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Briefe in die chinesische Vergangen - Theses

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spezifische Betrachtungsposition der Hauptfigur groteske Züge. Die E<strong>in</strong>drücke<br />

aus der künstlerischen Sphäre unterscheiden sich deutlich von den grotesken<br />

Verzerrungen aus dem Bereich des kulturell-politischen Lebens. Während z.B. <strong>die</strong><br />

klassische Musik von J. S. Bach oder L. van Beethoven den Haupthelden tief<br />

berührt, werden moderne gesellschaftliche Ersche<strong>in</strong>ungen wie etwa <strong>die</strong><br />

Gleichberechtigung der Frauen, der Schmutz und Lärm, <strong>die</strong> Technik oder schnelle<br />

Geschw<strong>in</strong>digkeit des Alltags misstrauisch analysiert und <strong>in</strong> grotesker Perspektive<br />

dargestellt.<br />

Die ganze Geschichte wird <strong>in</strong> <strong>Briefe</strong>n geschildert, <strong>die</strong> Kao-tai se<strong>in</strong>em<br />

Freund im fernen Ch<strong>in</strong>a schickt. Der Mandar<strong>in</strong> beschreibt <strong>die</strong> Welt der<br />

„Großnasen“ (so bezeichnet er <strong>die</strong> Münchner) mit gewisser Bewunderung, aber<br />

auch Kritik, manchmal sogar mit Abscheu. Er stößt an solche „Ersche<strong>in</strong>ungen“<br />

wie: das Auto, das elektrische Licht, das WC, das Geld, <strong>die</strong> Sauna oder das<br />

Schlauchboot. Er besucht <strong>die</strong> Münchner Oper, erlebt das Oktoberfest, versucht<br />

sogar das Schifahren 6 . Es handelt sich um geläufige Gegenstände, E<strong>in</strong>richtungen<br />

und Tätigkeiten, <strong>die</strong> allerd<strong>in</strong>gs durch <strong>die</strong> konsequente Außenperspektive<br />

verfremdet werden. Was ihm aber am unglaublichsten vorkommt, ist das<br />

Verhältnis der heutigen Gesellschaft zur Zeit. Während <strong>die</strong> Zeit <strong>in</strong> der Natur<br />

immer ständig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Kreis abläuft, halten <strong>die</strong> „Großnasen“ an der L<strong>in</strong>earität<br />

der Zeitachse fest und leben sich im sog. „Fort-schritt“ aus, wofür Kao-tai ke<strong>in</strong>e<br />

vernünftige Erklärung f<strong>in</strong>det. 7 Im Laufe se<strong>in</strong>es Aufenthalts lernt er Frau Pao-leng<br />

kennen, mit der er e<strong>in</strong>e Liebesbeziehung anfängt. Um so schwieriger wird dann<br />

der Abschied, wenn <strong>die</strong> Zeit für <strong>die</strong> Rückreise kommt. Kao-tais E<strong>in</strong>drücke aus<br />

se<strong>in</strong>em achtmonatigen Aufenthalt im Land Bayern und se<strong>in</strong>e Ansichten über <strong>die</strong><br />

heutige Welt und <strong>die</strong> Menschen, <strong>die</strong> sie sche<strong>in</strong>bar beherrschen, s<strong>in</strong>d für <strong>die</strong><br />

moderne Zivilisation nicht sehr schmeichelhaft. In se<strong>in</strong>em letzten Brief fasst er<br />

se<strong>in</strong> ganzes Erlebnis zusammen: „Herr Shi-shmi hat mich aufgefordert […], se<strong>in</strong>e<br />

Welt der Großnasen […] niederzuschreiben. […] Ich habe abgelehnt. Ich weiß,<br />

was mit dem Büchle<strong>in</strong>, der Schrift jenes rätselhaften Kao-tai geschähe: <strong>die</strong><br />

Großnasen würden es lesen; wenn es hochkommt, würden sie es aufmerksam<br />

6 Im Text graphematisch als Schi-fahren wiedergegeben.<br />

7 Hier spielt Rosendorfer offenbar auf <strong>die</strong> zwei grundsätzlichen Konzepte der Zeitwahrnehmung<br />

an, <strong>die</strong> <strong>in</strong> der Philosophie und Kulturgeschichte entwickelt worden s<strong>in</strong>d.<br />

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