzfrau“ ein bestimmtes soziales Milieu. Lukas Bärfuss dagegen rückt in seinem aktuellen Stück „Die Probe“ wieder die bürgerliche Familie mit ihren Problemen ins Blickfeld und schließt fast an eine Ibsen-Tradition an:die bürgerliche Familie in der Krise. Julia Lochte Bärfuss begibt sich ins bürgerliche Milieu, greift aber einen gesamtgesellschaftlichen Paradigmenwechsel auf, der mit Errungenschaften wie dem Gentest einhergeht. Früher gab es auch Kuckuckskinder, aber jetzt hat man ein Instrument in der Hand, das Klarheit schafft. Auch wenn die 1 I „Solidarität als Lebensform“ Ein Gespräch über Familien in Stücken und im Theateralltag INTERVIEW ANNE FRITSCH, DETLEV BAUR Frau Lochte, Herr Günther, ist die Familie ein Thema fürs Theater? Matthias Günther In einem der ältesten Stücke, der „Orestie“ des Aischylos, spielt die Familie eine ganz entscheidende Rolle. Und diese „Orestie“ ist Blaupause für ganz vieles, was dann in der Theaterliteratur auftaucht.Wir haben jetzt gerade an den Kammerspielen „Trauer muss Elektra tragen“ von Eugene O’Neill aufgeführt. Der Text beruht ausdrücklich auf der „Orestie“ und wir führen ihn hier weiter in die heutige Zeit hinein; eigentlich typische Merkmale einer puritanischen amerikanischen Familie haben, wie sich dabei zeigt, sehr viel mit Fernsehserien wie „Dallas“ und mit den Erfahrungen jüngerer Generationen zu tun hat. Familie hat im Theater immer eine große Rolle gespielt. Wie würden Sie dann die Entwicklung des Themas Familie in der Dramatik der letzten Jahre beschreiben? Matthias Günther Es ist immer wieder eine Wellenbewegung: Da waren Fassbinder und Kroetz als neue Vertreter des Volkstheaters und dann kamen Mayenburg und Jonigk und jetzt kommt wieder eine andere Welle. Julia Lochte Das Interessante im Moment ist, dass in der neueren Dramatik wirklich verschiedenste Strömungen nebeneinander existieren und man gar nicht unbedingt von einem Trend sprechen kann. Die Familie bleibt aber Thema, die junge Dramatikerin Nina Ender zum Beispiel, die selbst in einer Großfamilie aufgewachsen ist, kommt auch nicht davon los. Menschen mit dieser unwiederbringlichen Klarheit gar nicht umgehen können. Das Diffuse liegt dem Menschen vielleicht doch näher. Familie ist ja immer ein Konglomerat aus erträumtem Sehnsuchtsort und – im schlimmsten Fall – Hölle. Matthias Günther Wie das Theater. Aber ist für Theaterleute nicht das Lebensmodell Familie eher ungewohnt? Julia Lochte Ja,aber da hat sich einiges geändert. Zumindest an den Theatern, an denen wir waren, war das nicht mehr so. Als ich 1995 am Schauspielhaus Hamburg als Dramaturgin angefangen habe, war ich die einzige mit einem Kind. Damals war das unter Dramaturgen eine Ausnahme, bei Schauspielern oder Regisseuren gab es das schon, aber meistens blieb es Die Deutsche Bühne 3 I 2007

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▲<br />

SCHWERPUNKT<br />

Gilt das auch für die zeitgenössische<br />

Dramatik? In den letzten Jahren ging es<br />

doch viel mehr um Singles, <strong>als</strong>o um Einzelfiguren<br />

oder um Beziehungen ohne<br />

Kinder. Aber beispielsweise die Probleme<br />

von Alleinerziehenden kommen im<br />

Theater doch sehr kurz.<br />

Julia Lochte Das glaube ich nicht. Der<br />

junge Autor Dirk Laucke, der jetzt den<br />

Kleist-Förderpreis bekommen hat,<br />

schreibt kenntnisreich über prekäre Familienverhältnisse.<br />

Das ist bei Christoph<br />

Nußbaumeder ähnlich: In „Liebe<br />

ist nur eine Möglichkeit“, das kürzlich<br />

an der Berliner Schaubühne Premiere<br />

hatte, gibt es zwei Brüder und eine Neben-„Familie“<br />

aus Arbeitskollegen und<br />

vermeintlichen Freunden – aus der<br />

Konfrontation dieser beiden Kreise<br />

entstehen die Konflikte.<br />

Und welche Art von Familie beschreiben<br />

diese Autoren?<br />

Matthias Günther Jonigk und Mayenburg<br />

zeigen nach dem Motto „Vater Alkoholiker,<br />

Mutter Putzfrau“ ein bestimmtes<br />

soziales Milieu. Lukas Bärfuss<br />

dagegen rückt in seinem aktuellen<br />

Stück „<strong>Die</strong> Probe“ wieder die<br />

bürgerliche Familie mit ihren Problemen<br />

ins Blickfeld und schließt fast an<br />

eine Ibsen-Tradition an:die bürgerliche<br />

Familie in der Krise.<br />

Julia Lochte Bärfuss begibt sich ins bürgerliche<br />

Milieu, greift aber einen gesamtgesellschaftlichen<br />

Paradigmenwechsel<br />

auf, der mit Errungenschaften<br />

wie dem Gentest einhergeht. Früher<br />

gab es auch Kuckuckskinder, aber jetzt<br />

hat man ein Instrument in der Hand,<br />

das Klarheit schafft. Auch wenn die<br />

1 I<br />

<strong>„Solidarität</strong><br />

<strong>als</strong> <strong>Lebensform“</strong><br />

Ein Gespräch über Familien<br />

in Stücken und im Theateralltag<br />

INTERVIEW<br />

ANNE FRITSCH,<br />

DETLEV BAUR<br />

Frau Lochte, Herr Günther, ist die Familie<br />

ein Thema fürs Theater?<br />

Matthias Günther In einem der ältesten<br />

Stücke, der „Orestie“ des Aischylos,<br />

spielt die Familie eine ganz entscheidende<br />

Rolle. Und diese „Orestie“ ist<br />

Blaupause für ganz vieles, was dann in<br />

der Theaterliteratur auftaucht.Wir haben<br />

jetzt gerade an den Kammerspielen<br />

„Trauer muss Elektra tragen“ von<br />

Eugene O’Neill aufgeführt. Der Text beruht<br />

ausdrücklich auf der „Orestie“ und<br />

wir führen ihn hier weiter in die heutige<br />

Zeit hinein; eigentlich typische<br />

Merkmale einer puritanischen amerikanischen<br />

Familie haben, wie sich dabei<br />

zeigt, sehr viel mit Fernsehserien<br />

wie „Dallas“ und mit den Erfahrungen<br />

jüngerer Generationen zu tun hat. Familie<br />

hat im Theater immer eine große<br />

Rolle gespielt.<br />

Wie würden Sie dann die Entwicklung<br />

des Themas Familie in der Dramatik der<br />

letzten Jahre beschreiben?<br />

Matthias Günther Es ist immer wieder<br />

eine Wellenbewegung: Da waren<br />

Fassbinder und Kroetz <strong>als</strong> neue<br />

Vertreter des Volkstheaters und dann<br />

kamen Mayenburg und Jonigk und<br />

jetzt kommt wieder eine andere Welle.<br />

Julia Lochte Das Interessante im Moment<br />

ist, dass in der neueren Dramatik<br />

wirklich verschiedenste Strömungen<br />

nebeneinander existieren und<br />

man gar nicht unbedingt von einem<br />

Trend sprechen kann. <strong>Die</strong> Familie<br />

bleibt aber Thema, die junge Dramatikerin<br />

Nina Ender zum Beispiel, die<br />

selbst in einer Großfamilie aufgewachsen<br />

ist, kommt auch nicht davon<br />

los.<br />

Menschen mit dieser unwiederbringlichen<br />

Klarheit gar nicht umgehen<br />

können. Das Diffuse liegt dem Menschen<br />

vielleicht doch näher. Familie ist<br />

ja immer ein Konglomerat aus erträumtem<br />

Sehnsuchtsort und – im<br />

schlimmsten Fall – Hölle.<br />

Matthias Günther Wie das Theater.<br />

Aber ist für Theaterleute nicht das Lebensmodell<br />

Familie eher ungewohnt?<br />

Julia Lochte Ja,aber da hat sich einiges<br />

geändert. Zumindest an den Theatern,<br />

an denen wir waren, war das nicht<br />

mehr so. Als ich 1995 am Schauspielhaus<br />

Hamburg <strong>als</strong> Dramaturgin angefangen<br />

habe, war ich die einzige mit<br />

einem Kind. Dam<strong>als</strong> war das unter<br />

Dramaturgen eine Ausnahme, bei<br />

Schauspielern oder Regisseuren gab<br />

es das schon, aber meistens blieb es<br />

<strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 3 I 2007


SCHWERPUNKT<br />

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2 I<br />

Fotos (1,2): Sebastian Hoppe<br />

gen in einem Theater dann immer viele<br />

Kinder im Büro oder auf den Proben?<br />

Matthias Günther Nein. Wir trennen<br />

Beruf und Familie. Es gibt kein Kinderspielzimmer<br />

in der Dramaturgie, wir<br />

haben ja jetzt unsere Kinder auch nicht<br />

dabei.Wir arbeiten zwar beide <strong>als</strong> Dramaturgen,<br />

aber in unterschiedlichen<br />

Produktionen. Das hat den Vorteil,dass<br />

wir nicht beide gleichzeitig in den Endproben<br />

sind.<br />

Spielt das Theater nicht auch bei zwei<br />

Kammerspiel-Dramaturgen zu Hause<br />

eine große Rolle?<br />

Julia Lochte Wenn man nach Hause<br />

kommt, und da rennen einem drei Kinder<br />

entgegen, ist das Theater ganz<br />

schnell weg.<br />

Was passiert mit Ihrer Familie oder<br />

Theaterarbeit, wenn Sie nicht mehr beide<br />

in einer Stadt an einem Theater sein<br />

können?<br />

Matthias Günther Es ist ja nicht so,<br />

dass einer den anderen mitschleppt.<br />

Ich bin nicht hier, weil Julia Lochte hier<br />

Chefdramaturgin ist.Wir kommen aus<br />

einer großen „Theaterfamilie“, stehen<br />

aber in diesem Rahmen für unterschiedliche<br />

Dinge.<br />

Jahre-Familie, <strong>als</strong> die Mutter plötzlich<br />

alleine mit ihren Kindern in der Neubauwohnung<br />

saß. Und ob das die beste<br />

Form ist, wage ich zu bezweifeln.<br />

Matthias Günther <strong>Die</strong> klassische<br />

Großfamilie auf dem Dorf hat ja auf<br />

demselben Hof auch zusammen gearbeitet.<br />

Aber bestimmte Übereinkünfte<br />

gibt es ja leider nicht mehr: Wird man<br />

noch zusammen alt?<br />

Was erwarten Sie dann für die Zukunft<br />

des Modells „Familie“?<br />

Matthias Günther Ich glaube, man<br />

muss ganz neue Strukturen erfinden,<br />

von denen wir noch gar nicht wissen,<br />

wie sie aussehen. Aber es kommt mir<br />

schon merkwürdig vor, wenn Leute<br />

meiner Generation, die gut ausgebildet<br />

sind, in Lebensmodellen leben, die<br />

mich an die 50er Jahre erinnern: <strong>Die</strong><br />

Frau ist Hausfrau, obwohl sie oft sogar<br />

studiert hat. Wie kann es sein, dass<br />

rückständige Modelle <strong>als</strong> normal gelten?<br />

Da stimmt was in der Gesellschaft<br />

nicht.<br />

Julia Lochte Solidarität <strong>als</strong> Lebensform<br />

muss neu entdeckt werden. An diesen<br />

Fragen sind wir im Theater auch dran,<br />

und da verbinden sich dann das<br />

Private und das Berufliche.<br />

1 I Julia Lochte.<br />

2 I Matthias<br />

Günther.<br />

dann bei einem Kind. Da hat sich aber<br />

etwas gewandelt,weil man einfach gesehen<br />

hat, dass es am Theater durchaus<br />

intakte Familien mit mehreren Kindern<br />

geben kann.<br />

Matthias Günther Wir sollten uns im<br />

Theater ja auch die Frage stellen, wie<br />

sich das Publikum oder Publikumsstrukturen<br />

entwickeln. Man muss immer<br />

wieder Publikum neu gewinnen,<br />

und da wäre es ja absurd, wenn das<br />

Theater ein Ort ohne Familie wäre.<br />

Denn nur wenn das Theater in sich<br />

selbst <strong>als</strong> Struktur funktioniert, kann<br />

man den Blick nach außen richten. Es<br />

ist andererseits logisch, dass die traditionelle<br />

Familie nicht mehr so stark im<br />

Zentrum steht – einfach, weil es sie gar<br />

nicht mehr so oft gibt.<br />

Gab es mit ihnen beiden <strong>als</strong> Dramatur-<br />

Das ist <strong>als</strong>o für Sie eine zweite Familie<br />

im weiteren Sinne?<br />

Julia Lochte Ja,man begegnet sich wieder<br />

und verliert sich nicht aus den Augen.Es<br />

gibt eine Art Übereinkunft,dass<br />

man mit einer ähnlichen Haltung<br />

Theater macht, und das verbindet.<br />

Aber die Theaterfamilie ist ja schon ein<br />

weiterer Begriff <strong>als</strong> die traditionelle Familie?<br />

Julia Lochte Das traditionelle Familienbild<br />

ist geprägt von den fünfziger und<br />

sechziger Jahren, wo die Familie sehr<br />

klein wurde. <strong>Die</strong> Generationen davor<br />

haben in viel größeren Zusammenhängen<br />

gelebt, da gab es die Großfamilie,<br />

zu der auch die Angestellten des<br />

Betriebes gehörten.<strong>Die</strong> Kinder sind mit<br />

viel mehr Bezugspersonen aufgewachsen<br />

<strong>als</strong> in der klassischen Fünfziger-<br />

Foto: Christian Schnur<br />

Julia Lochte, geboren 1965 in Hamburg, und Matthias<br />

Günther, geboren 1963 in Kassel, lernten sich während<br />

des Studiums „Kulturwissenschaft und ästhetische Praxis“<br />

in Hildesheim kennen. Julia Lochte war von 1995 bis<br />

1999 <strong>als</strong> Dramaturgieassistentin und Dramaturgin am<br />

<strong>Deutsche</strong>n Schauspielhaus Hamburg.<br />

Matthias Günther arbeitete <strong>als</strong> Fachbereichsleiter Theater<br />

der Bundesakademie für kulturelle Bildung in Wolfenbüttel<br />

sowie <strong>als</strong> Gastdramaturg am Schauspielhaus<br />

Wien, den Salzburger Festspielen und dem Schauspielhaus<br />

Zürich.<br />

1998 gingen beide <strong>als</strong> Dramaturgen ans Theater Basel,<br />

wo sie auch der Schauspielleitung angehörten. 2006 zogen<br />

sie mit ihren drei Kindern nach München. Julia Lochte<br />

ist dort an den Kammerspielen <strong>als</strong> Chefdramaturgin,<br />

Matthias Günther <strong>als</strong> Dramaturg beschäftigt.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 3 I 2007


38<br />

▲<br />

SCHWERPUNKT<br />

3 I <strong>Die</strong> Aufführung<br />

von „<strong>Die</strong> Probe“<br />

an den Münchner<br />

Kammerspielen.<br />

Puppenhafte<br />

Familienaufstellung<br />

Lukas Bärfuss’ „<strong>Die</strong> Probe“ an den<br />

Münchner Kammerspielen<br />

Franzeck heißt die Kanaille. <strong>Die</strong>ser Vorzimmer-Jago ist<br />

es, der in Peter Korach den Zweifel sät: Ist mein Sohn<br />

wirklich mein Sohn? <strong>Die</strong> vermeintliche Lösung des<br />

Problems liefert Franzeck gleich mit: „Zum Glück gibt es<br />

heute die wissenschaftlichen Proben.“ Peter lässt ihn stehen,<br />

er will nicht zweifeln und kann doch nicht anders.<br />

Seinen Sohn sieht er fortan mit anderen, mit misstrauischen<br />

Augen an, vergleicht, sucht nach Ähnlichkeiten<br />

mit sich und findet nur die mit anderen:„Jeder sieht dem<br />

Kind ähnlicher <strong>als</strong> ich.“ Das ist der traurige Schluss, der<br />

ihn schließlich heimlich die Probe machen lässt. Zwei<br />

Wattestäbchen, zwei Speichelproben, das ist alles. Peter<br />

Korach will Gewissheit haben. Wie er mit dieser umgehen<br />

wird, darüber hat er sich keine Gedanken gemacht.<br />

„Hoffnung ist Mangel an Information“, wusste schon<br />

Heiner Müller. Mit der Information, mit dem sicheren<br />

Wissen stirbt der letzte Rest an Hoffnung. Peter Korach<br />

weiß jetzt, was er nicht wissen wollte: Er ist nicht, wofür<br />

er sich hielt,ist nicht der biologische Vater des Kindes,das<br />

er für seins hielt. Und jetzt?<br />

3 I<br />

Lukas Bärfuss lässt sein neues Stück „<strong>Die</strong> Probe“, ein Auftragswerk<br />

für die Münchner Kammerspiele, mit einer<br />

scheinbar ausweglosen Situation beginnen. <strong>Die</strong> nicht<br />

mehr rückgängig zu machende Gewissheit schwebt wie<br />

ein Orakel über Peter Korach, wie ein Schicks<strong>als</strong>spruch,<br />

der nichts Gutes besagt und sich erfüllen wird,so oder so.<br />

Im Angesicht dieser Tatsache fällt die zivilisatorische Hülle<br />

von dem Gehörnten ab. Bärfuss lässt das Stück mit einem<br />

verzweifelten Monolog des ehem<strong>als</strong> glücklichen Vaters<br />

beginnen. Peters Enttäuschung findet in blutigen<br />

Fantasien von abgesäbelten Zungen und aus den Höhlen<br />

gepulten Augen ihren Ausdruck:„Ich werde eine Schweinerei<br />

anrichten, wie das Landeskriminalamt sie noch<br />

nicht gesehen hat.“<br />

Doch auch die größte Wut vergeht, was bleibt, ist der<br />

Schmerz. Peter Korach kehrt zurück in sein Elternhaus,wo<br />

Vater Simon sich auf die bevorstehende Wahl vorbereitet.<br />

Liberaler Politiker, der er ist, rät er seinem Sohn, nicht alles<br />

so eng zu sehen und in größeren – politischen – Dimensionen<br />

zu denken. Bärfuss’ Stück ist eine große Debatte<br />

voller Anspielungen auf Religions- und Dramengeschichte<br />

und führt die Folgen der möglichen Allwissenheit exemplarisch<br />

vor. Was herauskommt, ist ein Kammerspiel<br />

im Gewand der griechischen Tragödie, das in Zeiten öffentlicher<br />

Vaterschafts-Tests in Talkshows durchaus Brisanz<br />

hat.Seine Figuren stehen für verschiedene Welt- und<br />

Lebenseinstellungen, die durch die Probe ans Licht kommen<br />

und aufeinanderprallen. Der Autor überlässt es der<br />

Regie, diese Typen in Individuen zu verwandeln.<br />

Foto: Arno Declair<br />

Lars-Ole Walburg aber, Regisseur der Uraufführung,<br />

macht das Gegenteil: Er verstärkt die Austauschbarkeit<br />

der Figuren, indem er seinen Schauspielern Gummiperücken<br />

aufsetzt und sie so zu leblosen Puppen degradiert.<br />

Sie stehen für bestimmte Haltungen,verkörpern sie<br />

aber nicht.Was schade ist,hat er doch sehr potente Schauspieler<br />

zur Hand. Doch auf der Drehscheibe, die Robert<br />

Schweer auf die <strong>Bühne</strong> gebaut hat und die sich wie ein<br />

Rummelplatz-Fahrgeschäft in eine immer stärkere Schieflage<br />

schraubt,platziertWalburg seine Schauspieler Oliver<br />

Mallison, Hans Kremer, Stefan Merki, Gundi Ellert und<br />

Katharina Lorenz zur Familienaufstellung und lässt ihnen<br />

keinen Raum für Emotionen.Was herauskommt, ist mehr<br />

Jahrmarkt der Eitelkeiten <strong>als</strong> Familiendrama, eine durchgestylte<br />

Performance,die zwar gut aussieht,aber weniger<br />

erzählt, <strong>als</strong> Bärfuss’ Drama es vorhatte.<br />

Anne Fritsch<br />

<strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 3 I 2007

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