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Arbeitsunterlagen<br />

zum Sommerlehrgang 2013<br />

(2. Auflage)<br />

02.09. bis 07.09.2013<br />

Praia Falesia / Portugal<br />

„Aktuelle Entscheidungen des B<strong>und</strong>esgerichtshofs <strong>und</strong> ihre<br />

Bedeutung für die Praxis der Strafverteidigung"<br />

Referenten:<br />

Rechtsanwalt Prof. Dr. Rainer <strong>Hamm</strong>, Frankfurt<br />

Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Prof. Dr. Christoph Krehl, Karlsruhe<br />

Übersicht:<br />

Vorwort ....................................................................................................................................... - 2 -<br />

Materielles Recht - StGB ............................................................................................................ - 3 -<br />

Nebenstrafrecht ...................................................................................................................... - 113 -<br />

Verfahrensrecht ...................................................................................................................... - 197 -<br />

Schwerpunktthema Verständigungsgesetz vor <strong>und</strong> nach BVerfG v. 19.03.2013 ............... - 240 -<br />

Schwerpunktthema §§ 244 ff. StPO, Beweisantragsrecht .................................................... - 291 -<br />

Inhaltsverzeichnis ................................................................................................................... - 314 -


Vorwort<br />

Der Sommerlehrgang der Deutsche Strafverteidiger e.V. fand in diesem Jahr an der Algarve im schönen<br />

Örtchen Praia Falesia in Portugal statt <strong>und</strong> dauerte eine Woche. Die Kursst<strong>und</strong>en dauerten jeweils von 9<br />

Uhr bis 13 Uhr <strong>und</strong> wurden an den Nachmittagen <strong>und</strong> Abenden durch individuelle Nacharbeit <strong>und</strong> Fachgespräche<br />

ergänzt. Das den Teilnehmern zuvor als Datei aber auch in gedruckter Form zur Verfügung<br />

gestellte Skript enthält die wichtigste seit dem Sommerlehrgang 2012 (Usedom) entstandene Rechtsprechung<br />

zum Strafrecht <strong>und</strong> Strafverfahrensrecht. Ungeachtet der Tatsache, dass nicht alle der hier erfassten<br />

Entscheidungen im Kurs behandelt wurden, hat es sich in der Vergangenheit bewährt, dass das Skript, das<br />

auch nach dem Lehrgang allen interessierten Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen im Internet zur Verfügung steht,<br />

als Nachschlagewerk genutzt werden kann. Die erfassten Judikate stellen eine von den Referenten getroffene<br />

Auswahl dar <strong>und</strong> sind, soweit es sich um BGH-Entscheidungen handelt, auch auf den Datenbanken<br />

des BGH unter www.b<strong>und</strong>esgerichtshof.de (bzw. des BVerfG unter www.b<strong>und</strong>esverfassungsgericht.de)<br />

verfügbar. Zum Nachweis von Parallelf<strong>und</strong>stellen empfehlen wir auch die in regelmäßigen<br />

Abständen auf CD-ROM aktualisierte Volltextdokumentation BGH-Nack (Heymanns, letzte Edition Juni<br />

2013), die auch den Vorzug hat, dass sie sich in der Register-Funktion wie ein Gesetzeskommentar mit<br />

den jeweiligen Links auf alle seit 1990 mit Gründen versehenen BGH-Entscheidungen in Strafsachen<br />

nutzen lässt.<br />

Soweit wir hier neben dem Entscheidungsdatum <strong>und</strong> dem Aktenzeichen Hinweise auf F<strong>und</strong>stellen <strong>und</strong><br />

Entscheidungsanmerkungen angebracht haben, erheben diese keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Das<br />

gilt auch für gelegentliche Hinweise auf die Online-Entscheidungssammlung BeckRS unter http://beckonline.beck.de<br />

<strong>und</strong> www.jurion.de, jeweils mit Querverlinkungen zu den zitierten Normen, Gerichtsentscheidungen<br />

<strong>und</strong> Aufsätze z.B. in der dort auch im Volltext verfügbaren NStZ <strong>und</strong> der NJW im Strafrechtsmodul<br />

von www.Beck-Online.de <strong>und</strong> die iBook-Version des SRAFVERTEIDIGER bei jurion.<br />

In diesem Jahr haben sich zwei Schwerpunktthemen angeboten, weil dazu die Rechtsprechung ständig<br />

im Fluss ist: Die vom BVerfG am 19. März 2013 neu abgesteckten Grenzen der strafprozessualen Verständigung<br />

nach § 257c StPO stellen hohe Anforderungen an alle Verfahrensbeteiligte in der Praxis, <strong>und</strong><br />

die nach wie vor für die Revision <strong>und</strong> die Tatsacheninstanz bedeutsame Entwicklung des Beweisantragsrechts<br />

wurden im Lehrgang jeweils ausführlich behandelt <strong>und</strong> zwischen den Teilnehmern auch teilweise<br />

kontrovers diskutiert.<br />

Für die technische Bearbeitung des Manuskripts dieser Arbeitsunterlagen danken wir Frau Melanie Kilinc<br />

<strong>und</strong> Frau Susanne Graul vom Büro <strong>Hamm</strong><strong>Partner</strong>. Dank gebührt auch dem Vorstand der Deutsche Strafverteidiger<br />

e.V., der im Interesse des Fortbildungsauftrags der Vereinigung auch den Strafverteidigern, die<br />

nicht Mitglieder sind <strong>und</strong> auch nicht am Lehrgang teilgenommen haben, ermöglicht, das Skript kostenlos<br />

herunterzuladen: www.deutsche-strafverteidiger.de<br />

http://www.hammpartner.de/de/rechtswissen/fachliteratur.html<br />

Frankfurt/Karlsruhe im September 2013 Prof. Dr. Rainer <strong>Hamm</strong> Prof. Dr. Christoph Krehl<br />

- 2 -


Materielles Recht - StGB<br />

StGB § 14 Abs. 2 Nr. 2 Beauftragung<br />

BGH, Beschl. v. 12.09.2012 - 5 StR 363/12 - NJW 2012, 3385 = NZWiSt 2013, 116 = BGHR StGB § 14 II Nr. 1<br />

Teilbetriebsleiter 1 = BGHR StGB § 14 II Nr. 2 Beauftragung 1<br />

LS: Zu den Anforderungen an eine ausdrückliche Beauftragung im Sinne des § 14 Abs. 2 Nr. 2<br />

StGB.<br />

1. Die Revision des Angeklagten D. K. gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 20. April 2012 wird nach §<br />

349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.<br />

2. Auf die Revision der Angeklagten M. K. wird das vorbezeichnete Urteil gemäß § 349 Abs. 4 StPO<br />

a) dahingehend abgeändert, dass die Angeklagte wegen Beihilfe in 50 Fällen zum Vorenthalten <strong>und</strong> Veruntreuens<br />

von Arbeitsentgelt verurteilt wird, <strong>und</strong><br />

b) im gesamten Strafausspruch aufgehoben.<br />

Ihre weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.<br />

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat die Angeklagten wegen Vorenthaltens <strong>und</strong> Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 50 Fällen zu<br />

Gesamtgeldstrafen von 450 Tagessätzen verurteilt <strong>und</strong> jeweils 30 Tagessätze der verhängten Geldstrafen als Kompensation<br />

für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung als bezahlt bestimmt. Während die Revision des Angeklagten<br />

D. K. im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO unbegründet ist, führt diejenige seiner Ehefrau M. K. zur Änderung<br />

des Schuldspruchs <strong>und</strong> zur Aufhebung des Strafausspruchs; im Übrigen ist auch sie unbegründet (§ 349 Abs. 2<br />

StPO).<br />

I. Nach den Feststellungen war der Angeklagte D. K. Geschäftsführer der A. I. GmbH (im Folgenden: A.), die unter<br />

anderem vertraglich die Reinigung <strong>und</strong> Überwachung von insgesamt elf Toilettenanlagen in großen Kaufhäusern in<br />

Hamburg <strong>und</strong> Umland übernommen hatte. Der A. oblag dabei, die Toiletten in den Warenhäusern ständig in einem<br />

sauberen <strong>und</strong> hygienisch einwandfreien Zustand zu halten, auftretende Verschmutzungen unverzüglich zu beseitigen<br />

sowie die Toilettenanlagen zu desinfizieren. Eine Vergütung für die A. haben die Kaufhäuser ausdrücklich ausgeschlossen.<br />

Das von der A. eingesetzte Personal (26 Mitarbeiter) wurde zunächst nach dem für das Gebäudereinigerhandwerk<br />

geltenden Mindestlohn beschäftigt. Um allerdings Lohnkosten zu sparen, wurden später in die Arbeitsverträge<br />

Regelungen aufgenommen, wonach – obwohl die Mitarbeiter ständig vor Ort sein mussten – lediglich die tatsächliche<br />

„Putzzeit“ als Arbeitszeit zählte. Diese wurde im Regelfall mit vier St<strong>und</strong>en pro Woche pauschal bestimmt<br />

<strong>und</strong> mit 125 € monatlich vergütet. Ab dem 1. April 2009 wurden schließlich neue Arbeitsverträge geschlossen, die<br />

Arbeitszeit unwesentlich heraufgesetzt <strong>und</strong> nunmehr als Entlohnung 128 € pro Monat vorgesehen. Zusätzlich erhielten<br />

die Arbeitnehmer einen Anteil von dem „Tellergeld“, dem von den Benutzern freiwillig hinterlassenen Trinkgeld<br />

für die Benutzung der Toilettenanlage. Die A. meldete die Beschäftigten lediglich mit der offiziell gewährten Entlohnung<br />

bei der Minijob-Zentrale an <strong>und</strong> entrichtete auf dieser Basis Beiträge. Die Einkünfte der Arbeitnehmer aus<br />

dem „Tellergeld“ wurden verschwiegen. Das Landgericht hat in 50 Fällen eine Strafbarkeit nach § 266a Abs. 1 <strong>und</strong><br />

Abs. 2 Nr. 2 StGB angenommen, weil die Angeklagten im Zeitraum 1. Juli 2007 bis 31. Juli 2009 jeweils monatlich<br />

gegenüber der AOK <strong>und</strong> unzutreffende Meldungen abgegeben <strong>und</strong> somit Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von<br />

insgesamt knapp 128.000 € verkürzt haben. Dadurch, dass die A. dem Mindestlohn entsprechend den im Gebäudereinigungsgewerbe<br />

geltenden Tarifen unterliege, hätten sie nach diesen Regelungen Arbeitgeber- <strong>und</strong> Arbeitnehmeranteile<br />

an die für die Beschäftigten zuständigen Krankenkassen als Einzugsstellen entrichten müssen. Die Arbeitnehmer<br />

könnten dabei mit ihrer gesamten vor Ort eingesetzten Arbeitszeit den Mindestlohn beanspruchen, der zugleich<br />

die Bemessungsgr<strong>und</strong>lage für die Sozialversicherungsbeiträge bilde. Der Angeklagte K. sei als alleinvertretungsberechtigter<br />

Geschäftsführer der A. Arbeitgeber im Sinne des § 266a StGB. Die Angeklagte M. K. treffe diese<br />

Pflicht nach § 14 Abs. 2 Nr. 2 StGB, weil sie von ihrem Ehemann beauftragt worden sei, den Personalsektor eigen-<br />

- 3 -


verantwortlich allein abzuwickeln, wobei die Personalverhältnisse in enger Abstimmung zwischen den Eheleuten<br />

geregelt worden seien.<br />

II. Die Einwendungen gegen das landgerichtliche Urteil sind unbegründet, soweit sie die Geltung des Mindestlohns<br />

für die Arbeitsverhältnisse betreffen. Die Revision der Angeklagten M. K. hat aber insoweit Erfolg, als das Landgericht<br />

angenommen hat, diese sei Beauftragte im Sinne von § 14 Abs. 2 Nr. 2 StGB. Dies führt zur Änderung des<br />

Schuldspruchs <strong>und</strong> zur Aufhebung der gegen sie verhängten Strafe.<br />

1. Entgegen der Auffassung der Revision hat die Strafkammer ohne Rechtsverstoß angenommen, dass die Arbeitnehmer<br />

dem Mindestlohn für Gebäudereiniger unterliegen. Sie hat dabei weder die in den Verträgen vorgegebene<br />

noch die tatsächlich erbrachte Reinigungszeit, sondern die gesamte von den Arbeitnehmern vor Ort abgeleistete Zeit<br />

als unter den Mindestlohn fallende Arbeitszeit gewertet. Nach den Verträgen mit den Kaufhäusern waren nämlich<br />

die Überwachung der Toiletten <strong>und</strong> deren unverzügliche Reinigung im Falle ihrer Verschmutzung geschuldet. Diesen<br />

Aufgabenbereich hatten die von der A. Beschäftigten zu erfüllen.<br />

a) Das Landgericht hat rechtsfehlerfrei angenommen, dass die bei der A. Beschäftigten im Tatzeitraum einen Anspruch<br />

auf den Mindestlohn für gewerblich Beschäftigte im Gebäudereinigungshandwerk hatten. Gr<strong>und</strong>lage für den<br />

Mindestlohn im Tatzeitraum war – wie das Landgericht im Einzelnen zutreffend ausgeführt hat – der Lohntarifvertrag<br />

für die gewerblich Beschäftigten in der Gebäudereinigung, der mit Wirkung vom 1. April 2004 für allgemeinverbindlich<br />

erklärt wurde (vgl. dazu auch BAGE 122, 244 Rn.12). Durch die Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen<br />

im Gebäudereinigungshandwerk vom 27. Februar 2008 wurden dann der Tarifvertrag zur Regelung der<br />

Mindestlöhne für gewerbliche Arbeitnehmer in der Gebäudereinigung vom 9. Oktober 2007 für bindend erklärt <strong>und</strong><br />

der Mindestlohn von 7,87 € mit Wirkung vom 1. März 2008 auf 8,15 € erhöht (BAnZ 2008, S. 762). Entgegen der<br />

Auffassung der Verteidigung unterfallen die Arbeitnehmer der A. diesen Regelungen im Gebäudereinigungshandwerk.<br />

Die Gebäudereinigung ist nach § 18 Abs. 2 HwO ein zulassungsfreies Handwerk, das unter Nr. 33 in der Anlage<br />

B genannt ist. Die A. war deshalb auch von dem vorgenannten Tarifvertrag erfasst, der von der Gebäudereinigerinnung<br />

abgeschlossen wurde (vgl. hierzu auch Kluth, GewArch 2009, 329; Schiefer/Galperin, DB 2009, 1238). Im<br />

Verhältnis zu den Kaufhäusern als den Auftraggebern der A. wurden die Reinigungsarbeiten jedenfalls handwerksmäßig<br />

ausgeübt. Danach waren die Toiletten ständig sauber zu halten <strong>und</strong> zu desinfizieren. Dies stellt – wie das<br />

Landgericht umfassend <strong>und</strong> rechtsfehlerfrei ausgeführt hat – keine Reinigungstätigkeit einfacher Art dar. Damit<br />

kommt es nicht auf die Frage an, ob einfache Reinigungsarbeiten der Gebäudereinigung, die auch als „Reinigung<br />

nach Hausfrauenart“ bezeichnet werden, überhaupt unter die Mindestlohnregelungen fallen (so Schiefer/Galperin,<br />

Kluth aaO; zweifelnd Rieble, DB 2009, 789). Es ist weiterhin unerheblich, dass die A. in ihren geänderten Arbeitsverträgen<br />

jeweils „Reinigung nach Hausfrauenart“ als Vertragsgegenstand bezeichnet hat. Maßgeblich ist nämlich<br />

nicht die Bezeichnung der Tätigkeit in den Arbeitsverträgen, sondern ihre tatsächliche Ausgestaltung, wie sie auch<br />

vertraglich vorausgesetzt wurde (vgl. BAG, Urteil vom 20. Januar 2010 – 5 AZR 106/09, ZTR 2010, 424 Rn. 18).<br />

Hier mussten die Arbeitnehmer die gegenüber den Kaufhäusern geschuldete professionelle Reinigung der Toiletten<br />

<strong>und</strong> die Gewährleistung von Sauberkeit <strong>und</strong> Hygiene erbringen. Dieses Anforderungsprofil war – ungeachtet der<br />

individuellen Vorkenntnisse der einzelnen Arbeitnehmer – nicht mit einer „Reinigungstätigkeit nach Hausfrauenart“,<br />

sondern nur handwerksmäßig zu erfüllen (vgl. auch BAG, Urteil vom 20. September 1989 – 4 AZR 377/89).<br />

b) Die von den bei der A. angestellten Reinigungskräften in den Toilettenanlagen zugebrachte Zeit ist in vollem<br />

Umfang Arbeitszeit. Ihre Tätigkeit dort hat das Landgericht nicht nur als eine (unter Umständen geringer vergütbare<br />

– vgl. BAG EzA BGB 2002, § 611 Arbeitsbereitschaft Nr. 4) Arbeitsbereitschaft, sondern als Vollarbeit gewertet.<br />

Nach der Rechtsprechung unterscheidet sich die Arbeitsbereitschaft, die in Zeiten wacher Aufmerksamkeit im Zustand<br />

der Entspannung geleistet wird (BAG, Urteil vom 17. Juli 2008 – 6 AZR 505/07, PersV 2009, 27; BAGE 109,<br />

254, 260) von der Vollarbeitsleistung, die von dem Arbeitnehmer eine ständige Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Arbeitsbelastung<br />

verlangt. Letzteres trifft auf die Toilettenpflege in Warenhäusern zu. Eine bloß wache Aufmerksamkeit umschreibt<br />

das Anforderungsprofil nur unzureichend, weil die Reinigungskraft im Blick auf den in den Toilettenanlagen<br />

herrschenden erheblichen Besucherverkehr eine ständige Kontrollaufgabe zu bewältigen hat, die nach den Feststellungen<br />

des Landgerichts durch ständige Nachreinigungen immer wieder unterbrochen wurde. Mithin liegt auch keine<br />

den Arbeitnehmer weniger beanspruchende bloße Arbeitsbereitschaft vor, weil die hierfür typischen Phasen der<br />

Entspannung (vgl. BAG aaO) fehlen. Deshalb hat das Landgericht das Aufgabenfeld der Arbeitnehmer der A. rechtsfehlerfrei<br />

als der Vollarbeit „Toilettenreinigung“ unterfallende Tätigkeit gewertet, zumal die Beschäftigten gerade<br />

nicht – wie von der Verteidigung behauptet – die Möglichkeit einer freien Zeiteinteilung <strong>und</strong> die Gelegenheit zur<br />

Erledigung ihrer eigenen Angelegenheiten hatten.<br />

- 4 -


c) Das Landgericht hat die unterste Lohnstufe in Ansatz gebracht. Der dort vorgesehene Mindestlohn hätte den Arbeitnehmern<br />

jedenfalls vergütet werden müssen. Er bildet deshalb auch die Bemessungsgr<strong>und</strong>lage für die Sozialversicherungsbeiträge.<br />

Bei Tariflohnunterschreitungen ist die Höhe der Beitragsschuld nämlich nicht nach dem vereinbarten,<br />

sondern nach dem geschuldeten Lohn zu berechnen (BSGE 93, 119).<br />

d) Es beschwert die Angeklagten nicht, dass der Anteil des den Arbeitnehmern zufließenden „Tellergeldes“ vom<br />

Landgericht nicht berücksichtigt wurde, das gegenüber den Sozialversicherungsträgern jedoch gleichfalls nicht namhaft<br />

gemacht wurde. Das „Tellergeld“ dürfte allerdings Lohncharakter aufweisen. Da es den von den Kaufhäusern<br />

nicht vergüteten Reinigungsbetrieben zustand, die mit den bei ihnen beschäftigten Reinigungskräften Aufteilungsvereinbarungen<br />

trafen, könnte der dem Arbeitnehmer verbleibende Anteil des „Tellergeldes“ einen aus dem Arbeitsverhältnis<br />

vermittelten Vermögenszuwachs darstellen. Der Senat kann diese Frage aber offen lassen. Läge nämlich<br />

das den Arbeitnehmern zugeflossene „Tellergeld“ (zusammen mit den regulär bezogenen Einkünften) unter dem<br />

Mindestlohn, bliebe dieser maßgebend. Wäre die Summe aus „Tellergeld“ <strong>und</strong> Lohn für die einzelnen Arbeitnehmer<br />

höher, würde sich nur der Schuldumfang gegenüber dem vom Landgericht angenommenen erhöhen. Hierin läge<br />

dann kein Fehler zum Nachteil der Angeklagten.<br />

2. Die Zurechnung der Arbeitgeberstellung nach § 266a Abs. 1 <strong>und</strong> 2 StGB zu Lasten der Angeklagten M. K. hält<br />

dagegen revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand, weil die Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 Nr. 2 StGB nicht<br />

rechtsfehlerfrei begründet wurden.<br />

a) Es bestehen hier schon durchgreifende Bedenken, ob das Landgericht in genügender Form dargestellt hat, dass die<br />

Angeklagte ausdrücklich beauftragt wurde. Zwar ist ein solcher Auftrag auch formfrei möglich (vgl. Perron in<br />

Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 14 Rn. 34). Er muss jedoch zweifelsfrei erfolgen <strong>und</strong> ausreichend konkret<br />

sein, damit für den Beauftragten das Ausmaß der von ihm zu erfüllenden Pflichten eindeutig erkennbar ist. Hierzu<br />

enthält das landgerichtliche Urteil indessen keine Ausführungen. Es beschränkt sich auf die Feststellung, dass eine<br />

Beauftragung erfolgt ist. Zu deren näherem Inhalt sowie zu den Umständen dieser Beauftragung verhält es sich nicht.<br />

Das Revisionsgericht vermag deswegen nicht zu prüfen, ob die inhaltlichen Voraussetzungen einer Beauftragung<br />

zutreffend angenommen wurden.<br />

b) Der Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe lässt im Übrigen die Annahme einer Beauftragung im Sinne des §<br />

14 Abs. 2 Nr. 2 StGB fernliegend erscheinen. An ihr Vorliegen sind – wie schon die ansonsten nicht zu rechtfertigende<br />

Gleichstellung mit Organen <strong>und</strong> Betriebsleitern (§ 14 Abs. 2 Nr. 1 StGB) verdeutlicht – strenge Anforderungen<br />

zu stellen (vgl. auch Marxen/Böse in Nomos-Kommentar, StGB, 3. Aufl., § 14 Rn. 7 ff.). Mit der Beauftragung<br />

wird eine persönliche Normadressatenstellung des Beauftragten begründet, die ihm (strafbewehrt) die Erfüllung<br />

betriebsbezogener Pflichten überbürdet. Die bloße Einräumung von Leitungsbefugnissen reicht hierfür ebenso wenig<br />

aus wie die Einbeziehung in eine unternehmerische Mitverantwortung (Perron aaO Rn. 35; Marxen/Böse aaO Rn.<br />

60). Entscheidend ist vielmehr, dass gesetzliche Arbeitgeberpflichten in die eigenverantwortliche Entscheidungsgewalt<br />

des Beauftragten übergehen (Bosch in Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB, 2009, § 14 Rn. 16). Im Rahmen einer<br />

solchen Prüfung kann indiziell auch von Bedeutung sein, ob der Betrieb aufgr<strong>und</strong> seiner Größe überhaupt eine personelle<br />

Aufteilung der Verantwortlichkeitsbereiche erforderlich macht. In diesem Sinne kann auch der Gedanke der<br />

Sozialadäquanz der Beauftragung herangezogen werden (vgl. dazu Regierungsentwurf eines Einführungsgesetzes<br />

zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, BT-Drucks. V/1319 S. 65; Perron, aaO, Rn. 36; Fischer, StGB, 59. Aufl., §<br />

14 Rn. 13; Göhler/Gürtler, 16. Aufl., OWiG, § 9 Rn. 32). Die Regelung des § 14 Abs. 2 Nr. 2 StGB führt nämlich zu<br />

einer jedenfalls partiellen Verlagerung strafbewehrter Pflichten vom primär zuständigen Organ auf nachgeordnete<br />

Mitarbeiter (vgl. Schünemann in LK, 12. Aufl., § 14 Rn. 68). Deshalb darf auch nicht ohne weiteres von der Übertragung<br />

von Leitungsbefugnissen auf die Begründung einer Normadressatenstellung geschlossen werden. Vielmehr<br />

ist zu prüfen, ob – wie etwa im Hinblick auf die betriebliche Struktur oder die Vorerfahrungen der handelnden Personen<br />

– eine sachliche Notwendigkeit für eine derart weitgehende Aufgabenübertragung bestanden haben könnte. Je<br />

weniger eine solche erkennbar ist, umso ferner liegt es, eine Übertragung genuiner Arbeitgeberpflichten anzunehmen.<br />

Die sinnvolle Aufgabenabschichtung zwischen Organ <strong>und</strong> Beauftragtem liegt dem Tatbestand des § 14 Abs. 2<br />

Nr. 2 StGB als Gr<strong>und</strong>idee zugr<strong>und</strong>e (vgl. BT-Drucks. 10/318 S. 15), weil es für den Beauftragten regelmäßig nur<br />

unter dieser Voraussetzung möglich sein wird, im Aufgabenbereich des eigentlichen Organs selbständig zu handeln<br />

(vgl. Schünemann, aaO, Rn. 62). Fehlt dem mit solchen Aufgaben Betrauten die eigene Entscheidungsfreiheit, dann<br />

handelt er nicht wie ein organschaftlicher Vertreter, sondern allenfalls als dessen Gehilfe. Im vorliegenden Fall mag<br />

zwar die Angeklagte M. K. für den Personalsektor, was Einstellungen, Arbeitsanweisungen <strong>und</strong> Vereinnahmung des<br />

„Tellergeldes“ angeht, zuständig gewesen sein, weil ihr der Mitangeklagte insoweit eine Leitungsbefugnis einge-<br />

- 5 -


äumt hat. Dies lässt aber noch nicht den Schluss zu, dass sie damit sämtliche mit den Personalangelegenheiten zusammenhängenden<br />

betrieblichen Pflichten übernommen hat. Hiergegen spricht entscheidend, dass dem Angeklagten<br />

D. K. die „Büroarbeit“ vorbehalten blieb. Neben finanziellen Fragen kann die „Büroarbeit“ aber im Wesentlichen<br />

nur die dem Betrieb gegenüber Behörden obliegenden Aufgaben betroffen haben, wozu im hervorgehobenen Maße<br />

auch die Erfüllung der Arbeitgeberpflichten gegenüber den Sozialversicherungsträgern zählt. Nach den Urteilsfeststellungen<br />

beschränkte sich die Rolle der Angeklagten M. K. vorrangig auf diejenige einer fachlichen Vorgesetzten<br />

gegenüber dem Reinigungspersonal. Dies genügt aber nicht den Anforderungen an eine Beauftragung nach § 14 Abs.<br />

2 Nr. 2 StGB. Dasselbe gilt für den Umstand, dass beide Angeklagte als Eheleute ersichtlich vertrauensvoll zusammengearbeitet<br />

haben.<br />

3. Aus den gleichen Gründen scheidet auch eine Qualifizierung der Angeklagten als „Teilbetriebsleiterin“ im Sinne<br />

des § 14 Abs. 2 Nr. 1 StGB aus. Da es für diese Zurechnungsvorschrift keiner ausdrücklichen Beauftragung bedarf,<br />

sondern sich die Übertragung auch konkludent aus der Betrauung mit der vollständigen oder teilweisen Leitung des<br />

Betriebs ergibt (BGH, Urteil vom 4. Juli 1989 – VI ZR 23/89, DB 1989, 2272), können die inhaltlichen Voraussetzungen<br />

im Vergleich zur ausdrücklichen Beauftragung im Sinne der Nr. 2 jedenfalls nicht schwächer sein (vgl. auch<br />

Radtke in MK, StGB, 2. Aufl., § 14 Rn. 96).<br />

4. Der Senat sieht hier allerdings von einer Zurückverweisung ab. Es erscheint ausgeschlossen, dass sich im vorliegenden<br />

Fall eine Beauftragtenstellung der Angeklagten M. K. in einem neuen tatrichterlichen Verfahren noch erweisen<br />

ließe. Auf der Gr<strong>und</strong>lage der Feststellungen liegt aber sicher eine Beihilfe der in vollem Umfang in das Tatgeschehen<br />

einbezogenen Angeklagten zu jedem der einzelnen Fälle vor, weil sie die Arbeitnehmer entsprechend eingesetzt<br />

<strong>und</strong> überwacht, mithin also für den Arbeitsablauf Sorge getragen hat. Der Senat kann dabei ausschließen, dass<br />

sich die umfänglich geständige Angeklagte gegen den Vorwurf der Beihilfe anders als geschehen hätte verteidigen<br />

können.<br />

III. Die Umstellung des Schuldspruchs führt zur Aufhebung des Strafausspruchs. Die Feststellungen zum Strafausspruch,<br />

die von der dem Schuldspruch zugr<strong>und</strong>e liegenden fehlerhaften Würdigung unberührt bleiben, können<br />

allerdings aufrechterhalten werden. Das neue Tatgericht ist aber nicht gehindert, neue Feststellungen zu treffen,<br />

soweit sie den bisherigen nicht widersprechen. Dies schließt auch die Befugnis ein, Veränderungen der wirtschaftlichen<br />

Verhältnisse zu berücksichtigen, die eine Anpassung der bislang rechtsfehlerfrei bemessenen Tagessatzhöhe<br />

erfordern.<br />

StGB § 21 Schuldfähigkeit Bedeutung der BAK<br />

BGH, Beschl. v. 29.05.2012 - 1 StR 59/12 - BGHSt 57, 247= NJW 2012, 2672= NStZ 2012, 560 = StV 2013, 20 =<br />

BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 42<br />

LS: Bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit kommt der Blutalkoholkonzentration umso geringere<br />

Bedeutung zu, je mehr sonstige aussagekräftige psychodiagnostische Beweisanzeichen zur Verfügung<br />

stehen (Bestätigung <strong>und</strong> Fortführung von BGH, Urteil vom 29. April 1997 - 1 StR 511/95,<br />

BGHSt 43, 66).<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit vorsätzlicher<br />

Körperverletzung zu fünf Jahren <strong>und</strong> drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Seine auf Verfahrensrügen<br />

<strong>und</strong> die näher ausgeführte Sachrüge gestützte Revision ist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).<br />

A. I. Auf der Gr<strong>und</strong>lage eines umfassenden <strong>und</strong> näher überprüften Geständnisses hat das Landgericht folgendes<br />

Tatgeschehen festgestellt: Der Angeklagte begab sich am 16. Juli 2010 nach Beendigung seiner Arbeit - er war im<br />

Frühdienst in einer Pension tätig, wo er u.a. für Abrechnungen zuständig war - wie nahezu jeden Tag in seine<br />

Stammkneipe <strong>und</strong> trank dort ab 11.30 Uhr, spätestens ab 12.00 Uhr, mindestens sechs, maximal zehn Halbe Bier.<br />

Teilweise hielt sich der Angeklagte vor der Kneipe auf einer Bank auf, die neben einem Brunnen stand. An diesem<br />

Nachmittag badeten Kinder in dem Brunnen, darunter der dem Angeklagten unbekannte, damals siebenjährige Geschädigte,<br />

der sich bis auf die Unterhose entkleidet hatte. Der Geschädigte verließ als letztes der Kinder den Brunnen<br />

<strong>und</strong> ging zu dem auf der Bank sitzenden Angeklagten. Dieser trocknete den Jungen mit einem dort befindlichen<br />

Handtuch ab. Als der Junge seine Sorge äußerte, er könne mit seiner Mutter Ärger bekommen, weil er nass <strong>und</strong> verdreckt<br />

sei, bot ihm der Angeklagte an, ihn mit in seine (des Angeklagten) Wohnung zu nehmen, um dort die Wäsche<br />

- 6 -


zu trocken. Der Junge folgte dem Angeklagten in dessen nahegelegene Wohnung, die zu einem nicht ermittelbaren<br />

Zeitpunkt zwischen 17.00 Uhr <strong>und</strong> kurz nach 18.00 Uhr erreicht wurde. Dort brachte der Angeklagte den Jungen in<br />

das Badezimmer, wo dieser sich entkleidete <strong>und</strong> in die Badewanne stieg. Nachdem der Angeklagte die Unterhose des<br />

Jungen zum Wäschetrockner gebracht <strong>und</strong> diesen angestellt hatte, ging er zu dem Jungen in das Badezimmer „<strong>und</strong><br />

half diesem beim Duschen, indem er (…) ihn einseifte (…). Hierbei fasste der Angeklagte den Entschluss, sexuelle<br />

Handlungen an dem Kind vorzunehmen.“ Er sprach den Jungen auf sichtbare Reste von dessen im April 2010 durchgeführten<br />

Phimose-Operation an <strong>und</strong> äußerte, das werde helfen. Sodann griff er - vor der Badewanne kniend - mit<br />

seiner Hand an den Penis des Jungen, nahm diesen in den M<strong>und</strong> <strong>und</strong> „bewegte seinen M<strong>und</strong> über etwa fünf bis zehn<br />

Sek<strong>und</strong>en am Geschlechtsteil des Jungen vor <strong>und</strong> zurück <strong>und</strong> zog mit dem M<strong>und</strong> daran, um sich sexuell zu erregen.<br />

Dazu erklärte er dem Kind, er mache das, damit der `Pipi besser hochkomme`(…) was ihm auch zumindest teilweise<br />

gelang“. Der Angeklagte beendete den Oralverkehr, nachdem der Junge äußerte, dass er das eklig finde. Anschließend<br />

trug der Angeklagte Babyöl oder eine Gleitcreme auf den After des Jungen auf <strong>und</strong> drang dabei mit einem<br />

seiner Finger dort ein <strong>und</strong> bewegte den Finger mehrmals hin <strong>und</strong> her, um sich dadurch sexuell zu erregen. Dies verursachte<br />

bei dem Jungen, wie der Angeklagte zumindest billigend in Kauf nahm, „nicht unerhebliche Schmerzen“.<br />

Als der Junge dies <strong>und</strong> sein Ekelempfinden gegenüber dem Angeklagten äußerte, beendete der Angeklagte diese<br />

sexuelle Handlung <strong>und</strong> hörte auch auf, den Jungen auf den M<strong>und</strong> zu küssen, wie er es im Verlauf des Geschehens<br />

getan hatte. Als der Junge nach etwa 20 Minuten mit der zwischenzeitlich getrockneten Kleidung die Wohnung des<br />

Angeklagten verließ, sagte ihm der Angeklagte noch, „dass das Geschehen ein Geheimnis bleiben solle“.<br />

II. Darüber hinaus hat das durch zwei Sachverständige beratene Landgericht zur Schuldfähigkeit festgestellt, dass der<br />

Angeklagte zur Tatzeit alkoholbedingt enthemmt, jedoch in seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit weder aufgr<strong>und</strong><br />

des Alkoholkonsums noch aufgr<strong>und</strong> sonstiger Umstände i.S.v. § 21 StGB erheblich vermindert war. Die<br />

Strafkammer hat unter Zugr<strong>und</strong>elegung der jeweils dem Angeklagten günstigsten Parameter (z.B. maximale Trinkmenge,<br />

kürzestmögliche Trinkdauer, Alkoholgehalt des Bieres) ohne den Angeklagten benachteiligenden Rechtsfehler<br />

eine maximale Blutalkoholkonzentration von 3,03 ‰ errechnet. Aussagen von Zeugen (u.a. der Wirt der Stammkneipe<br />

des Angeklagten) hat die Strafkammer entnommen, dass der Angeklagte an die angegebenen Trinkmengen<br />

gewöhnt war <strong>und</strong> seine dadurch bedingten Ausfallerscheinungen generell <strong>und</strong> auch am Tattag „nur leicht“ waren.<br />

Den Angaben des Angeklagten entnahm sie, dass er nach einem im Mai 2010 erlittenen Schlaganfall <strong>und</strong> danach<br />

erfolgter Reha täglich sechs bis zehn, gelegentlich auch vierzehn Halbe Bier trank, ohne dass es hierdurch zu Beeinträchtigungen<br />

in seinem Berufsleben gekommen war. Die Kammer hat sich ferner - nach eigener Prüfung - die Ausführungen<br />

des Sachverständigen (der aufgr<strong>und</strong> eines Rechen-/Schreibfehlers von einer maximalen Blutalkoholkonzentration<br />

sogar von 3,46 ‰ ausgegangen war) zu eigen gemacht, wonach das Leistungsvermögen des Angeklagten<br />

sowie seine detailscharfe Erinnerung an die Abläufe am Tattag ebenso wie das Vorliegen eines stringenten intentionalen<br />

Handlungsbogens mit vielen planerischen Elementen <strong>und</strong> sinnvollen Reaktionen auf das Verhalten des Kindes<br />

gegen die Annahme erheblicher Einschränkung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten sprechen. Das Verhalten<br />

des Angeklagten am Tattag falle auch nicht aus dem Rahmen seines sonstigen Verhaltens. Beim Angeklagten liege<br />

eine homosexuelle Kernpädophilie ohne forensischen Krankheitswert vor. Anhaltspunkte einer forensisch relevanten<br />

Leistungsminderung, einer endogenen Psychose, einer schweren Neurose oder einer schweren Persönlichkeitsstörung<br />

seien nicht erkennbar. Auch unter dem Aspekt eines Motivationsbündels mit Folgen des Schlaganfalls (zunehmende<br />

Ängstlichkeit, depressives Erleben) <strong>und</strong> der alkoholbedingten Enthemmung ergebe sich keine schwerwiegende<br />

Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten.<br />

B. Die Revision des Angeklagten ist ohne Erfolg. Die Nachprüfung des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung<br />

hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).<br />

I. Die Rüge, der gegen die Vorsitzende Richterin angebrachte Ablehnungsantrag sei mit Unrecht verworfen worden<br />

(§ 338 Nr. 3 StPO), bleibt aus den vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt zutreffend dargelegten Gründen erfolglos. Der Angeklagte<br />

hatte sich in der Hauptverhandlung zunächst - entgegen einem vom Verteidiger vor der Hauptverhandlung<br />

angekündigten Geständnis - auf Erinnerungslücken berufen, so dass die Strafkammer seine Angaben zutreffend nicht<br />

als Geständnis werten konnte. Daraufhin wurde die Hauptverhandlung ausgesetzt <strong>und</strong> ein Glaubwürdigkeitsgutachten<br />

eingeholt. Die Annahme, hieraus könnte sich die Besorgnis einer Befangenheit zu Lasten des Angeklagten ergeben,<br />

trifft offensichtlich nicht zu.<br />

II. Der von den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen getragene, auch von der Revision nicht näher beanstandete<br />

Schuldspruch hält rechtlicher Überprüfung stand.<br />

- 7 -


III. Auch der Strafausspruch ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden. Insbesondere ist die Strafkammer von einem<br />

rechtsfehlerfrei gef<strong>und</strong>enen Strafrahmen ausgegangen; Fehler bei der konkreten Strafbemessung sind nicht<br />

ersichtlich.<br />

1. Rechtsfehlerfrei hat die Strafkammer ungeachtet einer errechneten Blutalkoholkonzentration zum Tatzeitpunkt<br />

von über 3 ‰ eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit i.S.v. § 21 StGB ausgeschlossen.<br />

a) Auszugehen ist dabei von Folgendem:<br />

(1) Eine Blutalkoholkonzentration in der errechneten Höhe gibt - wie die Strafkammer zutreffend erkannt hat - Anlass<br />

zur Prüfung einer krankhaften seelischen Störung durch einen akuten Alkoholrausch; die Möglichkeit von<br />

Schuldunfähigkeit oder erheblich verminderter Schuldfähigkeit ist dann gr<strong>und</strong>sätzlich zu erörtern.<br />

(2) Darüber hinaus war in älterer Rechtsprechung die Auffassung vertreten worden, bei Überschreiten bestimmter<br />

Grenzwerte sei die Steuerungsfähigkeit mit einem kaum widerlegbaren Grad an Wahrscheinlichkeit „in aller Regel“<br />

erheblich vermindert (vgl. nur BGH, Urteil vom 22. November 1990 - 4 StR 117/90, BGHSt 37, 233 ff.). Dies war<br />

aus juristischer Sicht wegen des zu geringen Gewichts der Einzelfallgerechtigkeit (vgl. Nachweise bei BGH, Beschluss<br />

vom 9. Juli 1996 - 1 StR 511/95, NStZ 1996, 592; zusammenfassend auch Schild in Kindhäuser/Neumann/Päffgen,<br />

StGB, 3. Aufl., § 20 Rn. 81 f.) nie unumstritten, ebenso deshalb, weil Schuldfähigkeit „ein<br />

normatives Postulat, aber keine messbare Größe“ ist (zusammenfassend Maatz/Wahl, FS 50 Jahre BGH, 2000, S.<br />

531, 533). In der forensisch-psychiatrischen Wissenschaft war diese schematisierende Auffassung nahezu einhellig<br />

abgelehnt worden, weil die Wirkung von Alkohol auf jeden Menschen unterschiedlich sei (z.B. Kröber NStZ 1996,<br />

569; Joachim NStZ 1996, 593). Diese Rechtsprechung wurde deswegen aufgegeben, nachdem sämtliche Strafsenate<br />

des B<strong>und</strong>esgerichtshofs auf Anfrage des Senates (§ 132 Abs. 2 GVG; BGH, Beschluss vom 9. Juli 1996 - 1 StR<br />

511/95) zuvor erklärt hatten, eine gegenteilige Auffassung nicht (mehr) zu vertreten (BGH, Beschluss vom 6. November<br />

1996 - 2 ARs 357/96; BGH, Beschluss vom 30. Oktober 1996 - 3 ARs 17/96; BGH, Beschluss vom 3. Dezember<br />

1996 - 4 ARs 6/95; BGH, Beschluss vom 6. November 1996 - 5 ARs 59/96). Seither ist gefestigte Rechtsprechung<br />

des B<strong>und</strong>esgerichtshofs, dass es keinen Rechts- oder Erfahrungssatz gibt, der es gebietet, ohne Rücksicht<br />

auf die im konkreten Fall feststellbaren psychodiagnostischen Kriterien ab einer bestimmten Höhe der Blutalkoholkonzentration<br />

regelmäßig von zumindest „bei Begehung der Tat“ erheblich verminderter Schuldfähigkeit auszugehen<br />

(gr<strong>und</strong>legend Senatsentscheidung vom 29. April 1997 - 1 StR 511/95, BGHSt 43, 66 ff.; vgl. weiter u.a. auch Beschluss<br />

vom 29. November 2005 - 5 StR 358/05; BGH, Urteil vom 22. Oktober 2004 - 1 StR 248/04; BGH, Urteil<br />

vom 16. September 2004 - 1 StR 233/04; BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2002 - 1 StR 378/02; BGH, Beschluss<br />

vom 5. April 2000 - 3 StR 114/00; BGH, Be-schluss vom 3. Dezember 1999 - 3 StR 481/99). Allerdings wird in<br />

neueren Entscheidungen (Nachweise bei Pfister NStZ-RR 2012, 161, 162 ff.) vereinzelt unter Hinweis auch auf<br />

ältere (aufgegebene) Rechtsprechung der Blutalkoholkonzentration wieder stärkere indizielle Bedeutung beigemessen.<br />

Hierdurch sollte offenk<strong>und</strong>ig (vgl. § 132 Abs. 2 GVG) den Besonderheiten der zu entscheidenden Einzelfälle<br />

(z.B. Möglichkeit einer schockartigen Ernüchterung nach Tatende) Rechnung getragen, keineswegs aber die aufgezeigte<br />

Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs in Frage gestellt werden. Hierzu bestünde angesichts der ihr zugr<strong>und</strong>eliegenden<br />

<strong>und</strong> seither auch nicht angezweifelten medizinischen Erfahrungssätze auch keine Veranlassung. Es ist<br />

prinzipiell unmöglich, „einer bestimmten Blutalkoholkonzentration für jeden Einzelfall gültige psychopathologische,<br />

neurologisch-körperliche Symptome oder Verhaltensauffälligkeiten zuzuordnen. Es existiert keine lineare Abhängigkeit<br />

der Symptomatik von der Blutalkoholkonzentration. Aus diesen Gründen ist es prinzipiell unmöglich, allein<br />

aus der Blutalkoholkonzentration das Ausmaß einer alkoholisierungsbedingten Beeinträchtigung ableiten zu wollen“<br />

(Foerster in Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 5. Aufl. 2009, S. 246; ebenso Nedopil, Forensische<br />

Psychiatrie, 3. Aufl. 2007, S. 124 ff.; vgl. auch Schöch in Kröber/Dölling/Leygraf/Sass, Handbuch der Forensischen<br />

Psychiatrie, Band 1 S. 111 f.). Es wäre daher auch verfehlt, einem psychodiagnostischen Beweisanzeichen - etwa<br />

dem Leistungsverhalten vor, bei oder nach Tatbegehung - von vornherein mit Blick auf eine bestimmte Blutalkoholkonzentration<br />

oder mit Blick auf eine zum Erreichen höherer Blutalkoholwerte notwendigerweise bestehende Alkoholgewöhnung<br />

eine Aussagekraft zur Beurteilung der Schuldfähigkeit i.S.d. §§ 20, 21 StGB abzusprechen. Zur Problematik<br />

der Feststellung einer Blutalkoholkonzentration anhand von Trinkmengenangaben eines Angeklagten verweist<br />

der Senat überdies auf die zutreffenden Ausführungen von Wendt <strong>und</strong> Kröber (in<br />

Kröber/Dölling/Leygraf/Sass, Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Band 2 S. 245).<br />

(3) Für die Beurteilung der Schuldfähigkeit maßgeblich ist demnach eine Gesamtschau aller wesentlichen objektiven<br />

<strong>und</strong> subjektiven Umstände, die sich auf das Erscheinungsbild des Täters vor, während <strong>und</strong> nach der Tat beziehen<br />

(gr<strong>und</strong>legend Senatsentscheidung vom 29. April 1997 - 1 StR 511/95, BGHSt 43, 66 ff.; auch BGH, Beschluss vom<br />

- 8 -


5. April 2000 - 3 StR 114/00; BGH, Urteil vom 22. Januar 1997 - 3 StR 516/96). Dabei kann die - regelmäßig deshalb<br />

zu bestimmende (vgl. BGH, Beschluss vom 28. März 2012 - 5 StR 49/12; BGH, Beschluss vom 8. Oktober<br />

1997 - 2 StR 478/97) - Blutalkoholkonzentration ein je nach den Umständen des Einzelfalls sogar gewichtiges, aber<br />

keinesfalls allein maßgebliches Beweisanzeichen (Indiz) sein (vgl. BGH, Urteil vom 22. Ok-tober 2004 - 1 StR<br />

248/04; BGH, Urteil vom 6. Juni 2002 - 1 StR 14/02; BGH, Urteil vom 3. Dezember 2002 - 1 StR 378/02; vgl. auch<br />

BGH, Urteil vom 11. September 2003 - 4 StR 139/03; BGH, Urteil vom 22. April 1998 - 3 StR 15/98). Welcher<br />

Beweiswert der Blutalkoholkonzentration (die weniger zur Auswirkung des Alkohols als lediglich zu dessen wirksam<br />

aufgenommener Menge aussagt) im Verhältnis zu anderen psychodiagnostischen Beweisanzeichen beizumessen<br />

ist, lässt sich nicht schematisch beantworten. Er ist umso geringer, je mehr sonstige aussagekräftige psychodiagnostische<br />

Kriterien (Überblick hierzu z.B.: Plate, Psyche, Unrecht <strong>und</strong> Schuld, 2002, S. 194 ff.; Detter, Strafzumessung,<br />

2009, II. Teil Rn. 83) zur Verfügung stehen. So können die konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls eine<br />

erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit bei Tatbegehung auch bei einer Blutalkoholkonzentration schon von unter<br />

2 ‰ begründen (BGH, Beschluss vom 3. Dezember 1999 - 3 StR 481/99), umgekehrt eine solche selbst bei errechneten<br />

Maximalwerten von über 3 ‰ auch ausschließen (BGH, Urteil vom 6. Juni 2002 - 1 StR 14/02: 3,54 ‰; vgl.<br />

auch Foerster in Venzlaff/Foerster, aaO).<br />

b) Dies zugr<strong>und</strong>e gelegt zeigt die Revision keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.<br />

(1) Die Strafkammer hat den aufgezeigten Maßstab beachtet <strong>und</strong> ausgehend von der von ihr bestimmten Blutalkoholkonzentration<br />

die Frage der Schuldfähigkeit in einer Gesamtschau aller Umstände beurteilt. Die Strafkammer<br />

geht von einer ohne den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler ermittelten Blutalkoholkonzentration von 3,03 ‰<br />

aus. Freilich hatte der Sachverständige seinem Gutachten eine Blutalkoholkonzentration von 3,46 ‰ zugr<strong>und</strong>e gelegt.<br />

Die Strafkammer legt in den Urteilsgründen näher dar, dass es sich hierbei um einen Schreib- bzw. Rechenfehler<br />

des Sachverständigen handelt <strong>und</strong> sie darüber hinaus zugunsten des Angeklagten von einem früheren Trinkende<br />

als der Sachverständige (17.00 Uhr statt 18.00 Uhr) ausgeht. Die Revision sieht § 261 StPO verletzt, weil die Strafkammer<br />

hierauf in der Hauptverhandlung nicht hingewiesen habe. Ob damit im Ergebnis nicht vielmehr eine Verletzung<br />

des § 265 StPO (zumindest in entsprechender Anwendung) gerügt sein soll (vgl. § 300 StPO), mag dahinstehen.<br />

Nachdem der Sachverständige selbst auf der Gr<strong>und</strong>lage einer Blutalkoholkonzentration von 3,46 ‰ das Vorliegen<br />

der Voraussetzungen des § 21 StGB verneint hatte, ist jedenfalls nicht erkennbar, dass sich der Angeklagte anders<br />

oder erfolgversprechender hätte verteidigen können als geschehen, wenn er darauf hingewiesen worden wäre,<br />

dass nicht von einer Blutalkoholkonzentration von 3,46 ‰ sondern von 3,03 ‰ auszugehen ist; hierzu trägt auch die<br />

Revision nichts vor (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Januar 2010 - 1 StR 587/09 Rn. 28).<br />

(2) Anhaltspunkte, die Strafkammer könnte bei der ihr obliegenden Gesamtwürdigung der zur Verfügung stehenden<br />

Indizien oder bei der Beurteilung der Erheblichkeit i.S.v. § 21 StGB den ihr zustehenden tatrichterlichen Beurteilungsspielraum<br />

überschritten haben, sind nicht ersichtlich (zur nur eingeschränkten revisionsrechtlichen Überprüfung<br />

vgl. auch Maatz/Wahl, FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 531, 553). Insbesondere obliegt es tatrichterlicher Beurteilung,<br />

welches Gewicht der Blutalkoholkonzentration im Einzelfall in Zusammenschau mit anderen zur Verfügung stehenden<br />

Beweisanzeichen beigemessen werden kann. Die letzte Verantwortung für die Beurteilung der Schuldfähigkeit<br />

liegt beim Tatrichter (BGH, Urteil vom 18. Mai 1995 - 4 StR 698/94). Die Frage der Erheblichkeit ist eine allein<br />

vom Richter zu beantwortende Rechtsfrage (vgl. BGH, Beschluss vom 7. April 2010 - 4 StR 644/09; BGH, Beschluss<br />

vom 23. September 2003 - 1 StR 343/03).<br />

(3) Es ist auch nicht ersichtlich, dass eine der näher ausgeführten Erwägungen der Strafkammer ungeeignet wäre, zur<br />

Stützung des gef<strong>und</strong>enen Gesamtergebnisses zumal in einer Gesamtschau mit herangezogen zu werden. Namentlich<br />

bei größerer Alkoholaufnahme kommt der - hier näher dargestellten <strong>und</strong> sachverständig begutachteten - Alkoholgewöhnung<br />

eine wichtige Bedeutung zu (Schöch in LK-StGB, 12. Aufl., § 20 Rn. 17; Schäfer/Sander/van Gemmeren,<br />

Strafzumessung, 4. Aufl., Rn. 528 mwN). Ohne Rechtsfehler hebt die Strafkammer neben anderen Beweisanzeichen<br />

auch auf das isoliert gesehen bei trinkgewohnten Personen freilich nur begrenzt aussagekräftige (vgl. BGH, Beschluss<br />

vom 17. August 2011 - 5 StR 255/11; BGH, Beschluss vom 12. Juni 2007 - 4 StR 187/07) Fehlen erheblicher<br />

Ausfallerscheinungen ab. Sie stützt sich dabei nicht nur auf die Angaben eines Kindes (hierzu BGH, Beschluss vom<br />

26. März 1997 - 3 StR 35/97) oder ebenfalls erheblich alkoholisierter Zechkumpane (hierzu BGH, Beschluss vom<br />

17. August 2011 - 5 StR 255/11), sondern u.a. auf den im Umgang mit alkoholisierten Personen nicht unerfahrenen<br />

Gastwirt der Stammkneipe des Angeklagten. Die Strafkammer durfte hier auch dem Umstand, dass der Angeklagte<br />

trotz erheblichen Alkoholkonsums insgesamt „sein Berufsleben ohne Einschränkungen unter Kontrolle“ hatte, Bedeutung<br />

beimessen. Ebenfalls ohne Rechtsfehler durfte die Strafkammer das nahezu gleich bleibende Verhalten des<br />

- 9 -


Angeklagten an anderen Tagen, an denen der Angeklagte nach eigenen Angaben weniger Alkohol konsumiert hatte,<br />

vergleichend zur Beurteilung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten am Tattag heranziehen. Aussagekraft konnte<br />

die Strafkammer hier auch dem (aus dem festgestellten Sachverhalt ersichtlichen) planvollen <strong>und</strong> zielgerichteten<br />

Agieren des Angeklagten vor <strong>und</strong> bei Tatbegehung (z.B. die einleitend vorgetäuschte „Phimose-Behandlung“) aber<br />

auch nach Tatbegehung beimessen (z.B. der Hinweis auf eine Geheimhaltungsbedürftigkeit). Die hier mit Blick auf<br />

das gesamte Tatgeschehen fernliegende Möglichkeit einer nach der Tat eingetretenen plötzlichen Ernüchterung (dazu<br />

BGH, Beschluss vom 7. Februar 2012 - 5 StR 545/11) musste die Strafkammer nicht erörtern. Soweit die Revision<br />

eine Gesamtwürdigung mit anderen die Schuldfähigkeit tangierenden Umständen (Depression aufgr<strong>und</strong> erlittenen<br />

Schlaganfalls; Kernpädophilie) vermisst, übersieht sie zum einen die Bezugnahme der Strafkammer auf die dies in<br />

den Blick nehmenden Ausführungen eines Sachverständigen <strong>und</strong> zum anderen die darauf aufbauende, eigene Würdigung<br />

der Strafkammer, dass „auch der Schlaganfall - gegebenenfalls mit Persönlichkeitszügen <strong>und</strong> Alkoholkonsum -<br />

die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten nicht in erheblichem Maß einschränkte“ (UA S. 38).<br />

2. Auch mit dem Vorbringen, die Strafkammer habe einen minderschweren Fall i.S.v. § 176a Abs. 4 StGB rechtsfehlerhaft<br />

verneint, kann die Revision nicht durchdringen. Nachdem das eingeholte Sachverständigengutachten keinen<br />

Zweifel an der Glaubwürdigkeit des geschädigten Kindes ergeben hatte, hat der Angeklagte sich nicht länger auf<br />

Erinnerungslosigkeit berufen, sondern das bereits früher angekündigte Geständnis abgelegt <strong>und</strong> künftige (abgesicherte)<br />

Zahlungen an den Geschädigten versprochen. Die Strafkammer hat dies ohne den Angeklagten beschwerenden<br />

Rechtsfehler als Täter-Opfer-Ausgleich (§ 46a Nr. 1 StGB) bewertet, diesen bei der Prüfung eines minder schweren<br />

Falles zwar nicht ausdrücklich angesprochen, jedoch sogleich den Strafrahmen des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB gemäß<br />

§ 46a, § 49 Abs. 1 StGB gemildert (zum an sich gebotenen methodischen Vorgehen nach der Rechtsprechung des<br />

B<strong>und</strong>esgerichtshofs vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, aaO, Rn. 588 ff.). Dies begründet hier keinen, jedenfalls<br />

keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler. Der Tatrichter ist in der Entscheidung regelmäßig frei, welchen<br />

von mehreren in Betracht kommenden Strafrahmen - hier also der des § 176a Abs. 4 StGB (Freiheitsstrafe von<br />

einem Jahr bis zu zehn Jahren) oder der gemäß § 46a, § 49 Abs. 1 StGB gemilderte des § 176a Abs. 2 StGB (Freiheitsstrafe<br />

von sechs Monaten bis zu elf Jahren <strong>und</strong> drei Monaten) - er der Strafbemessung zugr<strong>und</strong>e legt (vgl. schon<br />

BGH, Urteil vom 3. Mai 1966 - 5 StR 173/66, BGHSt 21, 57, 59; zusammenfassend, auch zur Gegenansicht, Kett-<br />

Straub in Kindhäuser/Neummann/Päffgen, aaO, § 50 Rn. 14). Einen Rechtsfehler, der darin liegen könnte, dass sich<br />

die Strafkammer nicht bewusst gewesen wäre, dass ein dem Angeklagten günstigerer Strafrahmen zur Verfügung<br />

stehen könnte, kann der Senat hier nach der eingehenden Erörterung der Strafkammer zum Täter-Opfer-Ausgleich<br />

ausschließen. Es liegt fern, die Strafkammer könnte bei der zur Prüfung, ob ein minder schwerer Fall i.S.v. § 176a<br />

Abs. 4 StGB vorliegt, vorgenommenen „Gesamtschau“ (UA S. 42) nicht auch den zur Strafrahmenmilderung gemäß<br />

§ 49 StGB herangezogenen Täter-Opfer-Ausgleich in den Blick genommen haben (vgl. auch § 50 StGB). Es kann<br />

deshalb hier dahinstehen, welches die maßgeblichen Umstände des Einzelfalls (vgl. Theune in LK-StGB, 12. Aufl., §<br />

50 Rn. 19 mwN) sein könnten, die den einen oder den anderen Strafrahmen zu einem dem Angeklagten günstigeren<br />

machen würden, nachdem sich die Strafe weder an einer möglichen Ober- noch einer möglichen Untergrenze orientiert.<br />

Auch deshalb könnte der Senat ausschließen, dass der Angeklagte durch einen etwaigen Rechtsfehler beschwert<br />

wäre.<br />

StGB § 32, § 33, § 223 Verteidigungswille <strong>und</strong> „panikbedingte“ Notwehrüberschreitung<br />

BGH, Urt. v. 25.04. 2013 – 4 StR 551/12 – NJW 2013, 2133<br />

1. Wird von dem Angegriffenen in einer Notwehrlage ein Gegenangriff auf Rechtsgüter des Angreifers<br />

geführt (sog. Trutzwehr), kann darin nur dann eine Angriffsabwehr gesehen werden, wenn in<br />

diesem Vorgehen auch tatsächlich der Wille zum Ausdruck kommt, der drohenden Rechtsverletzung<br />

entgegenzutreten. Dabei ist ein Verteidigungswille auch dann noch als relevantes Handlungsmotiv<br />

anzuerkennen, wenn andere Beweggründe (Vergeltung für frühere Angriffe, Feindschaft etc.)<br />

hinzutreten. Erst wenn diese anderen Beweggründe so dominant sind, dass ihnen gegenüber der<br />

Wille zur Wahrung des Rechts völlig zurücktritt, kann ein Abwehrverhalten im Sinne des Notwehrrechts<br />

nicht mehr angenommen werden.<br />

- 10 -


2. Ein entschuldigender Notwehrexzess nach § STGB § 33 StGB setzt voraus, dass sich der Handelnde<br />

in einem psychischen Ausnahmezustand mit einem Störungsgrad befindet, der eine erhebliche<br />

Reduzierung seiner Fähigkeit, das Geschehen zu verarbeiten, zur Folge hat. Ein Verhaltensalternativen<br />

in den Blick nehmendes Entscheiden kann Ausdruck einer Verarbeitung des Geschehens<br />

sein <strong>und</strong> damit gegen die Annahme einer Störung i. S. des § STGB § 33 StGB sprechen. (Leitsätze<br />

der Redaktion)<br />

Nach den landgerichtlichen Feststellungen <strong>und</strong> Wertungen war der Angekl. Mitglied der NPD <strong>und</strong> weiterer Zusammenschlüsse<br />

von Personen mit rechtsradikaler Gesinnung. Er nahm an Veranstaltungen mit entsprechender politischer<br />

Ausrichtung teil <strong>und</strong> kandidierte im Jahr 2011 für die NPD bei einer Landtagswahl. Am 4. 8. 2011 wurde er<br />

von Personen aus dem linken Spektrum als Rechtsradikaler „geoutet“ <strong>und</strong> daraufhin in einschlägigen Internetblogs<br />

beschimpft. Bei einem am 28. 9. 2011 mit einem Gesinnungsgenossen im Internet geführten Dialog berichtete der<br />

Angekl. über eine gegen ihn gerichtete anonyme Schmähung. Dabei erklärte er, nur darauf zu warten, „dass einer<br />

mal angreift“ <strong>und</strong> er den dann „endlich mal die Klinge fressen lassen“ könne. Als ihm sein Dialogpartner beipflichtete,<br />

schrieb der Angekl. weiter: „Ja! Das Schöne daran, es wäre sogar Notwehr! Man stelle sich das mal bildlich vor!<br />

So ne Zecke greift an <strong>und</strong> du ziehst n Messer. Die Flachzange klappt zusammen <strong>und</strong> rührt sich nicht mehr. Das muss<br />

doch ein Gefühl sein, wie wenn man kurz vor dem Ejakulieren ist!“ Am 1. 10. 2011 sollte eine von dem Angekl. <strong>und</strong><br />

der X, der der Angekl. angehörte, ausgerichtete so genannte „Soli-Party“ auf einer Ackerfläche in B. stattfinden. Auf<br />

dieser Party sollte Geld für eine von dem Angekl. für den 22. 10. 2011 angemeldete Demonstration erwirtschaftet<br />

werden. Im Vorfeld war den der linken Szene zuzuordnenden Nebenkl. K, P <strong>und</strong> S sowie fünf weiteren Personen<br />

bekannt geworden, dass für ortsunk<strong>und</strong>ige Besucher dieser „Party“ für die Zeit zwischen 19 <strong>und</strong> 19.30 Uhr eine<br />

Person auf einem Pendlerparkplatz bereitstehen würde, die den Weg zum Veranstaltungsgelände weisen sollte. Die<br />

Nebenkl. <strong>und</strong> ihre Begleiter fuhren deshalb in zwei Fahrzeugen zu dem ihnen bekannten Pendlerparkplatz, um vor<br />

Ort weitere Informationen für ihr Vorgehen zu sammeln <strong>und</strong> eine Weiterleitung von Besuchern zum Veranstaltungsgelände<br />

zu verhindern. Dabei planten sie den Einsatz körperlicher Gewalt <strong>und</strong> nahmen mögliche Verletzungen der<br />

dort anzutreffenden Kontaktperson billigend in Kauf. Zwischen 19 <strong>und</strong> 19.15 Uhr entdeckten der Nebenkl. S <strong>und</strong> ein<br />

Begleiter bei einer Erk<strong>und</strong>ungsfahrt den ihnen als führendes Mitglied der rechten Szene bekannten Angekl., der am<br />

Steuer seines im hinteren Teil des Pendlerparkplatzes abgestellten Pkw saß <strong>und</strong> die Rolle der angekündigten Kontaktperson<br />

übernommen hatte. Sie trafen sich daraufhin mit den übrigen Nebenkl. <strong>und</strong> deren Begleitern auf einem<br />

kleineren Parkplatz, der gegenüber dem Pendlerparkplatz auf der anderen Seite des Flusslaufs liegt <strong>und</strong> für den Angekl.<br />

nicht einsehbar war. Etwa gegen 19.15 Uhr begaben sich die dunkel gekleideten Nebenkl. mit zwei Begleitern<br />

(insgesamt fünf Personen) zu Fuß zu einer kleinen Brücke, die über den Flusslauf zur L.-Straße <strong>und</strong> dem Pendlerparkplatz<br />

führte, um den Angekl. dort anzugreifen <strong>und</strong> notfalls unter Einsatz von körperlich wirkender Gewalt zu<br />

vertreiben. Dabei führte S eine Dose mit Pfefferspray mit, während einer seiner Begleiter Handschuhe trug, die zur<br />

Erhöhung der Schlagkraft <strong>und</strong> zur Vermeidung von Handverletzungen im Bereich der Knöchel mit Quarzsand gefüllt<br />

waren. Auf dem Weg vermummten sich die Nebenkl. <strong>und</strong> ihre Begleiter mit Sturmhauben, Kapuzen <strong>und</strong> anderen<br />

schwarzen Textilien. Zwischenzeitlich hatte der Angekl. seinen Standort verändert, nachdem er ein ziviles Polizeifahrzeug<br />

wahrgenommen hatte, von den Beamten aber nicht bemerkt worden war. Er befand sich nun mit seinem<br />

Pkw im vorderen Bereich des Pendlerparkplatzes nur wenige Meter von der ersten Ausfahrt entfernt. Sein Fahrzeug<br />

war dabei in Richtung der Ausfahrt eingeparkt. Der Angekl. saß bei geöffnetem Seitenfenster auf dem Fahrersitz <strong>und</strong><br />

telefonierte mit dem auf dem Festgelände befindlichen Zeugen A. Als der Nebenkl. S bei der Überquerung der Brücke<br />

den Angekl. entdeckte, rief er aus: „Das ist er!“ <strong>und</strong> zog den Sicherungssplint aus der Pfefferspraydose. Daraufhin<br />

beschleunigte die Gruppe ihren Schritt <strong>und</strong> versuchte die L.-Straße schräg in Richtung der noch ca. 14 m von der<br />

Brücke entfernten ersten Ausfahrt des Pendlerparkplatzes zu überqueren. Als der Angekl. die vermummte Personengruppe<br />

bemerkte <strong>und</strong> deren Vorhaben erkannte, teilte er seinem Gesprächspartner A mit, dass er von „Zecken“ angegriffen<br />

werde <strong>und</strong> warf sein Mobiltelefon auf den Beifahrersitz.<br />

Der Angekl. befürchtete zu Recht, körperlich attackiert zu werden. Er geriet nicht ausschließbar in Panik <strong>und</strong> beschloss<br />

zu flüchten. Dazu startete er sein Fahrzeug <strong>und</strong> fuhr mit Vollgas beschleunigend über die erste Ausfahrt auf<br />

die L.-Straße <strong>und</strong> dann nach links auf die Personengruppe mit den Nebenkl. zu, die sich zu diesem Zeitpunkt wenige<br />

Meter von der Brücke entfernt in Richtung des Angekl. auf der Straße befand. Jedenfalls die drei Nebenkl. hielten<br />

sich zu diesem Zeitpunkt in der Mitte der Straße bzw. der in Fahrtrichtung des Angekl. rechten Fahrbahnhälfte <strong>und</strong><br />

damit in dessen direktem Fahrweg auf. Als der Angekl. sein Fahrzeug beschleunigte, war ihm bewusst, dass er die<br />

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Nebenkl. in die erhebliche Gefahr brachte, ohne eine Ausweichbewegung ihrerseits von seinem Fahrzeug erfasst <strong>und</strong><br />

hierbei verletzt zu werden. Eine Verletzung der drei Nebenkl., jedenfalls im Rahmen einer Ausweichbewegung,<br />

nahm er billigend in Kauf. Auch eine „leichte Kollision“ <strong>und</strong> ein nicht ausschließbares „leichtes Anfahren“ wurden<br />

von ihm für möglich gehalten <strong>und</strong> gebilligt. Der Angekl. rechnete jedoch nicht damit, dass er eine der Personen oder<br />

gar mehrere überfahren könnte <strong>und</strong> nahm ihren Tod nicht billigend in Kauf. Vielmehr ging er davon aus, dass sie die<br />

Straße noch rechtzeitig räumen würden, was ihnen sowohl räumlich als auch zeitlich möglich gewesen wäre. Die<br />

Nebenkl. P <strong>und</strong> S konnten sich vor dem schnell herannahenden Fahrzeug des Angekl. durch einen Sprung zur Seite<br />

retten. K sprang – obwohl er die Möglichkeit dazu gehabt hätte – aus ungeklärtem Gr<strong>und</strong> nicht zur Seite, sondern auf<br />

die Motorhaube des auf ihn zu diesem Zeitpunkt mit einer Geschwindigkeit von 25–30 km/h zukommenden Fahrzeugs.<br />

Dabei prallte er mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe <strong>und</strong> wurde abgeworfen. Er stürzte mit dem Hinterkopf<br />

auf die Fahrbahndecke <strong>und</strong> blieb schwer verletzt liegen. Der Angekl., der erkannt hatte, dass K durch den<br />

Aufprall schwer verletzt oder sogar getötet worden sein konnte, fuhr mit seinem Fahrzeug davon, weil er zu Recht<br />

Vergeltungsmaßnahmen der vermummten Begleiter von K befürchtete. Als er nach etwa zwei Minuten auf ein Polizeifahrzeug<br />

traf, hielt er dieses an <strong>und</strong> offenbarte sich den Beamten. Durch die Kollision mit dem Fahrzeug des Angekl.<br />

erlitt K insbesondere eine lebensgefährliche Hirnblutung sowie diverse Hämatome <strong>und</strong> Schürfw<strong>und</strong>en. Auf<br />

Gr<strong>und</strong> der Hirnblutung kam es bei ihm zu einer motorischen Aphasie. Er musste intensivmedizinisch behandelt werden<br />

<strong>und</strong> sich einer einmonatigen stationären Rehabilitationsmaßnahme zum Wiedererlernen der Sprachfähigkeit<br />

unterziehen. Derzeit leidet er noch an temporären Wortfindungsstörungen <strong>und</strong> einem defekten M<strong>und</strong>schluss sowie<br />

Angstgefühlen. Ob es zu weiteren Spätfolgen kommen wird, ist ungewiss. Der Angekl. hätte eine Gefährdung seiner<br />

körperlichen Unversehrtheit auch dadurch vermeiden können, dass er den Pendlerparkplatz über die zweite Ausfahrt<br />

verlassen hätte oder von der ersten Ausfahrt nicht nach links, sondern nach rechts abgebogen <strong>und</strong> davongefahren<br />

wäre. Eine Beeinträchtigung seiner Verteidigungs- <strong>und</strong> Selbstschutzchancen wäre hierdurch in beiden Fällen nicht<br />

eingetreten. Bei einem Ausfahren über die zweite Ausfahrt wäre ein Kontakt mit den Angreifern allerdings nicht<br />

ausgeschlossen gewesen, weil sich der Zeuge H, der zu der Gruppe um die Nebenkl. gehörte, bereits in der Nähe<br />

befand.<br />

Das LG hat den Angekl. von den Vorwürfen des versuchten Totschlags in drei einheitlichen Fällen in Tateinheit mit<br />

gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr <strong>und</strong> gefährlicher Körperverletzung sowie des unerlaubten Entfernens<br />

vom Unfallort freigesprochen. Auf die Revisionen der StA <strong>und</strong> der Nebenkl. K, S <strong>und</strong> P wurde dieses Urteil mit den<br />

Feststellungen aufgehoben, die Sache wurde an eine andere als SchwurGer. zuständige Strafkammer des LG zurückverwiesen.<br />

Aus den Gründen:<br />

[14]II. Die gegen den Freispruch gerichteten Revisionen der Nebenkl. <strong>und</strong> die zu Ungunsten des Angekl. eingelegte<br />

Revision der StA haben schon deshalb Erfolg, weil die Annahme des LG, der Angekl. habe auf Gr<strong>und</strong> eines Notwehrexzesses<br />

i. S. des § STGB § 33 StGB ohne Schuld gehandelt, nicht tragfähig begründet ist.<br />

[15]1. Eine Entschuldigung wegen einer Überschreitung der Grenzen der Notwehr nach § STGB § 33 StGB setzt<br />

voraus, dass der Täter in einer objektiv gegebenen Notwehrlage (§ STGB § 32 STGB § 32 Absatz II StGB) bei der<br />

Angriffsabwehr die Grenzen des Erforderlichen aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken überschritten hat (vgl. BGH,<br />

NStZ 2003, NSTZ Jahr 2003 Seite 599 [NSTZ Jahr 2003 600] m. w. Nachw.). Von einer Angriffsabwehr kann dabei<br />

nur die Rede sein, wenn der Täter nicht nur in Kenntnis der die Notwehrlage begründenden Umstände, sondern auch<br />

mit Verteidigungswillen gehandelt hat (BGHSt 3, BGHST Jahr 3 Seite 194 [BGHST Jahr 3 198] = BeckRS 1952,<br />

BECKRS Jahr 30401639; Zieschang, in: LK-StGB, 12. Aufl., § 33 Rdnr. 48; Heinrich, StrafR AT, 3. Aufl., Rdnr.<br />

590; Kühl, StrafR AT, 6. Aufl., § 12 Rdnr. ANNUSSTHUESINGKOTZBFG 6 TZBFG § 12 Randnummer 149 a).<br />

[16]a) Das LG ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Angekl. im Zeitpunkt des Anfahrens des Nebenkl. K <strong>und</strong><br />

des Beinahe-Zusammenstoßes mit den Nebenkl. P <strong>und</strong> S einem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff ausgesetzt<br />

war <strong>und</strong> sich deshalb objektiv in einer Notwehrlage befand (§ STGB § 32 STGB § 32 Absatz II StGB).<br />

[17]Ein Angriff ist bereits dann gegenwärtig, wenn sich die durch das Verhalten der Angreifer begründete Gefahr so<br />

verdichtet hat, dass ein Hinausschieben der Abwehrhandlung unter den gegebenen Umständen entweder deren Erfolg<br />

gefährden oder den Verteidiger zusätzlicher nicht mehr hinnehmbarer Risiken aussetzen würde (vgl. BGH, NStZ<br />

2000, NSTZ Jahr 2000 Seite 365; BGHR StGB § 32 Abs. 2 Angriff 5 = BeckRS 1991, BECKRS Jahr 31097174;<br />

BGHR StGB § 32 Abs. 2 Angriff 1 = BeckRS 1987, BECKRS Jahr 31098992). Nach den Feststellungen waren die<br />

Nebenkl. <strong>und</strong> ihre Begleiter im Begriff, den Angekl. in seinem Fahrzeug körperlich anzugreifen. Dazu bewegten sie<br />

sich schnellen Schrittes auf ihn zu <strong>und</strong> hatten nur noch wenige Meter zu überwinden. Angesichts der zahlenmäßigen<br />

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Überlegenheit der Angreifer <strong>und</strong> ihrer Bewaffnung (Reizgas, präparierte Handschuhe) hätte ein Zuwarten den Angekl.<br />

der Gefahr ausgesetzt, nicht mehr rechtzeitig reagieren zu können oder wichtige Handlungsoptionen zu verlieren.<br />

[18]Da der Angriff der Nebenkl. <strong>und</strong> ihrer Begleiter auf den Angekl. in Widerspruch zur Rechtsordnung stand, war<br />

er auch rechtswidrig (BGH, NJW 1998, NJW Jahr 1998 Seite 1000).<br />

[19]b) Dagegen ist die Annahme des LG, der Angekl. habe sich mit dem Zufahren auf die Nebenkl. gegen deren<br />

Angriff verteidigt, nicht rechtsfehlerfrei begründet. Auf Gr<strong>und</strong> seiner Feststellungen zur Tatvorgeschichte hätte sich<br />

das LG an dieser Stelle mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob das Vorgehen des Angekl. auch von dem erforderlichen<br />

Verteidigungswillen getragen war.<br />

[20]aa) Wird von dem Angegriffenen in einer Notwehrlage ein Gegenangriff auf Rechtsgüter der Angreifer geführt<br />

(sog. Trutzwehr), kann darin nur dann eine Angriffsabwehr gesehen werden, wenn in diesem Vorgehen auch tatsächlich<br />

der Wille zum Ausdruck kommt, der drohenden Rechtsverletzung entgegenzutreten (BGHSt 5, BGHST Jahr 5<br />

Seite 245 [BGHST Jahr 5 247] = NJW 1954, NJW Jahr 1954 Seite 438; BGH bei Dallinger, MDR 1969, MDR Jahr<br />

1969 Seite 15 [MDR Jahr 1969 16] = BeckRS 2013, BECKRS Jahr 09819; Fischer, StGB, 60. Aufl., § 32 Rdnr. 25;<br />

Schmidhäuser, GA 1991, GA Jahr 1991 Seite 91 [GA Jahr 1991 132]; ders., JZ 1991, JZ Jahr 1991 Seite 937 [JZ<br />

Jahr 1991 939]; Schünemann, GA 1985, GA Jahr 1985 Seite 341 [GA Jahr 1985 371]; Welzel, Das deutsche Strafrecht,<br />

11. Aufl., S. 86; vgl. Alwart, GA 1983, GA Jahr 1983 Seite 433 [GA Jahr 1983 448 ff.]). Dazu reicht allein<br />

die Feststellung, dass dem Angegriffenen die Notwehrlage bekannt war, nicht aus. Die subjektiven Voraussetzungen<br />

der Notwehr sind erst dann erfüllt, wenn der Gegenangriff zumindest auch zu dem Zweck geführt wurde, den vorangehenden<br />

Angriff abzuwehren. Dabei ist ein Verteidigungswille auch dann noch als relevantes Handlungsmotiv<br />

anzuerkennen, wenn andere Beweggründe (Vergeltung für frühere Angriffe, Feindschaft etc.) hinzutreten. Erst wenn<br />

diese anderen Beweggründe so dominant sind, dass hinter ihnen der Wille, das Recht zu wahren, ganz in den Hintergr<strong>und</strong><br />

tritt, kann von einem Abwehrverhalten keine Rede mehr sein (vgl. BGH, NStZ-RR 2012, NSTZ-RR Jahr 2012<br />

Seite 84 [NSTZ-RR Jahr 2012 86]; NStZ 2007, NSTZ Jahr 2007 Seite 325 [NSTZ Jahr 2007 326]; NJW 2003, NJW<br />

Jahr 2003 Seite 1955 [NJW Jahr 2003 1957 f.]; NStZ 2000, NSTZ Jahr 2000 Seite 365 [NSTZ Jahr 2000 366];<br />

BGHR StGB § 32 Abs. 2 Verteidigungswille 1 = BeckRS 1991, BECKRS Jahr 31097093; NStZ 1983, NSTZ Jahr<br />

1983 Seite 117; GA 1980, GA Jahr 1980 Seite 67 [GA Jahr 1980 68] = BeckRS 1979, BECKRS Jahr 31115540;<br />

BGHSt 3, BGHST Jahr 3 Seite 194 [BGHST Jahr 3 198] = BeckRS 1952, BECKRS Jahr 30401639). Hieran ist trotz<br />

in der Literatur geäußerter Kritik (vgl. Rönnau/Hohn, in: LK-StGB, § 32 Rdnr. 266; Matt/Renzikowski/Engländer,<br />

StGB, § 32 Rdnr. 63; Erb, in: MünchKomm-StGB, 2. Aufl., § 32 Rdnr. 241; Perron, in: Schönke/Schröder, StGB,<br />

28. Aufl., § 32 Rdnr. 63; Prittwitz, GA 1980, GA Jahr 1980 Seite 381; Rath, Das subjektive Rechtfertigungselement,<br />

2002, S. 241 f.; Waider, Die Bedeutung der Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen für Methodologie<br />

<strong>und</strong> Systematik des Strafrechts, 1970, S. 91 ff.) festzuhalten.<br />

[21]bb) Die Äußerungen des Angekl. im Vorfeld der Geschehnisse, wonach er nur darauf warte, „dass einer mal<br />

angreift“ <strong>und</strong> er den dann „endlich mal die Klinge fressen lassen“ könne, wie auch das damit verb<strong>und</strong>ene begeisterte<br />

Ausmalen eines Szenarios, in dem es zur Tötung eines politischen Gegners („Zecke“) in einer Notwehrsituation<br />

kommt, lassen es nicht als fernliegend erscheinen, dass er den Angriff der Nebenkl. lediglich zum Anlass genommen<br />

hat, gegen sie Gewalt zu üben. Dem entspricht es, dass es das LG an anderer Stelle im Zusammenhang mit diesen<br />

Äußerungen selbst für möglich gehalten hat, dass der Angekl. auf die Nebenkl. <strong>und</strong> ihre Begleiter zugefahren ist, um<br />

sie unter Inkaufnahme von Verletzungen „springen“ zu lassen. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> konnte das LG nicht ohne<br />

nähere Begründung davon ausgehen, dass der Angekl. bei seinem Vorgehen gegen die Nebenkl. zumindest auch von<br />

dem Willen geleitet war, das Recht zu wahren. Die ausführliche Bewertung der Äußerungen des Angekl. vom 28. 9.<br />

2011 <strong>und</strong> seiner daraus abzuleitenden Haltung gegenüber den Nebenkl. im Zusammenhang mit der Prüfung eines<br />

bedingten Tötungsvorsatzes kann die fehlenden Ausführungen zum Verteidigungswillen nicht ersetzen.<br />

[22]2. Die Sache bedarf schon aus diesem Gr<strong>und</strong> neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung. Eine Aufrechterhaltung von<br />

Feststellungen zur Tatvorgeschichte <strong>und</strong> zum Tatgeschehen kam nicht in Betracht, weil dies den nicht geständigen<br />

Angekl. belasten würde <strong>und</strong> er keine Möglichkeit hatte, das Urteil insoweit anzugreifen (BGH, NStZ-RR 1998,<br />

NSTZ-RR Jahr 1998 Seite 204 = BGHR StPO § 354 Abs. 1 Freisprechung 2; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 353<br />

Rdnr. 15 a m. w. Nachw.).<br />

[23]Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf das Folgende hin:<br />

[24]a) Eine Körperverletzung mittels eines anderen gefährlichen Werkzeugs (§ STGB § 224 STGB § 224 Absatz I<br />

Nr. 2 StGB) begeht, wer sein Opfer durch ein von außen unmittelbar auf den Körper einwirkendes gefährliches Tat-<br />

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mittel i. S. von § STGB § 223 STGB § 223 Absatz I StGB körperlich misshandelt oder an der Ges<strong>und</strong>heit beschädigt<br />

(BGH, NStZ 2012, NSTZ Jahr 2012 Seite 697 [NSTZ Jahr 2012 698]; Beschl. v. 30. 6. 2011 – BGH Aktenzeichen<br />

4STR26611 4 StR 266/11, BeckRS 2011, BECKRS Jahr 19236 Rdnr. BECKRS Jahr 2011 Randnummer 5; NStZ-<br />

RR 2010, NSTZ-RR Jahr 2010 Seite 205 [NSTZ-RR Jahr 2010 206]; NStZ 2007, NSTZ Jahr 2007 Seite 405). Fährt<br />

der Täter mit einem Pkw auf eine oder mehrere Personen zu, ist der innere Tatbestand des § STGB § 224 STGB §<br />

224 Absatz I Nr. 2 StGB nur dann erfüllt, wenn er dabei billigend in Kauf nimmt, dass die betroffenen Personen<br />

angefahren werden <strong>und</strong> unmittelbar durch den Anstoß mit dem fahrenden Pkw eine Körperverletzung (§ STGB §<br />

223 STGB § 223 Absatz I StGB) erleiden. Rechnet der Täter nur mit Verletzungen infolge von Ausweichbewegungen<br />

oder bei Stürzen, scheidet die Annahme einer (versuchten) gefährlichen Körperverletzung in der Variante des §<br />

STGB § 224 STGB § 224 Absatz I Nr. 2 StGB aus.<br />

[25]Eine gefährliche Körperverletzung in der Variante des § STGB § 224 STGB § 224 Absatz I Nr. 5 StGB (mittels<br />

einer das Leben gefährdenden Behandlung) setzt in subjektiver Hinsicht voraus, dass der Täter die Umstände kennt,<br />

aus denen sich in der konkreten Situation die allgemeine Lebensgefährlichkeit seines Vorgehens ergibt (st. Rspr.;<br />

vgl. BGHSt 36, BGHST Jahr 36 Seite 1 [BGHST Jahr 36 15] = NJW 1989, NJW Jahr 1989 Seite 781 = NStZ 1989,<br />

NSTZ Jahr 1989 Seite 114; Fischer, § 224 Rdnr. 13 m. w. Nachw.). Sollte der neue Tatrichter wiederum zu der Feststellung<br />

gelangen, das der Nebenkl. K aus ungeklärten Gründen auf die Motorhaube des Fahrzeugs des Angekl. gesprungen<br />

<strong>und</strong> das Vorgehen des Angekl. erst dadurch für ihn generell lebensgefährdend geworden ist, müsste der<br />

Angekl. auch ein solches Geschehen für möglich gehalten <strong>und</strong> billigend in Kauf genommen haben (vgl. BGH,<br />

BGHR StGB § 315 b Abs. 3 Absicht 1 = BeckRS 1992, BECKRS Jahr 31080923).<br />

[26]b) Ergibt sich, dass der Angekl. in einer objektiv gegebenen Notwehrlage auf die Nebenkl. zugefahren ist <strong>und</strong><br />

dabei jedenfalls auch mit Verteidigungswillen gehandelt hat, wird erneut zu prüfen sein, ob die Grenzen des Erforderlichen<br />

überschritten worden sind.<br />

[27]aa) Eine in einer objektiven Notwehrlage begangene Tat ist nach § STGB § 32 STGB § 32 Absatz II StGB gerechtfertigt,<br />

wenn sie zu einer sofortigen <strong>und</strong> endgültigen Abwehr des Angriffs führt <strong>und</strong> es sich bei ihr um das mildeste<br />

Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung stand (st. Rspr.; vgl.<br />

BGH, NStZ-RR 2013, NSTZ-RR Jahr 2013 Seite 139 [NSTZ-RR Jahr 2013 140] m. Anm. Erb, HRRS 2013, 113;<br />

BGHSt 42, BGHST Jahr 42 Seite 97 [BGHST Jahr 42 100] = NJW 1996, NJW Jahr 1996 Seite 2315 = NStZ 1996,<br />

NSTZ Jahr 1996 Seite 380 m. w. Nachw.). Ob dies der Fall ist, muss aus der Sicht eines objektiven <strong>und</strong> umfassend<br />

über den Sachverhalt unterrichteten Dritten in der Situation des Angegriffenen entschieden werden (BGH, BGHR §<br />

32 Abs. 2 Erforderlichkeit 14 = BeckRS 1998, BECKRS Jahr 05707). Dabei kommt es auf die tatsächlichen Verhältnisse<br />

im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung an (BGH, NStZ-RR 2013, NSTZ-RR Jahr 2013 Seite 139 [NSTZ-RR<br />

Jahr 2013 140] m. Anm. Erb, HRRS 2013, 113; NJW 1989, NJW Jahr 1989 Seite 3027). Da das Notwehrrecht nicht<br />

nur dem Schutz der bedrohten Individualrechtsgüter des Angegriffenen, sondern auch der Verteidigung der durch<br />

den rechtswidrigen Angriff negierten Rechtsordnung dient (vgl. BGHSt 24, BGHST Jahr 24 Seite 356 [BGHST Jahr<br />

24 359] = NJW 1972, NJW Jahr 1972 Seite 1821), kommen als alternativ in Betracht zu ziehende Abwehrhandlung<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich nur Maßnahmen in Betracht, die die bedrohte Rechtsposition gegen den Angreifer durchsetzen. Das<br />

Gesetz verlangt von einem rechtswidrig Angegriffenen nicht, dass er die Flucht ergreift oder auf andere Weise dem<br />

Angriff ausweicht, weil damit ein Hinnehmen des Angriffs verb<strong>und</strong>en wäre <strong>und</strong> weder das bedrohte Recht noch die<br />

in ihrem Geltungsanspruch in Frage gestellte Rechtsordnung gewahrt blieben (vgl. BGH, NStZ 2005, NSTZ Jahr<br />

2005 Seite 31; NJW 2003, NJW Jahr 2003 Seite 1955 [NJW Jahr 2003 1957]; NJW 1980, NJW Jahr 1980 Seite<br />

2263; BGHSt 27, BGHST Jahr 27 Seite 313 [BGHST Jahr 27 314] = NJW 1978, NJW Jahr 1978 Seite 955;<br />

Rönnau/Hohn, in: LK-StGB, § 32 Rdnr. 182; Erb, in: MünchKomm-StGB, § 32 Rdnr. 118; Kindhäuser, in: NK-<br />

StGB, 4. Aufl., § 32 Rdnr. KINNEUPAEKOSTGB 4 STGB § 32 Randnummer 94 m. w. Nachw.). Etwas anderes<br />

kann lediglich dann gelten, wenn besondere Umstände das Notwehrrecht einschränken, etwa weil dem Angriff eine<br />

vorwerfbare Provokation des Angegriffenen vorausgegangen ist (vgl. BGH, NStZ-RR 2013, NSTZ-RR Jahr 2013<br />

Seite 139 [NSTZ-RR Jahr 2013 141] m. Anm. Erb, HRRS 2013, 113; NStZ 2005, NSTZ Jahr 2005 Seite 31) oder<br />

der Angegriffene sich sehenden Auges in Gefahr begeben hat (vgl. BGH, NStZ-RR 2002, NSTZ-RR Jahr 2002 Seite<br />

203 [NSTZ-RR Jahr 2002 204] m. Anm. Walther, JZ 2003, JZ Jahr 2003 Seite 52).<br />

[28]bb) Daran gemessen wird sich eine Überschreitung der Grenzen des Erforderlichen nicht mit den vom Erstgericht<br />

hierzu angestellten Erwägungen begründen lassen. Der Angekl. war nicht gehalten, sich dem Geschehen durch<br />

ein Wegfahren in Gegenrichtung (Flucht) zu entziehen. Auch für die vom LG angestellte Abwägung zwischen den<br />

Gefahren, die dem Angekl. im Fall einer Flucht gedroht hätten <strong>und</strong> den mit der gewählten Verteidigung verb<strong>und</strong>enen<br />

- 14 -


Gefahren für die Rechtsgüter der angreifenden Nebenkl., ist kein Raum. Stattdessen wird der neue Tatrichter auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage der von ihm dazu getroffenen Feststellungen zu erörtern haben, ob es dem Angekl. in dem Zeitpunkt der<br />

Zufahrt auf die Nebenkl. möglich war, den gegen ihn geführten Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit schonender<br />

als geschehen zurückzuweisen. Sollte sich wiederum ergeben, dass der Angekl. mit Vollgas auf die in seinem<br />

Fahrweg laufenden Nebenkl. zugefahren ist, wird dabei gegebenenfalls die Frage beantwortet werden müssen, ob<br />

diese die Nebenkl. erheblich gefährdende Fahrweise tatsächlich erforderlich war, um sie von ihrem Angriffsvorhaben<br />

abzubringen. Wurde der Nebenkl. K auch nach den neu getroffenen Feststellungen nur deshalb gravierend verletzt,<br />

weil er aus ungeklärtem Gr<strong>und</strong> nicht zur Seite, sondern auf die Motorhaube des Fahrzeugs des Angekl. sprang, wird<br />

auch entschieden werden müssen, ob diese Entwicklung aus der an dieser Stelle maßgeblichen Sicht eines objektiven<br />

Beobachters vorhersehbar war. Wäre dies zu verneinen, müsste diese Auswirkung als nicht vorhersehbare Folge bei<br />

der vergleichenden Betrachtung mit anderen möglichen Verteidigungshandlungen außer Ansatz bleiben (vgl. für eine<br />

andere Fallkonstellation BGH, BGHR § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 14 = BeckRS 1998, BECKRS Jahr 05707).<br />

[29]c) Gelangt der neue Tatrichter zu dem Ergebnis, dass sich der Angekl. bei der Abwehr des Angriffs der Nebenkl.<br />

in den Grenzen des Erforderlichen gehalten hat, entfiele damit auch die Rechtswidrigkeit des gefährlichen Eingriffs<br />

in den Straßenverkehr gem. § STGB § 315 b STGB § 315B Absatz I Nr. 3 StGB. Dies hat der Senat bereits in seinem<br />

Urteil vom 26. 3. 1974 (BGH Aktenzeichen 4STR39973 4 StR 399/73 unter 4 a, insow. in BGHSt 25, BGHST Jahr<br />

25 Seite 306 = NJW 1974, NJW Jahr 1974 Seite 1340 = MDR 1974, MDR Jahr 1974 Seite 679 = VerkMitt 1974, Nr.<br />

VERKMITT Jahr 97 <strong>und</strong> JZ 1974, JZ Jahr 1974 Seite 621 nicht abgedr.) implizit bejaht, indem er für einen vergleichbaren<br />

Fall die Möglichkeit einer Putativnotwehr <strong>und</strong> dementsprechend eine Bestrafung wegen fahrlässigen<br />

gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr (§ STGB § 315 b STGB § 315B Absatz I Nr. 3, STGB § 315B Absatz<br />

V StGB) in Betracht zog. Dem steht nicht entgegen, dass § STGB § 315 b StGB vornehmlich die öffentliche Sicherheit<br />

des Straßenverkehrs schützt <strong>und</strong> die Bewahrung der Individualrechtsgüter der gefährdeten Verkehrsteilnehmer<br />

von diesem Schutzzweck lediglich mit umfasst wird (BGHSt 48, BGHST Jahr 48 Seite 119 [BGHST Jahr 48 123] =<br />

NJW 2003, NJW Jahr 2003 Seite 836 = NStZ 2003, NSTZ Jahr 2003 Seite 266; Ernemann, in: Satzger/Schmitt/Widmaier,<br />

StGB, § 315 b Rdnr. 1). Zwar vermag Notwehr gr<strong>und</strong>sätzlich nur Eingriffen in die Rechtsgüter<br />

des Angreifers die Rechtswidrigkeit zu nehmen (vgl. Rönnau/Hohn, in: LK-StGB, § 32 Rdnr. 159), doch ist in der<br />

Rechtsprechung anerkannt, dass § STGB § 32 StGB ausnahmsweise auch die Verletzung von Universalrechtsgütern<br />

zu rechtfertigen vermag, wenn deren Begehung – wie hier – untrennbar mit der erforderlichen Verteidigung verb<strong>und</strong>en<br />

ist (vgl. BGH, NStZ 2012, NSTZ Jahr 2012 Seite 452; NStZ-RR 2010, NSTZ-RR Jahr 2010 Seite 140; NStZ<br />

1999, NSTZ Jahr 1999 Seite 347; NStZ-RR 1997, NSTZ-RR Jahr 1997 Seite 97 = StV 1996, STV Jahr 1996 Seite<br />

660; NStZ 1981, NSTZ Jahr 1981 Seite 299, jew. zu mit der Notwehrhandlung begangenen Verstößen gegen das<br />

Waffengesetz; a. A. Rönnau/Hohn, in: LK-StGB, § 32 Rdnr. 160; Erb, in: MünchKomm-StGB, § 32 Rdnr. 123;<br />

Kindhäuser, in: NK-StGB, § 32 Rdnrn. KINNEUPAEKOSTGB STGB § 32 Randnummer 80 f.; Maatz, MDR 1985,<br />

MDR Jahr 1985 Seite 881 [MDR Jahr 1985 882]).<br />

[30]d) Ergibt sich dagegen, dass die Grenzen des Erforderlichen überschritten worden sind, wird sich ein Eingehen<br />

auf § STGB § 33 StGB anschließen müssen. Dabei wird zu beachten sein, dass eine Exkulpierung nach dieser Vorschrift<br />

nur zu rechtfertigen ist, wenn sich der Angekl. auf Gr<strong>und</strong> der Bedrohung durch die Nebenkl. in einem psychischen<br />

Ausnahmezustand mit einem Störungsgrad bef<strong>und</strong>en hat, der eine erhebliche Reduzierung seiner Fähigkeit das<br />

Geschehen zu verarbeiten zur Folge hatte (BGH, NStZ-RR 1997, NSTZ-RR Jahr 1997 Seite 65 [NSTZ-RR Jahr<br />

1997 66]; NStZ 1995, NSTZ Jahr 1995 Seite 76 [NSTZ Jahr 1995 77]; BGHR StGB § 33 Furcht 2 = BeckRS 1992,<br />

BECKRS Jahr 31083824; vgl. NJW 2001, NJW Jahr 2001 Seite 3200 = NStZ 2001, NSTZ Jahr 2001 Seite 591<br />

[NSTZ Jahr 2001 593]; Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 33 Rdnr. 3; Matt/Renzikowski/Engländer, § 33 Rdnr.<br />

10; Erb, in: MünchKomm-StGB, § 33 Rdnr. 23 m. w. Nachw.). War dies der Fall, kann ein entschuldigender Notwehrexzess<br />

auch dann noch anzunehmen sein, wenn die Überschreitung der Notwehrgrenzen durch andere (sthenische)<br />

Affekte (Wut, Zorn etc.) mitverursacht worden ist (BGH, StV 1999, STV Jahr 1999 Seite 148 = BeckRS 1998,<br />

BECKRS Jahr 31357362; NStZ-RR 1999, NSTZ-RR Jahr 1999 Seite 264; NStZ 1987, NSTZ Jahr 1987 Seite 20 =<br />

BGHR StGB § 33 Nothilfe 1). Hierzu bedarf es konkreter Feststellungen <strong>und</strong> einer wertenden Gesamtbetrachtung<br />

aller relevanten Umstände.<br />

[31]Das LG hat auf der Gr<strong>und</strong>lage der von ihm getroffenen Feststellungen zutreffend in der von den vermummt<br />

auftretenden Nebenkl. ausgehenden Bedrohungslage, der durch den Überraschungseffekt bedingten zugespitzten<br />

Entscheidungssituation <strong>und</strong> den Angaben von Zeugen zum psychischen Zustand des Angekl. unmittelbar nach der<br />

Tat wichtige Beweisanzeichen für einen Affekt i. S. des § STGB § 33 StGB gesehen <strong>und</strong> dem die gegen einen sol-<br />

- 15 -


chen Affekt sprechenden Umstände (gedankliche Vorwegnahme möglicher Angriffe, Wahrscheinlichkeit von gewaltsamen<br />

Gegenaktionen) gegenübergestellt. Seine Erwägungen sind jedoch entscheidend von der rechtsfehlerhaften<br />

Annahme beeinflusst, dass der Angekl. die Notwehrgrenzen bereits deshalb überschritten habe, weil er den Ort<br />

des Geschehens nicht fluchtartig verließ.<br />

[32]Sollte der neue Tatrichter zu einer Erörterung der Voraussetzungen des § STGB § 33 StGB gelangen, wird er<br />

neben den genannten Gesichtspunkten auch in seine Gesamtwürdigung einzubeziehen haben, dass der Angekl. bei<br />

seiner polizeilichen Einvernahme am 12. 10. 2011 zwar von „Panik“ berichtet hat, dann aber seine Entscheidung für<br />

ein Zufahren auf die Gruppe um die Nebenkl. als das Ergebnis einer Abwägung zwischen verschiedenen Risiken <strong>und</strong><br />

fahrtechnischen Möglichkeiten schilderte. Ein Verhaltensalternativen in den Blick nehmendes Entscheiden kann<br />

Ausdruck einer Verarbeitung des Geschehens sein <strong>und</strong> damit gegen die Annahme einer Störung i. S. des § STGB §<br />

33 StGB sprechen.<br />

StGB § 63 Unterbringung bei Spielsucht<br />

BGH, Urt.l v. 06.03.2013 – 5 StR 597/12 - NJW 2013, 1462<br />

LS: Voraussetzungen der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bei „Spielsucht“.<br />

Der 5. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat aufgr<strong>und</strong> der Hauptverhandlungen vom 19. Februar 2013 <strong>und</strong> vom 6.<br />

März 2013 am 6. März 2013 für Recht erkannt: Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts<br />

Göttingen vom 5. September 2012 wird verworfen. Die Kosten des Rechtsmittels <strong>und</strong> die dem Angeklagten<br />

hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schwerer räuberischer Erpressung <strong>und</strong> wegen Betruges in drei Fällen zu<br />

einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit ihrer hierauf beschränkten<br />

<strong>und</strong> auf die Sachrüge gestützten Revision gegen die unterbliebene Anordnung der Unterbringung in einem<br />

psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB. Das Rechtsmittel ist unbegründet.<br />

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet der 37-jährige Angeklagte an einer extremen Form pathologischen<br />

Spielens (ICD 10: F63.0), beruhend auf einer mittelgradigen kombinierten Persönlichkeitsstörung mit selbstunsicheren,<br />

depressiven <strong>und</strong> narzisstischen Zügen. Er begann im Alter von 16 Jahren zu spielen, wendete bald sein<br />

ganzes Lehrgeld dafür auf <strong>und</strong> bestahl Vater <strong>und</strong> Bruder. Seit dem Alter von 18 Jahren unternahm er immer wieder<br />

„Spieltouren“ durch das B<strong>und</strong>esgebiet, übernachtete dabei in seinem Auto <strong>und</strong> verspielte ganztägig in Spielhallen<br />

sein Geld. Eine der „Touren“ führte zu seiner Entlassung aus der B<strong>und</strong>eswehr wegen Fahnenflucht. Der Angeklagte<br />

ist bereits mehrfach wegen Vermögens- <strong>und</strong> Eigentumsdelikten vorbestraft. Im Januar 2004 verübte er binnen kurzer<br />

Zeit zwei Raubüberfälle auf Spielotheken, nachdem ihm auf einer im Oktober 2003 angetretenen „Spieltour“ das<br />

Geld ausgegangen war. Er wurde zunächst nicht als Täter ermittelt. Getrieben von schlechtem Gewissen stellte er<br />

sich jedoch 2007 freiwillig der Polizei; er wurde wegen der Taten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren <strong>und</strong><br />

neun Monaten verurteilt. Bereits im damaligen Urteil wurde eine Unterbringung nach § 63 StGB geprüft, jedoch<br />

mangels Wiederholungsgefahr verneint, weil sich der Angeklagte vier Jahre lang straffrei geführt hatte. In mehreren<br />

Therapien, u.a. während der Haftzeit, konnte der Angeklagte seine Sucht nicht überwinden. Noch vor Beendigung<br />

seiner letzten stationären Therapie wurde er rückfällig, weshalb er im Februar 2012 aus der Behandlung entlassen<br />

wurde.<br />

2. Auch die verfahrensgegenständlichen Taten stehen in Zusammenhang mit der Spielsucht des Angeklagten. Nachdem<br />

ihm eine Verlängerung der Therapie versagt worden war, brach er abermals zu einer „Spieltour“ auf. Hierfür<br />

verschaffte er sich am 16. März 2012 betrügerisch ein Auto (Tat 1) <strong>und</strong> beging noch am selben Tag einen Tankbetrug<br />

(Tat 2). Binnen kurzer Zeit hatte er sein Geld verspielt. Am 18. März 2012 litt er unter „extremen Entzugserscheinungen“<br />

(UA S. 22). Er „verspürte den immer stärker werdenden Drang, sich Geld zur Befriedigung seines<br />

Spieldrucks zu besorgen“ (UA S. 13), <strong>und</strong> überfiel deshalb unter Verwendung einer Spielzeugpistole eine Spielothek<br />

(Tat 3). Die erbeuteten 1.250 € verspielte er. Nach einem weiteren Tankbetrug am 4. April 2012 (Tat 4) stellte er sich<br />

der Polizei. Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass die Schuldfähigkeit des Angeklagten bei dem Überfall auf<br />

die Spielothek sicher <strong>und</strong> bei den übrigen Taten nicht ausschließbar erheblich vermindert war (§ 21 StGB). Es hat die<br />

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus trotzdem abgelehnt, weil die Spielsucht des Angeklagten nur<br />

- 16 -


auf einer nicht den Schweregrad einer anderen seelischen Abartigkeit erreichenden kombinierten Persönlichkeitsstörung<br />

beruhe.<br />

3. Die Ablehnung der Unterbringung des Angeklagten im psychiatrischen Krankenhaus ist im Ergebnis rechtsfehlerfrei.<br />

Voraussetzung für die Unterbringung gemäß § 63 StGB ist, dass der Täter eine rechtswidrige Tat im gesicherten<br />

Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) begangen hat (nachfolgend<br />

unter a), der durch einen länger dauernden <strong>und</strong> nicht nur vorübergehenden geistigen Defekt hervorgerufen<br />

worden sein muss (nachfolgend unter b).<br />

a) Nach ständiger Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs stellt Spielsucht zwar für sich genommen keine krankhafte<br />

seelische Störung oder schwere andere seelische Abartigkeit dar, welche die Schuldfähigkeit erheblich einschränken<br />

oder ausschließen kann (vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2004 – 5 StR 411/04, BGHSt 49, 365, 369 ff.;<br />

Beschlüsse vom 24. Januar 1991 – 4 StR 580/90, BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 17, <strong>und</strong> vom 9. Oktober<br />

2012 – 2 StR 297/12, NJW 2013, 181, 182; kritisch hierzu Kellermann, StV 2005, 287). Indes können in schweren<br />

Fällen psychische Defekte <strong>und</strong> Persönlichkeitsveränderungen auftreten, die eine ähnliche Struktur <strong>und</strong> Schwere wie<br />

bei den stoffgeb<strong>und</strong>enen Suchterkrankungen aufweisen, <strong>und</strong> es kann zu schweren Entzugserscheinungen kommen<br />

(vgl. Schöch in Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Band 1, 2007, S. 92, 128; Leygraf in Handbuch der Forensischen<br />

Psychiatrie, Band 2, 2010, S. 514, 523; Nedopil/Müller, Forensische Psychiatrie, 4. Aufl., S. 240). Wie bei der<br />

Substanzabhängigkeit (vgl. BGH, Urteile vom 5. Mai 1999 – 2 StR 529/98, NStZ 1999, 448, 449, vom 19. September<br />

2000 – 1 StR 310/00, <strong>und</strong> vom 7. November 2000 – 5 StR 326/00, NStZ 2001, 83 <strong>und</strong> 85; vgl. MünchKomm<br />

StGB/van Gemmeren, 2. Aufl., § 63 Rn. 24) kann deshalb auch bei Spielsucht eine erhebliche Verminderung der<br />

Steuerungsfähigkeit angenommen werden, wenn diese zu schwersten Persönlichkeitsveränderungen geführt oder der<br />

Täter bei den Beschaffungstaten unter starken Entzugserscheinungen gelitten hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 8.<br />

November 1988 – 1 StR 544/88, BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 8, vom 22. Juli 2003 – 4 StR 199/03, NStZ<br />

2004, 31, 32, <strong>und</strong> vom 9. Oktober 2012 – 2 StR 297/12, aaO; vgl. auch BGH, Urteil vom 25. November 2004 – 5<br />

StR 411/04, BGHSt 49, 365, 370 f.). Das Landgericht geht auf der Gr<strong>und</strong>lage dieser Rechtsprechung rechtsfehlerfrei<br />

davon aus, dass die gravierenden Entzugserscheinungen des Angeklagten zumindest im Fall II.3 sicher zu einer erheblichen<br />

Verminderung seiner Steuerungsfähigkeit führten. Der „intensive, kaum kontrollierbare Drang zum<br />

Glücksspiel“ (UA S. 21) habe bei ihm einen erheblichen Motivationsdruck zur Begehung des Raubüberfalls ausgelöst<br />

<strong>und</strong> den spontanen Tatentschluss unter bewusster Eingehung eines erheblichen Entdeckungsrisikos begründet<br />

(Videoüberwachung der Spielhalle, Fingerabdrücke <strong>und</strong> Lichtbild des Angeklagten waren der Polizei bekannt).<br />

b) Die sich schubweise in schweren Entzugserscheinungen äußernde Spielsucht des Angeklagten vermag dessen<br />

Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus gleichwohl nicht zu begründen.<br />

aa) In Fällen stoffgeb<strong>und</strong>ener Süchte, in denen erst eine (vorübergehende) Alkohol- oder Drogenintoxikation zu<br />

einer rechtlich erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit führt, ist eine Unterbringung nach § 63 StGB nach der<br />

Rechtsprechung nur ausnahmsweise dann gerechtfertigt, wenn eine krankhafte Alkohol- oder Drogensucht im Sinne<br />

der Überempfindlichkeit gegeben ist oder der Betroffene aufgr<strong>und</strong> eines von der Drogensucht unterscheidbaren psychischen<br />

Defekts alkohol- oder drogensüchtig ist, der in seinem Schweregrad einer krankhaften seelischen Störung<br />

im Sinne der §§ 20, 21 StGB gleichsteht (vgl. BGH, Urteil vom 8. Januar 1999 – 2 StR 430/98, BGHSt 44, 338, 339;<br />

Beschlüsse vom 23. November 1999 – 4 StR 486/99, StV 2001, 677, vom 21. November 2001 – 3 StR 423/01, NStZ<br />

2002, 197, vom 24. Juni 2004 – 4 StR 210/04, NStZ-RR 2004, 331, 332, <strong>und</strong> vom 22. März 2007 – 4 StR 56/07).<br />

Demgemäß sind eine Neigung zum Alkoholmissbrauch (vgl. BGH, Urteil vom 20. September 1983 – 5 StR 401/83),<br />

eine Alkoholabhängigkeit (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2006 – 4 StR 530/06, BGHR StGB § 63 Zustand<br />

38) <strong>und</strong> selbst chronischer Alkoholismus als Folge jahrelangen Alkoholmissbrauchs (vgl. BGH, Urteil vom 8. Januar<br />

1999 – 2 StR 430/98, aaO, S. 341 mwN) für sich allein nicht als hinreichende Gründe für eine Unterbringung nach §<br />

63 StGB anerkannt worden. Nicht anders wird bei einer Abhängigkeit von illegalen Drogen entschieden, bei der die<br />

Schuldfähigkeit aufgr<strong>und</strong> vorübergehender starker Entzugserscheinungen erheblich vermindert ist (vgl. BGH, Beschluss<br />

vom 21. November 2001 – 3 StR 423/01, aaO).<br />

bb) Die Voraussetzungen für die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus können auch aus Gründen der<br />

verfassungsrechtlich verankerten Verhältnismäßigkeit nicht weniger streng sein als bei stoffgeb<strong>und</strong>enen Süchten.<br />

Die unbefristete Unterbringung gemäß § 63 StGB stellt einen überaus gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen<br />

dar. Das gilt hier umso mehr, als der Maßregelvollzug nach § 63 StGB auf die Behandlung Spielsüchtiger<br />

ersichtlich nicht ausgerichtet ist. Demgemäß wäre zu besorgen, dass der nicht oder nicht genügend behandelte Betroffene<br />

im Fall fortbestehender Gefährlichkeit lange Zeit im Maßregelvollzug untergebracht bliebe. Der Senat ver-<br />

- 17 -


kennt dabei nicht, dass die Rechtsprechung zur Rauschmittelabhängigkeit auch vor dem Hintergr<strong>und</strong> steht, dass für<br />

rauschmittelabhängige Täter die befristete <strong>und</strong> damit weniger beschwerende Unterbringung in einer Entziehungsanstalt<br />

nach § 64 StGB zur Verfügung steht (vgl. BGH, Urteil vom 8. Januar 1999 – 2 StR 430/98, aaO), die in Fällen<br />

der Spielsucht nicht in Betracht kommt (vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2004 – 5 StR 411/04, aaO). Dies kann<br />

jedoch nicht dazu führen, dass die Schwelle zur Unterbringung Spielsüchtiger im psychiatrischen Krankenhaus niedriger<br />

als dort angesetzt wird. Eine durch die Nichtanwendbarkeit des § 64 StGB unter Umständen begründete<br />

„Schutzlücke“ hat der Gesetzgeber in Kauf genommen. Auch im Zuge der Novellierung des Rechts der psychiatrischen<br />

Maßregeln durch das Gesetz zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus <strong>und</strong> in<br />

einer Entziehungsanstalt vom 16. Juli 2007 (BGBl. I 1327) wurde die Erweiterung der Unterbringung nach § 64<br />

StGB auf Spielsüchtige nicht erwogen; das Gesetz sollte vielmehr vor dem Hintergr<strong>und</strong> wachsenden Belegungsdrucks<br />

im Maßregelvollzug zu einer „zielgerichteteren Nutzung seiner Kapazitäten“ beitragen (BT-Drucks. 16/1110,<br />

S. 1). Im Übrigen könnte eine angenommene Schutzlücke die Unterbringung des „nur“ Spielsüchtigen im psychiatrischen<br />

Krankenhaus ebenso wenig gebieten wie des die Voraussetzungen des § 64 StGB nicht (mehr) erfüllenden<br />

„nur“ Rauschmittelabhängigen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Mai 1983 – 5 StR 182/83, NStZ 1983, 429, <strong>und</strong> vom<br />

23. November 1999 – 4 StR 486/99, aaO), der nach geltender Rechtslage aus den angeführten Gründen regelmäßig<br />

in den Strafvollzug überwiesen wird. Hinzu kommt, dass der Strafvollzug versucht, dem Problem etwa durch Einrichtung<br />

von Therapiegruppen gerecht zu werden. Dem entspricht, dass sich auch der Angeklagte nach dem Vortrag<br />

seines Verteidigers bereits in einer solchen Therapiegruppe befindet.<br />

cc) Nach den vorgenannten Gr<strong>und</strong>sätzen käme die Unterbringung des Angeklagten im psychiatrischen Krankenhaus<br />

damit nur noch in Betracht, wenn sich dessen Abhängigkeit bereits in schwersten Persönlichkeitsveränderungen<br />

manifestiert hätte. Davon ist nach den Feststellungen jedoch nicht auszugehen. Der Sachverständige, dem das Landgericht<br />

folgt, gelangt lediglich zu der Diagnose einer mittelgradigen kombinierten Persönlichkeitsstörung, die zum<br />

Suchtverhalten des Angeklagten geführt habe, „wenn auch mittlerweile beide Störungen sich gegenseitig bedingen“<br />

(UA S. 29). Auch der in den Urteilsgründen dargestellte Lebensweg des noch im Wesentlichen sozial eingeordneten<br />

Angeklagten lässt einen derartigen Persönlichkeitsverfall nicht erkennen.<br />

StGB § 66, 67d Abs. 2; GG Art. 2, Art. 104 Prognose Raub mit Scheinwaffen Sachverständiger<br />

BGH, Beschl. v. 11.12.2012 – 5 StR 431/12 - NJW 2013, 707 = StV 2013, 208 = StraFo 2013, 75<br />

LS: Fortdauer der Sicherungsverwahrung bei zu erwartenden Raubtaten mit Scheinwaffe.<br />

Die Sache wird an das Oberlandesgericht Celle zurückgegeben.<br />

G r ü n d e<br />

I. Dem Vorlegungsverfahren liegt Folgendes zugr<strong>und</strong>e:<br />

1. Das Landgericht Stade verhängte gegen den Verurteilten am 19. Januar 1998 wegen räuberischer Erpressung eine<br />

Freiheitsstrafe von vier Jahren <strong>und</strong> ordnete seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1<br />

StGB in der damals geltenden Fassung an. Gegenstand des Urteils war ein vom Verurteilten während eines Urlaubs<br />

aus dem Maßregelvollzug im alkoholisierten Zustand begangener Überfall auf eine Imbissbude, bei dem er mit seiner<br />

rechten Hand in der Westentasche eine Waffe vortäuschte <strong>und</strong> drohend äußerte: „Muss sein, sonst ich schießen<br />

oder nehme Geisel!“. Er erbeutete mindestens 800 DM; die beiden von ihm bedrohten Verkäuferinnen gerieten in<br />

große Angst, eine von ihnen in Todesangst.<br />

2. Bereits zuvor war der Verurteilte unter anderem sechs Mal wegen Raubtaten, die er überwiegend während gewährter<br />

Lockerungen aus dem Straf- oder Maßregelvollzug <strong>und</strong> zum Teil unter Verwendung von objektiv ungefährlichen<br />

Scheinwaffen begangen hatte, verurteilt worden: Am 3. Juli 1984 wurde er wegen räuberischer Erpressung in<br />

zwei Fällen sowie wegen Diebstahls in vier Fällen unter Einbeziehung einer früheren Verurteilung zu einer Einheitsjugendstrafe<br />

von drei Jahren <strong>und</strong> neun Monaten verurteilt. Alkoholisiert hatte er unter Vorhalt einer ungeladenen<br />

Gaspistole in einem Geschäft die Herausgabe von 150 DM <strong>und</strong> in einem Altersheim die Herausgabe von r<strong>und</strong> 1.600<br />

DM erzwungen. Am 30. Mai 1985 wurde gegen ihn wegen räuberischer Erpressung in Tateinheit mit vorsätzlicher<br />

Körperverletzung unter Einbeziehung der Verurteilung vom 3. Juli 1984 eine Einheitsjugendstrafe von vier Jahren<br />

<strong>und</strong> vier Monaten verhängt. Während eines Hafturlaubs war der unbewaffnete Verurteilte dem Geschädigten bis an<br />

- 18 -


dessen Wohnungstür gefolgt <strong>und</strong> hatte zunächst „Geld her oder ich schieße“ gerufen; dann würgte <strong>und</strong> schlug er den<br />

Geschädigten, bis dieser ihm 10 DM aushändigte. Am 19. Dezember 1985 wurde er wegen schweren Raubes <strong>und</strong><br />

eines Vergehens gegen das Betäubungsmittelgesetz unter Einbeziehung der Verurteilung vom 30. Mai 1985 zu einer<br />

Einheitsjugendstrafe von sechs Jahren verurteilt. In alkoholisiertem Zustand <strong>und</strong> mit einer Strumpfmaske maskiert<br />

hatte er während eines Hafturlaubs ein Juweliergeschäft überfallen. Dabei hatte er eine Verkäuferin <strong>und</strong> eine K<strong>und</strong>in<br />

mit einem Küchenmesser bedroht, anschließend der Verkäuferin das Küchenmesser an den Nacken gehalten <strong>und</strong> so<br />

die Herausgabe von ca. 850 DM Bargeld erzwungen. Am 4. Dezember 1987 wurde er wegen räuberischen Angriffs<br />

auf Kraftfahrer zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt <strong>und</strong> seine Unterbringung in<br />

einer Entziehungsanstalt angeordnet. Während eines Hafturlaubs hatte der Verurteilte nach erheblichem Alkoholkonsum<br />

eine Taxifahrerin bedroht <strong>und</strong> zur Herausgabe von Bargeld zwingen wollen, indem er mit der rechten Hand in<br />

der Innentasche seiner Jacke eine Schusswaffe vorgetäuscht hatte. Die Taxifahrerin geriet in große Angst. Sie konnte<br />

nach einer Vollbremsung aus dem Taxi flüchten. Am 27. November 1991 wurde er wegen schwerer räuberischer<br />

Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt <strong>und</strong> es wurde erneut seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt<br />

angeordnet. Nach erheblichem Alkoholkonsum hatte der Verurteilte eine ungeladene Schreckschusspistole<br />

in Brusthöhe auf die Kassiererin eines Supermarktes gerichtet <strong>und</strong> von ihr mit den Worten „Geld raus oder<br />

ich erschieße dich“ die Herausgabe von 6.700 DM erzwungen. Die Kassiererin hatte die Pistole für echt gehalten <strong>und</strong><br />

hatte Angst um ihr Leben. Mit Urteil vom 19. September 1994 wurde gegen ihn wegen schwerer räuberischer Erpressung<br />

eine Freiheitsstrafe von vier Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verhängt <strong>und</strong> wiederum die Unterbringung in einer<br />

Entziehungsanstalt angeordnet. Während eines Urlaubs aus dem Maßregelvollzug hatte der Verurteilte auf der Rückfahrt<br />

im Zug Alkohol getrunken <strong>und</strong> anschließend maskiert ein Ladengeschäft überfallen. Dabei hielt er dem Inhaber<br />

eine täuschend echt aussehende Spielzeugpistole an den Kopf <strong>und</strong> zwang ihn zur Herausgabe von über 5.000 DM.<br />

Beim Verlassen des Geschäfts drohte er, man solle ihm nicht folgen, sonst schieße er. Eine Angestellte litt in der<br />

Folgezeit lange unter Angstphantasien.<br />

3. Die Sicherungsverwahrung wird gegen den Verurteilten im Anschluss an die vollständige Strafverbüßung seit dem<br />

5. Mai 2006 gemäß § 67a Abs. 2 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus vollzogen. Nachdem es im Rahmen<br />

eines Urlaubs bei ihm zu einem Alkoholrückfall gekommen war, ordnete die Strafvollstreckungskammer beim<br />

Landgericht Lüneburg mit dem angegriffenen Beschluss vom 27. April 2012 die Überführung des Untergebrachten<br />

in den Vollzug der Sicherungsverwahrung an, weil mit dem Vollzug der Maßregel in einem psychiatrischen Krankenhaus<br />

kein Erfolg erzielt werden könne <strong>und</strong> die Rücküberweisung in die Sicherungsverwahrung verhältnismäßig<br />

sei. Gegen diesen Beschluss hat der Verurteilte sofortige Beschwerde erhoben. Das Oberlandesgericht Celle beabsichtigt,<br />

die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen. Es nimmt an, dass die Voraussetzungen der Rücküberweisung<br />

in den Vollzug der Sicherungsverwahrung nach § 67a Abs. 3 Satz 2 StGB gegeben sind. In Anbetracht<br />

des konkret <strong>und</strong> wiederholt bei früheren Straftaten zum Ausdruck gekommenen Verhaltensmusters des Untergebrachten<br />

geht es davon aus, dass derzeit von ihm „mit einer die Fortdauer der Sicherungsverwahrung rechtfertigenden,<br />

ausreichend hohen Wahrscheinlichkeit nur Raubtaten im Sinne des § 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB zu erwarten sind,<br />

die der Untergebrachte unter Verwendung von Scheinwaffen ausübt, ohne dass eine objektive Gefährdung der Tatopfer<br />

gegeben ist, <strong>und</strong> bei denen diese allein psychisch beeinträchtigt werden“. Das Oberlandesgericht bewertet auch<br />

diese Taten als schwere Gewalttaten im Sinne der Weitergeltungsanordnung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom 4.<br />

Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u.a., BVerfGE 128, 326, 404 ff.); deshalb betrachtet es den weiteren Vollzug der Sicherungsverwahrung<br />

als verhältnismäßig. Es sieht sich an seiner beabsichtigten Entscheidung jedoch durch den Beschluss<br />

des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 16. März 2012 (3 Ws 63/12, NStZ-RR 2012, 171) gehindert. Dieser<br />

folgt einem Urteil des 2. Strafsenats des B<strong>und</strong>esgerichtshofs (BGH, Urteil vom 19. Oktober 2011 – 2 StR 305/11,<br />

StV 2012, 213), wonach Verbrechen nach § 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB für sich genommen in der Regel keine ausreichend<br />

schweren Prognosetaten für die Anordnung der Sicherungsverwahrung aufgr<strong>und</strong> der Weitergeltungsanordnung<br />

darstellten, wenn aufgr<strong>und</strong> konkreter Umstände mit hoher Wahrscheinlichkeit allein der Einsatz objektiv ungefährlicher<br />

Scheinwaffen zu erwarten sei. Eine allein psychische Beeinträchtigung reiche in der Regel nicht aus.<br />

4. Das Oberlandesgericht Celle hat deshalb mit Beschluss vom 8. August 2012 (2 Ws 165/12) die Sache dem Senat<br />

zur Entscheidung über folgende Rechtsfrage vorgelegt: „Sind die Voraussetzungen einer schweren Gewalttat i. S. d.<br />

Weitergeltungsentscheidung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u.a.) erfüllt, wenn<br />

von einem in der Sicherungsverwahrung Untergebrachten aufgr<strong>und</strong> konkreter Umstände in seiner Person künftig<br />

Straftaten des schweren Raubes i. S. d. § 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB zu erwarten sind, bei denen der Untergebrachte nur<br />

objektiv ungefährliche Scheinwaffen einsetzt <strong>und</strong> die Tatopfer nur psychisch beeinträchtigt werden?“<br />

- 19 -


5. Der Generalb<strong>und</strong>esanwalt hat beantragt, die Sache an das Oberlandesgericht zurückzugeben, weil sich die vom<br />

Oberlandesgericht beabsichtigte Abweichung auf die Bewertung von Tatsachen, nicht aber auf eine Rechtsfrage<br />

beziehe.<br />

II. Die Sache ist an das Oberlandesgericht zurückzugeben.<br />

1. Die Voraussetzungen des § 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG sind nicht gegeben, weil das Oberlandesgericht Celle durch den<br />

Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt ungeachtet einer Ähnlichkeit der zu beurteilenden Sachverhalte in dem<br />

von ihm zu entscheidenden Fall nicht gehindert ist, über die sofortige Beschwerde des Untergebrachten in dem beabsichtigten<br />

Sinne zu entscheiden. Die Vorlegungsfrage betrifft zwar die Auslegung eines Rechtsbegriffes, nämlich<br />

desjenigen der „schweren Gewalttat“ im Rahmen der durch die Weitergeltungsanordnung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />

auferlegten strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung. Dieser wird durch den Beschluss des Oberlandesgerichts<br />

Frankfurt auf der Gr<strong>und</strong>lage des Urteils des 2. Strafsenats des B<strong>und</strong>esgerichtshofs vom 19. Oktober 2011 (2 StR<br />

305/11, aaO S. 214) näher bestimmt. Jedoch steht die Umgrenzung des Begriffes der „schweren Gewalttat“ in den<br />

genannten Entscheidungen, die ausdrücklich auf den jeweils zugr<strong>und</strong>eliegenden Einzelfall abstellen, nicht dem Verständnis<br />

entgegen, welches das vorlegende Oberlandesgericht seinem Beschluss zugr<strong>und</strong>e legen möchte.<br />

a) Das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 (aaO) sämtliche Regelungen über die Anordnung<br />

<strong>und</strong> Dauer der Sicherungsverwahrung sowie im Einzelnen angeführte Nachfolgeregelungen wegen der<br />

Verletzung des Abstandsgebots mit dem Freiheitsgr<strong>und</strong>recht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1<br />

GG für unvereinbar erklärt <strong>und</strong> zugleich gemäß § 35 BVerfGG die zum 31. Mai 2013 befristete Weitergeltung dieser<br />

Vorschriften entsprechend seinen Vorgaben angeordnet. Danach dürfen die gesetzlichen Regelungen während der<br />

Übergangszeit nur nach Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden. Dies gilt insbesondere<br />

im Hinblick auf die Anforderungen an die Gefahrprognose <strong>und</strong> die gefährdeten Rechtsgüter. Der Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz<br />

wird daher in der Regel nur unter der Voraussetzung gewahrt sein, dass eine Gefahr schwerer<br />

Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten<br />

ist (BVerfG aaO S. 406).<br />

b) Seither hat die Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs der geforderten „strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung“<br />

zwar normative Konturen gegeben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 2. August 2011 – 3 StR 208/11, BGHR StGB § 66<br />

Strikte Verhältnismäßigkeit 1, <strong>und</strong> vom 24. Januar 2012 – 5 StR 535/11 mwN). Ungeachtet dessen bleibt die Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

aber im Gr<strong>und</strong>satz ein Akt der tatgerichtlichen Wertung auf der Gr<strong>und</strong>lage der Umstände<br />

des Einzelfalles; dies gilt – innerhalb der vom B<strong>und</strong>esgerichtshof gezogenen Grenzen – auch für die nähere Bestimmung<br />

des Begriffs der „schweren Gewalttat“.<br />

aa) Nicht alle Straftaten, die bislang für die Anordnung der Sicherungsverwahrung genügten, sind danach als<br />

„schwere Gewalt- oder Sexualtaten“ im Sinne der Weitergeltungsanordnung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts anzusehen<br />

(BGH, Urteil vom 28. März 2012 – 5 StR 525/11, NStZ-RR 2012, 205, 206, <strong>und</strong> vom 13. März 2012 – 5 StR<br />

497/11; Beschlüsse vom 2. August 2011 – 3 StR 208/11, aaO, <strong>und</strong> vom 27. September 2011 – 4 StR 362/11, NStZ-<br />

RR 2012, 109). Bei der auf den Einzelfall bezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung kommt es, über die gesetzgeberische<br />

Aufnahme in den Katalog tauglicher Vor- <strong>und</strong> Anlasstaten hinaus, prinzipiell nicht auf die Bezeichnung des<br />

Straftatbestands an, dessen Verletzung für die Zukunft droht, auch nicht letztentscheidend auf den durch gesetzliche<br />

Strafrahmen im Voraus gewichteten Schuldumfang, sondern – neben dem Grad der Wahrscheinlichkeit der künftigen<br />

Rechtsgutsverletzung – auf die Bedeutung des vor Rückfalltaten zu schützenden Rechtsgutes, gegebenenfalls auf die<br />

mögliche Verletzungsintensität (vgl. BGH, Urteile vom 19. Oktober 2011 – 2 StR 305/11, aaO, <strong>und</strong> vom 28. März<br />

2012 – 5 StR 525/11, aaO).<br />

bb) Auch nach dieser Rechtsprechung sind allerdings bestimmte Deliktsgruppen im Hinblick auf das besondere Gewicht<br />

der zu schützenden Rechtsgüter gr<strong>und</strong>sätzlich als „schwere Gewalt- oder Sexualstraftaten“ zu werten. Dies gilt<br />

im Bereich der Gewaltstraftaten jedenfalls für vorsätzliche Tötungsdelikte <strong>und</strong> Vorsatzdelikte mit qualifizierender<br />

Todesfolge (BGH, Beschluss vom 24. Januar 2012 – 5 StR 535/11). Hinsichtlich der Sexualstraftaten wird dies –<br />

unabhängig von körperlicher Gewaltanwendung – allein schon im Hinblick auf die „damit regelmäßig verb<strong>und</strong>enen<br />

psychischen Auswirkungen“ für Vergewaltigungen bejaht (BGH, Urteil vom 4. August 2011 – 3 StR 175/11, NStZ<br />

2011, 692, 693) sowie angesichts ihrer „oftmals gewichtigen psychischen Auswirkungen gr<strong>und</strong>sätzlich – abhängig<br />

von den Umständen des Einzelfalls“ – auch für den schweren sexuellen Missbrauch von Kindern (BGH, Beschluss<br />

vom 26. Oktober 2011 – 5 StR 267/11, NStZ-RR 2012, 9; vgl. auch BGH, Beschlüsse vom 2. August 2011 – 3 StR<br />

208/11, <strong>und</strong> vom 11. August 2011 – 3 StR 221/11). Der B<strong>und</strong>esgerichtshof hat damit anerkannt, dass auch Prognosetaten,<br />

die typischerweise (lediglich) schwerwiegende <strong>und</strong> nachhaltige psychische Schäden bei ihren Opfern hervorru-<br />

- 20 -


fen, die Vorgaben der Weitergeltungsanordnung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts erfüllen können. Der 3. Strafsenat<br />

des B<strong>und</strong>esgerichtshofs will schließlich auch mit einer Scheinwaffe begangene Raubtaten nach § 250 Abs. 1 Nr. 1b<br />

StGB im Hinblick auf die Höhe der angedrohten Mindeststrafe <strong>und</strong> die für die Tatopfer damit regelmäßig verb<strong>und</strong>enen<br />

psychischen Auswirkungen gr<strong>und</strong>sätzlich als „ausreichend schwere Straftaten“ im Sinne der Weitergeltungsanordnung<br />

verstehen (BGH, Beschluss vom 4. August 2011 – 3 StR 235/11, StV 2011, 673, nicht tragend; vgl. auch<br />

den Beschluss des 4. Strafsenats vom 24. Januar 2012 – 4 StR 594/11, NStZ-RR 2012, 141, 142; noch offen gelassen<br />

im Beschluss vom 27. September 2011 – 4 StR 362/11, NStZ-RR 2012, 109, 110).<br />

c) Das Urteil des 2. Strafsenats des B<strong>und</strong>esgerichtshofs vom 19. Oktober 2011 (2 StR 305/11, aaO), auf das sich das<br />

Oberlandesgericht Frankfurt in seinem Beschluss vom 16. März 2012 (3 Ws 63/12, aaO) stützt, ist im Lichte dieser<br />

Rechtsprechung der übrigen Strafsenate des B<strong>und</strong>esgerichtshofs <strong>und</strong> in seinem Bezug auf den entschiedenen Fall zu<br />

sehen, in dem „mit Blick auf die stets gleichartigen Vor- <strong>und</strong> Anlasstaten“ ausschließlich psychische „Beeinträchtigungen“<br />

der Opfer in der Folge von mit Scheinwaffen begangenen Banküberfällen als Prognosetaten zu erwarten<br />

waren <strong>und</strong> „keinesfalls mit einer Gewalteskalation zu rechnen“ war. Diese besondere Konstellation hat der 2. Strafsenat<br />

zum Anlass genommen zu entscheiden, dass Verbrechen nach § 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB „für sich genommen<br />

in der Regel“ keine ausreichend schweren Prognosetaten für die Anordnung der Sicherungsverwahrung aufgr<strong>und</strong> der<br />

Weitergeltungsanordnung darstellten, wenn aufgr<strong>und</strong> konkreter Umstände mit hoher Wahrscheinlichkeit allein der<br />

Einsatz objektiv ungefährlicher Scheinwaffen zu erwarten sei; eine allein psychische „Beeinträchtigung“ reiche „in<br />

der Regel“ nicht aus. Damit hat der 2. Strafsenat von vornherein keine Stellungnahme dazu abgegeben, wie Fälle zu<br />

bewerten sind, in denen Gewalteskalationen möglich sind, weil sich die Tat z. B. gegen Opfer richtet, von denen –<br />

anders als von Bankangestellten – gr<strong>und</strong>sätzlich kein „professioneller“ Umgang mit der Bedrohungssituation erwartet<br />

werden kann <strong>und</strong> die Reaktion des Opfers auf die Bedrohung <strong>und</strong> der Verlauf der daran anschließenden Interaktion<br />

mit dem Täter unabsehbar sind. Er hat ferner keine Festlegung in dem Sinne getroffen, dass mögliche psychisch<br />

vermittelte körperliche Schäden künftiger Raubopfer nicht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung begründen<br />

können. Indem er darauf abstellt, dass psychische „Beeinträchtigungen“ künftiger Opfer die Unterbringung „in<br />

der Regel“ nicht zu rechtfertigen vermögen, schließt er darüber hinaus auch nicht aus, dass die Erwartung schwerwiegender<br />

<strong>und</strong> nachhaltiger psychischer Schäden hierfür sehr wohl ausreichen kann. Dass das Oberlandesgericht<br />

Frankfurt dieses Verständnis des Begriffs der „schweren Gewalttat“ bewusst noch weiter einschränken wollte als das<br />

von ihm zitierte Urteil des 2. Strafsenats, ist nicht ersichtlich.<br />

2. Der erkennende Senat hat – unter Bezugnahme auf den genannten Beschluss des 2. Strafsenats – in seinem Beschluss<br />

vom 24. Januar 2012 (5 StR 535/11) ebenfalls verdeutlicht, dass Raubdelikte ungeachtet der hohen Strafdrohungen<br />

<strong>und</strong> der für die Tatopfer oftmals gewichtigen psychischen Auswirkungen nicht ohne Weiteres als schwere<br />

Gewaltstraftaten anzusehen sind <strong>und</strong> nur in Abhängigkeit von ihren vorhersehbaren individuellen Umständen als<br />

schwere Gewalttaten gewertet werden können. An dieser Rechtsauffassung hält der Senat fest.<br />

a) Schwere Gewalttaten im Sinne der Weitergeltungsanordnung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts sind danach einerseits<br />

nicht nur solche schweren Raubdelikte, die mit der Anwendung physischer Gewalt verb<strong>und</strong>en sind. Denn auch<br />

Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben können über die Beeinträchtigung des seelischen Gleichgewichts<br />

hinaus zu körperlichen Auswirkungen oder nachhaltigen psychischen Auswirkungen mit Krankheitswert<br />

führen (vgl. dazu BGH, Urteil vom 26. November 1985 – 1 StR 393/85, NStZ 1986, 166 <strong>und</strong> BGH, Beschluss vom<br />

19. Oktober 1999 – 4 StR 467/99, NStZ-RR 2000, 106), wobei die durch die Drohwirkung hervorgerufenen psychischen<br />

Folgen ungeachtet der objektiven Ungefährlichkeit des Tatmittels entstehen können, wohingegen die Drohung<br />

mit einer gefährlichen Waffe bereits wegen einer möglichen Gewalteskalation eine Gefahr für Leib <strong>und</strong> Leben des<br />

Opfers begründet.<br />

b) Anderseits ist aber nicht jede Raubtat allein wegen der mit der Einschüchterung <strong>und</strong> Bedrohung einhergehenden<br />

psychischen Beeinträchtigung der Opfer als schwere Gewaltat in diesem Sinne einzustufen. Denn ein präventiver<br />

Eingriff in das Freiheitsgr<strong>und</strong>recht, der – wie die Sicherungsverwahrung – nicht dem Schuldausgleich dient, ist nur<br />

zulässig, wenn der Schutz hochwertiger Rechtsgüter dies unter Beachtung des strikten Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satzes<br />

erfordert (vgl. BVerfG, aaO S. 372 f.). Die gesteigerten Anforderungen an die Erheblichkeit der zu erwartenden<br />

Straftaten haben sich deshalb an Art <strong>und</strong> Ausmaß der drohenden Rechtsgutsverletzung zu orientieren. Je existentieller<br />

die betroffenen Güter für den Einzelnen sind, desto intensiver muss der staatliche Schutz vor Beeinträchtigungen<br />

sein (vgl. BVerfG, Urteil vom 5. Februar 2004 – 2 BvR 2029/01, BVerfGE 109, 133, 186). In diesem Sinne<br />

kann die Verursachung schwerwiegender <strong>und</strong> nachhaltiger psychischer Schäden durchaus von existentiellem Gewicht<br />

für die Betroffenen sein, sie z. B. in ihrem täglichen Leben schwer behindern oder zu einer nachhaltigen Be-<br />

- 21 -


einträchtigung ihrer Berufsfähigkeit führen. Solche Schäden können auch bei Verwendung von Scheinwaffen in<br />

Abhängigkeit von individuellen Umständen, z. B. aufgr<strong>und</strong> der besonderen Bedrohlichkeit der Begehungsweise oder<br />

der besonderen Schutzbedürftigkeit oder Zufälligkeit der ausgewählten Opfer, typischerweise zu erwarten sein. Auch<br />

psychisch vermittelte körperliche Schäden, z. B. im Rahmen einer schwerwiegenden posttraumatischen Belastungsstörung<br />

(ICD-10: F 43.1), sind hier in Betracht zu ziehen.<br />

c) Ist indes im Fall des Einsatzes einer ungefährlichen Scheinwaffe des § 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB objektiv weder<br />

eine Lebens- noch eine Leibesgefahr begründet, weil mit einer Eskalation der angedrohten Gewalt keinesfalls gerechnet<br />

werden kann, <strong>und</strong> gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass psychische Beeinträchtigungen der Tatopfer das<br />

Ausmaß schwerwiegender <strong>und</strong> nachhaltiger psychischer Schäden erreichen oder Auswirkungen auf die körperliche<br />

Ges<strong>und</strong>heit der Opfer haben können, so ist kein Rechtsgut bedroht, dessen Schutz die Anwendung der verfassungswidrigen<br />

Norm rechtfertigen könnte (im Ergebnis auch BGH, Urteil vom 19. Oktober 2011 – 2 StR 305/11, aaO S.<br />

214). Im Ergebnis stellen demnach zu erwartende Raubtaten im Sinne des § 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB, bei denen nur<br />

objektiv ungefährliche Scheinwaffen eingesetzt werden, schwere Gewalttaten im Sinne der strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

nach der Weitergeltungsanordnung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts dar, wenn aufgr<strong>und</strong> ihrer vorhersehbaren<br />

individuellen Umstände mit schwerwiegenden <strong>und</strong> nachhaltigen psychischen Schäden oder psychisch vermittelten<br />

körperlichen Folgen bei den Opfern zu rechnen ist.<br />

StGB § 66; BZRG § 51 Abs. 1, § 52 Abs. 1 Nr. 2 Gutachten zu Hang - keine Verwertung von tilgungsreifen<br />

Vorstrafen<br />

BGH, Beschl. v. 28.08.2012 – 3 StR 309/12 - BGHSt 57, 300 = NJW 2012, 3591 = NStZ 2013, 34 = StV 2013, 210<br />

LS: Ein Gutachten zum Bestehen eines Hanges im Sinne von § 66 StGB <strong>und</strong> einer darauf beruhenden<br />

Gefährlichkeit eines Angeklagten ist kein "Gutachten über den Geisteszustand", dessen Erstattung<br />

eine Verwertung von Taten aus im Zentralregister getilgten oder tilgungsreifen Verurteilungen<br />

erlaubt.<br />

Der 3. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalb<strong>und</strong>esanwalts <strong>und</strong> des Beschwerdeführers<br />

am 28. August 2012 gemäß § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen: Auf die Revision des Angeklagten wird das<br />

Urteil des Landgerichts Mönchengladbach vom 9. Februar 2012 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird<br />

zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels <strong>und</strong> die den Nebenklägerinnen im<br />

Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hatte gegen den Angeklagten in einem ersten Urteil wegen schweren sexuellen Missbrauchs von<br />

Kindern in zwei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in sieben<br />

Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verhängt <strong>und</strong> die Sicherungsverwahrung<br />

angeordnet; von weiteren Tatvorwürfen hatte es ihn freigesprochen. Auf die Revision des Angeklagten hat der Senat<br />

das Urteil - unter Verwerfung des weitergehenden Rechtsmittels - im Maßregelausspruch aufgehoben (BGH, Beschluss<br />

vom 30. März 2010 - 3 StR 69/10, StV 2010, 484). Auf die dem Senat erst später vorgelegte Revision der<br />

Staatsanwaltschaft ist das Urteil aufgehoben worden, soweit der Angeklagte vom Vorwurf des sexuellen Kindesmissbrauchs<br />

in acht weiteren Fällen freigesprochen worden war (BGH, Urteil vom 24. Juni 2010 - 3 StR 69/10, NStZ<br />

2011, 47). Im zweiten Verfahrensdurchgang hat das Landgericht das Verfahren hinsichtlich der verbliebenen Tatvorwürfe<br />

auf Antrag der Staatsanwaltschaft gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt <strong>und</strong> erneut die Sicherungsverwahrung<br />

angeordnet. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat Erfolg.<br />

Nach den aufgr<strong>und</strong> des rechtskräftigen Schuldspruchs bindenden Feststellungen missbrauchte der damals 57 oder 58<br />

Jahre alte Angeklagte zwei Mädchen im Alter von zehn oder elf bzw. von zwölf Jahren, die er im unmittelbaren<br />

Wohnumfeld kennen gelernt <strong>und</strong> um die er sich im Einverständnis mit den Eltern als hilfsbereiter Nachbar gekümmert<br />

hatte. Er holte die Kinder von der Schule ab, machte Ausflüge mit ihnen <strong>und</strong> ließ sie in seiner Wohnung das<br />

Internet nutzen. In den Sommerferien 2008 waren die Kinder ständig von morgens bis abends bei ihm. Die Taten -<br />

darunter einmal Oralverkehr der beiden Mädchen am Angeklagten, wechselseitiges Anfassen an den Genitalien bei<br />

mehreren Gelegenheiten, Austausch von Zungenküssen sowie zwei Fälle des Vorzeigens pornographischer Filme -<br />

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eging der Angeklagte "in dem Zeitraum von Anfang Juni bis Ende August 2008". Eine nähere Eingrenzung war der<br />

Kammer - von zwei Übergriffen abgesehen, die am 15. <strong>und</strong> 16. August 2008 stattfanden - nicht möglich.<br />

Die Anordnung der Sicherungsverwahrung hält erneut rechtlicher Nachprüfung nicht stand.<br />

1. Die formellen Voraussetzungen der Maßregel gemäß § 66 Abs. 2 StGB aF sowie § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB aF hat<br />

das Landgericht unter Anwendung des zur Tatzeit geltenden Rechts (vgl. Art. 316e Abs. 2 EGStGB) allerdings ohne<br />

Rechtsfehler festgestellt. Der Angeklagte ist rechtskräftig zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als drei Jahren<br />

verurteilt worden, die aus verwirkten Einzelstrafen von drei Jahren <strong>und</strong> acht Monaten für das Verbrechen nach §<br />

176a StGB aF sowie u.a. von zwei Jahren <strong>und</strong> drei Jahren für Vergehen nach § 176 StGB gebildet worden ist. Vorangegangener<br />

Verurteilungen zu Freiheitsstrafe <strong>und</strong> darauf beruhender Strafverbüßung bedurfte es in diesem Fall<br />

daher nicht.<br />

2. Die materiellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung hat das Landgericht indes rechtsfehlerhaft begründet;<br />

denn es hat, um den Hang des Angeklagten zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer<br />

seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden (§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB aF), zu belegen, mehrere Verurteilungen<br />

des Angeklagten zu dessen Nachteil herangezogen, die im B<strong>und</strong>eszentralregister bereits getilgt waren. Dieser<br />

Rechtsfehler ist auf die Sachrüge zu berücksichtigen (BGH, Urteil vom 10. Januar 1973 - 2 StR 451/72, BGHSt 25,<br />

100, 101; Beschluss vom 23. März 2006 - 4 StR 36/06, BGHR BZRG § 51 Verwertungsverbot 9).<br />

a) Die Strafkammer ist bei der Annahme, bei dem Angeklagten bestehe ein ausgeprägter Hang zur Begehung von<br />

Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern, den beiden gehörten Sachverständigen gefolgt. Diese haben ausgeführt,<br />

die Delinquenz des Angeklagten zeichne sich durch einen frühen Beginn <strong>und</strong> nahezu ausschließlich sexuellen Bezug<br />

aus. Insbesondere sei der Angeklagte zwischen seinem 21. <strong>und</strong> 28. Lebensjahr mehrfach wegen exhibitionistischer<br />

Handlungen verurteilt worden. Die Urteilsgründe geben in diesem Zusammenhang auszugsweise den Text dreier<br />

Urteile des Landgerichts Krefeld aus den Jahren 1972, 1978 <strong>und</strong> 1979 wieder. Danach hatte der Angeklagte Anfang<br />

1971 im Alter von 20 Jahren dreimal nackt am Fenster der elterlichen Wohnung posiert <strong>und</strong> sein Glied auf der Straße<br />

spielenden Kindern vorgezeigt. Im September 1977 hatte er sich - inzwischen 27 Jahre alt - auf einem Weg vor zwei<br />

vierzehnjährigen Mädchen nackt präsentiert. Zuletzt hatte er Mitte Juli 1978 vor zwei dreizehn bzw. fünfzehn Jahre<br />

alten Schülerinnen sein Glied entblößt. Das B<strong>und</strong>eszentralregister enthält lediglich die wegen der hier gegenständlichen<br />

Taten rechtskräftig verhängte Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten. Die Eintragungen über<br />

die Verurteilungen durch das Landgericht Krefeld sind getilgt worden.<br />

b) Die Heranziehung der im B<strong>und</strong>eszentralregister getilgten Vorstrafen zum Nachteil des Angeklagten verstößt gegen<br />

das gesetzliche Verwertungsverbot gemäß § 51 Abs. 1 BZRG. Nach dieser Vorschrift dürfen aus der Tat, die<br />

Gegenstand einer getilgten Verurteilung ist, keine nachteiligen Schlüsse auf die Persönlichkeit des Angeklagten<br />

gezogen werden (BGH, Beschluss vom 4. Februar 2010 - 3 StR 8/10, BGHR BZRG § 51 Verwertungsverbot 11).<br />

Dieses Verwertungsverbot gilt auch, soweit über die Anordnung von Maßregeln der Besserung <strong>und</strong> Sicherung zu<br />

entscheiden ist (BGH, Urteil vom 10. Januar 1973 - 2 StR 451/72, BGHSt 25, 100, 104; Beschluss vom 4. Oktober<br />

2000 - 2 StR 352/00, BGHR BZRG § 51 Verwertungsverbot 7; Beschluss vom 27. Juni 2002 - 4 StR 162/02, NStZ-<br />

RR 2002, 332), <strong>und</strong> selbst dann, wenn der Angeklagte eine getilgte oder tilgungsreife Vorstrafe von sich aus mitgeteilt<br />

hat (BGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - 4 StR 428/11, NStZ-RR 2012, 143 mwN). Das Verwertungsverbot ist<br />

deshalb auch bei der nach § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB aF zu treffenden Entscheidung zu beachten, ob die Gesamtwürdigung<br />

des Täters <strong>und</strong> seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu schweren Straftaten für die Allgemeinheit<br />

gefährlich ist. Entgegen der Auffassung des Landgerichts rechtfertigt § 52 Abs. 1 Nr. 2 BZRG die Verwertung getilgter<br />

Vorstrafen zu Lasten des Angeklagten bei Begutachtungen zur Unterbringung nach § 66 StGB nicht. Danach<br />

darf eine frühere Tat abweichend von § 51 Abs. 1 BZRG berücksichtigt werden, wenn in einem erneuten Strafverfahren<br />

ein Gutachten über den Geisteszustand des Betroffenen zu erstatten ist, falls die Umstände der früheren Tat<br />

für die Beurteilung seines Geisteszustands von Bedeutung sind. Ein Gutachten zum Bestehen eines Hanges im Sinne<br />

von § 66 StGB <strong>und</strong> einer darauf beruhenden Gefährlichkeit eines Angeklagten ist indes kein Gutachten über den<br />

Geisteszustand im Sinne des § 52 Abs. 1 Nr. 2 BZRG. Hierzu im Einzelnen:<br />

aa) Schon der Wortlaut des § 52 Abs. 1 Nr. 2 BZRG legt es nahe, dass mit Geisteszustand der psychische Zustand<br />

des Angeklagten zum Zeitpunkt der Tatbegehung gemeint ist, über den im Rahmen der Schuldfähigkeitsprüfung<br />

gegebenenfalls ein Sachverständiger sein Gutachten zu erstatten hat. Der Begriff zielt deshalb auf die vier Eingangsmerkmale<br />

des § 20 StGB, die krankhafte seelische Störung, die tiefgreifende Bewusstseinsstörung, den<br />

Schwachsinn oder die schwere andere seelische Abartigkeit, ab. Vom Gutachten über das Vorliegen eines dieser<br />

Merkmale ist die nach § 246a StPO vor der Anordnung der Sicherungsverwahrung durchzuführende sachverständige<br />

- 23 -


Begutachtung zu unterscheiden. Nach dieser Vorschrift ist der Sachverständige "über den Zustand des Angeklagten<br />

<strong>und</strong> die Behandlungsaussichten zu vernehmen". Die Vorschrift verwendet somit den Ausdruck "Geisteszustand" im<br />

Gegensatz zu § 52 Abs. 1 Nr. 2 BZRG nicht. Kommt die Unterbringung nach § 66 StGB in Betracht, soll dem Tatgericht<br />

eine Entscheidungshilfe für die Beurteilung gegeben werden, ob der Angeklagte infolge seines Hanges zur<br />

Begehung erheblicher Straftaten für die Allgemeinheit gefährlich ist. Hangtäter ist dabei derjenige, der dauernd zu<br />

Straftaten entschlossen ist oder der aufgr<strong>und</strong> einer fest eingewurzelten Neigung, deren Ursache unerheblich ist, immer<br />

wieder straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 27. Oktober<br />

2004 - 5 StR 130/04, NStZ 2005, 265). Bei der Prüfung des Hanges im Sinne des § 66 StGB geht es somit im Ergebnis<br />

nicht in erster Linie um die Bewertung des Geisteszustands des Täters, sondern um die wertende Feststellung<br />

einer persönlichen Eigenschaft (vgl. LK-Rissing-van Saan/Peglau, 12. Aufl., § 66 Rn. 118). Hierfür bedarf es nicht<br />

notwendigerweise der Begutachtung durch einen psychiatrischen Sachverständigen. Zwar werden nach den Erfahrungen<br />

des Senats bei in Betracht kommender Sicherungsverwahrung überwiegend Ärzte als Gutachter herangezogen,<br />

doch findet dies seine Rechtfertigung vor allem darin, dass dabei regelmäßig zugleich untersucht werden muss,<br />

ob der Angeklagte bei der Tat in seiner Schuldfähigkeit beeinträchtigt oder schuldunfähig war <strong>und</strong> deshalb unter<br />

Umständen eine andere Maßregel, insbesondere eine Unterbringung nach § 63 StGB, in Betracht kommt.<br />

bb) Für diese Auslegung spricht auch die ratio legis. Sinn <strong>und</strong> Zweck des Verwertungsverbots nach § 51 Abs. 1<br />

BZRG ist es, den Angeklagten davor zu schützen, dass ihm nach Ablauf einer im Verhältnis zur erkannten Rechtsfolge<br />

kürzer oder länger bemessenen Frist straffreien Lebens alte Taten nochmals vorgehalten <strong>und</strong> zu seinem Nachteil<br />

verwertet werden. Dieses Schutzes bedarf der Angeklagte jedenfalls nicht in demselben Maße, wenn es um die<br />

Beurteilung der Schuldfähigkeit geht, da deren Ausschluss oder erhebliche Verminderung regelmäßig entweder die<br />

Bestrafung hindern oder die Strafe mildern. Lediglich bei der Anordnung einer Unterbringung im psychiatrischen<br />

Krankenhaus (§ 63 StGB, § 42b StGB aF) kann die Ausnahmeregelung des § 52 Abs. 1 Nr. 2 BZRG zu einer den<br />

Angeklagten belastenden, indes auch dessen Heilung dienenden Sanktion führen (vgl. BGH, Urteil vom 10. Januar<br />

1973 - 2 StR 451/72, BGHSt 25, 100, 104).<br />

cc) Den Gesetzesmaterialien ist nichts Gegenteiliges zu entnehmen. Danach soll die Ausnahme vom Verwertungsverbot<br />

sicherstellen, "dass ein Gutachter in einem späteren Strafverfahren gegen den Betroffenen die frühere Tat<br />

nicht ausklammern muss, wenn es darum geht, den Geisteszustand des Betroffenen zu beurteilen" (Schriftlicher<br />

Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, BT-Drucks. VI/1550 S. 23), ohne dass der Begriff näher<br />

umschrieben wird.<br />

dd) Dafür, ein Gutachten über das Bestehen eines Hanges nach § 66 StGB nicht als Gutachten über den Geisteszustand<br />

im Sinne des § 52 Abs. 1 Nr. 2 BZRG zu verstehen, spricht auch der Vergleich mit sonstigen kriminalprognostischen<br />

Entscheidungen <strong>und</strong> den ihnen vorangehenden Begutachtungen. So gilt etwa das gesetzliche Verwertungsverbot<br />

des § 51 Abs. 1 BZRG auch für die bei der Prüfung der Strafaussetzung zur Bewährung gemäß § 56 Abs. 1<br />

StGB zu treffende Prognoseentscheidung, ob der Verurteilte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen<br />

<strong>und</strong> künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird (BGH, Beschluss vom<br />

4. Februar 2010 - 3 StR 8/10, BGHR BZRG § 51 Verwertungsverbot 11). Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 StGB sind für<br />

diese Entscheidung u.a. die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat sowie seine<br />

Lebensverhältnisse <strong>und</strong> damit im Wesentlichen die gleichen Kriterien von Belang, die bei der Begutachtung nach §<br />

66 StGB Bedeutung haben.<br />

ee) Das aufgezeigte Verständnis des Regelungsgefüges der §§ 51, 52 BZRG steht auch im Übrigen in Einklang mit<br />

der bisherigen Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs. Danach gilt die Ausnahme vom Verwertungsverbot nur,<br />

"wenn es um den Geisteszustand des Betroffenen geht, dessen Beurteilung zu einer Unterbringung nach § 42b StGB<br />

(Unterbringung in einer Heil- <strong>und</strong> Pflegeanstalt nach altem Recht) führen kann" (BGH, Urteil vom 10. Januar 1973 -<br />

2 StR 451/72, BGHSt 25, 100, 104). Die indizielle Verwertung im Register getilgter früherer Verurteilungen zur<br />

Feststellung eines Hanges im Sinne von § 66 StGB zum Nachteil des Angeklagten ist mehrfach beanstandet worden<br />

(BGH, Beschlüsse vom 4. Oktober 2000 - 2 StR 352/00, BGHR BZRG § 51 Verwertungsverbot 7, <strong>und</strong> vom 27. Juni<br />

2002 - 4 StR 162/02, NStZ-RR 2002, 332; zuletzt Beschluss vom 12. September 2007 - 5 StR 347/07, StV 2007, 633<br />

- nur obiter). Soweit der 4. Strafsenat in einer späteren, vom Landgericht für seine Rechtsauffassung in Anspruch<br />

genommenen Entscheidung (BGH, Beschluss vom 8. März 2005 - 4 StR 569/04, BGHR BZRG § 51 Verwertungsverbot<br />

8) in einem nicht tragenden Hinweis ohne nähere Begründung Zweifel an dieser Rechtsprechung angemeldet<br />

hat, teilt der Senat diese Bedenken aus den vorstehenden Gründen nicht.<br />

- 24 -


c) Das Urteil beruht auf dem dargelegten Rechtsfehler. Die Erörterung der einem Verwertungsverbot unterliegenden<br />

Taten nimmt in den Urteilsgründen breiten Raum ein <strong>und</strong> ist Gr<strong>und</strong>lage für die Einschätzung des Landgerichts, die<br />

Delinquenz des Angeklagten habe früh begonnen <strong>und</strong> weise nahezu ausschließlich sexuellen Bezug aus.<br />

3. Es ist abermals nicht völlig auszuschließen, dass eine neuerliche Verhandlung doch noch zur Feststellung von<br />

Umständen führt, welche die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung rechtfertigen könnten.<br />

Über den Maßregelausspruch muss deshalb nochmals tatrichterlich entschieden werden. Der Senat macht von der<br />

Möglichkeit des § 354 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 StPO Gebrauch, die Sache an ein zu demselben Land gehörendes anderes<br />

Gericht gleicher Ordnung zurückzuverweisen.<br />

StGB § 68b Abs. 1, § 145a Verstoß gegen zu unbestimmte Weisung<br />

BGH, Urt. v. 18.12.2012 - 1 StR 415/12 - NJW 2013, 710<br />

LS: 1. Ein nach § 145a Satz 1 StGB tatbestandsmäßiger Weisungsverstoß setzt eine hinreichend<br />

bestimmte Weisung voraus. Maßgeblich dafür ist allein der durch das Vollstreckungsgericht festgelegte<br />

Inhalt.<br />

2. Versäumt der Verurteilte bei einer Meldeweisung die Vorstellung bei seinem Bewährungshelfer<br />

innerhalb des gerichtlich festgelegten Meldezeitraums, liegt ein Weisungsverstoß selbst dann vor,<br />

wenn mit dem Bewährungshelfer Termine außerhalb dieses Zeitraums abgesprochen waren.<br />

Der 1. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat in der Sitzung vom 18. Dezember 2012 für Recht erkannt:<br />

1. a) Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Passau vom 12. März 2012 insoweit<br />

mit den Feststellungen aufgehoben, als der Angeklagte vom Vorwurf der (einfachen) Körperverletzung/Nötigung<br />

freigesprochen worden ist.<br />

b) Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an das Amtsgericht Passau - Strafrichter - zurückverwiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Gründe:<br />

I. Das Landgericht hat den Angeklagten freigesprochen <strong>und</strong> ihm dem Gr<strong>und</strong>e nach eine Entschädigung für die erlittene<br />

Untersuchungshaft zugesprochen.<br />

1. Diesem war mit der Anklage vorgeworfen worden, in dem Zeitraum zwischen August <strong>und</strong> Oktober 2010 in drei<br />

Fällen gegen Weisungen während der Führungsaufsicht verstoßen <strong>und</strong> tatmehrheitlich eine besonders schwere Vergewaltigung<br />

in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu Lasten der Nebenklägerin, der Zeugin A. , begangen<br />

zu haben. Im Einzelnen war ihm Folgendes zur Last gelegt worden:<br />

a) Das Amtsgericht Leipzig hatte den Angeklagten im Jahre 2003 wegen Vergewaltigung in zwei Fällen <strong>und</strong> vorsätzlicher<br />

Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr <strong>und</strong> zehn Monaten verurteilt. In Bezug auf die nach<br />

Vollverbüßung eintretende Führungsaufsicht habe das Landgericht Landshut eine Dauer von fünf Jahren angeordnet<br />

<strong>und</strong> in dem entsprechenden Beschluss dem Angeklagten die strafbewehrte Weisung erteilt, sich einmal monatlich<br />

zwischen dem 10. <strong>und</strong> 28. eines jeden Monats bei seinem Bewährungshelfer zu melden. Gegen diese ihm bekannte<br />

Weisung habe der Angeklagte in drei Fällen verstoßen, indem er die für August 2010 <strong>und</strong> für den 29. September<br />

2010 vereinbarten Termine nicht eingehalten habe <strong>und</strong> einem für den 6. Oktober 2010 abgesprochenen Termin unentschuldigt<br />

ferngeblieben sei.<br />

b) In dem Zeitraum vom 1. Dezember 2010, 18.00 Uhr, <strong>und</strong> 2. Dezember 2010, 2.00 Uhr, habe sich die geschädigte<br />

Zeugin A. in der Wohnung des Angeklagten in Pocking aufgehalten. Als dieser die Zeugin zu küssen versuchte, sie<br />

ihn jedoch wegzustoßen vermochte, habe der Angeklagte sie anschließend auf den Boden geworfen, sich auf sie<br />

gesetzt, ihr den M<strong>und</strong> zugehalten <strong>und</strong> ihr gedroht, sie umzubringen. Unmittelbar danach habe der Angeklagte die<br />

Zeugin mit wenigstens einer Hand am Hals gewürgt, so dass diese keine Luft bekommen habe. Als die Zeugin sich<br />

gegen den Angeklagten zur Wehr setzen wollte, habe dieser mit der Faust auf ihr Auge geschlagen, um ihren Widerstand<br />

zu brechen. Sodann habe er der Zeugin die Jeans <strong>und</strong> den Slip aus- sowie seine Hose <strong>und</strong> Unterhose bis zu den<br />

Knien heruntergezogen. Unter der Einwirkung der vorherigen Drohung <strong>und</strong> Gewaltanwendung habe der Angeklagte<br />

- 25 -


dann gegen den Widerstand der Zeugin den Vaginalverkehr mit dieser ausgeführt <strong>und</strong> dabei die von ihr erlittenen<br />

erheblichen Unterleibsschmerzen billigend in Kauf genommen. Nachdem die Zeugin zunächst der Aufforderung,<br />

seinen Penis in den M<strong>und</strong> zu nehmen, nicht nachgekommen sei, habe der Angeklagte die Wangen der Zeugin gewaltsam<br />

so zusammengedrückt, dass diese den M<strong>und</strong> öffnen musste <strong>und</strong> er sein Geschlechtsteil in deren M<strong>und</strong><br />

schieben konnte. Anschließend habe er den Oralverkehr ausgeführt. Die Zeugin A. habe durch das Vorgehen erhebliche<br />

Verletzungen im Bereich der Schamlippen <strong>und</strong> der Vagina sowie Hämatome im Gesicht, am Hals <strong>und</strong> im Körperbereich<br />

einschließlich eines Monokelhämatoms am linken Auge, eine Jochbeinfraktur <strong>und</strong> Würgemale am Hals<br />

erlitten.<br />

2. Die Kammer hat im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:<br />

a) Bezüglich der nach voll verbüßter Jugendstrafe von einem Jahr <strong>und</strong> zehn Monaten wegen Vergewaltigung eingetretenen<br />

Führungsaufsicht ordnete die zuständige Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 2. April 2009 eine<br />

Dauer von fünf Jahren an. Das Strafvollstreckungsgericht erteilte dem Angeklagten zudem die Weisung, sich einmal<br />

monatlich jeweils zwischen dem 10. <strong>und</strong> 28. eines Monats bei dem zuständigen Bewährungshelfer zu melden. Eine<br />

solche Meldung fand in den Monaten August, September <strong>und</strong> Oktober 2010 nicht statt; der Angeklagte hielt die<br />

vereinbarten Vorsprachetermine bei seiner Bewährungshelferin nicht ein. Die versäumten Termine waren auf den 29.<br />

September <strong>und</strong> 6. Oktober 2010 festgelegt worden. Ab Oktober kam der Angeklagte den Gesprächsterminen mit<br />

seiner Bewährungshelferin wieder nach. Es kam nicht zu Auffälligkeiten in der Person des Angeklagten, der zudem<br />

Kontakt zu dem für ihn zuständigen Sachbearbeiter im sog. HEADS-Programm bei der KPI Passau hielt (Fall II.2.a.<br />

des Urteils).<br />

b) Im Hinblick auf den Vorwurf der Vergewaltigung <strong>und</strong> gefährlichen Körperverletzung zu Lasten der Zeugin A.<br />

konnte die Strafkammer lediglich feststellen, dass diese sich für einen nicht näher bekannten Zeitraum am 1. <strong>und</strong> 2.<br />

Oktober 2010 in der Wohnung des Angeklagten aufhielt. Jedenfalls vor 2.00 Uhr am 2. Oktober 2012 (richtig: 2010;<br />

insoweit handelt es sich um einen offensichtlichen Schreibfehler im tatrichterlichen Urteil) war die Zeugin (wieder)<br />

in der Wohnung des Angeklagten <strong>und</strong> verließ diese kurz nach 2.00 Uhr erneut. Bei dem Verlassen wies sie blutende<br />

Gesichtsverletzungen auf. Der Angeklagte verständigte gegen 2.15 Uhr selbst die Einsatzzentrale des Polizeipräsidiums<br />

in Straubing <strong>und</strong> wies in dem Telefonat auf die erheblichen Verletzungen der Zeugin hin, deren Ursache er sich<br />

nicht erklären könne. Die daraufhin entsandten polizeilichen Einsatzkräfte trafen A. in der Wohnung des Zeugen S.<br />

an. Die Zeugin wies Schwellungen, Hautrötungen <strong>und</strong> Hautabschürfungen im Gesicht auf. Zudem hatte sie ein Monokelhämatom<br />

um das linke Auge <strong>und</strong> eine Jochbeinfraktur erlitten. Ihr Hals wies ebenfalls Hautrötungen, oberflächliche<br />

Hautdefekte <strong>und</strong> -abschürfungen auf. Weitere ähnliche Hautverletzungen fanden sich im Bereich des Rückens<br />

sowie an den Außen- <strong>und</strong> Innenseiten der Oberschenkel. Zudem hatte die Zeugin einen kleineren Schleimhautdefekt<br />

im Bereich der rechten großen Schamlippe sowie einen weiteren solchen Defekt im Scheidenvorhofbereich<br />

erlitten. Nach dem Eintreffen der Polizei hatte die Zeugin A. auf die Frage eines der eingesetzten Beamten, ob<br />

der Angeklagte sie geschlagen <strong>und</strong> vergewaltigt habe, angegeben, dieser sei der Verursacher ihrer Gesichtsverletzungen<br />

(Fall II.2.b. des Urteils).<br />

3. a) Das Tatgericht hat den Angeklagten von dem Vorwurf des Verstoßes gegen Weisungen während der Führungsaufsicht<br />

(§ 145a StGB) auf der Gr<strong>und</strong>lage der getroffenen Feststellungen aus rechtlichen Gründen freigesprochen. Es<br />

fehle an der für die Tatbestandsmäßigkeit erforderlichen Gefährdung des Zwecks der Maßregel.<br />

b) Der Freispruch vom Vorwurf der Vergewaltigung <strong>und</strong> Körperverletzung zu Lasten der Zeugin A. ist dagegen aus<br />

tatsächlichen Gründen erfolgt. Die Strafkammer hat sich nicht davon zu überzeugen vermocht, dass der Angeklagte<br />

die ihm vorgeworfenen Vergewaltigungs- <strong>und</strong> Körperverletzungshandlungen begangen hat. Eine Täterschaft des<br />

Angeklagten sei zwar angesichts der im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigten Indizien möglich. Aufgr<strong>und</strong><br />

der erhobenen Beweistatsachen <strong>und</strong> Indizien verblieben aber so erhebliche Zweifel an der Verursachung der Verletzungen<br />

der Zeugin durch den Angeklagten, dass eine Verurteilung nicht in Betracht komme. Vieles spreche sogar für<br />

eine Tatbegehung durch einen anderen Täter, nämlich den Zeugen S., der Frau A. auch bereits bei früheren Gelegenheiten<br />

misshandelt habe. Zudem habe der Zeuge einen auffälligen Belastungseifer gegenüber dem Angeklagten an<br />

den Tag gelegt, zumindest in Teilen falsch ausgesagt <strong>und</strong> versucht, die Zeugin A. von weiteren Zeugenaussagen vor<br />

Gericht abzuhalten.<br />

c) Die Strafkammer hat aus tatsächlichen <strong>und</strong> rechtlichen Gründen eine Verurteilung des Angeklagten auch insoweit<br />

für ausgeschlossen erachtet, als dieser selbst eingeräumt hat, der Zeugin A. im Anschluss an ein einvernehmlich<br />

durchgeführtes, aber letztlich mangels Erektion des Angeklagten erfolgloses Unterfangen, Vaginal- <strong>und</strong> Oralverkehr<br />

auszuführen, als Reaktion auf deren Bemerkung „Schlappschwanz“ eine Ohrfeige verabreicht zu haben. Insoweit<br />

- 26 -


fehlt es aus Sicht des Tatgerichts an den Verfolgungsvoraussetzungen des § 230 StGB. Im Übrigen sei es unklar, ob<br />

es tatsächlich zu der Ohrfeige gekommen sei. Die bloße entsprechende Einlassung des Angeklagten genüge für die<br />

Überzeugungsbildung nicht, weil für die Strafkammer völlig offen geblieben sei, was sich in der Tatnacht in der<br />

Wohnung des Angeklagten tatsächlich abgespielt habe. Eine Verurteilung wegen Körperverletzung aufgr<strong>und</strong> dieser<br />

Ohrfeige komme auch deshalb nicht in Betracht, weil die eingeräumte Ohrfeige nicht von der verfahrensgegenständlichen<br />

Tat i.S.v. § 264 Abs. 1 StPO erfasst sei. Maßgeblich für die prozessuale Tatidentität sei außer der örtlichen<br />

<strong>und</strong> zeitlichen Identität der tatsächlichen Geschehnisse auch die Wesensgleichheit des Sach- <strong>und</strong> Unrechtskerns<br />

(Angriffsrichtung). Die fragliche Ohrfeige sei auf der Gr<strong>und</strong>lage der Einlassung des Angeklagten aus einer völlig<br />

anderen Situation heraus entstanden, als der von der Anklage zugr<strong>und</strong>e gelegten.<br />

4. Gegen den Freispruch richtet sich die Revision der Staatsanwaltschaft. Sie erhebt drei Verfahrensrügen <strong>und</strong> wendet<br />

sich mit der Sachrüge insbesondere gegen die Beweiswürdigung des Landgerichts. Die Entscheidung über die<br />

Zubilligung einer Entschädigung für die erlittene Untersuchungshaft dem Gr<strong>und</strong>e nach greift sie mit der sofortigen<br />

Beschwerde an. Der Generalb<strong>und</strong>esanwalt vertritt die Revision, soweit diese sich mit der Sachrüge gegen den Freispruch<br />

des Angeklagten vom Vorwurf der (besonders schweren) Vergewaltigung <strong>und</strong> der gefährlichen Körperverletzung<br />

(Fall II.2.b.) richtet.<br />

II. Die Revision hat Erfolg, soweit sie sich gegen den Freispruch des Angeklagten von dem Vorwurf der Körperverletzung/Nötigung<br />

durch eine der Zeugin A. verabreichte Ohrfeige wendet. Im Übrigen ist sie unbegründet.<br />

1. Die von der Revision erhobenen Verfahrensrügen der Verletzung von § 244 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. Abs. 6 StPO<br />

sowie von § 261 StPO bleiben aus den Gründen der Antragsschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwalts vom 12. Oktober 2012<br />

ohne Erfolg.<br />

2. Der Freispruch des Angeklagten von dem Vorwurf des Verstoßes gegen Weisungen während der Führungsaufsicht<br />

gemäß § 145a StGB (Fall II.2.a.) ist im Ergebnis nicht zu bestanden. Nach den getroffenen Feststellungen hat der<br />

Angeklagte zwar in den Monaten August, September <strong>und</strong> Oktober 2010 gegen die in dem Beschluss der Strafvollstreckungskammer<br />

vom 2. April 2009 angeordnete Weisung, Kontakt zu seinem zuständigen Bewährungshelfer zu<br />

halten, verstoßen. Es fehlt allerdings unter den gegebenen Verhältnissen an der von § 145a StGB geforderten Gefährdung<br />

des Zwecks der Maßregel.<br />

a) Ein in § 145a Satz 1 StGB mit Strafe bedrohter Verstoß gegen eine Weisung im Rahmen der Führungsaufsicht<br />

liegt vor, wenn der Betroffene das ihm auferlegte Verhalten nicht oder nicht vollständig erfüllt (Fischer, StGB, 60.<br />

Aufl., § 145a Rn. 7; Roggenbuck, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl., Band 5, § 145a Rn. 13 mwN). Ein<br />

solcher Weisungsverstoß unterfällt aber nur dann dem objektiven Tatbestand, wenn die fragliche Weisung inhaltlich<br />

hinreichend bestimmt ist (OLG Dresden NStZ-RR 2008, 27; OLG München NStZ 2010, 218, 219; Groß, in: Münchener<br />

Kommentar zum StGB, 2. Aufl., Band 3, § 145a Rn. 9 mwN). Diesen Anforderungen genügt lediglich eine<br />

solche Weisung, die das von dem Betroffenen verlangte oder diesem verbotene Verhalten inhaltlich so genau beschreibt,<br />

wie dies von dem Tatbestand einer Strafnorm zu verlangen ist (Roggenbuck, aaO, § 145a Rn. 8). Ihm muss<br />

mit der Weisung unmittelbar verdeutlicht werden, was genau von ihm erwartet wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom<br />

24. September 2011 - 2 BvR 1165/11 bzgl. Weisungen nach § 56c StGB). Den Anforderungen an die Bestimmtheit<br />

der Weisung ist bei einer Meldeweisung wie hier auch dann genügt, wenn in dem anordnenden gerichtlichen Beschluss<br />

ein Zeitraum genannt ist, innerhalb dessen der Betroffene sich bei dem Bewährungshelfer zu melden hat. Die<br />

Festlegung des konkreten Termins innerhalb der in dem gerichtlichen Anordnungsbeschluss festgelegten Periode<br />

(etwa „einmal im Monat“) kann dem Bewährungshelfer überlassen bleiben (BVerfG aaO).<br />

b) Nach den vom Tatgericht getroffenen Feststellungen hat der Angeklagte in den Monaten August bis Oktober 2010<br />

gegen die ihm durch die Strafvollstreckungskammer wirksam erteilte Weisung, „sich einmal monatlich jeweils zwischen<br />

dem 10. <strong>und</strong> 28. eines Monats bei dem zuständigen Bewährungshelfer zu melden“, verstoßen.<br />

aa) Die Nichtbefolgung dieser Weisung in den genannten Monaten ist tatbestandsmäßig i.S.v. § 145a Satz 1 StGB,<br />

obwohl die für den 29. September <strong>und</strong> den 6. Oktober 2010 mit der Bewährungshelferin abgesprochenen, vom Angeklagten<br />

aber versäumten Termine außerhalb des durch die Strafvollstreckungskammer bestimmten Zeitraums<br />

lagen. Maßgeblich für den Verstoß gegen eine wirksam erteilte Weisung ist lediglich die Nichtbefolgung des in dem<br />

gerichtlichen Beschluss verlangten oder verbotenen Verhaltens. Das nach § 145a Satz 1 StGB strafbare Verhalten<br />

wird im Sinne einer Blankettvorschrift erst durch den Inhalt der Weisung seitens des für deren Anordnung zuständigen<br />

Gerichts festgelegt. Die Einhaltung des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebots aus Art. 103 Abs. 2 GG<br />

hängt angesichts dieser Struktur des § 145a StGB davon ab, dass die gerichtliche Weisung selbst inhaltlich hinreichend<br />

bestimmt ist. Dies schließt es für Meldeweisungen aus, den im gerichtlichen Anordnungsbeschluss festgeleg-<br />

- 27 -


ten Erfüllungszeitraum zur Disposition des Bewährungshelfers zu stellen. Abgesehen von den Anforderungen des<br />

Bestimmtheitsgr<strong>und</strong>satzes besteht auch keine gesetzliche Gr<strong>und</strong>lage, die diesem eine inhaltliche Ausfüllung von<br />

Weisungen jenseits einer zulässigen Konkretisierung innerhalb der durch die gerichtliche Anordnung verbleibenden<br />

Spielräume (etwa die Festlegung des konkreten Vorsprachetermins im eröffneten Zeitraum) gestatten würde (vgl.<br />

BVerfG aaO).<br />

bb) Der Angeklagte hat auch den Termin im August 2010 versäumt. Das Tatgericht hat zwar den für diesen Monat<br />

vereinbarten Termin nicht konkret festgestellt. Selbst wenn dieser aber für außerhalb des Zeitraums zwischen dem<br />

10. <strong>und</strong> 28. August 2010 abgesprochen gewesen sein sollte, verwirklichte das Unterbleiben einer Meldung des Angeklagten<br />

bei seiner Bewährungshelferin im gerichtlich festgelegten Zeitraum nach dem Vorgenannten den objektiven<br />

Tatbestand von § 145a Satz 1 StGB.<br />

c) Ob bei der Nichteinhaltung von Vorspracheterminen, die aufgr<strong>und</strong> einer Absprache mit dem zuständigen Bewährungshelfer<br />

außerhalb des in der gerichtlichen Anordnungsentscheidung bestimmten Zeitraums lagen, von einer<br />

vorsätzlichen Nichterfüllung einer Weisung ausgegangen werden kann, bedarf keiner Entscheidung. Denn vorliegend<br />

fehlt es nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen des Tatgerichts jedenfalls an der Gefährdung des Maßregelzwecks.<br />

Von einer solchen kann nur dann ausgegangen werden, wenn sich durch den Verstoß bzw. die Verstöße<br />

gegen die Weisung die Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer Straftaten erhöht hat (Roggenbuck, aaO, § 145a<br />

Rn. 18; vgl. auch Senat, Beschluss vom 28. Mai 2008 - 1 StR 243/08, NStZ-RR 2008, 277; weitergehend Groß, aaO,<br />

§ 145a Rn. 15). Hier schließt bereits der ununterbrochene Kontakt des Angeklagten zu dem für ihn zuständigen Polizeibeamten<br />

im Rahmen des in Bayern sog. HEADS-Programms die Annahme einer Gefährdung des Maßregelzwecks<br />

aus. Es kann daher offen bleiben, ob bereits aus einem Verstoß gegen bestimmte Weisungen eo ipso eine<br />

derartige Gefährdung resultieren kann (so Groß, aaO, § 145a Rn. 15).<br />

3. Das angefochtene Urteil hält auch im Hinblick auf den Freispruch von dem Vorwurf der (besonders schweren)<br />

Vergewaltigung <strong>und</strong> der gefährlichen Körperverletzung der Zeugin A. (Fall II.2.b.) insoweit stand, als die Strafkammer<br />

sich aus tatsächlichen Gründen nicht von der Täterschaft des Angeklagten im Hinblick auf die der Anklage<br />

zugr<strong>und</strong>e gelegten Körperverletzungs- <strong>und</strong> Vergewaltigungshandlungen zu überzeugen vermochte.<br />

a) Das Urteil genügt den von § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO gestellten Anforderungen an ein freisprechendes Urteil. Bei<br />

einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen muss die Begründung des Urteils so abgefasst sein, dass das Revisionsgericht<br />

überprüfen kann, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Deshalb hat der<br />

Tatrichter in der Regel nach dem Tatvorwurf <strong>und</strong> der Einlassung des Angeklagten zunächst in einer geschlossenen<br />

Darstellung diejenigen Tatsachen zum objektiven Tatgeschehen festzustellen, die er für erwiesen hält, bevor er in der<br />

Beweiswürdigung darlegt, aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen - zusätzlichen - Feststellungen<br />

zur objektiven <strong>und</strong> subjektiven Tatseite nicht getroffen werden konnten (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 30.<br />

Juni 2011 - 3 StR 41/11 Rn. 6; BGH, Urteil vom 11. Oktober 2011 - 1 StR 134/11 Rn. 12). Hierauf kann nur ausnahmsweise<br />

verzichtet werden, wenn Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen überhaupt nicht möglich waren<br />

(vgl. BGH, Urteil vom 26. November 1996 - 1 StR 405/96, BGHR StPO § 267 Abs. 5 Freispruch 12) oder bei einem<br />

Freispruch aus subjektiven Gründen die Urteilsgründe ohne Feststellungen zum objektiven Sachverhalt ihrer Aufgabe<br />

gerecht werden, dem Revisionsgericht die Überprüfung der Beweiswürdigung auf Rechtsfehler zu ermöglichen<br />

(vgl. BGH, Urteil vom 9. Juni 2005 - 3 StR 269/04, BGHR StPO § 267 Abs. 5 Freispruch 14; BGH, Urteil vom 30.<br />

Juni 2011 - 3 StR 41/11 Rn. 6). Diesen Erfordernissen genügt das Urteil trotz der nur wenigen Feststellungen zum<br />

objektiven Tatgeschehen. Die Strafkammer hat zunächst in einer geschlossen Darstellung offen gelegt, von welchem<br />

äußeren Geschehensablauf in der Tatnacht sie ausgegangen ist. Dabei hat sie insbesondere diejenigen objektiven<br />

Umstände, wie die Benachrichtigung der Polizei durch den Angeklagten selbst, die ersten Angaben der Zeugin A.<br />

gegenüber den eingesetzten Polizeibeamten <strong>und</strong> die bei der Zeugin vorhandenen Verletzungen, zum Gegenstand<br />

ihrer Feststellungen gemacht, die durch andere Erkenntnisquellen als die Aussage der Zeugin A. <strong>und</strong> die Einlassung<br />

des Angeklagten geklärt werden konnten. Warum sich die Strafkammer gehindert gesehen hat, zu darüber hinausgehenden<br />

Feststellungen zu den Geschehnissen in der Wohnung des Angeklagten zu gelangen, ergibt sich aus der insoweit<br />

umfassenden <strong>und</strong> rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung der Kammer (siehe nachstehend II.3.b). Dass die<br />

Strafkammer mit Ausnahme des Anrufs des Angeklagten bei der Polizei <strong>und</strong> deren Eintreffen in der Wohnung des<br />

Zeugen S. selbst die zeitlichen Abläufe in der Tatnacht nicht näher hat feststellen können, begründet keinen Darstellungsmangel<br />

des Urteils. Aus der Beweiswürdigung kann der Senat in den rechtlichen Anforderungen genügender<br />

Weise die Gründe für das Fehlen der Möglichkeit erkennen, weitere Feststellungen zu treffen.<br />

b) Auch die Beweiswürdigung als solche ist rechtsfehlerfrei.<br />

- 28 -


aa) Das Revisionsgericht hat es gr<strong>und</strong>sätzlich hinzunehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil<br />

es Zweifel an dessen Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die revisionsrechtliche Prüfung beschränkt sich darauf,<br />

ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht etwa der Fall, wenn<br />

die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze<br />

verstößt. Rechtsfehlerhaft ist es auch, wenn sich das Tatgericht bei seiner Beweiswürdigung darauf beschränkt,<br />

die einzelnen Belastungsindizien gesondert zu erörtern <strong>und</strong> auf ihren jeweiligen Beweiswert zu prüfen,<br />

ohne eine Gesamtabwägung aller für <strong>und</strong> gegen die Täterschaft sprechenden Umstände vorzunehmen. Der revisionsgerichtlichen<br />

Überprüfung unterliegt zudem, ob überspannte Anforderungen an die für die Verurteilung erforderliche<br />

Gewissheit gestellt worden sind (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 27. April 2010 - 1 StR 454/09, NStZ 2011,<br />

108, 109; vom 1. Februar 2011 - 1 StR 408/10 Rn. 15, vom 7. Juni 2011 - 5 StR 26/11 Rn. 9 <strong>und</strong> vom 7. November<br />

2012 - 5 StR 322/12 Rn. 10).<br />

bb) Nach diesen Maßstäben enthält die durch die Strafkammer vorgenommene Beweiswürdigung in Bezug auf die<br />

Tatvorwürfe der Vergewaltigung <strong>und</strong> der gefährlichen Körperverletzung keine Rechtsfehler. Das Tatgericht hat sich<br />

ausführlich mit der Einlassung des Angeklagten, der wegen Ausbleibens einer Erektion letztlich erfolglose Versuche<br />

des einvernehmlichen Oral- <strong>und</strong> Vaginalverkehrs mit der Zeugin A. angegeben, die Vornahme der in der Anklageschrift<br />

zugr<strong>und</strong>e gelegten Gewalthandlungen zum Zwecke der Erzwingung des Geschlechtsverkehrs aber in Abrede<br />

gestellt hat, auseinandergesetzt. Es hat diese Einlassung nicht lediglich isoliert auf Plausibilität untersucht, sondern<br />

auch überprüft, ob diese durch die weiteren erhobenen Beweise widerlegt werden kann. Bei diesen Beweisen handelt<br />

es sich vor allem um die Aussagen der Zeugin A., die bei dieser vorhandenen Verletzungen, das Spurenbild in der<br />

Wohnung des Angeklagten sowie dessen Verhalten nach dem fraglichen Geschehen, insbesondere seinen Anruf bei<br />

der Einsatzzentrale des Polizeipräsidiums Straubing. Dabei hat das Tatgericht - sachverständig beraten - die Aussagen<br />

der Zeugin A. umfassend auf ihre Glaubhaftigkeit untersucht <strong>und</strong> in eine Gesamtwürdigung eingestellt. Innerhalb<br />

dessen sind die gewonnenen Erkenntnisse über die Persönlichkeit der Zeugin, ihr Aussageverhalten in früheren<br />

Verfahren, in denen sie zu Unrecht Personen sexueller Übergriffe auf sie bezichtigt hatte, sowie die Versuche des<br />

Zeugen S. , das Aussageverhalten der Zeugin zu beeinflussen, berücksichtigt worden. Die Strafkammer hat unter<br />

Vermeidung von Lücken oder Widersprüchlichkeiten in der Beweiswürdigung insbesondere die in der Person der<br />

Zeugin A. liegenden Besonderheiten hinsichtlich ihrer Aussagetüchtigkeit <strong>und</strong> der nur in sehr geringem Umfang<br />

vorhandenen Fähigkeit, tatsächliche Gegebenheiten, wie hier das eigentliche Kerngeschehen der von ihr angegebenen<br />

gewaltsamen Erzwingung des Geschlechtsverkehrs seitens des Angeklagten, sprachlich präzise zu beschreiben,<br />

sorgfältig bedacht. Dass sich die Strafkammer auf dieser Gr<strong>und</strong>lage nicht von der Täterschaft des Angeklagten in<br />

Bezug auf die zum Zwecke der Erzwingung des Geschlechtsverkehrs mit der Zeugin A. vorgenommenen Verletzungshandlungen<br />

hat überzeugen können, ist revisionsrechtlich hinzunehmen. Denn es ist Sache des Tatrichters, die<br />

Bedeutung <strong>und</strong> das Gewicht der einzelnen be- <strong>und</strong> entlastenden Indizien in der Gesamtwürdigung des Beweisergebnisses<br />

zu bewerten. Entspricht diese tatrichterliche Bewertung den vorstehend genannten Maßstäben, ist es dem<br />

Revisionsgericht verwehrt, auf der Gr<strong>und</strong>lage einer gegebenenfalls abweichenden Beurteilung der Bedeutung von<br />

Indiztatsachen in die Überzeugungsbildung des Tatrichters einzugreifen (BGH, Urteil vom 9. Juni 2005 - 3 StR<br />

269/04, NJW 2005, 2322, 2326; BGH, Urteil vom 20. September 2012 - 3 StR 140/12 Rn. 15).<br />

4. Das Urteil enthält aber Rechtsfehler, soweit das Tatgericht den Angeklagten auch vom Vorwurf der (einfachen)<br />

Körperverletzung/Nötigung hinsichtlich des von ihm selbst eingeräumten Verhaltens, der Zeugin A. aus Verärgerung<br />

eine Ohrfeige gegeben <strong>und</strong> sie durch ein „Packen“ am Hals aus der Wohnung geworfen zu haben, freigesprochen<br />

hat. Die Strafkammer hat hier zu Unrecht einer Verurteilung entgegenstehende rechtliche Gründe, nämlich das Fehlen<br />

der Verfolgungsvoraussetzungen nach § 230 Abs. 1 StGB sowie fehlende Verfahrensgegenständlichkeit des<br />

fraglichen tatsächlichen Geschehens, angenommen <strong>und</strong> zudem überspannte Anforderungen an die tatrichterliche<br />

Überzeugungsbildung gestellt.<br />

a) Die Strafkammer war entgegen ihrer offenbar als Hilfserwägung eingenommenen Rechtsauffassung nicht aus<br />

Rechtsgründen an der Aburteilung des vorstehend geschilderten Geschehens gehindert.<br />

aa) Die von dem Angeklagten eingeräumte Ohrfeige sowie das damit verb<strong>und</strong>ene Geschehen des Hinausdrängens<br />

der Zeugin A. war von der prozessualen Tat (§ 264 StPO) erfasst, die materiell den Vorwurf der (besonders schweren)<br />

Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zum Gegenstand hat. Entgegen der Auffassung<br />

des Tatgerichts war dieses daher nicht durch den Umfang der Kognitionspflicht (vgl. Radtke, in: Radtke/ Hohmann,<br />

StPO, 2011, § 264 Rn. 63 mwN) gehindert, den Angeklagten wegen (einfacher) Körperverletzung zu verurteilen. Im<br />

Gegenteil gebot die innerhalb des durch Anklage <strong>und</strong> Eröffnungsbeschluss gebildeten Verfahrensgegenstandes be-<br />

- 29 -


stehende umfassende Erkenntnispflicht des Gerichts gerade eine Aburteilung. Wie das Tatgericht im rechtlichen<br />

Ausgangspunkt an sich zutreffend angenommen hat, ist die Tat im prozessualen Sinne (§§ 155, 264 StPO) der vom<br />

Eröffnungsbeschluss betroffene geschichtliche Lebensvorgang einschließlich aller damit zusammenhängenden oder<br />

darauf bezogenen Vorkommnisse <strong>und</strong> tatsächlichen Umstände, die geeignet sind, das in diesen Bereich fallende Tun<br />

des Angeklagten unter irgendeinem rechtlichen Gesichtspunkt als strafbar erscheinen zu lassen (st. Rspr.; etwa BGH,<br />

Urteil vom 23. September 1999 - 4 StR 700/98, BGHSt 45, 211, 212 f.; BGH, Urteil vom 11. September 2007 - 5<br />

StR 213/07, NStZ 2008, 411). Zu dem von der Anklage <strong>und</strong> dem darauf bezogenen Eröffnungsbeschluss erfassten<br />

einheitlichen geschichtlichen Vorgang gehört dementsprechend alles, was mit diesem nach der Auffassung des Lebens<br />

einen einheitlichen Vorgang bildet (BGH jeweils aaO). Für die Beurteilung, ob ein bestimmtes tatsächliches<br />

Geschehen Teil der verfahrensgegenständlichen Tat ist, lassen sich über das Vorgenannte hinaus kaum generalisierbare<br />

Kriterien angeben; maßgeblich sind stets die tatsächlichen Verhältnisse des Einzelfalls (BGH, Beschluss vom<br />

13. November 1998 - StB 12/98, NJW 1999, 1413, 1414). Auf der Gr<strong>und</strong>lage dieses in erster Linie an den von der<br />

Anklage erfassten faktischen Verhältnissen orientierten prozessualen Tatbegriffs ist die von dem Angeklagten eingeräumte<br />

Ohrfeige Gegenstand der mit der Anklageschrift vom 4. März 2011 unter der dortigen Ziffer II. angeklagten<br />

Tat (§§ 155, 264 StPO) gewesen. Die Anklage ist in unveränderter Form durch Beschluss der Strafkammer vom 11.<br />

Juli 2011 zugelassen <strong>und</strong> das Hauptverfahren eröffnet worden. Sie umfasst den Zeitraum zwischen dem 1. Dezember<br />

2010, 18.00 Uhr, sowie dem 2. Dezember 2010, 2.00 Uhr, <strong>und</strong> schildert in dem konkreten Anklagesatz ein Geschehen<br />

in der Wohnung des Angeklagten, das im Einzelnen bezeichnete Körperverletzungshandlungen zu Lasten der<br />

Zeugin A. sowie gewaltsam erzwungenen Vaginal- <strong>und</strong> Oralverkehr mit dieser zum Gegenstand hat. Nach den Urteilsgründen<br />

hat der Angeklagte das Verabreichen der Ohrfeige während des von der Anklage umfassten Zeitraums<br />

in seiner Wohnung <strong>und</strong> zu Lasten von A. eingestanden. Wie die Strafkammer an sich nicht verkennt, liegt das eingeräumte<br />

straftatbestandsmäßige Verhalten nach den für die Beurteilung des einheitlichen Lebensvorgangs maßgeblichen<br />

Kriterien des Tatopfers <strong>und</strong> des Tatortes sowie der Tatzeit innerhalb des durch Anklage <strong>und</strong> Eröffnungsbeschluss<br />

umgrenzten Verfahrensgegenstandes. Angesichts der für prozessuale Tatidentität sprechenden tatsächlichen<br />

Anhaltspunkte kann eine solche nicht durch das Abstellen auf normative Erwägungen, wie sie die Strafkammer mit<br />

dem Aspekt der „Angriffsrichtung“ angestellt hat, ausgeschlossen werden. Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden,<br />

welche Bedeutung normativen Kriterien für die Bestimmung prozessualer Tateinheit überhaupt zukommen<br />

kann. Derartige Gesichtspunkte, wie etwa die „strafrechtliche Bedeutung des Vorgangs“, sind zwar in der Rechtsprechung<br />

des B<strong>und</strong>esgerichtshofs gelegentlich in die Beurteilung der Reichweite der prozessualen Tat einbezogen worden<br />

(etwa BGH, Urteil vom 18. Oktober 1995 - 3 StR 324/94, BGHSt 41, 292, 300). Deren Bedeutung erschöpft sich<br />

allerdings darin, als ein Aspekt im Rahmen der umfassenden Beurteilung der prozessualen Tatidentität nach Maßgabe<br />

des Einzelfalls herangezogen zu werden. Sprechen die für die Bestimmung der Reichweite des Verfahrensgegenstandes<br />

maßgeblichen tatsächlichen Momente des Lebenssachverhalts, wie die hier vorliegenden, für die Annahme<br />

einer einheitlichen prozessualen Tat, kann die Heranziehung normativer Gesichtspunkte allein nicht dazu führen,<br />

entgegen dem sich durch die faktischen Verhältnisse ergebenden Bild eine einheitliche Tat i.S.v. § 264 StPO zu<br />

verneinen.<br />

bb) Die gemäß § 230 Abs. 1 Satz 1 StGB erforderlichen Verfolgungsvoraussetzungen für eine Körperverletzung<br />

gemäß § 223 Abs. 1 StGB sind gegeben. Zwar hat die Zeugin A. keinen Strafantrag gestellt. Es ist aber seitens der<br />

Staatsanwaltschaft gemäß § 230 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 StGB das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung<br />

erklärt worden. Selbst wenn man nicht bereits in der die gefährliche Körperverletzung zu Lasten der Zeugin<br />

umfassenden Anklage der Staatsanwaltschaft deren konkludente Erklärung bezüglich der in der Qualifikation des §<br />

224 StGB enthaltenen (einfachen) Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) sehen wollte, hat diese in ihrer Revisionsbegründungsschrift<br />

eine solche Erklärung ausdrücklich abgegeben. Die Bejahung des besonderen öffentlichen Interesses<br />

kann auch noch in der Revisionsinstanz erfolgen (BGH, Beschluss vom 18. Oktober 2011 - 5 StR 346/11,<br />

StraFo 2012, 67).<br />

b) Dem Vorstehenden entsprechend musste die Strafkammer ihre Kognitionspflicht auch auf das Tatgeschehen erstrecken,<br />

das die Ohrfeige <strong>und</strong> das Hinausdrängen der Zeugin zum Gegenstand hatte. Dem ist die Strafkammer an<br />

sich ungeachtet der von ihr angeführten rechtlichen Hinderungsgründe auch nachgekommen. Denn sie hat den Angeklagten<br />

wegen der Ohrfeige (auch) aus tatsächlichen Gründen nicht verurteilt, weil sie sich nicht vom Wahrheitsgehalt<br />

seines Geständnisses hat überzeugen können. Dabei hat sie aber die an die tatrichterliche Überzeugungsbildung<br />

zu stellenden Anforderungen überspannt. Dazu hat der Generalb<strong>und</strong>esanwalt ausgeführt: „… sie verkennt, dass<br />

es keine forensische Erfahrung gibt, wonach bei einem Geständnis stets ohne weiteres mit einer wahrheitswidrigen<br />

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Selbstbelastung zu rechnen ist (vgl. Senat, Beschluss vom 23. Mai 2012 - 1 StR 208/12, juris Tz. 7). Anhaltspunkte,<br />

die geeignet wären, nachvollziehbare Zweifel am Wahrheitsgehalt der vom Angeklagten eingeräumten Tathandlungen<br />

zu begründen, sind den Urteilsgründen nicht zu entnehmen, zumal dieser die Vergewaltigung von Anfang an<br />

bestritten hat <strong>und</strong> das Teilgeständnis für ihn keine Besserstellung bedeutete. Zudem hat die Kammer unberücksichtigt<br />

gelassen, dass auch die Zeugin A. bestätigt hat, vom Angeklagten geschlagen worden zu sein. Die ‚Heranziehung<br />

weiterer Beweismittel‘ (UA S. 85) war danach für die tatrichterliche Überzeugungsbildung nicht erforderlich. Die<br />

Einlassung des Angeklagten war - wovon das Landgericht an anderer Stelle selbst ausgeht (UA S. 11 ff.) - ohnedies<br />

bereits hinreichend plausibel …“.<br />

Dem folgt der Senat.<br />

5. Im Hinblick auf diesen Rechtsfehler war das angefochtene Urteil in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang<br />

aufzuheben <strong>und</strong> die Sache im Umfang der Aufhebung an ein neues Tatgericht zurück zu verweisen. Die Aufhebung<br />

beschränkt sich auf den Freispruch vom Vorwurf der (einfachen) Körperverletzung zu Lasten der Zeugin A. im Hinblick<br />

auf die von dem Angeklagten eingeräumte Ohrfeige, die er dieser nach dem Versuch des einvernehmlichen<br />

Geschlechtsverkehrs verabreicht haben will, sowie das damit in Zusammenhang stehende tatsächliche Geschehen.<br />

Dabei handelte es sich ausweislich der im Urteil wiedergegebenen Einlassung des Angeklagten neben der Ohrfeige<br />

auch um das durch das Ergreifen der Zeugin am Hals bewirkte Hinausdrängen aus der Wohnung. Die Voraussetzungen<br />

für eine Teilaufhebung des angefochtenen Urteils liegen vor. Eine solche ist bei mehreren materiell-rechtlich<br />

selbständigen Straftaten möglich (BGH, Urteil vom 20. Februar 1997 - 4 StR 642/96, NStZ 1997, 276). So verhält es<br />

sich hier.<br />

a) Die nach § 223 Abs. 1 StGB tatbestandsmäßige Körperverletzung ist auf der Gr<strong>und</strong>lage des in der Anklage bezeichneten<br />

tatsächlichen Geschehens in der Wohnung des Angeklagten einerseits <strong>und</strong> seiner Einlassung andererseits<br />

durch eine andere Handlung (i.S.v. §§ 52, 53 StGB) verwirklicht als die angeklagten Körperverletzungshandlungen.<br />

Während diese der Erzwingung des Geschlechtsverkehrs gegen den Willen der Zeugin A. dienen sollten, hat der<br />

Angeklagte eine Körperverletzungshandlung eingeräumt, die zeitlich nach dem gescheiterten Versuch einvernehmlichen<br />

Geschlechtsverkehrs erfolgte. Der Beweggr<strong>und</strong>, die Zeugin zu ohrfeigen, resultiert nach der Einlassung des<br />

Angeklagten aus deren provozierenden Äußerungen im Anschluss an die angestrebten geschlechtlichen Handlungen.<br />

Bei natürlicher Betrachtung stellt sich diese Körperverletzung damit materiell-strafrechtlich als eine andere Handlung<br />

dar als die angeklagten Körperverletzungshandlungen.<br />

b) Die Annahme von materiell-rechtlicher Handlungsmehrheit (§ 53 StGB) steht einer einheitlichen prozessualen Tat<br />

i.S.v. § 264 StPO (oben II.4.a) nicht entgegen. Solche ist trotz Handlungsmehrheit im Sinne des materiellen Strafrechts<br />

gegeben, wenn zwischen den einzelnen Verhaltensweisen des Täters eine innere Verknüpfung dergestalt besteht,<br />

dass ihre getrennte Aburteilung in verschiedenen erstinstanzlichen Verfahren als unnatürliche Aufspaltung<br />

eines einheitlichen Lebensvorgangs empf<strong>und</strong>en würde (st. Rspr.; etwa BGH, Urteil vom 23. September 1999 - 4 StR<br />

700/98, BGHSt 45, 211, 212 f.; BGH, Urteil vom 11. September 2007 - 5 StR 213/07, NStZ 2008, 411). So verhält<br />

es sich hier. Die eingeräumte Körperverletzung erfolgte nach der Einlassung des Angeklagten in unmittelbarem<br />

zeitlichem Zusammenhang mit einem gescheiterten Geschlechtsverkehr <strong>und</strong> wurde durch eine von der Zeugin getätigte<br />

Äußerung als Reaktion auf die geschlechtlichen Handlungen ausgelöst. Die Durchführung von Geschlechtsverkehr<br />

bildet aber auch einen wesentlichen Teil des mit der Anklage unterbreiteten Verfahrensgegenstandes. Daran<br />

ändert der Umstand nichts, dass dem Angeklagten ausdrücklich nur die Durchführung mit Gewalt erzwungenen<br />

Geschlechtsverkehrs zum Nachteil der Zeugin A. vorgeworfen worden war. Für die Beurteilung der prozessualen<br />

Tatidentität kommt es - wie dargelegt - maßgeblich auf die Einheitlichkeit des Lebensvorgangs in tatsächlicher Hinsicht<br />

an.<br />

c) Der Senat verweist die Sache im Umfang der Aufhebung gemäß § 354 Abs. 3 StPO an das Amtsgericht Passau -<br />

Strafrichter -. Da im Hinblick auf die Verwerfung der Revision gegen den Freispruch vom Vorwurf der (besonders<br />

schweren) Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung lediglich noch der aus der von dem Angeklagten<br />

eingeräumten Ohrfeige zu Lasten der Zeugin A. sowie deren Hinausdrängen aus der Wohnung resultierende<br />

materiell-rechtliche Tatvorwurf den Gegenstand des Verfahrens bildet, ist die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts<br />

nicht mehr begründet. Vielmehr liegt die Zuständigkeit des Amtsgerichts gemäß § 24 Abs. 1 GVG vor. Im<br />

Hinblick auf die Voraussetzungen von § 25 Nr. 2 GVG erfolgt die Zuweisung innerhalb dessen zum Strafrichter; §<br />

26 Abs. 1 GVG steht dem nicht entgegen. Ob bei Zurückverweisung an das Amtsgericht bei der Entscheidung nach §<br />

354 Abs. 3 StPO eine ausdrückliche Zuweisung zu dem Schöffengericht oder dem Strafrichter zwingend erforderlich<br />

- 31 -


ist, bedarf keiner Entscheidung (BGH, Beschluss vom 30. Januar 2008 - 2 StR 290/07). Sie ist dem Revisionsgericht<br />

jedenfalls gestattet.<br />

d) Angesichts der lediglich teilweisen Aufhebung des Urteils sind die den Freispruch vom Vorwurf der (besonders<br />

schweren) Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung tragenden Feststellungen bestandskräftig<br />

geworden. In Bezug auf die noch anhängige Straftat ist der neue Tatrichter nicht gehindert, weitere Feststellungen zu<br />

treffen. Diese dürfen allerdings nicht im Widerspruch zu den bestehen bleibenden Feststellungen stehen (st. Rspr.;<br />

etwa BGH, Beschluss vom 31. Oktober 1995 - 1 StR 454/95, NStZ-RR 1996, 203, 204).<br />

III. Durch die Teilaufhebung des freisprechenden Urteils wird die Entschädigungsentscheidung genauso gegenstandslos<br />

wie die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft (st. Rspr.; etwa BGH, Urteil vom<br />

17. August 2000 - 4 StR 245/00, insoweit in BGHSt 46, 130 ff. nicht abgedruckt; BGH, Urteil vom 22. März 2002 -<br />

2 StR 569/01).<br />

StGB § 73 Abs. 1 Satz 2; StPO § 111i Abs. 2 - Maßgeblicher Sachverhalt für Vorragng von Ersatzansprüchen<br />

vor Verfall<br />

BGH, Urt. v. 20.02. 2013 – 5 StR 306/12 - NJW 2013, 950<br />

LS: Für die Anwendung des § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB ist der historische Sachverhalt entscheidend,<br />

aus dem sich der Ersatzanspruch ergibt, <strong>und</strong> nicht das Schutzgut des verletzten Strafgesetzes, aus<br />

dem der Angeklagte verurteilt wurde.<br />

Zum Ermessen nach § 111i Abs. 2 StPO <strong>und</strong> zur Erforderlichkeit einer Verfahrensrüge für die Beanstandung<br />

der Nichtanwendung dieser Vorschrift.<br />

Der 5. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat in der Sitzung vom 20. Februar 2013 für Recht erkannt: Die Revision<br />

der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Potsdam vom 19. Januar 2012 wird verworfen. Die Staatskasse<br />

trägt die Kosten des Rechtsmittelverfahrens <strong>und</strong> die dem Angeklagten R. insoweit entstandenen notwendigen<br />

Auslagen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten R. wegen vorsätzlichen unerlaubten Umgangs mit gefährlichen Abfällen in<br />

sieben Fällen jeweils in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Betreiben von Anlagen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe<br />

von vier Jahren <strong>und</strong> drei Monaten verurteilt. Die auf den Strafausspruch beschränkte Revision des Angeklagten<br />

hat der Senat mit Beschluss vom 30. August 2012 gemäß § 349 Abs. 2 StPO verworfen. Die Revision der Staatsanwaltschaft,<br />

die allein die Nichtanordnung des Verfalls beanstandet <strong>und</strong> über die der Senat nach mündlicher Hauptverhandlung<br />

entscheiden muss, bleibt ohne Erfolg.<br />

I. Das Landgericht hat bei dem Angeklagten die Anordnung eines Verfalls abgelehnt.<br />

1. Nach den Feststellungen unterhielt der Angeklagte einen Entsorgungsfachbetrieb, der sich mit der Verfüllung von<br />

sogenannten Bürgermeister-Deponien befasste. Diese aus der DDR-Zeit stammenden Abfallsammelstellen sollten so<br />

rekultiviert werden. Dies war nach Landesrecht Aufgabe der Gemeinden, die mit diesen Arbeiten den Betrieb des<br />

Angeklagten beauftragten. Nach den Vereinbarungen musste der Angeklagte auf seine Kosten jeweils eine Schließungskonzeption<br />

erstellen <strong>und</strong> die Deponien verfüllen, konnte andererseits bestimmte Abfallmaterialien einbringen.<br />

Hierfür waren aber abfallrechtliche Sicherungs- <strong>und</strong> Rekultivierungsanordnungen zu beachten. Der Angeklagte verfüllte<br />

an sieben Standorten Abfallmaterialien, die nicht den Vorgaben entsprachen. So ließ er Kunststoffabfälle,<br />

Haus- <strong>und</strong> Gewerbemüll sowie gefährliche Abfälle einbauen, die eine Kontamination der Bodenschichten <strong>und</strong> des<br />

Gr<strong>und</strong>wassers herbeiführen können. Eine Sanierung wird beträchtliche Kosten erfordern, insgesamt bis zur Höhe von<br />

73 Mio. €. Für die Verfüllung der Deponien flossen dem Betrieb des Angeklagten in den Jahren 2006 <strong>und</strong> 2007 Einnahmen<br />

in Höhe von 4,3 Mio. € zu, die er von Müllunternehmern für die Verfüllung der nicht genehmigten Abfälle<br />

in den einzelnen Deponien erhielt.<br />

2. Das Landgericht hat die Anordnung eines Verfalls abgelehnt. Dem stünden gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB Ansprüche<br />

der Verletzten entgegen. Auch wenn die Umweltdelikte, derentwegen der Angeklagte verurteilt worden sei,<br />

dem Schutz der Allgemeinheit dienten, ergäben sich Ersatzansprüche. Dies zeige sich schon daran, dass den betroffenen<br />

Gemeinden oder privaten Eigentümern mit der Anordnung des Verfalls Haftungsmasse entzogen würde.<br />

Deren Vermögenssphäre schütze § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB gleichermaßen. Da Umweltbehörden bereits Ersatzansprü-<br />

- 32 -


che verfolgten <strong>und</strong> die dinglichen Arreste zugunsten der Geschädigten erweitert worden seien, bestehe kein Anlass<br />

für die Anordnung eines Verfalls.<br />

II. Die gegen die Nichtanordnung des Verfalls gerichteten Angriffe der Staatsanwaltschaft bleiben ohne Erfolg.<br />

1. Zu Unrecht beanstandet die Staatsanwaltschaft, dass die Anwendung des § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB schon deshalb<br />

hätte unterbleiben müssen, weil Umweltstraftaten nicht dem Individualschutz dienen. Damit vermengt die Staatsanwaltschaft<br />

in unzulässiger Weise das Schutzgut des Straftatbestandes mit der Frage der Anwendbarkeit des § 73 Abs.<br />

1 Satz 2 StGB (unklar auch Fischer, StGB, 60. Aufl., § 73 Rn. 22). Zwar mag es bei der Verletzung von Allgemeinrechtsgütern<br />

häufig der Fall sein, dass ein im materiellen Sinne Geschädigter fehlt. Zwingend ist dies indes nicht.<br />

Denn es können auch durch Straftaten, die sich in erster Linie gegen Allgemeinrechtsgüter richten, Ersatzansprüche<br />

von Dritten entstehen. Im Umweltstrafrecht sind solche Fallgestaltungen sogar verbreitet, weil es regelmäßig neben<br />

dem Täter als Verursacher auch Zustandsstörer geben kann, die ebenfalls – wenn auch nur nachrangig – möglicherweise<br />

zur Beseitigung des umweltrechtswidrigen Zustands verpflichtet sind <strong>und</strong> dann gegenüber dem Handlungsschädiger<br />

Ersatzansprüche haben. Für die Anwendung des § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB ist – wie der Senat bereits entschieden<br />

hat (BGH, Beschluss vom 27. Januar 2010 – 5 StR 254/09, wistra 2010, 141) – der historische Sachverhalt<br />

entscheidend, aus dem sich der Ersatzanspruch ergibt, <strong>und</strong> nicht das Schutzgut des verletzten Strafgesetzes, aus dem<br />

der Angeklagte verurteilt wurde. Ist durch eine Handlung, die zugleich strafrechtlich relevant ist, ein anderer geschädigt<br />

worden, geht dieser als Verletzter gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB vor. Dies gilt im Übrigen unabhängig davon,<br />

ob die Justizbehörden die Verfolgung auf solche Delikte nach §§ 154, 154a StPO beschränkt haben, deren Verfolgung<br />

im Allgemeininteresse liegt (BGH aaO). Nur diese Auslegung wird dem Schutzzweck der Vorschrift gerecht,<br />

dem Geschädigten durch eine Verfallsanordnung nicht die Mittel zu entziehen, die für die Schadensbeseitigung aufzuwenden<br />

sind. Der Wortlaut des § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB verlangt nur einen Kausalzusammenhang zwischen Tatbegehung<br />

<strong>und</strong> Entstehung des Ersatzanspruches. Eine Beschränkung auf bestimmte Deliktstypen ist der Vorschrift<br />

nicht zu entnehmen.<br />

2. Ebenso wenig überzeugt der Gedanke, wonach der Angeklagte die Vermögenswerte nicht „aus der Tat“, sondern<br />

„für die Tat“ erhalten hat. Nach der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs trifft es zwar gr<strong>und</strong>sätzlich zu, dass der<br />

Ausschluss zugunsten des Verletzten nach § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB nur für Vermögensvorteile des Täters Anwendung<br />

findet, die „aus der Tat“, nicht aber für solche, die „für die Tat“ erlangt sind (BGH, Urteil vom 24. Juni 2010 –<br />

3 StR 84/10, wistra 2010, 439, <strong>und</strong> Beschluss vom 9. November 2010 – 4 StR 447/10, NStZ 2011, 229). Danach sind<br />

Vermögenswerte „für die Tat“ erlangt, die dem Täter als Gegenleistung für sein rechtswidriges Handeln gewährt<br />

werden, aber nicht auf der Tatbestandserfüllung selbst beruhen (BGH, Urteil vom 2. Dezember 2005 – 5 StR 119/05,<br />

BGHSt 50, 299, 309 f.). Allerdings gilt auch hier, dass die Vorteile dann aus der Tat erlangt sind, wenn Vermögensnachteile<br />

<strong>und</strong> Vermögenszuwachs spiegelbildlich miteinander korrespondieren (BGH, Urteil vom 24. Juni 2010 – 3<br />

StR 84/10, wistra 2010, 439 – zum Verhältnis Amtsdelikt <strong>und</strong> damit zusammenhängender Untreue). Im vorliegenden<br />

Fall dürfte schon die letztgenannte Ausnahmekonstellation vorliegen. Die Bezahlung erfolgte nämlich für den unerlaubten<br />

Umgang mit Abfällen im Sinne des § 326 StGB, wobei die Ersatzpflicht des Angeklagten – spiegelbildlich –<br />

aufgr<strong>und</strong> dieses unerlaubten Umgangs mit gefährlichen Abfällen entstanden ist. Hinzu kommt aber, dass der Angeklagte<br />

tateinheitlich jeweils auch wegen unerlaubten Betreibens einer Abfallentsorgungsanlage nach § 327 Abs. 2<br />

Nr. 3 StGB verurteilt wurde. Hinsichtlich dieses vom Landgericht zu Recht jeweils als idealkonkurrierend ausgeurteilten<br />

Tatbestands sind die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB gegeben. Der Angeklagte hat nämlich<br />

durch den Betrieb der illegalen Deponie die Vermögenszuwächse erwirtschaftet. Im Blick auf diesen Tatbestand sind<br />

mithin die für die illegale Lagerung geleisteten Zahlungen „aus der Tat“, nämlich aus dem illegalen Betrieb der Abfallanlage<br />

erlangt. Der Schutzzweck des § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB, der dem Ersatzberechtigten die dem Täter zugeflossenen<br />

Mittel für die Schadenswiedergutmachung sichern soll, erfordert es, von einer Verfallsanordnung abzusehen,<br />

auch wenn zugleich ein Tatbestand verwirklicht sein sollte, aus dessen Normperspektive die Vermögenszuflüsse<br />

„für die Tat“ erfolgt sein sollten.<br />

3. Nunmehr will die Staatsanwaltschaft im Nachgang zu ihrer Revisionsbegründung, in der dieser Gesichtspunkt nur<br />

am Rande erwähnt wurde, primär beanstanden, dass das Landgericht von einer Feststellung nach § 111i Abs. 2 StPO<br />

abgesehen hat. Auch diese Beanstandung bleibt erfolglos.<br />

a) Die begehrte Feststellung käme nur in Betracht, soweit die zugr<strong>und</strong>eliegenden Taten nicht vor dem 1. Januar 2007<br />

beendet worden wären (BGH, Beschlüsse vom 18. Dezember 2008 – 3 StR 460/08, wistra 2009, 241, <strong>und</strong> vom 12.<br />

August 2010 – 4 StR 293/10). Im vorliegenden Fall waren die Taten teilweise vor diesem Zeitpunkt beendet, teilweise<br />

auch erst danach, wobei die Urteilsgründe hierzu in einigen Fällen keine näheren Ausführungen enthalten.<br />

- 33 -


) In einem Fall unterbliebener Anordnung hätte es zur Beanstandung mangelnder Feststellung nach der Vorschrift<br />

des § 111i Abs. 2 StPO, die – ungeachtet der materiellen Komponente, welche die Anwendung des § 2 Abs. 3, 5<br />

StGB bedingt – im Verfahrensrecht, in engstem Sachzusammenhang mit Regelungen über vorläufige Sicherstellungen<br />

im Verfahren, verankert ist, einer innerhalb der Revisionsbegründungsfrist spezifiziert auszuführenden Verfahrensrüge<br />

bedurft. Diese ist jedenfalls erforderlich, wenn, wie hier, eine lediglich partiell unterbliebene Anwendung<br />

der Norm zum Revisionsgegenstand gemacht werden soll. Dies gilt namentlich für einen Übergangsfall wie den<br />

vorliegenden, in dem Beschlagnahme <strong>und</strong> dinglicher Arrest ohne Rücksicht auf den Tatzeitpunkt angeordnet worden<br />

waren. An einer solchen Rüge fehlt es.<br />

c) Abgesehen davon könnte die Beanstandung nicht einmal in der Sache Erfolg haben. Der Senat könnte dem Gesamtzusammenhang<br />

der Urteilsgründe ausreichend sicher entnehmen, dass das Landgericht von einem ihm zustehenden<br />

Ermessen für eine Anordnung nach § 111i Abs. 2 StPO keinen Gebrauch machen wollte. Das weitgehende<br />

tatgerichtliche Ermessen ist vom Revisionsgericht ohnehin regelmäßig hinzunehmen (vgl. Nack in KK-StPO, 6.<br />

Aufl. , § 111i Rn. 17). Freilich mag auf entsprechende Anordnungen nach § 111i Abs. 2 StPO nur in Ausnahmefällen<br />

verzichtet werden können (BGH, Urteil vom 17. Juni 2009 – 2 StR 195/09 unter Bezugnahme auf BT-Drucks.<br />

16/700, S. 15 f.). Dies kann aber nur für Fälle gelten, in denen die Anwendung des § 111i Abs. 2 StPO wegen zu<br />

erwartender Nichtinanspruchnahme des Täters auf Schadensersatzleistung <strong>und</strong> eines danach zu befürchtenden Verbleibens<br />

von Tatgewinnen bei ihm vordringlich erscheint. Gerade das ist hier nicht der Fall: Das Landgericht hat<br />

festgestellt, dass Behörden in erheblichem Umfang bereits Ersatzansprüche verfolgen. Die Schäden liegen in einer so<br />

beträchtlichen Höhe, dass sie den Betrag der zugeflossenen Gelder übersteigen dürften. Das Landgericht hatte zudem<br />

die bestehenden dinglichen Arreste zugunsten derjenigen, die Ersatzansprüche geltend machen, erweitert. Damit<br />

besteht eine Situation, in der auch ohne ein nur partiell zulässiges Vorgehen nach § 111i Abs. 2 <strong>und</strong> 3 StPO weiterhin<br />

eine ausreichende Absicherung der Ersatzansprüche der durch die Straftat Geschädigten anzunehmen ist. Nach<br />

alledem wäre die vom Landgericht unterlassene Feststellung nach § 111i Abs. 2 StPO als ermessensfehlerfrei hinzunehmen<br />

gewesen, zumal die Ermittlung der Beendigung der einzelnen Taten noch erheblichen justiziellen Aufwand<br />

erfordert hätte <strong>und</strong> der Angeklagte zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, deren alsbaldige Verbüßung<br />

vordringlich herbeizuführen war.<br />

d) Im Übrigen neigt der Senat im Zusammenhang mit der Frage ausreichender Sicherung der Ersatzanspruchsberechtigten<br />

dazu, dass im Falle des Absehens von einer Verlängerung nach § 111i Abs. 3 StPO der gemäß § 111b Abs. 5,<br />

§ 111d StPO zum Zweck der Rückgewinnungshilfe erlassene dingliche Arrest gleichwohl nach den Regelungen der<br />

§§ 916 ff. ZPO fortwirkt. Die nur partielle Bezugnahme auf einzelne Regelungen der Zivilprozessordnung in § 111d<br />

Abs. 2 StPO, die auf die Rechtslage im laufenden Strafverfahren nach Arrestanordnung zielt, steht dieser Annahme<br />

nicht entgegen. Eine dem Rechtsinstitut des Arrestes fremde automatische Beendigung mit Rechtskraft des weder<br />

eine Verfallsanordnung noch einen Ausspruch nach § 111i Abs. 2 StPO enthaltenden Urteils, wie sie in Rechtsprechung<br />

<strong>und</strong> Literatur teilweise vertreten wird (vgl. etwa OLG Stuttgart, NStZ 2005, 401; Meyer-Goßner/Schmitt,<br />

StPO, 55. Aufl., § 111e Rn. 18; BeckOK/Huber, StPO, Edition 15, § 111e Rn. 10), ist dem Gesetz nicht zu entnehmen.<br />

Eine Pflicht des Gerichts zur Aufhebung des Arrestes allein wegen des Unterbleibens einer entsprechenden<br />

Anordnung im Urteil (so wohl LR/Schäfer, StPO, 25. Aufl., § 111i Rn. 1) ist ebenfalls nicht ausdrücklich geregelt<br />

<strong>und</strong> erscheint auch systematisch nicht zwingend. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Arrest – wie hier – nach § 111b<br />

Abs. 5 StPO (auch) zugunsten der Verletzten erlassen wurde.<br />

e) Da das Absehen von einer Feststellung nach § 111i Abs. 2 StPO somit auch in der Sache nicht zu beanstanden<br />

wäre, käme es im Ergebnis nicht darauf an, ob deren Voraussetzungen überhaupt für sämtliche erlangten Beträge<br />

vorgelegen hätten. Dies ist insbesondere hinsichtlich der Einnahmen zweifelhaft, die an die vom Angeklagten gegründete<br />

GmbH geflossen sind. Ob der Angeklagte über die dieser zugeflossenen Beträge tatsächlich wirtschaftliche<br />

Mitverfügungsgewalt hatte, ist den Urteilsfeststellungen nicht zu entnehmen. Hieran kann es nämlich auch bei einer<br />

Ein-Personen-GmbH fehlen, wenn etwa bei Bestehen hoher Verbindlichkeiten eine Entnahmemöglichkeit des Gesellschafters<br />

trotz des Geldzuflusses mangels ausreichender Liquidität nicht besteht.<br />

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StGB § 78c Abs. 4, § 78c Abs. 1 Nr. 3 Keine Verjährungsunterbrechung durch Beauftragung eines<br />

SV nach Einstellung des Verfahrens<br />

BGH, Beschl. v. 29.01.2013 – 2 StR 510/12 - NJW 2013, 1174 – StV 2013, 508<br />

LS: Stellt die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen den zum Tatvorwurf vernommenen<br />

Beschuldigten gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO ein <strong>und</strong> führt es sodann gegen Unbekannt weiter,<br />

so wird die Verfolgungsverjährung gegen den (früheren) Beschuldigten nicht nach § 78c Abs. 1<br />

Nr. 3 StGB unterbrochen, wenn die Staatsanwaltschaft oder ein Richter nunmehr einen Sachverständigen<br />

beauftragt.<br />

Der 2. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat auf Antrag des Generalb<strong>und</strong>esanwalts <strong>und</strong> nach Anhörung der Beschwerdeführerinnen<br />

am 29. Januar 2013 gemäß § 349 Abs. 2 StPO beschlossen: Die Revisionen der Nebenklägerinnen<br />

gegen das Urteil des Landgerichts Trier vom 11. Juni 2012 werden als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung<br />

des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigungen keinen Rechtsfehler zu Gunsten des Angeklagten ergeben<br />

hat. Die Beschwerdeführerinnen haben die Kosten ihrer Rechtsmittel <strong>und</strong> die dem Angeklagten im Revisionsverfahren<br />

entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des Mordes freigesprochen, da es nach bis zur Schuldspruchreife<br />

durchgeführter Hauptverhandlung die am 4. November 1982 begangene Tat des Angeklagten rechtlich als Totschlag<br />

gewertet hat, dessen Verfolgung bereits verjährt sei. Hiergegen wenden sich die auf die Rügen der Verletzung<br />

formellen <strong>und</strong> materiellen Rechts gestützten Revisionen der beiden Nebenklägerinnen. Diese sind unbegründet im<br />

Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Ergänzend zu den zutreffenden Ausführungen des Generalb<strong>und</strong>esanwalts in seiner<br />

Antragsschrift vom 24. Oktober 2012 bemerkt der Senat:<br />

1. Das Landgericht ist, nachdem es rechtsfehlerfrei die in Betracht kommenden Mordmerkmale der Heimtücke <strong>und</strong><br />

der sonstigen niedrigen Beweggründe verneint hat, zu Recht vom Eintritt der Verfolgungsverjährung ausgegangen.<br />

Insbesondere hat es nicht zur Unterbrechung der Verfolgungsverjährung nach § 78c Abs. 1 Nr. 3 StGB geführt, dass<br />

durch richterliche Beschlüsse vom 5. Oktober 1999, 9. Mai 2003 <strong>und</strong> 2. Juni 2003 molekulargenetische Sachverständigengutachten<br />

in Auftrag gegeben worden sind.<br />

a) Die Unterbrechung der Verfolgungsverjährung wirkt gemäß § 78c Abs. 4 StGB nur gegenüber demjenigen, auf<br />

den sich die Unterbrechungshandlung bezieht. Daraus folgt, dass nur eine gegen eine bestimmte Person gerichtete,<br />

nicht aber eine die Ermittlung des noch unbekannten Täters bezweckende Untersuchungshandlung geeignet ist, die<br />

Verjährung zu unterbrechen (vgl. BGHSt 42, 283, 287 mwN). Der Täter muss im Zeitpunkt der Unterbrechungshandlung<br />

"der Person nach" bekannt sein, d. h. er muss - wenn auch nicht unter zutreffenden Namen - als Tatverdächtiger<br />

in den Akten genannt sein (vgl. BGH GA 1961, 239, 240; BGHR StGB § 78c Abs. 1 Beschuldigter 1;<br />

BGHSt 24, 321, 323; 42, 283, 290; BGH, Beschluss vom 6. März 2007 - KRB 1/07, NStZ 2008, 158, 159). Eine<br />

Untersuchungshandlung in einem Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt genügt dagegen zur Verjährungsunterbrechung<br />

nicht (vgl. RGSt 6, 212, 214; BGHSt 2, 54, 55; Fischer, StGB, 60. Aufl., § 78c Rn. 4; Rosenau in Satzger/Schmitt/Widmaier,<br />

StGB, § 78c Rn. 5; Rudolphi/Wolter in SK-StGB, 8. Aufl., § 78c Rn. 6; Schmid in LK,<br />

StGB, 12. Aufl., § 78c Rn. 3).<br />

b) Nach diesen Maßstäben kommt den Beauftragungen der Sachverständigen durch die genannten richterlichen Beschlüsse<br />

keine Unterbrechungswirkung zu. Das ursprünglich gegen den Angeklagten gerichtete Ermittlungsverfahren<br />

war mit Verfügung der Staatsanwaltschaft Trier vom 13. Oktober 1987 gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO mangels<br />

hinreichenden Tatverdachts eingestellt worden. In der Folge wurde das Verfahren gegen Unbekannt weitergeführt<br />

<strong>und</strong> erst am 15. Oktober 2008 gegen den Angeklagten wiederaufgenommen. Die Beschlüsse ergingen somit zu einem<br />

Zeitpunkt, in dem das Verfahren gerade nicht auf den Angeklagten als individualisierten Tatverdächtigen zielte.<br />

Vielmehr sollte durch die in Auftrag gegebenen molekulargenetischen Untersuchungen (insbesondere von Spurenmaterial)<br />

der Täter erst ermittelt werden. Dementsprechend ist auch im Rubrum der Beschlüsse ausdrücklich aufgenommen,<br />

dass das Verfahren gegen Unbekannt geführt werde. Eine andere Beurteilung ist auch nicht deswegen<br />

geboten, weil das Verfahren vor der Beauftragung der Sachverständigen schon einmal gegen den Angeklagten gerichtet<br />

<strong>und</strong> dieser am 6. Juli 1987 als Beschuldigter vernommen worden war. Bei wertender Betrachtung macht es<br />

keinen Unterschied, ob das Ermittlungsverfahren von vornherein gegen Unbekannt geführt oder ob der Beschuldigte<br />

- 35 -


vor der Unterbrechungshandlung durch eine Verfahrenseinstellung gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO aus dem Kreis<br />

der Tatverdächtigen ausgeschieden worden ist. Wegen der Bedeutung der Verjährung <strong>und</strong> der Rechtssicherheit im<br />

Hinblick auf ihren Ablauf (BGH, Beschluss vom 6. März 2007 - KRB 1/07, NStZ 2008, 158, 159) ist allein darauf<br />

abzustellen, ob der Beschuldigte zum Zeitpunkt der Unterbrechungshandlung - hier der Beauftragung der Sachverständigen<br />

gemäß § 78c Abs. 1 Nr. 3 StGB - aus den Akten als Tatverdächtiger hervorgeht. Hierfür spricht auch, dass<br />

die Vorschriften über die Unterbrechung der Verjährung als Ausnahmevorschriften eng auszulegen sind (vgl. BGHSt<br />

28, 381, 382). Hieran ändert es auch nichts, dass der Angeklagte vor der Einstellung des gegen ihn zunächst geführten<br />

Ermittlungsverfahrens als Beschuldigter vernommen worden <strong>und</strong> damit diese in § 78c Abs. 1 Nr. 3 StGB vorgesehene<br />

Voraussetzung für die Unterbrechung der Verjährungsfrist erfüllt war; denn vom Schutzzweck des § 78c Abs.<br />

1 Nr. 3 StGB aus gesehen ist ein Beschuldigter, gegen den ohne sein Wissen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet<br />

wurde, einem (früheren) Beschuldigten gleichzustellen, dessen Ermittlungsverfahren nach seiner Vernehmung gemäß<br />

§ 170 Abs. 2 Satz 1 StPO eingestellt worden ist. In beiden Fällen hat der Beschuldigte keine Kenntnis von den<br />

gegen ihn gerichteten Ermittlungen, obwohl in deren Rahmen - möglicherweise mehrfach - Unterbrechungshandlungen<br />

erfolgen können (vgl. Sternberg-Lieben/Bosch in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 78c Rn. 11). Der Umstand,<br />

dass das Verfahren mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt <strong>und</strong> ihm dies - wie hier - mitgeteilt worden<br />

ist, gibt einem Beschuldigten gerade keinen Anlass, noch mit weiteren gegen ihn gerichteten Ermittlungen zu rechnen.<br />

Von der Wiederaufnahme der Ermittlungen gegen ihn erfuhr der Angeklagte erst mit der auf den 1. September<br />

2011 datierten Ladung zur erkennungsdienstlichen Behandlung. Die mit dem Erfordernis der vorherigen Bekanntgabe<br />

der Ermittlungen bzw. der Vernehmung als Beschuldigter (vgl. §§ 163a, 136 StPO) bezweckte Informationsfunktion<br />

(vgl. BGHSt 30, 215, 217) ist bei dieser Sachlage nicht gewahrt.<br />

2. Das Landgericht hat in der vorliegenden Fallkonstellation zu Recht auf Freispruch <strong>und</strong> nicht auf Einstellung des<br />

Verfahrens erkannt (vgl. BGHSt 50, 16, 30; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 260 Rn. 46).<br />

StGB § 145a Satz 1, § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 3, Satz 2<br />

BGH, Urt. v. 07.02.2013 - 3 StR 486/12 - NJW 2013, 1894<br />

LS: 1. Die Strafbarkeit wegen Verstoßes gegen Weisungen während der Führungsaufsicht setzt voraus,<br />

dass die Weisung eindeutig <strong>und</strong> so fest umrissen ist, wie dies vom Tatbestand einer Strafnorm<br />

zu verlangen ist.<br />

2. Diesen Anforderungen genügen die Weisung, keinen Kontakt zu Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen unter<br />

16 Jahren aufzunehmen, sowie das Verbot, sich an Orten wie Kinderspielplätzen, Kindergärten,<br />

Schulen u.a. aufzuhalten, an denen sich üblicherweise Kinder <strong>und</strong> Jugendliche unter 16 Jahren befinden.<br />

3. Die Weisung, keinen Kontakt zu Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen unter 16 Jahren aufzunehmen, untersagt<br />

es dem Verurteilten, aus eigenem Antrieb <strong>und</strong> aktiv einen unmittelbaren Kontakt zu einem<br />

Mitglied der genannten Personengruppe herzustellen.<br />

Der 3. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat in der Sitzung am 7. Februar 2013 für Recht erkannt: Auf die Revision<br />

der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Neubrandenburg vom 29. März 2012 mit den Feststellungen<br />

aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an<br />

eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf, während der Führungsaufsicht gegen Weisungen verstoßen zu<br />

haben, aus Rechtsgründen freigesprochen. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft.<br />

Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. Nach den Feststellungen des<br />

Landgerichts ist der Angeklagte mehrfach vorbestraft, unter anderem wegen Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern.<br />

Zuletzt wurde er wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch eines Kindes<br />

unter Einbeziehung einer Vorverurteilung zu einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt.<br />

Dem lag zugr<strong>und</strong>e, dass der Angeklagte gegen den Widerstand eines zwölf Jahre alten Jungen an dessen Penis<br />

- 36 -


manipuliert <strong>und</strong> diesen in den M<strong>und</strong> genommen hatte. Nachdem die Strafvollstreckung am 1. August 2008 erledigt<br />

war, stand der Angeklagte bis zum 31. Juli 2012 unter Führungsaufsicht. Der Beschluss über die Ausgestaltung der<br />

Führungsaufsicht enthielt u.a. die Weisungen, "keinerlei Kontakt zu Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen unter 16 Jahren aufzunehmen"<br />

<strong>und</strong> "sich nicht an Orten, wo sich üblicherweise Kinder <strong>und</strong> Jugendliche unter 16 Jahren befinden - Kinderspielplätze,<br />

Kindergärten, Schulen u.a. - aufzuhalten". Im Sommer 2009 lernte der Angeklagte eine Frau mit einem<br />

damals fünfjährigen Sohn kennen, zu der er eine fre<strong>und</strong>schaftliche Verbindung aufbaute. Inzwischen ist er mit<br />

ihr verlobt. Im Zeitraum von September 2009 bis zum 21. Juni 2010 kam es in mindestens 19 Fällen zu Kontakten<br />

zwischen dem Angeklagten <strong>und</strong> dem Sohn seiner Fre<strong>und</strong>in, den er teilweise allein beaufsichtigte <strong>und</strong> mit dem er<br />

auch Spielplätze aufsuchte. Von der Aufnahme der Beziehung zu dieser Frau berichtete er nach "einiger Zeit" der<br />

Bewährungshelferin als Mitarbeiterin der Führungsaufsichtsstelle, die die Vollstreckungsleiterin unterrichtete. Maßnahmen<br />

im Rahmen der Führungsaufsicht wurden daraufhin nicht ergriffen. Die Strafkammer ist der Auffassung,<br />

eine Bestrafung des Angeklagten nach § 145a StGB komme nicht in Betracht, da die genannten Weisungen nicht<br />

hinreichend bestimmt seien <strong>und</strong> ihre Einhaltung dem Angeklagten nicht habe zugemutet werden können. Dies hält<br />

sachlichrechtlicher Überprüfung nicht stand.<br />

1. Ein in § 145a Satz 1 StGB mit Strafe bedrohter Verstoß gegen eine Weisung im Rahmen der Führungsaufsicht<br />

liegt vor, wenn der Betroffene das ihm auferlegte Verhalten nicht oder nicht vollständig erfüllt <strong>und</strong> dadurch der<br />

Zweck der Maßregel gefährdet wird. Ein solcher Verstoß unterfällt aber nur dann dem objektiven Tatbestand, wenn<br />

die fragliche Weisung hinreichend bestimmt ist; denn im Rahmen des § 145a Satz 1 StGB wird das strafbare Verhalten<br />

wesentlich durch den Inhalt der Weisung festgelegt. Dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG ist deshalb<br />

nur dann Genüge getan, wenn die betreffende Weisung eindeutig <strong>und</strong> so fest umrissen ist, wie dies von dem Tatbestand<br />

einer Strafnorm zu verlangen ist. Dem Betroffenen muss mit der Weisung unmittelbar verdeutlicht werden,<br />

welches Tun oder Unterlassen von ihm erwartet wird, so dass er sein Verhalten danach ausrichten kann (vgl.<br />

BVerfG, Beschluss vom 24. September 2011 - 2 BvR 1165/11, StV 2012, 481 zu Weisungen nach § 56c StGB;<br />

BGH, Urteil vom 18. Dezember 2012 - 1 StR 415/12, NJW 2013, 710 f.; LK/Roggenbuck, StGB, 12. Aufl., § 145a<br />

Rn. 8; aus der obergerichtlichen Rechtsprechung vgl. etwa OLG München, Beschluss vom 26. März 2009 - 5 St RR<br />

52/09, NStZ 2010, 218 f.; OLG Oldenburg, Beschluss vom 5. Januar 2009 - 1 Ws 758/08, StV 2009, 542; OLG<br />

<strong>Hamm</strong>, Beschluss vom 28. September 2010 - III 3 Ws 393/10, NStZ-RR 2011, 141; OLG Dresden, Beschlüsse vom<br />

12. März 2008 - 2 Ws 125/08, NStZ-RR 2008, 326 f.; vom 27. Oktober 2009 - 2 Ws 509/09, StV 2010, 642 f.). Diesen<br />

Anforderungen an ihre Bestimmtheit werden die genannten Weisungen gerecht.<br />

a) Die Weisung, keinen Kontakt zu Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen unter 16 Jahren aufzunehmen, hat ihre gesetzliche<br />

Gr<strong>und</strong>lage in § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB. Dort ist ausdrücklich bestimmt, dass die verurteilte Person angewiesen<br />

werden kann, zu Personen einer bestimmten Gruppe, die ihr Anreiz zu weiteren Straftaten bieten können, keinen<br />

Kontakt aufzunehmen. Dies ist dahin zu verstehen, dass es dem Verurteilten untersagt ist, aus eigenem Antrieb <strong>und</strong><br />

aktiv einen unmittelbaren Kontakt zu einem Mitglied der Personengruppe herzustellen (vgl. BR-Drucks. 256/06 S.<br />

33 f.). Nichts anderes gilt für das Verständnis der hier vorliegenden, die Terminologie des Gesetzestextes insoweit<br />

wortgleich übernehmenden Weisung. Damit ist dieser das vom Angeklagten erwartete Verhalten ausreichend deutlich<br />

zu entnehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Mai 2008 - 1 StR 243/08, NStZ-RR 2008, 277). Die ebenfalls in §<br />

68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB vorgesehene Weisung, mit bestimmten Personen nicht zu verkehren, d.h. mit ihnen in<br />

Fortsetzung der Kontaktaufnahme umzugehen (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 29. November 2007 - 1 Ws<br />

716/07, juris Rn. 15), ist in dem Beschluss über die Ausgestaltung der Führungsaufsicht nicht enthalten. Nach alldem<br />

folgt aus der hier erteilten Weisung ein Verbot des Umgangs mit Erwachsenen, die Kinder haben, oder des über<br />

diese vermittelten Verkehrs mit ihren Kindern entgegen der Auffassung der Strafkammer nicht.<br />

b) Auch das auf § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB gestützte Verbot, sich an Orten, an denen sich üblicherweise Kinder<br />

<strong>und</strong> Jugendliche unter 16 Jahren befinden - Kinderspielplätze, Kindergärten, Schulen u.a. -, aufzuhalten, genügt den<br />

Bestimmtheitsanforderungen. Da eine enumerative Aufzählung aller denkbaren Orte, die der verurteilten Person<br />

Gelegenheit oder Anreiz zu weiteren Straftaten bieten können, regelmäßig nicht möglich oder tunlich ist, muss es<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich ausreichen, solche Örtlichkeiten, deren Aufsuchen dem Angeklagten untersagt werden soll, ihrer Art<br />

nach zu bezeichnen (vgl. Fischer, StGB, 60. Aufl., § 68b Rn. 4); denn andernfalls würde § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2<br />

StGB weitgehend leerlaufen. Im vorliegenden Fall sind die betreffenden Orte durch die beispielhafte Aufzählung<br />

bestimmter Plätze zusätzlich eingegrenzt. Hierdurch wird ausreichend klar, dass lediglich solche Orte gemeint sind,<br />

an denen sich nach ihrer Zweckbestimmung Kinder <strong>und</strong> Jugendliche unter 16 Jahren typischerweise aufhalten. Der<br />

Angeklagte kann als Adressat der Weisung dieser deshalb mit genügender Sicherheit entnehmen, welche Örtlichkei-<br />

- 37 -


ten er zu meiden hat (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 11. Februar 2008 - 2 BvR 160/08, NJW 2008, 2493; BGH,<br />

Beschluss vom 28. Mai 2008 - 1 StR 243/08, NStZ-RR 2008, 277 f.; OLG Nürnberg, Beschluss vom 29. November<br />

2007 - 1 Ws 716/07).<br />

2. Entgegen der Meinung des Landgerichts waren die erteilten Weisungen auch nicht gemäß § 68b Abs. 3 StGB<br />

deshalb unzulässig, weil ihre Einhaltung dem Angeklagten nicht zumutbar war. Dies ist etwa der Fall bei Weisungen,<br />

die gegen uneinschränkbare Gr<strong>und</strong>rechte verstoßen oder sonst einen unzumutbaren Eingriff in die Lebensführung<br />

des Verurteilten enthalten (vgl. Fischer aaO § 56c Rn. 2a f.; LK/Roggenbuck aaO § 145a Rn. 10). Bei den hier in<br />

Rede stehenden Beschränkungen für den Angeklagten, wie sie sich bei dem aufgezeigten, zutreffendem Verständnis<br />

des Inhalts der Weisungen ergeben, kommt dies ersichtlich nicht in Betracht (vgl. BVerfG aaO). Die dem entgegen<br />

stehenden Bedenken des Landgerichts, dem Angeklagten sei es bei Einhaltung der Weisungen nicht möglich, ein<br />

menschenwürdiges Leben zu führen, beruhen offensichtlich wesentlich auf der rechtsfehlerhaften Bestimmung des<br />

sachlichen Gehalts der Weisungen durch die Strafkammer, die diesen zu weitreichende Verbote entnommen hat.<br />

3. Auf der rechtsfehlerhaften Bewertung der Weisungen durch die Strafkammer beruht das Urteil auch. Zwar legen<br />

die Feststellungen es nahe, dass der Angeklagte mit dem Sohn seiner Fre<strong>und</strong>in nur mittelbar über sie in Kontakt<br />

gekommen ist <strong>und</strong> er mit diesem im Weiteren verkehrt hat. Allein dieses Verhalten war ihm durch die betreffenden<br />

Weisungen nicht untersagt. Auch dass er das Kind in Absprache mit der Mutter allein beaufsichtigt hat, stellt in diesem<br />

Zusammenhang nur einen von den Weisungen nicht untersagten Umgang mit dem Kind dar. Es ist gleichwohl<br />

nicht auszuschließen, dass die Strafkammer bei rechtsfehlerfreiem Verständnis der Weisung weitere Feststellungen<br />

hätte treffen können, die den Tatbestand des § 145a Satz 1 StGB erfüllen. So sind insbesondere die näheren Umstände<br />

der Spielplatzbesuche nicht dargetan. Der Senat kann somit auch nicht prüfen, ob die in diesem Zusammenhang<br />

unter Umständen gegebenen Weisungsverstöße geeignet waren, den Zweck der Maßregel zu gefährden. Die Sache<br />

bedarf deshalb insgesamt erneuter tatgerichtlicher Prüfung <strong>und</strong> Entscheidung.<br />

StGB § 184b Abs. 2 <strong>und</strong> 4 Verbale Schilderung konderpornografischer Handlungen in E-Mail<br />

BGH, Beschl. v. 19.03.2013 – 1 StR 8/13- BeckRS 2013, 10642<br />

LS: Bei einer E-Mail, in der lediglich mit Worten der an einem Kind vorgenommene sexuelle Missbrauch<br />

geschildert wird, handelt es sich nicht um eine kinderpornographische Schrift, die im Sinne<br />

von § 184b Abs. 2 <strong>und</strong> 4 StGB ein tatsächliches oder wirklichkeitsnahes Geschehen wiedergibt.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 17. September 2012<br />

a) aufgehoben, soweit der Angeklagte im Fall II. 1 Buchst. b der Urteilsgründe wegen Besitzverschaffens von kinderpornogra-phischen<br />

Schriften verurteilt worden ist; insoweit wird der An-geklagte freigesprochen <strong>und</strong> werden die<br />

Kosten des Verfah-rens <strong>und</strong> die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse auferlegt;<br />

b) im Schuldspruch dahingehend geändert, dass der Angeklagte des Sichverschaffens von kinderpornographischen<br />

Schriften in Tatmehrheit mit Besitzverschaffen von kinderpornographi-schen Schriften in Tatmehrheit mit Besitz<br />

kinderpornographi-scher Schriften in Tatmehrheit mit Besitzverschaffen von ju-gendpornographischen Schriften in<br />

drei Fällen schuldig ist,<br />

c) im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe mit der Maßgabe aufgehoben, dass eine nachträgliche gerichtliche<br />

Entschei-dung über die Gesamtstrafe nach §§ 460, 462 StPO, auch über die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels,<br />

zu treffen ist.<br />

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Sichverschaffens von kin-derpornographischen Schriften in Tatmehrheit<br />

mit Besitzverschaffen von kin-derpornographischen Schriften in zwei Fällen in Tatmehrheit mit Besitz kinderpornographischer<br />

Schriften in 1020 tateinheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit Besitzverschaffen von jugendpornographischen<br />

Schriften in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren <strong>und</strong> zehn Monaten verurteilt.<br />

Die hiergegen gerichtete <strong>und</strong> auf die Verletzung formellen <strong>und</strong> materiel-len Rechts gestützte Revision des Angeklagten<br />

hat mit der Sachrüge teilweise Erfolg.<br />

A.<br />

Das Landgericht hat folgende Feststellungen <strong>und</strong> Wertungen getroffen:<br />

I.<br />

- 38 -


Der Angeklagte tauschte im Zeitraum von August 2010 bis August 2011 wiederholt kinder- <strong>und</strong> jugendpornographisches<br />

Material per E-Mail mit anderen Internetnutzern aus.<br />

Am 22. August 2010 sowie am 11. <strong>und</strong> 21. September 2010 versandte er jeweils ein Video mit jugendpornographischen<br />

Inhalten (Fälle II. 3 Buchst. a bis c der Urteilsgründe) <strong>und</strong> am 7. November 2010 ein Video mit kinderpornographischem<br />

Inhalt (Fall II. 3 Buchst. d der Urteilsgründe) an andere Nutzer.<br />

Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt zwischen dem 1. Juli 2011 <strong>und</strong> dem 23. Juli 2011 erhielt der Angeklagte<br />

auf eigene Aufforderung von dem Mitangeklagten H. zwei kinderpornographische Nacktfotos von dessen<br />

fünfjährigem Sohn per E-Mail übersandt. Er speicherte diese Bilder auf seinem Computer ab (Fall II. 1 Buchst. a der<br />

Urteilsgründe). In einer E-Mail an H. vom 11. Juli 2011 beschrieb der Angeklagte, wie er an dem entblößten Penis<br />

des dreijährigen Sohnes eines Fre<strong>und</strong>es manipuliert habe, bis dieser erigiert sei, <strong>und</strong> wie zunächst er an dem Kind<br />

<strong>und</strong> sodann das Kind an ihm den Oralverkehr ausgeführt habe (Fall II. 1 Buchst. b der Urteilsgründe).<br />

Bei einer am 19. August 2011 durchgeführten Durchsuchung der Wohnung des Angeklagten in L. wurden auf diversen<br />

Speichermedien insgesamt 812 Bilder <strong>und</strong> 208 Videos mit kinderpornographischen Inhalten aufgef<strong>und</strong>en, die der<br />

Angeklagte dort wissentlich <strong>und</strong> willentlich aufbewahrt hatte (Fall II. 2 der Urteilsgründe).<br />

II.<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten im Fall II. 1 Buchst. a der Urteilsgründe wegen Sichverschaffens von kinderpornographischen<br />

Schriften gemäß § 184b Abs. 4 Satz 1 StGB, in den Fällen II. 1 Buchst. b <strong>und</strong> II. 3 Buchst. d der<br />

Urteilsgründe wegen Besitzverschaffens von kinderpornographischen Schriften gemäß § 184b Abs. 2 StGB <strong>und</strong> in<br />

den Fällen II. 3 Buchst. a bis c der Urteilsgründe wegen Besitzverschaffens von jugendpornographischen Schriften<br />

gemäß § 184c Abs. 2 StGB verurteilt. Darüber hinaus hat es den Angeklagten im Fall II. 2 der Urteilsgründe des<br />

Besitzes kinderpornographischer Schriften<br />

(§ 184b Abs. 4 Satz 2 StGB) in 1.020 tateinheitlichen Fällen schuldig gesprochen.<br />

B.<br />

Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen<br />

ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.<br />

I.<br />

Die Verurteilung des Angeklagten wegen Besitzverschaffens von kinderpornographischen Schriften im Fall II. 1<br />

Buchst. b der Urteilsgründe hält sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand. Zwar wird mit einer E-Mail, in der mit<br />

Worten von einem sexuellen Missbrauch von Kindern berichtet wird, dem Empfänger eine „kinderpornographische<br />

Schrift“ i.S.d. § 184b Abs. 2 StGB verschafft (nachfolgend 1.). Die vom Angeklagten übermittelten E-Mails geben<br />

jedoch trotz ihres kinderpornographischen Inhalts keine „tatsächlichen“ oder „wirklichkeitsnahen“ Geschehnisse im<br />

Sinne dieser Vorschrift wieder <strong>und</strong> erfüllen den Tatbestand des § 184b Abs. 2 StGB daher nicht (nachfolgend 2.).<br />

1. In der elektronischen Übermittlung einer E-Mail mit kinderpornographischem Inhalt (im Text der E-Mail oder in<br />

einem ihr beigefügten Dateianhang) an einen anderen liegt die Verschaffung des Besitzes an einer kinderpornographischen<br />

Schrift i.S.v. § 184b Abs. 2 StGB (vgl. Ziegler in Beck-OK-StGB, § 184b Rn. 12; zu § 184 Abs. 3 StGB aF<br />

bereits BayObLG, Beschluss vom 27. Juni 2000 - 5 St RR 122/00, NJW 2000, 2911, 2912).<br />

a) Für die Besitzverschaffung genügt bei der Versendung von E-Mails in Datennetzen, dass die elektronischen Nachrichten<br />

- wenn auch nur vorübergehend - in den Arbeitsspeicher beim Empfänger gelangen (Laufhütte/ Roggenbuck<br />

in Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl., § 184b Rn. 8 mwN; vgl. zur Verbreitung i.S.d. § 184 Abs. 5 aF bereits<br />

BGH, Urteil vom 27. Juni 2001 - 1 StR 66/01, BGHSt 47, 55; entsprechend zum Cache-Speicher vgl. auch<br />

BGH, Beschluss vom 10. Oktober 2006 - 1 StR 430/06, NStZ 2007, 95). Genau darauf richtet sich aber regelmäßig<br />

die Absicht des Versenders. Den in § 184b Abs. 2 StGB genannten Schriften stehen Datenspeicher gleich (§ 11 Abs.<br />

3 StGB).<br />

Entgegen der Auffassung der Revision steht es der Anwendung des § 184b Abs. 2 StGB nicht entgegen, wenn E-<br />

Mails - wie hier - jeweils nur an einen einzelnen Empfänger gerichtet sind. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus<br />

der von der Revision in Bezug genommenen <strong>und</strong> in BGHSt 13, 375 abgedruckten Entscheidung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs<br />

(BGH, Urteil vom 22. Dezember 1959 - 3 StR 52/59). Dieses Urteil bezieht sich allein auf Werbemittel der<br />

Propaganda i.S.v. § 93 StGB aF <strong>und</strong> verlangt ausgehend vom Schutzzweck der Norm, dass der Erklärungsinhalt<br />

einem größeren Personenkreis zugänglich gemacht werden soll (BGH aaO S. 376). Demgegenüber sollte mit dem<br />

Straftatbestand des § 184b Abs. 2 StGB gerade auch der Umgang mit kinderpornographischen Schriften in geschlossenen<br />

Benutzerräumen <strong>und</strong> in Zweipersonenverhältnissen unter Strafe gestellt werden (BT-Drucks. 15/350, S. 20).<br />

- 39 -


) Als inkriminierte Inhalte kinderpornographischer „Schriften“ kommen gr<strong>und</strong>sätzlich auch Darstellungen in Betracht,<br />

in denen der sexuelle Missbrauch von Kindern nur mit Worten beschrieben wird. Eine Beschränkung des Be<br />

griffsverständnisses von „Kinderpornographie“ auf bildliche Darstellungen, wie sie etwa Rechtsakten der Europäischen<br />

Union zugr<strong>und</strong>e liegt (vgl. Art. 1b des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates zur Bekämpfung der sexuellen<br />

Ausbeutung von Kindern <strong>und</strong> der Kinderpornographie vom 22. Dezember 2003, ABl. EU Nr. L 13/44 vom 20.<br />

Januar 2004, <strong>und</strong> die Erwägungsgründe 3 sowie 46 der Richtlinie 2011/93/EU des Europäischen Parlaments <strong>und</strong> des<br />

Rates zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs <strong>und</strong> der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie zur Ersetzung<br />

des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates vom 13. Dezember 2011, ABl. EU Nr. L 335/1 vom 17. Dezember<br />

2011, <strong>und</strong> Nr. L 18/7 vom 21. Januar 2012) hat der B<strong>und</strong>esgesetzgeber bewusst nicht vorgenommen; vielmehr hat er<br />

für § 184b StGB am - weiter gehenden - Schriftenbegriff festgehalten (vgl. BT-Drucks. 16/9646, S. 10 f.). Die Normierung<br />

dieses im Verhältnis zu den Rechtsakten der Europäischen Union höheren strafrechtlichen Schutzniveaus<br />

liegt im gesetzgeberischen Ermessen.<br />

2. Innerhalb des § 184b StGB beschränken jedoch § 184b Abs. 2 <strong>und</strong> 4 StGB den strafbaren Besitz <strong>und</strong> die Besitzverschaffung<br />

kinderpornographischer Schriften auf solche Schriften, die ein „tatsächliches“ oder „wirklichkeitsnahes“<br />

Geschehen wiedergeben. Dadurch soll die Erfassung erkennbar künstlicher Produkte ausgeschlossen werden<br />

(vgl. Lenckner/Perron/Eisele in Schönke/ Schröder, StGB, 27. Aufl., § 184b Rn. 11; Fischer, StGB, 60. Aufl., § 184b<br />

Rn. 13). Ein solches „tatsächliches“ oder „wirklichkeitsnahes“ Geschehen enthalten die E-Mails des Angeklagten,<br />

die lediglich in Worten von tatsächlich vorgenommenen Missbrauchshandlungen berichten, nicht.<br />

a) Allerdings ist im Schrifttum umstritten, ob auch Darstellungen mit Worten die Wiedergabe „tatsächlicher“ oder<br />

„wirklichkeitsnaher“ Geschehnisse i.S.d. § 184b Abs. 2 StGB beinhalten können.<br />

Zum Teil wird dies für Texte bejaht, bei denen es sich nicht um erkennbare „Fiktivpornographie“ wie bei Romanen<br />

oder Gedichten, sondern um Schriftstücke oder Darstellungen mit wirklichkeitsgetreuer Beschreibung eines realen<br />

Geschehens handelt (vgl. Lenckner/Perron/Eisele in Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl., § 184b Rn. 11). Überwiegend<br />

wird in der Literatur jedoch die Auffassung vertreten, die Strafnorm des § 184b Abs. 2 StGB erfasse verbale<br />

Darstellungen selbst dann nicht, wenn sie sich auf ein tatsächliches Geschehen beziehen oder einem solchen nachempf<strong>und</strong>en<br />

sind (vgl. Laufhütte/Roggenbuck in Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl., § 184b Rn. 11; Lackner/Kühl,<br />

StGB, 26. Aufl., § 184b Rn. 6; Ziegler in Beck-OK-StGB, § 184b Rn. 6; Fischer aaO Rn. 13). Anders sei<br />

dies nur dann, wenn die geschehenen sexuellen Handlungen in der „Nacherzählung“ auch fotografisch abgebildet<br />

würden (Hörnle in MüKo-StGB, 2. Aufl., § 184b Rn. 26).<br />

b) Die Auslegung des § 184b Abs. 2 StGB ergibt, dass die Beschreibung von Missbrauchshandlungen an Kindern in<br />

Worten nicht als Wiedergabe eines „tatsächlichen“ oder „wirklichkeitsnahen“ Geschehens anzusehen ist.<br />

Ein gewisser Realitätsbezug ist zwar auch bei Darstellungen in Worten vorstellbar, etwa wenn darin auf ein tatsächlich<br />

erlebtes Geschehen „Bezug genommen“ wird. Die Gesetzgebungsgeschichte zeigt indes, dass der Gesetzgeber<br />

bei der Schaffung der maßgeblichen Regelungen <strong>und</strong> der Einführung der Begriffe „tatsächlich“ <strong>und</strong> „wirklichkeitsnah“<br />

ein anderes Vorstellungsbild hatte, das auf Darstellungen in Worten nicht zutreffen kann:<br />

aa) Der Straftatbestand des § 184 Abs. 5 StGB aF, die durch das 27. StrafrechtsÄndG vom 23. Juli 1993 (BGBl. I, S.<br />

1346) eingeführte Vorgän gernorm des § 184b Abs. 2 StGB, stellte die Besitzverschaffung im Zweipersonenverhältnis<br />

nur für solche Schriften unter Strafe, die ein „tatsächliches“ Geschehen wiedergeben.<br />

In der Begründung des Gesetzentwurfs (BT-Drucks. 12/3001, S. 4 ff.) wurde namentlich auf die Verbreitung kinderpornographischen<br />

Bild- <strong>und</strong> Videomaterials (S. 4) <strong>und</strong> - konkret - auf „kinderpornographische Filme, Videofilme,<br />

Photographien oder authentische Tonaufnahmen“ (S. 5) Bezug genommen. Die B<strong>und</strong>esregierung stellte ergänzend<br />

klar, dass der Straftatbestand „auf die Fälle beschränkt bleiben“ solle, „in denen durch Videofilm, Film oder Foto ein<br />

tatsächliches Geschehen wiedergegeben wird“. Demgegenüber sah sie bei „kinderpornographischen Romanen,<br />

Zeichnungen <strong>und</strong> Zeichentrickfilmen“ den Strafgr<strong>und</strong> der Regelung nicht als erfüllt an, weil deren Besitz nicht dazu<br />

beitrage, dass Kinder als „Darsteller“ bei pornographischen Aufnahmen missbraucht würden (BT-Drucks. 12/3001,<br />

Anlage 3, S. 10).<br />

Noch weiter ging der Rechtsausschuss des B<strong>und</strong>estages: Er empfahl auch für den neuen Qualifikationstatbestand des<br />

banden- <strong>und</strong> gewerbsmäßigen Umgangs mit kinderpornographischen Schriften (§ 184 Abs. 4 StGB aF) eine Beschränkung<br />

auf Darstellungen, die ein „tatsächliches“ Geschehen wiedergeben (BT-Drucks. 12/4883, S. 5). Der<br />

Ausschuss begründete dies mit Bedenken, die erhöhte Mindeststrafe in § 184 Abs. 4 StGB aF auch für Fälle anzuwenden,<br />

„in denen lediglich Zeichnungen oder wörtliche Darstellungen gewerbs- oder bandenmäßig verbreitet wer-<br />

- 40 -


den“. Denn deren Entstehung sei „regelmäßig nicht mit einem tatsächlichen sexuellen Missbrauch eines Kindes<br />

verb<strong>und</strong>en“ (aaO S. 8).<br />

bb) Auch die Ausdehnung des § 184 Abs. 5 StGB aF auf die Darstellung „wirklichkeitsnaher“ Geschehnisse durch<br />

das Gesetz zur Regelung der Rahmenbedingungen für Informations- <strong>und</strong> Kommunikationsdienste (IuKDG) vom 22.<br />

Juli 1997 (BGBl. I, S. 1870) sollte keine Erweiterung der Besitzverschaffungstatbestände auf Darstellungen in Worten<br />

bewirken. Die Erweiterung des Tatbestandes diente vielmehr der Beseitigung von Beweisschwierigkeiten, die<br />

sich aus der zunehmenden Perfektionierung virtueller Darstellungsformen ergaben. Im Gesetzgebungsverfahren<br />

wurde ausdrücklich hervorgehoben, dass „im Hinblick auf die rasant fortschreitende Entwicklung digitaler Bildbearbeitungstechniken<br />

[…] nahezu perfekte Scheinwelten produziert werden“ könnten (BT-Drucks. 13/7934, S. 31). Die<br />

abschließende Begründung in der Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses nahm ausdrücklich Bezug<br />

auf Fälle, „in denen […] nicht ausgeschlossen werden kann, daß es sich um fiktive Darstellungen handelt, wobei vor<br />

allem an virtuelle Sequenzen in Datennetzen zu denken ist“ (aaO S. 41 zu „Art. 4 Nr. 3“, tatsächlich Art. 4 Nr. 4).<br />

cc) Die Besitzverschaffungstatbestände des § 184 Abs. 5 StGB aF wurden bei der Neuordnung der §§ 184 ff. StGB<br />

durch das Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung <strong>und</strong> zur<br />

Änderung anderer Vorschriften (SexualDelÄndG) vom 27. Dezember 2003 (BGBl. I, 3007, 3009 [Nr. 18]) inhaltlich<br />

unverändert in § 184b Abs. 2 StGB nF (Fremdbesitzverschaffung) <strong>und</strong> § 184b Abs. 4 StGB nF (Eigenbesitzverschaffung)<br />

überführt.<br />

d) Eine Beschränkung der Besitzverschaffungstatbestände auf bildliche Darstellungen <strong>und</strong> (authentische) Tonaufnahmen<br />

entspricht auch dem abgestuften Schutzkonzept des § 184b StGB. Danach werden bestimmte Handlungen<br />

(z.B. Herstellen, Verbreiten) bezüglich aller kinderpornographischen <strong>und</strong> diesen gleichstehenden Darstellungen (§ 11<br />

Abs. 3 StGB) unter Strafe gestellt (§ 184b Abs. 1 StGB), die bloße Besitzverschaffung von solchen Darstellungen<br />

aber nur, wenn sie ein „tatsächliches“ oder „wirklichkeitsnahes“ Geschehen wiedergeben (§ 184b Abs. 2 <strong>und</strong> 4<br />

StGB). Erkennbar liegt dem die Annahme des Gesetzgebers zugr<strong>und</strong>e, dass gerade von letzteren gegenüber sonstigen<br />

kinderpornographischen Darstellungen eine erhöhte Gefahr ausgeht, einen Anreiz dafür zu bilden, Kinder zur Herstellung<br />

solcher Darstellungen sexuell zu missbrauchen (s.o. sub aa).<br />

Die erhöhte Gefährlichkeit bildlicher oder videografischer Darstellungen sowie authentischer Tonaufnahmen besteht<br />

im Übrigen auch darin, dass dem Betrachter das Missbrauchsgeschehen unmittelbar „vor Augen geführt“ wird. Der<br />

von ihnen bei Menschen mit entsprechender Neigung ausgelöste Reiz, solches Geschehen selbst mit Kindern zu<br />

wiederholen, dürfte in der Regel schon wegen des unmittelbaren Eindrucks auf den Konsumenten ungleich stärker<br />

sein als bei Beschreibungen, Trickfilmen oder Erzählungen, die, selbst wenn sie auf ein wirkliches Geschehen Bezug<br />

nehmen, dieses für den Leser, Betrachter oder Zuhörer stets nur mittelbar wiedergeben können.<br />

e) Auch das Erfordernis der Normenklarheit spricht dagegen, bloß verbale Schilderungen als Wiedergabe eines „tatsächlichen“<br />

oder „wirklichkeitsnahen“ Geschehens zu verstehen. Es ließen sich kaum generelle Kriterien finden, die<br />

eine klare Abgrenzung ermöglichten, wann ein Text ein Geschehen zumindest „wirklichkeitsnah“ wiedergibt. Damit<br />

hinge es von einem rechtlich kaum fassbaren Gesamteindruck ab, ob eine schriftliche Darstellung, etwa wegen ihrer<br />

Detailgenauigkeit, ihres Stils - Berichtsform oder erkennbar fiktive Schilderung - oder wegen ihres Bezuges auf<br />

tatsächlich existierende Personen als „wirklichkeitsnah“ oder - bei Nachweis eines vorausgegangenen tatsächlichen<br />

Missbrauchs - sogar als „tatsächlich“ eingestuft werden könnte. Zudem drohten Wertungswidersprüche zwischen<br />

nicht von § 184b Abs. 2 <strong>und</strong> 4 StGB erfassten erkennbar fiktiven bildlichen pornographischen Darstellungen <strong>und</strong><br />

detailgenauen, als „tatsächlich“ oder zumindest „wirklichkeitsnah“ eingestuften Textdarstellungen.<br />

3. Ausgehend von diesen Maßstäben ist die Verurteilung des Angeklagten im Fall II. 1 Buchst. b der Urteilsgründe<br />

aufzuheben. Er ist insoweit freizusprechen, weil die Schilderungen mit kinderpornographischem Inhalt in diesen E-<br />

Mails kein „tatsächliches“ oder „wirklichkeitsnahes“ Geschehen im Sinne von § 184b Abs. 2 StGB wiedergaben.<br />

II.<br />

Der Teilfreispruch im Fall II. 1 Buchst. b der Urteilsgründe zieht die Aufhebung der Gesamtfreiheitsstrafe nach sich.<br />

Der Senat kann zwar ausschließen, dass die für diese Tat verhängte Freiheitsstrafe von einem Jahr die Höhe der<br />

übrigen Einzelstrafen beeinflusst hat, nicht jedoch, dass das Landgericht ohne diese Einzelstrafe eine mildere als die<br />

verhängte Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren <strong>und</strong> zehn Monaten ausgesprochen hätte.<br />

Die Feststellungen sind von dem Rechtsfehler nicht betroffen; sie können daher aufrechterhalten werden.<br />

Im Übrigen hat die revisionsgerichtliche Nachprüfung des Urteils auf die Revisionsrechtfertigung hin weder zum<br />

Schuldspruch noch zum Strafausspruch weitere Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2<br />

StPO).<br />

- 41 -


1. Die von der Revision erhobene Aufklärungsrüge bleibt aus den vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt zutreffend ausgeführten<br />

Gründen ohne Erfolg.<br />

2. Die weitergehende Sachrüge dringt ebenfalls nicht durch.<br />

a) Insbesondere beschwert es den Angeklagten nicht, dass - worauf der Generalb<strong>und</strong>esanwalt in seiner Antragsschrift<br />

zutreffend hingewiesen hat - die tabellarische Zusammenstellung im Fall II. 2 der Urteilsgründe insgesamt 1.147<br />

Dateien, also mehr als die vom Landgericht ausgeurteilten 1.020 Dateien, mit kinderpornographischem Inhalt enthält.<br />

b) Im Ergebnis ist der Angeklagte in den Fällen II. 3 Buchst. a bis c der Urteilsgründe auch nicht dadurch beschwert,<br />

dass die der Verurteilung wegen Besitzverschaffens jugendpornographischer Schriften gemäß § 184c Abs. 2 StGB<br />

zugr<strong>und</strong>e liegende Videodatei zugleich auch Gegenstand der Verurteilung wegen Besitzes kinderpornographischer<br />

Schriften (Fall II. 2 der Urteilsgründe) war:<br />

aa) Eine Verurteilung wegen Besitzverschaffens jugendpornographischer Schriften nach § 184c Abs. 2 StGB in den<br />

Fällen II. 3 Buchst. a bis c der Urteilsgründe würde den Angeklagten auch dann nicht beschweren, wenn die Vi deodatei<br />

nicht als jugend-, sondern als kinderpornographische Datei einzustufen wäre, denn die Strafdrohung aus § 184b<br />

Abs. 2 StGB wäre strenger.<br />

bb) Auch verdrängt der Straftatbestand der Besitzverschaffung (§ 184b Abs. 2 StGB bzw. § 184c Abs. 2 StGB) denjenigen<br />

des Besitzes (§ 184b Abs. 4 Satz 2 StGB bzw. § 184c Abs. 4 Satz 2 StGB). Dies gilt unabhängig davon, ob<br />

sich die Tat auf eine jugendpornographische oder eine kinderpornographische Schrift (Datei) bezieht (vgl. auch<br />

BGH, Beschlüsse vom 4. August 2009 - 3 StR 174/09, StV 2010, 194, <strong>und</strong> vom 10. Juli 2008 - 3 StR 215/08, BGHR<br />

StGB § 184b StGB Konkurrenzen 1).<br />

c) Damit ist allerdings die Verurteilung des Angeklagten wegen Besitzes dieser Videodatei (Datei Nr. 959) als Besitz<br />

kinderpornographischer Schriften (§ 184b Abs. 4 StGB) im Fall II. 2 der Urteilsgründe neben seiner Verurteilung in<br />

den Fällen II. 3 Buchst. a bis c der Urteilsgründe rechtsfehlerhaft. Auch dies stellt im Ergebnis aber für den Angeklagten<br />

keine Beschwer dar, die zu einer Urteilsaufhebung im Fall II. 2 der Urteilsgründe nötigen würde.<br />

aa) Der Schuldspruch in diesem Fall hat Bestand, weil der Angeklagte gleichzeitig eine Vielzahl kinderpornographischer<br />

Dateien besessen hat. Ein gleichzeitiger Besitz mehrerer kinderpornographischer Schriften ist aber - unabhängig<br />

von der Anzahl der Schriften - immer nur „ein“ Besitz im Sinne von § 184b Abs. 4 StGB (vgl. auch BGH, Beschluss<br />

vom 10. Juli 2008 - 3 StR 215/08, BGHR StGB § 184b StGB Konkurrenzen 1). Zwar hat das Landgericht die<br />

Zahl der Dateien, die der Angeklagte zeitgleich im Besitz hatte, im Schuldspruch zum Ausdruck gebracht. Dies ist<br />

jedoch nicht erforderlich (vgl. BGH aaO), sodass der Senat den Schuldspruch insoweit entsprechend abändern kann.<br />

bb) Trotz des geringeren Schuldumfangs bei Nichtberücksichtigung dieser einen Videodatei kann auch der Einzelstrafausspruch<br />

im Fall II. 2 der Urteilsgründe Bestand haben. Denn angesichts der Vielzahl kinderpornographischer<br />

Dateien, die der Angeklagte in seinem Besitz hatte, kann der Senat ausschließen, dass das Landgericht in diesem Fall<br />

eine niedrigere Einzelstrafe als die von einem Jahr <strong>und</strong> sechs Monaten verhängt hätte, wenn es bei der Strafzumessung<br />

insoweit diese Videodatei außer Betracht gelassen hätte.<br />

V.<br />

Im Umfang der Aufhebung <strong>und</strong> des insoweit erfolgten Freispruchs fallen die Kosten des Verfahrens <strong>und</strong> die notwendigen<br />

Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last.<br />

Im Übrigen muss die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittels dem Nachverfahren nach §§ 460, 462 StPO<br />

vorbehalten bleiben. Obwohl der Angeklagte mit seinem Rechtsmittel lediglich einen Teilerfolg erzielt hat, erscheint<br />

es nicht gänzlich ausgeschlossen, dass insbesondere im Hinblick auf die der Gesamtstrafenbildung zugr<strong>und</strong>e zu legende<br />

Einsatzstrafe von nur einem Jahr <strong>und</strong> sechs Monaten Freiheitsstrafe im Nachverfahren nach §§ 460, 462 StPO<br />

eine nicht nur unwesentliche Herabsetzung der Gesamtfreiheitsstrafe erfolgen könnte. Damit könnte das Gewicht der<br />

Rechtsfolge so gemildert werden, dass es unbillig wäre, dem Angeklagten die (verbleibenden) gesamten Rechtsmittelkosten<br />

aufzuerlegen (vgl. auch BGH, Beschluss vom 9. November 2004 - 4 StR 426/04 mwN, wistra 2005, 187).<br />

- 42 -


StGB § 224 Abs. 1 Nr. 4, § 228 Gefährlichkeit durch gruppendynamische Eskalation<br />

BGH, Beschl. v. 20.02.2013 - 1 StR 585/12 - NJW 2013, 1379 = NStZ 2013, 342<br />

LS: 1. Bei Körperverletzungen im Rahmen von tätlichen Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden<br />

Gruppen ist bei der für die Anwendung von § 228 StGB vorzunehmenden Bewertung der<br />

Gefährlichkeit der Körperverletzungshandlungen die mit derartigen Tätlichkeiten typischerweise<br />

verb<strong>und</strong>ene Eskalationsgefahr zu berücksichtigen.<br />

2. Fehlen bei solchen Auseinandersetzungen das Gefährlichkeitspotential begrenzende Absprachen<br />

<strong>und</strong> effektive Sicherungen für deren Einhaltung, verstoßen die in deren Verlauf begangenen Körperverletzungen<br />

trotz Einwilligung selbst dann gegen die guten Sitten (§ 228 StGB), wenn mit den<br />

einzelnen Körperverletzungen keine konkrete Todesgefahr verb<strong>und</strong>en war.<br />

Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 10. Juli 2012 werden als unbegründet<br />

verworfen. Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels <strong>und</strong> die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren<br />

entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das angefochtene Urteil weist keine Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten auf.<br />

1. Die Revisionen der Angeklagten bleiben auch insoweit ohne Erfolg, als diese sich jeweils gegen die Verurteilung<br />

wegen gefährlicher Körperverletzung (§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB) zu Lasten der geschädigten Zeugen La. <strong>und</strong><br />

W. richten. Die Taten waren unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt gerechtfertigt.<br />

a) Nach den vom Landgericht rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen griff L., ein Cousin des Zeugen La., ein<br />

Mitglied aus einer Jugendgruppe, zu der auch die Angeklagten gehörten, an, indem er den Angegriffenen schüttelte<br />

<strong>und</strong> ihn gegen ein parkendes Auto zu drücken versuchte. Diese Auseinandersetzung konnte der Zeuge La. so weit<br />

schlichten, dass zunächst weder aus der Gruppe um L. noch aus der Gruppe um die Angeklagten weitere Tätlichkeiten<br />

verübt wurden. Allerdings forderte der über den Vorfall aufgebrachte Angeklagte Z. erfolgreich telefonisch weitere<br />

Angehörige seiner Gruppe auf, zum Ort des Geschehens zu kommen. Nach kurzer Zeit standen sich die nunmehr<br />

verstärkte Gruppe um die Angeklagten <strong>und</strong> die um L., samt der Zeugen La. <strong>und</strong> W. , gegenüber. Den Beteiligten<br />

beider Gruppen war bewusst, dass es aufgr<strong>und</strong> der sich durch wechselseitige Beleidigungen weiter aufheizenden<br />

Stimmung zu körperlichen Auseinandersetzungen kommen würde. Aufgr<strong>und</strong> einer faktischen Übereinkunft stimmten<br />

die Beteiligten zu, diese mit Faustschlägen <strong>und</strong> Fußtritten auszutragen. Den Eintritt auch erheblicher Verletzungen<br />

billigten sie. Im Zuge der sich anschließenden, r<strong>und</strong> vier bis fünf Minuten andauernden wechselseitigen Tätlichkeiten<br />

erwies sich die Gruppe um die Angeklagten als überlegen. Als der Zeuge W. ungeachtet dessen ein Mitglied aus der<br />

Gruppe um die Angeklagten im Rahmen eines Faustkampfs in Bedrängnis brachte, schlug der Angeklagte S. auf W.<br />

ein, der daraufhin stürzte. Der am Boden liegende W. erhielt anschließend einen Fußtritt. Er erlitt u.a. eine Schädelprellung<br />

<strong>und</strong> wurde mit einem Rettungswagen in ein Krankenhaus verbracht, wo er stationär behandelt wurde. Der<br />

nicht revidierende Angeklagte M. schlug den Zeugen La. so heftig mit der Faust in das Gesicht, dass dieser im Unterkiefer<br />

drei Zähne verlor, die durch Implantate ersetzt werden müssen. Zudem verursachte der Schlag eine Verschiebung<br />

der Nasenscheidewand. Die Verletzung bedarf einer operativen Korrektur. Der zur Gruppe um L. gehörende,<br />

mit einer Blutalkoholkonzentration von r<strong>und</strong> 3,0 Promille stark alkoholisierte Zeuge J. ging durch die Wirkung<br />

von Faustschlägen bereits zu Beginn der Auseinandersetzung zu Boden <strong>und</strong> blieb dort wehrlos liegen. In dieser<br />

Lage versetzten ihm u.a. die Angeklagten Z. <strong>und</strong> S. mehrere Tritte gegen den Kopf <strong>und</strong> den Körper. Nachdem eine<br />

kurze Zeit von dem Zeugen J. abgelassen worden war <strong>und</strong> er auf allen Vieren wegzukriechen versuchte, holte der<br />

Mitangeklagte M. mit dem Fuß aus <strong>und</strong> trat J. ins Gesicht. Anschließend traten auch die Angeklagten Z. <strong>und</strong> S. erneut<br />

auf den am Boden liegenden J. ein. Einen Tritt führte der Angeklagte S. gegen den Kopf des Zeugen. Zudem<br />

hob er den Kopf des Zeugen etwas an <strong>und</strong> schlug ihn mit allerdings geringer Kraft auf den Asphalt. Aufgr<strong>und</strong> der<br />

zahlreichen erlittenen Verletzungen wurde der Zeuge J. drei Tage stationär, davon einen Tag auf der Intensivstation,<br />

behandelt <strong>und</strong> war vierzehn Tage arbeitsunfähig krank.<br />

b) Bei dieser Sachlage erweisen sich auch die zum Nachteil der Zeugen La. <strong>und</strong> W. verübten Körperverletzungen,<br />

für die die Angeklagten als Mittäter einzustehen haben, als rechtswidrig.<br />

aa) Die beiden Zeugen haben zwar in die zu ihren Verletzungen führenden Körperverletzungshandlungen durch die<br />

Beteiligung an der faktischen Übereinkunft mit der Gruppe um die Angeklagten eingewilligt. Von dieser Einwilli-<br />

- 43 -


gung waren auch die erlittenen Verletzungen umfasst. Insoweit kommt es darauf an, dass der Einwilligende eine<br />

zutreffende Vorstellung von dem voraussichtlichen Verlauf <strong>und</strong> den möglichen Folgen des zu erwartenden Angriffs<br />

hat (BGH, Urteil vom 12. Oktober 1999 – 1 StR 417/99, NStZ 2000, 87, 88; vgl. auch BGH, Beschluss vom 20.<br />

November 2012 – 1 StR 530/12). Da Faustschläge <strong>und</strong> Fußtritte Gegenstand der Übereinkunft waren, schließt die<br />

Zustimmung zu solchen Handlungen auch die daraus typischerweise resultierenden Verletzungsfolgen ein.<br />

bb) Ungeachtet der Einwilligungserklärungen der beiden Zeugen verstoßen die diese schädigenden Körperverletzungen<br />

aber gegen die guten Sitten <strong>und</strong> entfalten deshalb gemäß § 228 StGB keine rechtfertigende Wirkung. Der B<strong>und</strong>esgerichtshof<br />

beurteilt in seiner jüngeren Rechtsprechung die Unvereinbarkeit einer Körperverletzung mit den „guten<br />

Sitten“ im Sinne von § 228 StGB trotz Einwilligung des betroffenen Rechtsgutsinhabers im Gr<strong>und</strong>satz vorrangig<br />

anhand der Art <strong>und</strong> des Gewichts des eingetretenen Körperverletzungserfolges sowie des damit einhergehenden<br />

Gefahrengrades für Leib <strong>und</strong> Leben des Opfers (BGH, Urteile vom 11. Dezember 2003 – 3 StR 120/03, BGHSt 49,<br />

34, 42 <strong>und</strong> vom 26. Mai 2004 – 2 StR 505/03, BGHSt 49, 166, 170 f., 172 f.; siehe auch BGH, Urteil vom 16. Dezember<br />

2009 – 2 StR 446/09, NStZ 2010, 389 f.; anders noch BGH, Urteil vom 29. Januar 1953 – 5 StR 408/52,<br />

BGHSt 4, 24, 31). Diesem Maßstab entsprechend wird die Körperverletzung nach insoweit übereinstimmender<br />

höchstrichterlicher Rechtsprechung jedenfalls dann als sittenwidrig bewertet, wenn bei objektiver Betrachtung unter<br />

Einbeziehung aller maßgeblichen Umstände die einwilligende Person durch die Körperverletzungshandlung in konkrete<br />

Todesgefahr gebracht wird (BGH, Urteile vom 11. Dezember 2003 – 3 StR 120/03, BGHSt 49, 34, 44 <strong>und</strong> vom<br />

26. Mai 2004 – 2 StR 505/03, BGHSt 49, 166, 173; BGH, Urteil vom 20. November 2008 – 4 StR 328/08, BGHSt<br />

53, 55, 62 Rn. 28 <strong>und</strong> 63 Rn. 29; siehe auch BGH, Urteil vom 18. September 2008 – 5 StR 224/08 [insoweit in NStZ<br />

2009, 401-403 nicht abgedruckt]; BGH, Beschlüsse vom 20. Juli 2010 – 5 StR 255/10 <strong>und</strong> vom 12. Juni 2012 – 3<br />

StR 163/12). Die Anknüpfung des für die Sittenwidrigkeit heranzuziehenden Maßstabs an das Ausmaß der mit der<br />

Körperverletzung einhergehenden Rechtsgutsgefährdung findet sich auch bereits in früheren Entscheidungen des<br />

B<strong>und</strong>esgerichtshofs (etwa BGH, Urteil vom 15. Oktober 1991 – 4 StR 349/91, BGHSt 38, 83, 87 „nur geringfügige<br />

Verletzung“). Die vorrangige Ausrichtung der Anwendung von § 228 StGB an dem mit der Körperverletzung einhergehenden<br />

Grad der Gefährdung der Rechtgüter Leben <strong>und</strong> körperliche Unversehrtheit wird auf die Erwägung<br />

gestützt, im Gr<strong>und</strong>satz sei lediglich bei (drohenden) gravierenden Verletzungen der staatliche Eingriff in die Dispositionsfreiheit<br />

des Rechtsgutsinhabers legitim (vor allem BGH, Urteil vom 26. Mai 2004 – 2 StR 505/03, BGHSt 49,<br />

166, 171 mwN; siehe auch Fischer, StGB, 60. Aufl., § 228 Rn. 10 sowie Hardtung in Münchener Kommentar zum<br />

StGB, 2. Aufl., § 228 Rn. 23). Die Vornahme einer mit konkreter Todesgefahr für den Einwilligenden verb<strong>und</strong>enen<br />

Körperverletzung beschreibt danach einen Grad der Gefährlichkeit der Handlung <strong>und</strong> des daraus resultierenden Risikos<br />

für Leib <strong>und</strong> Leben, bei dessen Erreichen die Körperverletzung regelmäßig gegen die guten Sitten verstößt. Dieser<br />

Maßstab bestimmt jedoch die von § 228 StGB erfassten Konstellationen einer trotz erteilter Einwilligung sittenwidrigen<br />

Körperverletzung nicht abschließend. So kann trotz einer im Zeitpunkt der Vornahme der Körperverletzungshandlung<br />

auf der Gr<strong>und</strong>lage der vorausschauenden Betrachtung aller maßgeblichen Umstände zu prognostizierenden<br />

konkreten Todesgefahr ein Sittenverstoß fehlen <strong>und</strong> der erteilten Einwilligung rechtfertigende Wirkung zukommen.<br />

Für die Einwilligung zu lebensgefährlichen ärztlichen Heileingriffen ist dies in der Rechtsprechung anerkannt<br />

(BGH, aaO, BGHSt 49, 166, 171). Umgekehrt kann auch bei einer rechtsgutsbezogenen Auslegung des<br />

Merkmals der guten Sitten, der der Bestimmtheitsgr<strong>und</strong>satz des Art. 103 Abs. 2 GG nicht entgegensteht (vgl. BGH,<br />

aaO, BGHSt 49, 166, 169), die Sittenwidrigkeit nicht stets ausschließlich danach beurteilt werden, ob bei jeweils<br />

isolierter Bewertung des Gefährlichkeits- <strong>und</strong> Gefährdungsgrades einzelner Körperverletzungshandlungen im Ergebnis<br />

eine konkrete Lebens- bzw. Todesgefahr eingetreten ist. Die Feststellung des Eintritts eines solchen Gefahrerfolges<br />

erlaubt zwar regelmäßig einen Rückschluss auf den Gefährlichkeitsgrad der dafür ursächlichen Körperverletzungshandlung,<br />

schließt aber nicht aus, eine Überschreitung der Grenze der Sittenwidrigkeit auch aus anderen, für<br />

die Bewertung der Rechtsgutsgefährlichkeit relevanten tatsächlichen Umständen der Tatbegehung abzuleiten. Das<br />

gilt insbesondere vor dem Hintergr<strong>und</strong>, dass die die Sittenwidrigkeit der Tat trotz Einwilligung anhand des Gefahrengrades<br />

bewertenden bisherigen Entscheidungen des B<strong>und</strong>esgerichtshofs ganz überwiegend tatsächliche Konstellationen<br />

betrafen, in denen die Körperverletzungen nicht im Rahmen von wechselseitigen Tätlichkeiten zwischen mehreren<br />

Beteiligten verübt wurden. Für die Beurteilung der mit der Tat verb<strong>und</strong>enen Gefährdung des Opfers bzw. der<br />

Opfer waren daher bislang die Auswirkungen von gruppendynamischen Prozessen, wie etwa die Unkontrollierbarkeit<br />

der Gesamtsituation aufgr<strong>und</strong> der Beeinflussung innerhalb einer Gruppe <strong>und</strong> zwischen konkurrierenden Gruppen<br />

(dazu Pichler, Beteiligung an einer Schlägerei [§ 231 StGB], 2010, S. 23-27 mwN), nicht einzubeziehen. Solche<br />

Interaktionen bedürfen aber nach dem für die Anwendung des § 228 StGB einschlägigen Maßstabs des Gefährlich-<br />

- 44 -


keitsgrades der Körperverletzung der Berücksichtigung. Soweit dem Urteil des 5. Strafsenats des B<strong>und</strong>esgerichtshofs<br />

vom 18. September 2008 (5 StR 224/08 Rn. 24, insoweit in NStZ 2009, 401 - 403 nicht abgedruckt) zu entnehmen<br />

sein sollte, dass eine Körperverletzung ausnahmslos („nur“) bei - ex post - Eintritt einer konkreten Todesgefahr trotz<br />

Einwilligung des Verletzten gegen die guten Sitten verstößt (§ 228 StGB), würde der Senat dem nicht folgen. Einer<br />

Anfrage bei dem 5. Strafsenat bedarf es nicht, weil es sich dort nicht um tragende Ausführungen handelt. Es entspricht<br />

der neueren Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs zur Auslegung des § 228 StGB, die Sittenwidrigkeit der<br />

Tat trotz Einwilligung danach zu bestimmen, ob „bei vorausschauender objektiver Betrachtung aller maßgeblichen<br />

Umstände der Tat der Einwilligende durch die Körperverletzungshandlung in konkrete Todesgefahr gebracht wird“<br />

(BGH, aaO, BGHSt 49, 166, 173). Maßgeblich ist in zeitlicher Hinsicht damit eine ex ante-Perspektive der Bewertung<br />

des Gefährlichkeitsgrades der Körperverletzungshandlung (Hardtung aaO § 228 Rn. 27). Bei durch diese verursachter<br />

konkreter Todes- bzw. Lebensgefahr kann regelmäßig ein die Grenze der Sittenwidrigkeit im Sinne von §<br />

228 StGB überschreitendes Ausmaß der Gefährlichkeit für die Rechtsgüter Leib <strong>und</strong> Leben angenommen werden<br />

(vgl. BGH, Beschluss vom 20. Juli 2010 – 5 StR 255/10 bzgl. mit konkreter Todesgefahr verb<strong>und</strong>enen Faustschlägen<br />

gegen die Schläfenregion). Der Grad der Gefährlichkeit der Körperverletzungen, in die eingewilligt worden ist, bestimmt<br />

sich aber auch nach den die Tatausführung begleitenden Umständen. So ist etwa in Bezug auf im Rahmen<br />

von sportlichen Wettkämpfen eingetretene Körperverletzungserfolge im Ergebnis allgemein anerkannt, dass die<br />

entsprechende Tat selbst bei der Gefahr erheblicher ges<strong>und</strong>heitlicher Beeinträchtigungen nicht gegen die guten Sitten<br />

verstößt, wenn die Verletzung aus Verhaltensweisen resultiert, die nach den maßgeblichen Regeln des Wettkampfs<br />

gestattet sind (vgl. BGH, Urteil vom 22. Januar 1953 – 4 StR 373/52, BGHSt 4, 88, 92 bzgl. des Boxwettkampfs;<br />

siehe auch Reinhart SpuRt 2009, 56, 59; Paeffgen in Nomos Kommentar zum StGB, 3. Aufl., § 228 Rn. 109 mwN).<br />

Resultiert aber ein im Rahmen eines durch Regeln geleiteten <strong>und</strong> von einer neutralen Person überwachten Sportwettkampfs<br />

verursachter Körperverletzungserfolg aus einem Verhalten, das sich als grob fahrlässige oder gar vorsätzliche<br />

Abweichung von den die Gr<strong>und</strong>lage der erteilten Einwilligung bildenden Wettkampfregeln erweist, sind die<br />

Körperverletzungshandlung <strong>und</strong> der daraus resultierende Erfolg nicht mehr durch die Einwilligung gedeckt (etwa<br />

BGH, Urteil vom 22. Januar 1953 – 4 StR 373/52, BGHSt 4, 88, 92; BayObLG NJW 1961, 2072, 2073; OLG Karlsruhe<br />

NJW 1982, 394; OLG <strong>Hamm</strong> JR 1998, 465; siehe auch den Überblick bei Dölling ZStW 96 [1984], S. 36, 41<br />

ff.). Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Ausschluss der Rechtfertigung in solchen Konstellationen darauf beruht,<br />

dass das grob regelwidrige körperverletzende Verhalten von vornherein nicht Gegenstand der erteilten Einwilligung<br />

ist oder die Tat trotz der Einwilligung wegen des durch den schweren Regelverstoß typischerweise erhöhten Gefährlichkeitsgrades<br />

gegen die guten Sitten verstößt. Der Rechtsprechung liegt jedenfalls einheitlich der Rechtsgedanke<br />

zugr<strong>und</strong>e, die konkreten Umstände der Ausführung von an sich konsentierten Körperverletzungshandlungen bei der<br />

Beurteilung der Rechtswidrigkeit der Tat zu berücksichtigen. Findet die Tat unter Bedingungen statt, die den Grad<br />

der aus ihr hervorgehenden Gefährlichkeit für die körperliche Unversehrtheit oder gar das Leben des Verletzten<br />

begrenzen, führt dies regelmäßig dazu, die Körperverletzung als durch die erklärte Einwilligung gerechtfertigt anzunehmen.<br />

Fehlt es dagegen an derartigen Regularien, ist eine Körperverletzung trotz der erteilten Einwilligung gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

sittenwidrig (BGH, Urteil vom 22. Januar 1953 – 4 StR 373/52, BGHSt 4, 88, 92; siehe auch Urteil vom 12.<br />

Oktober 1999 - 1 StR 417/99, NStZ 2000, 87, 88). Das Fehlen von Regeln über die Bedingungen einer vereinbarten<br />

wechselseitigen körperlichen Auseinandersetzung führt nämlich erfahrungsgemäß zu einer Erhöhung des Gefährlichkeitsgrades<br />

des Körperverletzungsgeschehens über das von der Einwilligung Gedeckte hinaus. Gleiches gilt<br />

selbst bei zwischen Täter <strong>und</strong> Opfer vereinbarten Regeln über die Körperverletzungshandlungen, wenn das Vereinbarte<br />

nicht in ausreichend sicherer Weise für die Verhütung gravierender, sogar mit der Gefahr des Todes einhergehender<br />

Körperverletzungen Sorge tragen kann (BayObLG NJW 1999, 372, 373). Der Gr<strong>und</strong>gedanke, das Vorhandensein<br />

oder Fehlen von den Gefährlichkeitsgrad der Tat begrenzenden Vorkehrungen bei der Beurteilung der<br />

Rechtswidrigkeit von Körperverletzungen im Zusammenhang erteilter Einwilligungserklärungen zu berücksichtigen,<br />

ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung auch bisher bereits herangezogen worden. So hat der B<strong>und</strong>esgerichtshof<br />

eine sog. Bestimmungsmensur trotz der dabei verwendeten Waffen deshalb nicht als – nach früherem Recht<br />

strafbaren – „Zweikampf mit tödlichen Waffen“ bewertet, weil diese Mensur über die sie leitenden Regeln ausreichende<br />

Schutznahmen gegen lebensgefährliche Verletzungen bot (Urteil vom 29. Januar 1953 – 5 StR 408/52,<br />

BGHSt 4, 24, 26 f.). Der Ausschluss der Rechtswidrigkeit durch Einwilligung selbst von erheblichen Körperverletzungen,<br />

die im Rahmen von Sportwettkämpfen verursacht werden, beruht – wie bereits ausgeführt – jedenfalls auch<br />

auf dem Aspekt der durch das Aufstellen <strong>und</strong> Einhalten der Wettkampfregeln bewirkten Begrenzung des Gefährlichkeitspotentials<br />

der entsprechenden Verhaltensweisen. Bei für die körperliche Unversehrtheit <strong>und</strong> sogar das Leben<br />

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generell gefahrträchtigen Wettkampfsportarten, wie etwa dem Boxsport, dienen die von den entsprechenden Verbänden<br />

aufgestellten <strong>und</strong> auf ihre Einhaltung überwachten Wettkampfregeln gerade der Beschränkung der mit dem Austragen<br />

des Wettkampfes verb<strong>und</strong>enen Risiken für die Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> das Leben der Beteiligten. Außer dem Vorhandensein<br />

solcher risikobegrenzenden Regeln <strong>und</strong> Instrumentarien zur Gewährleistung ihrer Einhaltung ist bei der<br />

Beurteilung der Sittenwidrigkeit von Körperverletzungen trotz Einwilligung des Verletzten im Rahmen wechselseitiger<br />

tätlicher Auseinandersetzungen auch darauf abgestellt worden, ob diese unter Bedingungen stattfinden, die tatsächliche<br />

Verteidigungsmöglichkeiten des Einwilligenden ermöglichen. So hat der Senat den zu einer Körperverletzung<br />

führenden Angriff gegen einen Geschädigten, der den Angreifer zuvor selbst zu einer „Wette“ darüber aufgefordert<br />

hatte, von diesem nicht überwältigt werden zu können, als Verstoß gegen die guten Sitten (§ 228 StGB) bewertet,<br />

weil der Angriff zu einem Zeitpunkt erfolgte, in dem der zuvor auffordernde Verletzte nicht abwehr- <strong>und</strong><br />

„kampfbereit“ war, sowie die Auseinandersetzung mit ungleichen „Kampfmitteln“ erfolgte (BGH, Urteil vom 12.<br />

Oktober 1999 – 1 StR 417/99, NStZ 2000, 87, 88). Ebenso ist - für den Fall der unterstellten Einwilligungsfähigkeit<br />

des Erklärenden - einer Einwilligung die rechtfertigende Wirkung wegen Unvereinbarkeit der Tat mit den guten<br />

Sitten versagt worden, weil die im Rahmen eines Aufnahmerituals in eine Jugendgang verabredete körperliche Auseinandersetzung<br />

zwischen drei Gangmitgliedern <strong>und</strong> dem Aufnahme Begehrenden keine Vorkehrungen für die Verhütung<br />

schwerer Verletzungen vorsah <strong>und</strong> die Verteidigungsmöglichkeiten des „Anwärters“ von vornherein außerordentlich<br />

beschränkt waren (BayObLG NJW 1999, 372, 373). Nach den bereits bisher in der höchstrichterlichen<br />

Rechtsprechung herangezogenen Kriterien gebietet es die für die Anwendung von § 228 StGB maßgebliche ex ante-<br />

Perspektive der Bewertung des Gefährlichkeitsgrades der Körperverletzungshandlungen, die Eskalationsgefahr jedenfalls<br />

für Körperverletzungen wie die vorliegenden, die im Rahmen von tätlichen Auseinandersetzungen zwischen<br />

rivalisierenden Gruppen begangen werden, mit zu berücksichtigen. Dafür spricht zusätzlich, worauf der Generalb<strong>und</strong>esanwalt<br />

in seiner Antragsschrift zu Recht hingewiesen hat, auch der § 231 StGB zugr<strong>und</strong>e liegende Schutzzweck.<br />

Mit diesem abstrakten Gefährdungsdelikt (BGH, Urteil vom 24. August 1993 – 1 StR 380/93, BGHSt 39, 305, 307;<br />

Hohmann in Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl., § 231 Rn. 2 mwN) will der Gesetzgeber bereits im Vorfeld<br />

von Rechtsgutsverletzungen Leben <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit vor dem Gefährdungspotential von körperlichen Auseinandersetzungen<br />

zwischen mehreren Personen schützen (vgl. BT-Drucks. 13/8587 S. 61; Pichler aaO S. 39). Ein Aspekt dieser<br />

spezifischen Gefährlichkeit der Schlägerei liegt gerade in der Unkontrollierbarkeit gruppendynamischer Prozesse.<br />

Dieser Gefährlichkeitsaspekt ist auch bei der ex ante Beurteilung von wechselseitig konsentierten Körperverletzungen<br />

in Fällen der vorliegenden Art zu berücksichtigen.<br />

cc) Nach diesem Maßstab verstoßen die Körperverletzungen zu Lasten der Zeugen La. <strong>und</strong> W. wegen des Ausmaßes<br />

der mit diesen verb<strong>und</strong>enen Gefährlichkeit für die Rechtsgüter Leben <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit trotz der Einwilligung der<br />

Verletzten gegen die guten Sitten. Maßgebend dafür ist nicht in erster Linie das Gefährlichkeitspotential der einzelnen<br />

Körperverletzungshandlungen, sondern die Gesamtumstände, unter denen diese verübt worden sind. Bereits mit<br />

den verabredeten zugelassenen Körperverletzungen, zumindest in Gestalt der Fußtritte, ging ein nicht unerhebliches<br />

Gefährlichkeitspotential einher. Nach den Feststellungen ist nicht ausgeschlossen, dass solche Fußtritte auch gegen<br />

den Kopf des oder der Kontrahenten geführt wurden. Tritte gegen den Kopf sind als solche für das Leben des Getretenen<br />

generell gefährlich. Sie verwirklichen das Merkmal der das Leben gefährdenden Behandlung im Sinne von §<br />

224 Abs. 1 Nr. 5 StGB jedenfalls dann, wenn sie nach der Art der Ausführung der Verletzungshandlung im Einzelfall<br />

zu lebensgefährlichen Verletzungen führen können (BGH, Beschluss vom 11. Juli 2012 – 2 StR 60/12, NStZ-RR<br />

2012, 340 f.; siehe auch BGH, Urteil vom 22. März 2002 – 2 StR 517/01, NStZ 2002, 432 f. sowie Senat, Urteil vom<br />

21. Dezember 2011 – 1 StR 400/11, NStZ-RR 2012, 105 f.). Entsprechendes gilt auch für gegen den Kopf des Opfers<br />

geführte Faustschläge, wie sie vorliegend mehrere Angehörige der Gruppe um L. erlitten haben. So ist etwa der Zeuge<br />

La. so heftig in das Gesicht geschlagen worden, dass er drei Zähne vollständig verloren hat, die durch Implantate<br />

ersetzt werden müssen. Derart massive Faustschläge tragen bereits per se einen erheblichen Gefährlichkeitsgrad in<br />

sich. Richten sich solche Schläge gegen besonders empfindliche Bereiche des Kopfes, wie vor allem die Schläfenregion,<br />

wird regelmäßig sogar von einer konkreten Todesgefahr auszugehen sein (BGH, Beschluss vom 20. Juli 2010 –<br />

5 StR 255/10). Bedeutsamer als der ohnehin nicht geringe Gefährlichkeitsgrad der von der Verabredung umfassten<br />

Körperverletzungshandlungen ist jedoch für die Beurteilung der Taten anhand von § 228 StGB das Fehlen jeglicher<br />

Absprachen <strong>und</strong> Vorkehrungen, die eine Eskalation der wechselseitigen Körperverletzungshandlungen <strong>und</strong> damit<br />

einhergehend eine beträchtliche Erhöhung der aus diesen resultierenden Rechtsgutsgefährlichkeit ausschließen. Es ist<br />

nicht ersichtlich, dass die Gruppen vor dem Beginn der Auseinandersetzung abgesprochen hätten, Körperverletzungen<br />

gegen bereits geschlagene <strong>und</strong> deshalb nicht mehr zu effektiver Ab- oder Gegenwehr fähige Beteiligte auszu-<br />

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schließen. Ebenso wenig lassen die rechtsfehlerfreien Feststellungen Absprachen <strong>und</strong> Sicherungen erkennen, die<br />

Situationen ausschließen, in denen sich eine unterschiedliche Anzahl von Kämpfenden aus den beiden Gruppen<br />

gegenübersteht <strong>und</strong> sich wegen der Mehrzahl von „Kämpfern“ auf einer Seite das Risiko schwerwiegender Verletzungen<br />

für den oder die in Unterzahl Befindlichen deutlich erhöht. Die tatsächliche Entwicklung der Auseinandersetzung<br />

zeigt vielmehr, dass es sich nicht lediglich um abstrakt-generell bedeutsame Umstände der Beurteilung der<br />

Rechtsgutsgefährlichkeit der von den Angeklagten begangenen oder ihnen gemäß § 25 Abs. 2 StGB zuzurechnenden<br />

Körperverletzungen handelt. Vielmehr haben sich die genannten generellen Risikofaktoren auch in der konkreten<br />

Kampfsituation risikosteigernd ausgewirkt. So ist der ohnehin aufgr<strong>und</strong> seiner starken Alkoholisierung nicht zur<br />

Abwehr gegen ihn gerichteter Körperverletzungen fähige Zeuge J. nicht nur von drei zeitgleich agierenden Angehörigen<br />

der Gruppe um die Angeklagten im Zusammenwirken geschlagen <strong>und</strong> getreten worden, sondern die Körperverletzungen<br />

wurden selbst dann noch fortgesetzt, als J. sich völlig wehrlos am Boden befand <strong>und</strong> lediglich noch versuchte,<br />

auf allen Vieren kriechend dem Ort der Auseinandersetzung zu entkommen. Mit den Zeugen Mü. <strong>und</strong> R. sind<br />

darüber hinaus Personen Opfer der Körperverletzungen seitens der Angeklagten geworden, die an der mit der Gruppe<br />

um L. verabredeten körperlichen Auseinandersetzung gar nicht beteiligt waren, sondern aus Anlass ihrer Bemühungen,<br />

den bereits verletzten Zeugen J. aus dem Kampfgeschehen zu holen, von den Angeklagten <strong>und</strong> Mitgliedern<br />

ihrer Gruppe geschlagen bzw. getreten worden sind. Gerade in derartigen Entwicklungen drückt sich das ex ante zu<br />

beurteilende Gefährlichkeitspotential von körperlichen Auseinandersetzungen der vorliegenden Art aus. Fehlen damit<br />

Absprachen <strong>und</strong> effektive Sicherungen für deren Einhaltung, die bei wechselseitigen Körperverletzungen zwischen<br />

rivalisierenden Gruppen den Grad der Gefährdung der Rechtsgüter Leben <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit der Beteiligten auf<br />

ein vor dem Hintergr<strong>und</strong> des Selbstbestimmungsrechts von Seiten des Staates tolerierbares Maß begrenzen (vgl.<br />

BGH, Urteil vom 26. Mai 2004 – 2 StR 505/03, BGHSt 49, 166, 171), verstoßen die Taten trotz der Einwilligung der<br />

Verletzten selbst dann gegen die guten Sitten (§ 228 StGB), wenn mit den einzelnen Körperverletzungserfolgen<br />

keine konkrete Todesgefahr verb<strong>und</strong>en war.<br />

dd) Ob bei wechselseitigen Körperverletzungen zwischen rivalisierenden Gruppen bei vorhandenen Absprachen <strong>und</strong><br />

Sicherungen zur Beschränkung des Gefährlichkeits- bzw. Gefährdungsgrades ein Verstoß der Taten gegen die guten<br />

Sitten nicht vorliegt, braucht der Senat nicht zu entscheiden. Er neigt aber wegen der abstrakt-generellen Eskalationsgefahr<br />

in derartigen Situationen dazu, die Frage zu verneinen, wenn <strong>und</strong> soweit eine Einhaltung des Verabredeten<br />

nicht ausreichend sicher gewährleistet werden kann.<br />

2. Im Hinblick auf die Körperverletzung zu Lasten des geschädigten Zeugen J. scheidet eine Rechtfertigung durch<br />

Einwilligung ohnehin von vornherein aus. Obwohl dieser der an der verabredeten Auseinandersetzung beteiligten<br />

Gruppe um L. bei Beginn der Tätlichkeiten angehörte, konnte er keine wirksame Einwilligung erteilen. Nach den<br />

Feststellungen des Landgerichts über dessen Alkoholisierung <strong>und</strong> seinen dadurch hervorgerufenen Zustand konnte<br />

der Zeuge J. keine zutreffende Vorstellung von dem voraussichtlichen Verlauf <strong>und</strong> den möglichen Folgen des zu<br />

erwartenden Angriffs haben. Er war damit nicht einwilligungsfähig.<br />

3. Die geschädigten Zeugen Mü. <strong>und</strong> R. haben bereits keine Einwilligung erklärt. Sie gehörten bei dem Tatgeschehen<br />

nicht der Gruppe um L. an, sondern hatten sich bewusst von dieser ferngehalten. Sie sind lediglich in das „Kampfgeschehen“<br />

geraten, ohne sich daran zu beteiligen, als sie den alkoholisierten <strong>und</strong> erheblich verletzten Zeugen J. von<br />

dem Ort der Auseinandersetzung wegbringen wollten.<br />

StGB § 227, StPO § 81a Vorhersehbarkeit der Todesfolge nach Brechmitteleinsatz<br />

BGH, Urt. v. 20.06. 2012 - 5 StR 536/11 (alt: 5 StR 18/10) - NJW 2012, 2453 = StV 2013, 150<br />

LS: Vorhersehbarkeit der Todesfolge nach Brechmitteleinsatz (im Anschluss an BGHSt 55, 121).<br />

Auf die Revision der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Bremen vom 14. Juni 2011 mit den Feststellungen<br />

aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels,<br />

an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

G r ü n d e<br />

1. Zu Verfahrensgegenstand <strong>und</strong> Verfahrensgang: Gegenstand des Verfahrens ist die strafrechtliche Verantwortlichkeit<br />

des Angeklagten als im Beweismittelsicherungsdienst tätiger Arzt für den am 7. Januar 2005 eingetretenen Tod<br />

des 35 Jahre alten C. aus Sierra Leone im Rahmen einer zwangsweise durchgeführten Exkorporation von Kokain.<br />

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a) Das Landgericht hat in seinem in dieser Sache ergangenen ersten freisprechenden Urteil vom 4. Dezember 2008<br />

als Todesursache eine Mangelversorgung des Gehirns mit Sauerstoff (zerebrale Hypoxie) als Folge von Ertrinken<br />

nach Aspiration über einen Magenschlauch zugeführten Wassers bei forciertem Erbrechen festgestellt. Hierfür hat es<br />

ein objektiv pflichtwidriges Handeln des Angeklagten als ursächlich angesehen. Dieser habe nach dem Eingreifen<br />

des von ihm herbeigerufenen Notarztes trotz erkennbar erhöhten Aspirationsrisikos die Exkorporation fortgesetzt.<br />

Der Tod des Beschuldigten sei für den Angeklagten aber nicht vorhersehbar <strong>und</strong> vermeidbar gewesen, weil er als<br />

Arzt persönlich überfordert gewesen sei <strong>und</strong> sich auf die Kompetenz des weiterhin anwesenden Notarztes habe verlassen<br />

können.<br />

b) Mit Urteil vom 29. April 2010 – 5 StR 18/10 (BGHSt 55, 121) hat der Senat auf die Revisionen der Nebenklägerin,<br />

der Mutter des Verstorbenen, <strong>und</strong> seines mittlerweile gleichfalls verstorbenen Bruders als damals weiteren Nebenkläger<br />

das genannte Urteil aufgehoben. Die vom Landgericht vorgenommene Beweiswürdigung hat er als rechtsfehlerhaft<br />

beanstandet <strong>und</strong> auf der Gr<strong>und</strong>lage des festgestellten Sachverhalts vom neuen Tatgericht die Prüfung <strong>und</strong><br />

Bewertung weiterer Pflichtverstöße des Angeklagten als rechtlich geboten verlangt (unterlassene Aufklärung, Durchführung<br />

eines erkennbar nicht beherrschten medizinischen Eingriffs <strong>und</strong> Fortsetzung der Exkorporation unter Verstoß<br />

gegen das Gebot der Wahrung der Menschenwürde). Der Senat hat ferner die in der Spätphase des Eingriffs<br />

vorgenommene Auslösung des Brechreizes mittels einer Pinzette sowie eines Spatels als Körperverletzung bewertet.<br />

Er hat nicht ausschließen können, dass eine fehlerfreie Würdigung der festgestellten Umstände die Voraussetzungen<br />

einer Körperverletzung mit Todesfolge nach § 227 StGB ergeben würde. Deshalb hat er die Sache an eine Schwurgerichtskammer<br />

des Landgerichts zurückverwiesen (§ 74 Abs. 2 Nr. 8 GVG).<br />

c) Das Landgericht hat den Angeklagten erneut freigesprochen. Hiergegen richtet sich die auf die Rüge der Verletzung<br />

sachlichen Rechts gestützte Revision der Nebenklägerin. Diese hat wiederum Erfolg.<br />

2. Zu den Feststellungen <strong>und</strong> Wertungen der Schwurgerichtskammer:<br />

a) Das Landgericht hält die vom Erstgericht festgestellte Todesursache nach Anhörung von neun Sachverständigen<br />

für wahrscheinlich (UA S. 83). Deren Annahme im Sinne einer sicheren richterlichen Überzeugung stehe allerdings<br />

maßgeblich der Umstand entgegen, dass der ausweislich aktiven Bemühens, Erbrochenes nicht nach außen dringen<br />

zu lassen („Filtern“), nicht bewusstseinsgetrübte C. bei Wassereintritt in die Luftröhre hätte husten müssen, was<br />

indessen keiner der Beteiligten gehört habe.<br />

b) Zudem habe die Prüfung nicht ausschließbare alternative Todesursachen ergeben. Einen durch Manipulationen im<br />

Halsbereich ausgelösten vorübergehenden Herzstillstand (Karotis-Sinus-Reflex) hat das Landgericht unter der Prämisse<br />

für denkbar gehalten, dass der Kiefer des Verstorbenen zur Ermöglichung des Spateleinsatzes unter Krafteinsatz<br />

verb<strong>und</strong>en mit starkem Druck am Hals geöffnet worden sei (UA S. 86). Eine weitere mögliche Ursache für die<br />

Reduzierung der Herzfrequenz (Bradykardie) hat es in einem zu hohen Atemdruck (Valsalva-Reflex) gef<strong>und</strong>en (UA<br />

S. 84, 89, 91). Dafür könnten vor allem eine permanente Reizung eines Hirnnervs, des Nervus Vagus, durch nachteilige<br />

Veränderung der betroffenen Schleimhautareale beim Legen der Magensonde, die mit dem „Filtern“ verb<strong>und</strong>ene<br />

Pressatmung <strong>und</strong> die dadurch bedingte Druckerhöhung im Thoraxbereich verantwortlich sein; dies könne zu einer<br />

Verschlechterung der Gesamtsituation geführt haben, wobei aber auch ein zusätzliches Auslösen eines heftigeren<br />

Valsalva-Reflexes durch den Spateleinsatz eine Rolle gespielt haben könne (UA S. 89). Schließlich habe ein mittelgradig<br />

bedeutsamer chronischer Herzmuskelschaden mit zu einer Verstärkung der letztlich todesursächlichen<br />

Bradykardie beitragen können (UA S. 86, 87). Zwar sei auszuschließen, dass eine der erwogenen Ursachen für sich<br />

allein eine reanimationspflichtige Bradykardie ausgelöst habe (UA S. 86). Im Sinne eines multifaktoriellen Geschehens<br />

könnten sie jedoch als Todesursache in Betracht kommen (UA S. 95 <strong>und</strong> mehrfach).<br />

c) Das Landgericht hat das Handeln des Angeklagten im Rahmen der Fortsetzung der Exkorporation als todesursächlich<br />

bewertet (UA S. 99), jedoch seiner rechtlichen Würdigung zugunsten des Angeklagten das multifaktorielle Geschehen<br />

zugr<strong>und</strong>e gelegt, das „nach Auffassung aller Gutachter“ nicht vorhersehbar gewesen sei (UA S. 101). Es hat<br />

weder einen ärztlichen Sorgfaltspflichtverstoß festgestellt noch angenommen, dass der Angeklagte den Verstorbenen<br />

rechtswidrig verletzt oder gar fahrlässig seinen Tod verursacht haben könnte.<br />

3. Der Freispruch des Angeklagten hat keinen Bestand. Die Beweiswürdigung <strong>und</strong> die Subsumtion des Landgerichts<br />

offenbaren durchgreifende Rechtsfehler zugunsten des Angeklagten (vgl. BGH, Urteil vom 18. September 2008 – 5<br />

StR 224/08, NStZ 2009, 401, 402 mwN). Dabei ist wegen offensichtlicher Verletzung der Bindungswirkung <strong>und</strong><br />

rechtlich unzulänglicher Ausschöpfung des festgestellten Sachverhalts nicht nur – was die Nebenklägerin nicht rügen<br />

könnte (§ 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO) – eine Verurteilung des Angeklagten wegen Körperverletzung unterblieben, sondern<br />

es liegen auch Rechtsfehler bezogen auf die Prüfung einer fahrlässigen Verursachung der Todesfolge vor.<br />

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a) Das Landgericht hat mehrfach gegen die in § 358 Abs. 1 StPO normierte Bindungswirkung der dem Senatsurteil<br />

vom 29. April 2010 zugr<strong>und</strong>e liegenden rechtlichen Beurteilung auch in Bezug auf dort benannte Beweiswürdigungsfehler<br />

verstoßen (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Mai 2000 – 1 StR 610/99, BGHR StPO § 358 Abs. 1 Bindungswirkung<br />

2). Der Senat muss nicht entscheiden, ob schon diese Rechtsfehler, auch in Verbindung mit haltlosen<br />

Unterstellungen zugunsten des Angeklagten, geeignet sind, die neu getroffenen Feststellungen insgesamt in Frage zu<br />

stellen. Angesichts der nachfolgenden durchgreifenden Einzelbeanstandungen kommt es hierauf nicht an.<br />

b) Die Bewertung der Fortsetzung der Exkorporation nach dem Notarzteinsatz begegnet durchgreifenden Bedenken,<br />

soweit rechtswidrige Körperverletzungshandlungen, Sorgfaltspflichtverletzungen sowie die Vorhersehbarkeit des<br />

Todes verneint worden sind. Entgegen der Auffassung der Schwurgerichtskammer ergeben die durch sie getroffenen<br />

Feststellungen ohne Weiteres die Voraussetzungen einer Körperverletzung mit Todesfolge nach § 227 StGB.<br />

aa) Die bei der Fortsetzung der Exkorporation durch den Angeklagten vorgenommenen Maßnahmen waren auch<br />

nach zum Tatzeitpunkt noch vertretbarer Rechtsansicht (vgl. dazu BGHSt aaO, S. 130 f.) nicht durch § 81a StPO<br />

gerechtfertigt <strong>und</strong> stellen demgemäß rechtswidrige Körperverletzungshandlungen dar.<br />

(1) Es kann dahingestellt bleiben, ob im Rahmen des § 81a StPO nicht ein engerer Beurteilungsmaßstab anzulegen<br />

ist, als ihn das Landgericht verwendet hat (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl. 2001, 46. Aufl. 2003, 47. Aufl. 2004,<br />

54. Aufl. 2011, jeweils § 81a Rn. 17 mwN). Jedenfalls hat die Schwurgerichtskammer den aktuellen Ges<strong>und</strong>heitszustand<br />

des Verstorbenen (vgl. Meyer-Goßner aaO) nicht hinreichend in seine – im Übrigen durch keinen der zahlreichen<br />

Sachverständigen gestützte – Wertung einbezogen, dass ein erfahrener Facharzt bei Fortsetzung der Exkorporation<br />

nicht mit Nachteilen für dessen Ges<strong>und</strong>heit habe rechnen müssen. Rechtsfehlerhaft hat sie ferner hinsichtlich der<br />

Voraussetzungen des § 81a Abs. 1 Satz 2 StPO – ebenso wie für die Frage der Pflichtwidrigkeit im Sinne der §§ 222,<br />

227 StGB – darauf abgestellt, dass sich die Aspirationsgefahr aus der Sicht ex post nicht zu ihrer Überzeugung verwirklicht<br />

habe (UA S. 101). Darauf kommt es nicht an. Maßgebend ist nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift,<br />

ob bei objektiver Betrachtung der Gefahrenlage aus der Sicht ex ante bei Fortsetzung der Exkorporation mit<br />

einer gewissen Wahrscheinlichkeit ges<strong>und</strong>heitliche Nachteile zu erwarten waren (vgl. LR/Krause, StPO, 26. Aufl.<br />

2008, § 81a Rn. 31 mwN; Meyer-Goßner aaO; siehe auch BGH, Urteil vom 8. Juli 1955 – 5 StR 233/55, BGHSt 8,<br />

144, 147 f.; zum Maßstab für die Pflichtwidrigkeit: BGH, Urteile vom 19. April 2000 – 3 StR 442/99, NJW 2000,<br />

2754, 2758, <strong>und</strong> vom 14. März 2003 – 2 StR 239/02, NStZ 2003, 657, 658). Das ist nach dem durch das Landgericht<br />

festgestellten Geschehen unzweifelhaft zu bejahen. Der Ges<strong>und</strong>heitszustand des Verstorbenen während der ersten<br />

Exkorporationsphase war erkennbar beeinträchtigt (unter anderem Apathie, schweres Atmen, Pupillenengstellung,<br />

Sauerstoffsättigungswert von nur 89 %; UA S. 21 ff.), veranlasste den Angeklagten zur Herbeiholung des Notarztes<br />

<strong>und</strong> machte schließlich die Infusion eines Notfallmedikaments (Ringerlösung) sowie die Gabe von Sauerstoff notwendig.<br />

Auch in Anbetracht der danach erreichten Zustandsverbesserung verbot sich bei dieser Sachlage unter den<br />

strengen medizinischen Voraussetzungen des § 81a StPO die Fortsetzung der Exkorporation schon wegen des Risikos<br />

erneuten Auftretens der – hinsichtlich ihrer Ursache ungeklärt gebliebenen – Komplikationen. Zudem war der<br />

durch konkrete Umstände begründete Verdacht einer Bewusstseinseintrübung gegeben. Er stand den weiteren durch<br />

den Angeklagten getroffenen Maßnahmen wegen damit verb<strong>und</strong>ener Aspirationsgefahr zwingend entgegen (vgl. zur<br />

Kontraindikation der Aspirationsgefahr auch die Allgemeinverfügung des Leitenden Oberstaatsanwalts beim Landgericht<br />

Bremen, UA S. 10). Das Landgericht hat es insoweit unterlassen, aus seiner entsprechenden zutreffenden<br />

eigenen Bewertung (UA S. 101) die gebotenen zwingenden Folgerungen auf die klare Rechtswidrigkeit der Eingriffsfortsetzung<br />

zu ziehen. Angesichts der dargetanen <strong>und</strong> dem Angeklagten bekannten ges<strong>und</strong>heitlichen Parameter<br />

des C. im Zeitpunkt des Noteinsatzes durfte die Schwurgerichtskammer zugunsten des – in der Hauptverhandlung<br />

schweigenden – Angeklagten weder eine Simulation der Beeinträchtigungen oder ihrer Schwere durch den Verstorbenen<br />

unterstellen (UA S. 21, 24, 26, 101 <strong>und</strong> mehrfach), noch eine etwa in diese Richtung zielende Annahme des<br />

Angeklagten, zu dessen Vorerfahrungen mit Zwangsexkorporationen das Schwurgericht – angesichts zu erwartender<br />

Dokumentationen schwer verständlich – nichts festzustellen vermochte (UA S. 14). Entsprechendes gilt mangels<br />

objektiver Anhaltspunkte für eine von keinem Zeugen beobachtete kurze (<strong>und</strong> ohnehin nicht zureichende) Untersuchung<br />

der Herz- <strong>und</strong> Lungenfunktion mittels Stethoskops (UA S. 25). Dass der Angeklagte selbst bei Fortsetzung der<br />

Exkorporation erneute Verwerfungen für möglich hielt, ergibt sich deutlich aus seiner Bitte an den Notarzt, noch zu<br />

bleiben, mit der er sich nach den Feststellungen „ärztlichen Rückhalts“ versichern wollte (UA S. 25).<br />

(2) Soweit das Landgericht eine im Einsatz von Pinzette <strong>und</strong> Spatel liegende rechtswidrige Körperverletzung <strong>und</strong><br />

zugleich Sorgfaltspflichtverletzung unter Hinweis auf eine übliche – wenn auch in der für den Angeklagten geltenden<br />

Dienstanweisung nicht geregelte – Praxis verneint, hat es gegen die nach § 358 Abs. 1 StPO verbindliche<br />

- 49 -


Rechtsauffassung des Senats verstoßen. Das nach nochmaliger Befüllung des Magens mit Wasser gewaltsame Öffnen<br />

des M<strong>und</strong>es unter größerem Kraftaufwand <strong>und</strong> das mechanische Auslösen des Brechreizes mittels Pinzette <strong>und</strong><br />

Spatels sind offensichtlich unverhältnismäßig, verletzen die Menschenwürde <strong>und</strong> sind demgemäß auch rückblickend<br />

schlechterdings nicht nach § 81a StPO zu rechtfertigen (BGHSt 55, 121, 133). Lediglich ergänzend ist darauf hinzuweisen,<br />

dass das Untersuchungszimmer nicht mit einem Spatel ausgestattet war, ein solcher vielmehr erst aus dem<br />

Rettungswagen geholt werden musste (UA S. 28), was der vom Landgericht angenommenen Üblichkeit einer solchen<br />

Exkorporationsmethode widerstreiten würde.<br />

bb) Auch am Körperverletzungsvorsatz ist nicht zu zweifeln. Namentlich sind den Feststellungen nicht die Voraussetzungen<br />

für einen etwaigen vorsatzausschließenden Erlaubnistatbestandsirrtum (vgl. BGH, Urteil vom 10. Februar<br />

2000 – 4 StR 558/99, BGHSt 45, 378, 384) infolge Verkennung der für den Verstorbenen bestehenden Gefahrenlage<br />

zu entnehmen. Die Bitte an den Notarzt, noch zu bleiben (vgl. oben), läuft der Annahme einer in dieser Hinsicht<br />

bestehenden Fehlvorstellung des Angeklagten zuwider.<br />

cc) Rechtsfehlerfrei geht das Landgericht davon aus, dass der Angeklagte mit den in Fortsetzung der Exkorporation<br />

getroffenen Maßnahmen den Eintritt des Todeserfolgs verursacht hat. Auch bei angenommener Todesursache eines<br />

mulitfaktoriellen Geschehens ist der erforderliche Zurechnungszusammenhang keinen Zweifeln ausgesetzt. Denn<br />

auch dann hat sich die der Verwirklichung des Gr<strong>und</strong>delikts eigentümliche tatbestandsspezifische Gefahr im tödlichen<br />

Ausgang verwirklicht (vgl. hierzu etwa BGH, Urteile vom 30. Juni 1982 – 2 StR 226/82, BGHSt 31, 96, vom<br />

28. März 2001 – 3 StR 532/00, BGHR StGB § 227 Todesfolge 1, vom 16. März 2006 – 4 StR 536/05, BGHSt 51, 18,<br />

21, <strong>und</strong> vom 10. Januar 2008 – 5 StR 435/07, BGHR StGB § 227 Todesfolge 6). Die etwa mitwirkende unerkannte<br />

Herzvorschädigung des Verstorbenen führt dabei nicht zur Annahme eines außerhalb jeder Lebenswahrscheinlichkeit<br />

liegenden, als Verkettung außergewöhnlicher, unglücklicher Umstände anzusehenden <strong>und</strong> deshalb dem Angeklagten<br />

nicht anzulastenden Geschehens (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juni 1982 – 2 StR 226/82, BGHSt 31, 96, 100).<br />

dd) Die Würdigung der Vorhersehbarkeit des Todeserfolgs ist durchgreifend rechtsfehlerhaft. Das Landgericht hat<br />

auch hier einen nicht zutreffenden rechtlichen Maßstab angelegt. Im Rahmen des § 227 StGB ist, weil schon in der<br />

Begehung des Gr<strong>und</strong>delikts eine Verletzung der Sorgfaltspflicht liegt, alleiniges Merkmal der Fahrlässigkeit die<br />

Vorhersehbarkeit des Todeserfolgs (BGH, Urteile vom 28. März 2001 – 3 StR 532/00, BGHR StGB § 227 Todesfolge<br />

1, <strong>und</strong> vom 16. März 2006 – 4 StR 536/05, BGHSt 51, 18, 21). Hierfür ist entscheidend, ob vom Täter in seiner<br />

konkreten Lage <strong>und</strong> nach seinen persönlichen Kenntnissen <strong>und</strong> Fähigkeiten der Todeseintritt vorausgesehen werden<br />

konnte oder ob aus dieser Sicht die tödliche Gefahr für das Opfer so weit außerhalb der Lebenswahrscheinlichkeit<br />

lag, dass die qualifizierende Folge dem Täter deshalb nicht zuzurechnen ist (BGHSt aaO mwN). An diesen Gr<strong>und</strong>sätzen<br />

gemessen steht die Vorhersehbarkeit des Todeseintritts auch auf der Basis des durch das Landgericht als todesursächlich<br />

unterstellten multifaktoriellen Geschehens nicht in Frage. Zwar konnte der Herzschaden im Zeitpunkt der<br />

Fortsetzung der Exkorporation durch den Angeklagten ohne eingehende körperliche Untersuchung nicht diagnostiziert<br />

werden. Ebenso nimmt die Schwurgerichtskammer nachvollziehbar an, dass die Einzelheiten des tödlichen<br />

Ablaufs nicht absehbar gewesen sind. Das ist jedoch auch nicht erforderlich; denn die – nicht durch den Sachverständigen,<br />

sondern in wertender Betrachtung durch den Richter zu beurteilende – Vorhersehbarkeit muss sich nicht<br />

auf alle Einzelheiten des zum Tode führenden Geschehensablaufs, mithin auch nicht auf die konkrete Todesursache<br />

erstrecken (vgl. BGH, Urteile vom 26. Februar 1997 – 3 StR 569/96, BGHR StGB § 226 aF Todesfolge 12, vom 15.<br />

November 2007 – 4 StR 453/07, NStZ 2008, 686, 687, <strong>und</strong> vom 10. Juni 2009 – 2 StR 103/09, NStZ-RR 2009, 309).<br />

Vorliegend widersprach es gerade ärztlicher Pflicht, die Exkorporation fortzuführen, nachdem sich der Ges<strong>und</strong>heitszustand<br />

während deren erster Phase so sehr verschlechtert hatte, dass der Angeklagte das Legen einer Verweilkanüle<br />

<strong>und</strong> das Herbeiholen des Notarztes für erforderlich gehalten hatte <strong>und</strong> nachdem notärztliche Maßnahmen auch tatsächlich<br />

durchgeführt worden waren. Zudem setzte der Angeklagte – was von der Schwurgerichtskammer nicht<br />

erkennbar bedacht worden ist – auf der Basis der Feststellungen zum alternativ denkbaren Kausalverlauf namentlich<br />

mit dem noch mindestens zweimaligen Legen der Magensonde sowie dem mit körperlicher Gewalt verb<strong>und</strong>enen<br />

Einsatz von Spatel <strong>und</strong> Pinzette pflichtwidrig eigenständige Ursachen für den Eintritt der Todesfolge (Auslösen von<br />

Karotis-Sinus- bzw. Valsalva-Reflex), wobei nach dem Verlauf der „ersten Phase“ <strong>und</strong> dem vom Landgericht angenommenen<br />

„vitalen“ Zustandsbild des Angeklagten dann auch weiteres „Filtern“ durch den Verstorbenen <strong>und</strong> allein<br />

daraus möglicherweise resultierende schädliche Folgen wahrscheinlich waren. Wenn der Arzt unter solchen Vorzeichen<br />

lediglich nach Prüfung der „Vitalparameter“ mit seinem Tun fortfährt, so liegt der Todeseintritt aufgr<strong>und</strong> mitwirkender<br />

Vorschädigung der betroffenen Person nicht so sehr außerhalb der Wahrscheinlichkeit, dass die Voraussehbarkeit<br />

für den „erfahrenen Facharzt“ <strong>und</strong> den Angeklagten persönlich in Zweifel zu ziehen wäre (vgl. auch<br />

- 50 -


BGH, Urteile vom 24. Januar 1995 – 1 StR 707/94, BGHR StGB § 226 aF Todesfolge 9 [„medizinische Rarität“],<br />

vom 26. Februar 1997 – 3 StR 569/96, BGHR StGB § 226 aF Todesfolge 12 [Herzinfarkt infolge Herzvorschädigung]<br />

<strong>und</strong> vom 10. Juni 2009 – 2 StR 103/09, NStZ-RR 2009, 309). Mit Komplikationen auch aufgr<strong>und</strong> nicht auf<br />

den ersten Blick erkennbarer Vorschädigungen muss der Fachk<strong>und</strong>ige – zumal in Ermangelung einer gründlichen<br />

Untersuchung – bei einem so gearteten Zwangseingriff vielmehr stets rechnen. Das Wissen um solche Risiken gehört<br />

naturgemäß auch zum beruflichen Erfahrungsbereich des nach den Feststellungen der nunmehr entscheidenden<br />

Schwurgerichtskammer überdies vielfach mit – wenngleich nicht zwangsweise durchgeführten – Exkorporationen<br />

befassten <strong>und</strong> über deren Risiken wohl informierten (vgl. UA S. 11, 14) Angeklagten.<br />

4. Die Sache bedarf demnach neuer Aufklärung <strong>und</strong> Bewertung, Letztere unter Beachtung der Rechtsauffassung des<br />

Senats (§ 358 Abs. 1 StPO). Die Feststellungen können, auch soweit sie rechtsfehlerfrei getroffen wurden, insgesamt<br />

keinen Bestand haben, weil es dem freigesprochenen Angeklagten bislang verwehrt war, die ihn bei rechtsfehlerfreier<br />

Bewertung belastenden Feststellungen revisionsrechtlich anzugreifen. Die Regelung in § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO<br />

ermöglicht dem Senat im Falle des Landgerichts Bremen keine Zurückverweisung an ein anderes Gericht. Der Senat<br />

weist ausdrücklich auf den Fortbestand der Bindung an die gesamte rechtliche Beurteilung in seinem ersten Urteil<br />

hin (§ 358 Abs. 1 StPO) <strong>und</strong> auch auf die Ausführungen in dieser Entscheidung zur Rechtsfolge (BGHSt 55, 121,<br />

138).<br />

StGB § 246 Abs. 1 <strong>und</strong> 2, 266 Abs. 2 i.V.m. § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 - Veruntreuende Unterschlagung<br />

- Konkurrenz<br />

BGH, Beschl. v. 26.06.2012 - 2 StR 137/12 - NJW 2012, 3046 = NStZ 2012, 628 = StV 2013, 85<br />

LS: Veruntreuende Unterschlagung tritt aufgr<strong>und</strong> formeller Subsidiarität hinter gewerbsmäßig<br />

begangener Untreue zurück.<br />

Der 2. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalb<strong>und</strong>esanwalts <strong>und</strong> der Beschwerdeführerin<br />

am 26. Juni 2012 gemäß § 349 Abs. 2 <strong>und</strong> 4 StPO beschlossen: Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil<br />

des Landgerichts Meiningen vom 4. Januar 2012 im Schuldspruch dahin geändert, dass die Verurteilung wegen tateinheitlich<br />

begangener veruntreuender Unterschlagung entfällt. Die weitergehende Revision der Angeklagten wird<br />

verworfen. Die Beschwerdeführerin hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Untreue in Tateinheit mit veruntreuender Unterschlagung in 130 Fällen<br />

zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt <strong>und</strong> den Verfall von Wertersatz in Höhe von 288.330,63<br />

Euro angeordnet. Dagegen richtet sich die auf Verfahrensrügen <strong>und</strong> die Sachbeschwerde gestützte Revision der Angeklagten.<br />

Das Rechtsmittel führt zu einer Änderung des Schuldspruchs dahin, dass die Verurteilung wegen tateinheitlich<br />

begangener veruntreuender Unterschlagung entfällt. Im Übrigen ist es aus den vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt in<br />

seiner Antragsschrift vom 2. April 2012 genannten Gründen unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO. Der<br />

Erörterung bedarf nur Folgendes: Der Verurteilung liegt die Feststellung zu Gr<strong>und</strong>e, dass die Angeklagte unter Manipulation<br />

von Kassenbelegen <strong>und</strong> Fälschung von Postquittungen für angebliche Portokosten im Tatzeitraum von<br />

August 2004 bis Ende 2007 aus der von ihr alleine verwalteten Handkasse des I. der W. M. durch 130 Handlungen<br />

insgesamt 288.330,63 Euro für eigene Zwecke entnommen hat. Dies hat das Landgericht jeweils als - gewerbsmäßig<br />

begangene - Untreue (§§ 266, 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StGB) in Tateinheit mit veruntreuender Unterschlagung bewertet.<br />

Diese Konkurrenzbewertung begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Veruntreuende Unterschlagung<br />

tritt dann, wenn der Täter der zugleich erfüllten Untreue von Anfang an auch mit Zueignungsabsicht hinsichtlich<br />

der veruntreuten Sache gehandelt hat, auf der Konkurrenzebene (vgl. LK/Vogel, StGB, 12. Aufl. 2010, § 246<br />

Rn. 71) aufgr<strong>und</strong> formeller Subsidiarität hinter den durch dieselbe Handlung erfüllten Tatbestand der Untreue zurück<br />

(vgl. Lackner/ Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, § 246 Rn. 23). § 246 Abs. 1 StGB in der Fassung des 6. Strafrechtsreformgesetzes<br />

greift nach seinem zweiten Halbsatz nur ein, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer<br />

Strafe bedroht ist. Dies gilt nach der Rechtsprechung für ein Zusammentreffen der Unterschlagung mit allen Delikten,<br />

für die das Gesetz eine höhere Strafdrohung vorsieht (BGH, Urteil vom 6. Februar 2002 - 1 StR 513/01, BGHSt<br />

47, 243, 244; krit. Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, § 246 Rn. 23a). Es besteht - unbeschadet der Platzierung in Absatz<br />

1 (LK/Vogel aaO) - schon nach dem Wortlaut des Gesetzes (vgl. zur weiten Wortlautauslegung BGH, Beschluss<br />

- 51 -


vom 9. September 1997 - 1 StR 730/96, BGHSt 43, 237, 238 f.) kein Gr<strong>und</strong> zu der Annahme, dass die Subsidiaritätsklausel<br />

im Fall einer nach § 246 Abs. 2 StGB qualifizierten Unterschlagung keine Geltung mehr beanspruchen<br />

soll. § 246 Abs. 2 StGB nimmt auch insoweit auf Absatz 1 der Norm Bezug. Vorausgesetzt wird dann allerdings,<br />

dass die konkurrierende Norm auch eine höhere Strafdrohung vorsieht als der qualifizierte Unterschlagungstatbestand<br />

(zum Vergleichsmaßstab bei § 125 Abs. 1 StGB BGH, Urteil vom 24. März 2011 - 4 StR 670/10). Dies ist hier<br />

der Fall. Für die Frage, ob eine schwerere Strafdrohung vorliegt, kommt es auf den im Einzelfall anwendbaren Strafrahmen<br />

an, einschließlich eines Sonderstrafrahmens für besonders schwere Fälle des konkurrierenden Straftatbestands<br />

(Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht Besonderer Teil, Teilband 1, 10. Aufl. 2009, § 34 Rn. 41; LK/Vogel<br />

aaO). Eine schwerere Strafdrohung liegt demnach hier vor, weil der besonders schwere Fall der - gewerbsmäßig<br />

begangenen - Untreue gemäß § 266 Abs. 2 StGB in Verbindung mit § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StGB eine Strafobergrenze<br />

bei Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren vorsieht, also mehr als § 246 Abs. 2 StGB mit seiner Strafobergrenze<br />

bei Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren. Auch liegt eine erhöhte Mindeststrafe vor. Der Senat ändert den Schuldspruch<br />

dahin ab, dass die Verurteilung wegen veruntreuender Unterschlagung entfällt. § 265 Abs. 1 StPO steht dem nicht<br />

entgegen, weil sich die Angeklagte insoweit nicht anders als geschehen hätte verteidigen können. Die Änderung des<br />

Schuldspruchs zwingt nicht zur Aufhebung des Strafausspruchs. Dabei kommt es im vorliegenden Fall nicht darauf<br />

an, ob der Unrechtsgehalt der wegen Gesetzeseinheit zurücktretenden Strafnorm weiterhin strafschärfend berücksichtigt<br />

werden kann, sofern diese gegenüber dem Tatbestand des angewandten Gesetzes selbständiges Unrecht enthält<br />

(vgl. Senat, Beschluss vom 18. Dezember 2002 - 2 StR 477/02; BGH, Beschluss vom 16. September 2010 - 3<br />

StR 331/10; Fischer, aaO Vor § 52 Rn. 45; LK/Rissing-van Saan, StGB, 12. Aufl. 2006, Vor § 52 Rn. 139; krit.<br />

SSW/Eschelbach, StGB, 2010, § 52 Rn. 28 f.; NK/Puppe, StGB, 3. Aufl. 2010, Vor § 52 Rn. 50). Ob eigenständiges<br />

Unrecht der veruntreuenden Unterschlagung gegenüber Untreue anzunehmen ist, erscheint zumindest zweifelhaft<br />

(abl. Apfel, Die Subsidiaritätsklausel der Unterschlagung, 2006, S. 133 f.). Der Senat schließt jedenfalls aus, dass das<br />

Landgericht zu anderen Einzelstrafen <strong>und</strong> einer milderen Gesamtstrafe gelangt wäre, wenn es den Wegfall der veruntreuenden<br />

Unterschlagung berücksichtigt hätte. Es hat die von ihm angenommene Idealkonkurrenz zweier Straftatbestände<br />

weder bei der Strafrahmenwahl noch bei der Strafbemessung berücksichtigt.<br />

StGB § 263 Abs. 1 Schadensberechnung beim Eingehungsbetrug<br />

BGH, Urt. v. 20.03.2013 – 5 StR 344/12- NJW 2013, 1460 = NStZ 2013, 404<br />

LS: Täuscht der Empfänger einer Sachleistung bei einem Eingehungsbetrug über seine Zahlungsbereitschaft,<br />

bedarf es für die Bemessung des Schadens regelmäßig keiner von dem ohne Wissens<strong>und</strong><br />

Willensmängel vereinbarten Preis abweichenden Bestimmung des Werts der Gegenleistung.<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 13. April 2011 im Strafausspruch<br />

mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.<br />

Die weitergehende Revision wird verworfen. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong><br />

Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts<br />

zurückverwiesen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betruges zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren <strong>und</strong> neun Monaten<br />

verurteilt, wobei es angeordnet hat, dass zwei Monate der verhängten Freiheitsstrafe wegen rechtsstaatswidriger<br />

Verfahrensverzögerung als vollstreckt gelten. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten hat im Strafausspruch<br />

Erfolg. Im Übrigen ist sein Rechtsmittel unbegründet.<br />

I. Das Landgericht hat in tatsächlicher <strong>und</strong> rechtlicher Hinsicht folgendes ausgeführt:<br />

1. Nach den Feststellungen war der Angeklagte, ein vermögender Immobilienkaufmann, Geschäftsführer der B.<br />

GmbH (zukünftig: B.). Die B. stand vor der bilanziellen Überschuldung. Dem Angeklagten war über den Zeugen W.<br />

zur Kenntnis gelangt, dass die L. GmbH (zukünftig: L.) das ehemalige R<strong>und</strong>funkgelände der DDR verkaufen wollte.<br />

Dieses am Spreeufer in Berlin-Oberschöneweide gelegene Areal steht unter Denkmalschutz, Teile des R<strong>und</strong>funkgeländes<br />

sind mit Bodenkontaminationen belastet. Nach dem Einigungsvertrag – so die Urteilsgründe des Landgerichts<br />

– fiel das Eigentum an dem R<strong>und</strong>funkgelände den fünf neuen B<strong>und</strong>esländern <strong>und</strong> dem Land Berlin zu, die eine Gesellschaft<br />

bürgerlichen Rechts mit unterschiedlichen Anteilen bildeten. Das Gr<strong>und</strong>stück, das nach den Vorstellungen<br />

- 52 -


des Landes Berlin weiterhin als Medienstandort genutzt werden sollte, war teilvermietet. Es verursachte aber erhebliche<br />

monatliche Lasten, die sich auf zwischen 100.000 € <strong>und</strong> 150.000 € monatlich beliefen. Die von der L. vertretene<br />

Eigentümergemeinschaft drängte deshalb auf einen raschen Verkauf des R<strong>und</strong>funkgeländes. Der Zeuge W. wusste<br />

um die Verkaufsbemühungen. Da er aber nicht über die erforderlichen Mittel verfügte, stellte ihm der Angeklagte die<br />

von der L. geforderten 350.000 € zur Verfügung, die W. nach einem privatschriftlichen Optionsvertrag hätte aufbringen<br />

müssen. Der Angeklagte erreichte, dass er an dessen Stelle für die B. das R<strong>und</strong>funkgelände erwerben konnte.<br />

Um den von der L. geforderten Bonitätsnachweis zu erbringen, überwies der Angeklagte kurzfristig auf die Konten<br />

der B. einen Betrag von ca. 1 Mio. €, ließ sich über das Guthaben Bankbescheinigungen ausstellen <strong>und</strong> zog die Beträge<br />

sogleich wieder ab. Im November 2005 kam es dann zum Abschluss des notariellen Kaufvertrages zwischen<br />

der B. <strong>und</strong> der Ländergemeinschaft. In dem Vertrag wurde neben dem bereits vorab gezahlten Kaufpreis von<br />

350.000 €, der dann verrechnet wurde, als Gegenleistung vereinbart, dass der Erwerber schon ab dem 1. Dezember<br />

2005 alle anfallenden Bewirtschaftungskosten <strong>und</strong> Lasten des Gr<strong>und</strong>stücks tragen musste, auch wenn der Übergang<br />

von Nutzen <strong>und</strong> Lasten erst später erfolgen sollte. Die B. war bis zu diesem Zeitpunkt verpflichtet, die Ländergemeinschaft<br />

gegebenenfalls im Innenverhältnis freizustellen. Dieser Verpflichtung ist die B. – wie der Angeklagte von<br />

vornherein vorhatte – nie nachgekommen. Nach den Feststellungen des Landgerichts ist der Ländergemeinschaft ein<br />

Schaden aus den nicht erstatteten Betriebskosten <strong>und</strong> Lasten in Höhe von mindestens 290.000 € entstanden. Die<br />

Ländergemeinschaft erwirkte zwar gegen die B. im zivilgerichtlichen Verfahren einen Titel, konnte diesen aber nicht<br />

vollstrecken, weil die B. zwischenzeitlich vermögenslos geworden war. Bereits vier Wochen nach dem Abschluss<br />

des Kaufvertrages wurden die Gr<strong>und</strong>stücke an die N. GmbH i. G. (kaufpreisfrei) übertragen. Etwa acht Monate später<br />

wurde ein Teil der Gr<strong>und</strong>stücke für knapp 3,5 Mio. € veräußert.<br />

2. Das Landgericht hat das Verhalten des Angeklagten als Betrug gewertet. Der Angeklagte habe nie vorgehabt, dass<br />

die Betriebskosten <strong>und</strong> Lasten durch die B. getragen würden. Ihm sei bewusst gewesen, dass dies für die Ländergemeinschaft<br />

ein ganz wesentlicher Punkt in den Verhandlungen gewesen sei. Der Angeklagte habe deshalb bewusst<br />

den Ankauf über die vermögenslose B. gewählt, die auch die Gr<strong>und</strong>stücke kurz danach weitergegeben habe, um<br />

spätere Vollstreckungen ins Leere laufen zu lassen. Die gegenüber der Ländergemeinschaft nicht ausgeglichenen<br />

Betriebskosten <strong>und</strong> Lasten, die in einer sehr restriktiven Berechnung ermittelt worden seien, bildeten den Schaden.<br />

Auf den objektiven Wert der Gr<strong>und</strong>stücke könne es nicht ankommen. Das R<strong>und</strong>funkgelände stelle ein reines Spekulationsobjekt<br />

dar <strong>und</strong> entzöge sich einer Wertbestimmung im Sinne des § 194 BauGB. Wenn ein Marktpreis fehle,<br />

sei der Wert aus der Vereinbarung der Parteien zu entnehmen. Dass dieser Preis nicht zu hoch gegriffen sei, zeige im<br />

Übrigen die nachfolgende Entwicklung.<br />

II. Die Revision des Angeklagten ist hinsichtlich des Schuldspruchs unbegründet, hinsichtlich des Strafausspruchs<br />

führt sie zum Erfolg.<br />

1. Das Landgericht hat das Vorliegen eines Betrugs rechtsfehlerfrei bejaht.<br />

a) Entgegen der Auffassung der Revision ist es für die strafrechtliche Würdigung unerheblich, ob das R<strong>und</strong>funkgelände<br />

im Gesamthands- oder im Bruchteilseigentum stand. Jedenfalls konnte an der Vollmacht der ungeachtet ihrer<br />

gesellschaftsrechtlichen Struktur für die Ländergemeinschaft Handelnden kein Zweifel bestehen. Anhaltspunkte, die<br />

hier den Tatrichter zu einer vertieften Auseinandersetzung mit der Vollmacht hätten veranlassen können, sind nicht<br />

ersichtlich. Zudem ist – <strong>und</strong> nur hierauf kommt es bei der gebotenen wirtschaftlichen Betrachtung an (vgl. Fischer,<br />

StGB, 60. Aufl., § 263 Rn. 89 f.) – das Geschäft abgewickelt <strong>und</strong> vollzogen worden.<br />

b) Ohne Rechtsverstoß ist das Landgericht von einem Vermögensschaden ausgegangen. Einer besonderen Verkehrswertermittlung<br />

(§ 194 BauGB), die unter sachverständiger Hilfe hätte erfolgen müssen, bedurfte es nicht.<br />

aa) Das Landgericht nimmt hier zutreffend einen Betrug in Form eines Eingehungsbetruges an. In seiner rechtsfehlerfreien<br />

Beweiswürdigung kommt es zu dem Ergebnis, dass der Angeklagte, indem er den Kauf über eine vermögenslose<br />

GmbH abwickelte, die er zum Schein kurzfristig mit erheblichen Finanzmitteln ausstattete, von Anfang an<br />

vorhatte, die zweite Komponente des Kaufpreises, nämlich die Zahlung der erheblichen Betriebskosten <strong>und</strong> Lasten<br />

schon vor Gefahrübergang, nicht erbringen zu wollen. Um die B. wieder vermögenslos zu stellen, hat er das R<strong>und</strong>funkgelände<br />

kurze Zeit später weiterübertragen.<br />

bb) Liegt ein Eingehungsbetrug vor, gilt für die Schadensbestimmung nach der ständigen Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs,<br />

dass eine Gesamtsaldierung vorzunehmen ist. Dabei sind der Geldwert des gegen den Täuschenden<br />

erworbenen Anspruchs <strong>und</strong> der Geldwert der eingegangenen Verpflichtung miteinander zu vergleichen. Der Getäuschte<br />

ist geschädigt, wenn sich ein Negativsaldo zu seinem Nachteil ergibt (BGH, Urteil vom 20. Dezember 2012<br />

- 53 -


– 4 StR 55/12 Rn. 35, zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen; BGH, Beschluss vom 14. April 2011 – 2 StR<br />

616/10, NStZ 2011, 638, 639).<br />

cc) Ein solcher Vergleich ergibt hier, dass der täuschungsbedingte Nachteil der Verkäuferseite darin besteht, dass sie<br />

die zweite Kaufpreiskomponente nicht erhalten hat. Da es für die Ermittlung des Schadens beim Eingehungsbetrug<br />

auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses ankommt, stellt letztlich der Betrag den Schaden dar, der an Betriebskosten<br />

<strong>und</strong> Lasten bei gewöhnlichem Verlauf bis zum Zeitpunkt des Übergangs von Nutzungen <strong>und</strong> Lasten angefallen wäre.<br />

Diese Summe stellt das täuschungsbedingte Minus im Vermögen der Verkäufer dar. Dieser sicher zu erwartende<br />

Fehlbetrag war im Vertrag mit dem insoweit nicht erfüllungswilligen Angeklagten angelegt; Umstände, die diesen<br />

Verlust auf der Verkäuferseite hätten ausgleichen können, sind nicht ersichtlich. Entgegen der Auffassung der Verteidigung<br />

<strong>und</strong> des Generalb<strong>und</strong>esanwalts, die dieser seinem umfassenden Aufhebungsantrag gemäß § 349 Abs. 4<br />

StPO zugr<strong>und</strong>e gelegt hat, kommt es nicht auf eine Bestimmung des objektiven Werts des Gr<strong>und</strong>stücks an. Dieser ist<br />

in einem Fall der hier vorliegenden Art bei der erforderlichen Gesamtsaldierung der Vermögenslage keine anzusetzende<br />

Position. Das Landgericht hat deshalb im Ergebnis zu Recht keine Feststellungen zum objektiven Wert der<br />

Gr<strong>und</strong>stücke getroffen <strong>und</strong> keine Sachverständigenbegutachtung hierzu in Auftrag gegeben. Aus der Rechtsprechung<br />

des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts ergibt sich nichts anderes.<br />

(1) Das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 7. Dezember 2011 (NStZ 2012, 496, 504 f.) ausgeführt,<br />

dass der Vermögensschaden – abgesehen von einfach gelagerten <strong>und</strong> eindeutigen Fällen – der Höhe nach zu<br />

beziffern <strong>und</strong> in den Urteilsgründen nachvollziehbar darzulegen ist. Dabei können normative Gesichtspunkte bei der<br />

Bewertung von Schäden eine Rolle spielen; sie dürfen die wirtschaftliche Betrachtung allerdings nicht überlagern<br />

oder verdrängen. Mit dieser Entscheidung knüpft das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht an seine gr<strong>und</strong>legende Entscheidung<br />

zur Nachteilsbestimmung bei der Untreue (§ 266 StGB) an (BVerfGE 126, 177), in der näher dargelegt ist, wie –<br />

dort allerdings für den Fall einer pflichtwidrigen Kreditvergabe – die Schadensbewertung vorzunehmen ist.<br />

(2) Die Anforderungen an die Schadensfeststellung sind (jedenfalls was die Frage der Wertfeststellung anbelangt)<br />

gewahrt. Es liegt schon nahe, dass der hier zu beurteilende Sachverhalt ein hinsichtlich der Schadensfeststellung<br />

einfach gelagerter <strong>und</strong> eindeutiger Fall im Sinne der vorgenannten Entscheidung ist. Der Angeklagte hat nämlich<br />

eine Leistung versprochen, die er von vornherein nicht zu erbringen beabsichtigte, wenngleich er sie im Blick auf<br />

sein Vermögen – wie sich aus den Urteilsgründen ergibt – ohne weiteres hätte erbringen können. Stattdessen hat er<br />

den Erwerb <strong>und</strong> gewinnbringenden Weiterverkauf über eine vermögenslose GmbH initiiert. Bei einer derartigen<br />

Konstellation bedarf es keiner Schätzung des objektiven Gr<strong>und</strong>stückswertes, die ohne sachverständige Hilfe nicht<br />

sachgerecht zu treffen wäre.<br />

(3) Der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts lässt sich nach Auffassung des Senats nicht entnehmen, dass<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich bei betrügerischen Handlungen im Zusammenhang mit dem Abschluss von Austauschverträgen es der<br />

Bestimmung des „objektiven Werts“ des Vertragsgegenstands bedürfte. Abgesehen davon, dass dies mit einem nicht<br />

hinzunehmenden Aufwand verb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> für Fälle der gängigen Betrugskriminalität auch kriminalpolitisch fragwürdig<br />

wäre, ist eine solche verobjektivierte Feststellung auch im Regelfall nicht veranlasst, zumal solche Wertbestimmungen<br />

häufig nur scheingenau sind, weil sie ihrerseits auf Rückschlüssen aus den Marktgegebenheiten beruhen.<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich legen in einem von Angebot <strong>und</strong> Nachfrage bestimmten marktwirtschaftlichen System die Vertragsparteien<br />

den Wert des Gegenstandes fest. Diese intersubjektive Wertsetzung muss nicht deshalb in Frage gestellt<br />

werden, weil – wie hier – eine Partei sich bei Vertragsschluss bereits vorgenommen hat, die vertraglich übernommene<br />

Verpflichtung ganz oder teilweise nicht zu erfüllen. Deswegen hat dieser von den Parteien selbst – auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

übereinstimmender, von Willens- <strong>und</strong> Wissensmängeln nicht beeinflusster Vorstellungen über Art <strong>und</strong> Güte des<br />

Vertragsgegenstandes – bestimmte Wert gr<strong>und</strong>sätzlich auch die Basis der Schadensfeststellung im Rahmen des Betruges<br />

zu sein. Dies wird sämtliche Fallgestaltungen betreffen, in denen Leistung <strong>und</strong> Gegenleistung in keinem augenfälligen<br />

Missverhältnis zueinander stehen (vgl. dazu auch BGH, Beschluss vom 18. Juli 1961 – 1 StR 606/60,<br />

BGHSt 16, 220, 224). Ein betrugsbedingter Schaden liegt danach vor, wenn täuschungsbedingt die getäuschte Vertragspartei<br />

einen geringerwertigen Anspruch erhält, als sie nach den vertraglich vorausgesetzten Synallagma hätte<br />

beanspruchen können. Dies wird sich freilich regelmäßig durch einen Vergleich der vertraglich vorausgesetzten mit<br />

der täuschungsbedingt erlangten Leistung feststellen lassen. Der sich daraus ergebende Minderwert ist – gegebenenfalls<br />

mit sachverständiger Hilfe – zu beziffern (Saliger in: Matt/Renzikowski, StGB, 2013, § 263 Rn. 243). Insoweit<br />

besteht zwar nicht beim Schadensbegriff, wohl aber bei der Schadensbestimmung ein Unterschied zwischen den<br />

Straftatbeständen des Betruges (§ 263 StGB) <strong>und</strong> der Untreue (§ 266 StGB). Bei der Untreue muss bewertet werden,<br />

ob <strong>und</strong> inwieweit die pflichtwidrige Einzelhandlung zu einem Nachteil für das betreute Vermögen geführt hat. Dies<br />

- 54 -


kann nur in der Form eines auf objektiven Kriterien beruhenden Gesamtvermögensvergleichs erfolgen. Dagegen<br />

liegt beim Eingehungsbetrug regelmäßig eine Bewertung des Vertragsgegenstandes durch die Vertragsparteien vor.<br />

Hieran kann die Schadensbestimmung gr<strong>und</strong>sätzlich anknüpfen, indem nur noch bewertet wird, inwieweit infolge<br />

der Täuschung das vertragliche Synallagma verschoben worden ist. Die Feststellung eines vom vereinbarten Preis<br />

abweichenden „objektiven Werts“ des Vertragsgegenstands ist hiermit nicht verb<strong>und</strong>en. Aus der Rechtsprechung des<br />

B<strong>und</strong>esgerichtshofs ergibt sich nichts Abweichendes. Die vom Landgericht <strong>und</strong> sämtlichen Prozessbeteiligten in<br />

Bezug genommene Entscheidung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs vom 14. Juli 2010 (1 StR 245/09, NStZ 2010, 700) betrifft<br />

einen anderen Sachverhalt. Dort ging es um ein betrügerisch verkauftes Unternehmen, dessen Erwerb wirtschaftlich<br />

sinnlos war. Entsprechendes gilt auch für das Urteil vom 13. November 2007 (3 StR 462/06, NStZ 2008, 96) <strong>und</strong> für<br />

den Beschluss vom 18. Juli 1961 (1 StR 606/60, BGHSt 16, 220), denen eine objektive wertlose Leistung <strong>und</strong> das<br />

Fehlen einer zugesicherten Eigenschaft zugr<strong>und</strong>e lagen. Die Täuschungshandlung bezog sich dort jeweils auf den<br />

Kaufgegenstand, nicht auf die in einer Geldzahlung bestehende Gegenleistung. Ähnliches gilt für Geschäfte, die eine<br />

Risikobewertung beinhalten. Eine solche Fallkonstellation lag der Entscheidung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />

zugr<strong>und</strong>e (BVerfG, NStZ 2012, 496 – Lebensversicherung). Gleiches gilt für das Urteil des 4. Strafsenats vom 20.<br />

Dezember 2012 (4 StR 55/12 – Sportwetten) <strong>und</strong> den Senatsbeschluss vom 13. April 2012 (5 StR 442/11, NJW<br />

2012, 2370 – Kreditbetrug). All diesen Fallgestaltungen ist gemeinsam, dass es dort um die Bewertung <strong>und</strong> Bezifferung<br />

des täuschungsbedingten Risikoungleichgewichts ging. Aber auch dies setzt nicht voraus, dass die vertragliche<br />

Preisgestaltung an sich einer Überprüfung nach objektiven Wertmaßstäben unterzogen werden müsste. Der Schaden<br />

bestimmt sich in diesen Fällen immer aus der Verschiebung des synallagmatischen Zusammenhangs zu Lasten des<br />

Getäuschten. Eine solche betragsmäßige Bestimmung wird dann in Abhängigkeit zu dem konkreten in Frage stehenden<br />

Risiko regelmäßig unter sachverständiger Mithilfe vorgenommen werden (vgl. zur Berechnung des Wettbetrugsschadens<br />

4 StR 55/12, Rn. 40). Ein derartiges Risikogeschäft liegt hier nicht vor: Ein Schaden ist bei Vertragsschluss<br />

eingetreten, weil der Angeklagte – worüber er getäuscht hat – innerlich entschlossen war, die zweite Komponente<br />

des Kaufpreises nicht zu erbringen. Für die Schadensbestimmung, die beim Eingehungsbetrug bezogen auf den Zeitpunkt<br />

des Vertragsschlusses zu erfolgen hat, ist deshalb allein der Betrag relevant, den der Angeklagte von vornherein<br />

nicht erbringen wollte, bis zum Gefahrübergang an Betriebskosten <strong>und</strong> Lasten indes vertragsgemäß hätte aufbringen<br />

müssen. Dies lässt sich nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge ohne weiteres anhand der monatlich zu<br />

tätigenden Aufwendungen schätzen. Dass hiernach ein Schaden entstanden ist, versteht sich angesichts der angefallenen<br />

Kosten <strong>und</strong> Lasten von selbst.<br />

2. Die Verfahrensrügen, die gleichfalls den Themenkreis des Betrugsschadens betreffen, bleiben ohne Erfolg. Die<br />

Verteidigung hat Hilfsbeweisanträge zum Ausmaß der Bodenkontamination <strong>und</strong> zu deren Einfluss auf den Preis<br />

beim späteren Weiterverkauf gestellt, deren Ablehnung in den Urteilsgründen sie beanstandet. Zu der Begründung,<br />

die unter Beweis gestellten Tatsachen seien bereits erwiesen, setzt sich das Landgericht in den Urteilsgründen nicht<br />

in Widerspruch. Wie sich aus den obigen Darlegungen ergibt, kommt es auf die Frage nicht an, wie sich die den<br />

Vertragsparteien bekannten Altlasten auf den Gr<strong>und</strong>stückswert ausgewirkt haben können.<br />

3. Dagegen kann der Strafausspruch keinen Bestand haben.<br />

a) Die Schadensbestimmung des Landgerichts weicht in ihrem Gr<strong>und</strong>ansatz von den obigen Ausführungen insoweit<br />

ab, als sie nicht auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses abstellt, sondern den entstandenen Schaden aufgr<strong>und</strong> der<br />

nachträglich eingetretenen Entwicklung ermittelt. In der praktischen Auswirkung wird sich freilich die bereits im<br />

Vertragsschluss angelegte Schädigung regelmäßig in der weiteren Entwicklung tatsächlich konkretisieren. Deshalb<br />

begegnet es auch keinen Bedenken, wenn der Tatrichter – soweit keine Besonderheiten in der Schadensentwicklung<br />

bestehen – auf den konkret eingetretenen Schaden abstellt. Hier mag sogar eine Besonderheit insoweit bestanden<br />

haben, als der Schaden durch die verzögerte Löschung der Auflassungsvormerkung weiter vertieft wurde. Allerdings<br />

ist die Schadensaufstellung (UA S. 28) – worauf die Verteidigung zu Recht hinweist – hier defizitär. Sie ist aus sich<br />

heraus nicht ohne weiteres verständlich <strong>und</strong> auch rechnerisch nicht nachvollziehbar. Freilich bewegen sich die Unklarheiten<br />

in einem Bereich von höchstens 5 % der vom Landgericht angenommenen Schadenssumme. Ob sich diese<br />

Mängel im Ergebnis ausgewirkt haben können – was eher fernliegt –, kann der Senat offenlassen, weil die Strafzumessung<br />

in einem weiteren Punkt fehlerbehaftet ist, der zur Aufhebung des Strafausspruchs führt.<br />

b) Die Strafkammer wertet es als strafschärfend, dass der Angeklagte seine Mitarbeiterin, die Zeugin Wa., zu einem<br />

Meineid verleitet hat. Diese Wertung wird von den Feststellungen jedoch nicht getragen. Zwar schildert das Landgericht<br />

die Aussage <strong>und</strong> das Aussageverhalten der Zeugin eingehend <strong>und</strong> plausibel. Dies belegt aber nicht ausreichend<br />

eine Anstiftungshandlung des Angeklagten. Denn trotz Kontakten zwischen dem Angeklagten <strong>und</strong> der Zeugin vor<br />

- 55 -


ihrer Aussage in der Hauptverhandlung kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Zeugin letztlich, um ihren Arbeitsplatz<br />

zu retten, von sich aus die den Angeklagten entlastenden, falschen Angaben gemacht hat. Das bloße Dulden<br />

einer Falschaussage kann aber nicht strafschärfend gewürdigt werden (BGH, Beschluss vom 4. Dezember 2003<br />

– 4 StR 439/03, StV 2004, 480).<br />

c) Dieser Fehler führt zur Aufhebung des Strafausspruchs einschließlich der zugehörigen Feststellungen. Dies ermöglicht<br />

dem neuen Tatrichter, eine geordnete <strong>und</strong> nachvollziehbare Schadensberechnung vorzunehmen. Der Ausspruch<br />

über die Kompensation der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung bleibt bestehen (BGH, Beschluss<br />

vom 8. Januar 2013 – 1 StR 641/12 mwN). Der neue Tatrichter wird aber zu prüfen haben, ob die Kompensation im<br />

Hinblick auf die nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils verstrichene Zeit zu erhöhen sein wird.<br />

StGB § 263 Abs. 1 <strong>und</strong> 2; StPO §§ 261, 244 Abs. 2 <strong>und</strong> 3 Versuchter Betrug aus Verfahrensökonomie<br />

BGH, Beschl. v. 06.02.2013 - 1 StR 263/12 NJW 2013, 1545- wistra2013, 322<br />

LS: Zur tatgerichtlichen Klärung, ob bei Betrug die einzelnen Vermögensverfügungen jeweils<br />

durch den Irrtum der Geschädigten veranlasst waren, wenn den Angeklagten die Täuschung einer<br />

sehr großen Zahl von Personen (hier: mehr als 50.000) mit Kleinschäden (hier: jeweils unter 50<br />

Euro) zur Last liegt.<br />

Der 1. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat am 6. Februar 2013 beschlossen: Die Revision des Angeklagten gegen<br />

das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 21. Februar 2012 wird als unbegründet verworfen. Der Beschwerdeführer<br />

hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen eines Betruges in jeweils tateinheitlich begangenen fünfzehn vollendeten<br />

<strong>und</strong> 53.479 versuchten Fällen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Gegen diese Verurteilung wendet<br />

sich der Angeklagte mit seiner auf Verfahrensrügen <strong>und</strong> die ausgeführte Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel<br />

hat keinen Erfolg.<br />

1. Nach den Urteilsfeststellungen betrieb der Angeklagte als faktischer Geschäftsführer <strong>und</strong> „spiritus rector“ mit<br />

zwei weiteren nicht revidierenden Mitangeklagten von Januar 2006 bis Ende des Jahres 2009 die Kreditvermittlungsgesellschaft<br />

D. GmbH. Das Geschäftsmodell zielte darauf ab, unter dem Deckmantel einer seriösen Kreditvermittlung<br />

von den sich regelmäßig in einer finanziellen Notlage befindenden K<strong>und</strong>en einen Auslagenersatzbetrag für<br />

Porto-, Telefon- <strong>und</strong> Auskunftskosten in Höhe von je 47,80 Euro (bzw. vor September 2006 bis 48 Euro) einzutreiben,<br />

indem den K<strong>und</strong>en wahrheitswidrig vorgespiegelt wurde, dass der Gesellschaft bei der Kreditvermittlung erforderliche<br />

Auslagen i.S.d. § 655d Satz 2 BGB in der geltend gemachten Höhe tatsächlich entstanden seien. Die K<strong>und</strong>en<br />

wurden mit dem Versprechen geworben, ihnen könnten aufgr<strong>und</strong> eines „Sofortkredit-Vermittlungsvertrages“<br />

Kredite vermittelt werden, ohne dass durch die Kreditanfrage Kosten entstünden. Tatsächlich wollten die Angeklagten<br />

allen K<strong>und</strong>en, die den „Sofortkredit-Vermittlungsvertrag“ unterschrieben, einen bestimmten Betrag unter 48<br />

Euro - ggf. zuzüglich Mahn- <strong>und</strong> Inkassokosten - für angeblich "erforderliche Auslagen" in Rechnung stellen (UA S.<br />

13), obwohl bei der Kreditvermittlung Auslagen nur zu einem Bruchteil dieses Betrages entstanden, die letztlich pro<br />

K<strong>und</strong>e 3,20 Euro nicht überschritten (UA S. 20). Obwohl dem Angeklagten <strong>und</strong> der Mitangeklagten T. bekannt war,<br />

dass sie gesetzlich lediglich berechtigt waren, tatsächlich im Einzelfall entstandene erforderliche Auslagen, nicht<br />

jedoch die allgemeinen Geschäftsunkosten auf die K<strong>und</strong>en umzulegen, wollten sie durch die Gestaltung des Rechnungstextes<br />

bei den K<strong>und</strong>en die Fehlvorstellung hervorrufen, die Auslagen seien in der geltend gemachten Höhe<br />

entstanden <strong>und</strong> die K<strong>und</strong>en seien auch zur Bezahlung des Rechnungsbetrages verpflichtet (UA S. 19 f). Dem Angeklagten<br />

<strong>und</strong> der Mitangeklagten T. war aufgr<strong>und</strong> ihrer bisherigen Erfahrungen im Kreditvermittlungsgeschäft bekannt,<br />

dass wegen der wirtschaftlich schwierigen Lage der angesprochenen Klientel nur in den wenigsten Fällen eine<br />

erfolgreiche Kreditvermittlung in Betracht kam. Ihnen ging es jedoch nicht darum, Kredite zu vermitteln. Vielmehr<br />

war das System von Anfang an darauf angelegt, unter dem Anschein einer seriösen Kreditvermittlung sich gezielt an<br />

den in der Regel nahezu mittellosen K<strong>und</strong>en zu bereichern <strong>und</strong> diese dadurch zu schädigen. Dabei rechneten die<br />

Angeklagten damit, dass sich die wenigsten K<strong>und</strong>en gegen den vergleichsweise geringen Rechnungsbetrag wehren<br />

würden. Allerdings gingen sie aufgr<strong>und</strong> ihrer Erfahrungen davon aus, dass nur etwa 40 Prozent den Rechnungsbetrag<br />

- 56 -


egleichen würden (UA S. 14). Zwischen Januar 2006 <strong>und</strong> Dezember 2009 wurden auf die dargestellte Weise<br />

140.000 K<strong>und</strong>en falsche Rechnungen über Auslagenersatz gestellt, auf die - womit die Angeklagten rechneten - nur<br />

etwa 40 Prozent der K<strong>und</strong>en bezahlten. Aufgr<strong>und</strong> einer auf die Einvernahme von fünfzehn K<strong>und</strong>en beschränkten<br />

Beweisaufnahme hat das Landgericht festgestellt, dass lediglich diese K<strong>und</strong>en in der irrigen Annahme, der D. GmbH<br />

seien tatsächlich Kosten in der geltend gemachten Höhe entstanden, gezahlt hatten (UA S. 902). In den übrigen<br />

53.479 Fällen über Rechnungsbeträge von insgesamt mehr als 2,8 Mio. Euro ging das Landgericht mangels festgestellter<br />

Irrtumserregung lediglich von versuchter Täuschung der K<strong>und</strong>en aus. Unter Abzug von zehn Prozent höchstens<br />

tatsächlich erforderlicher Auslagen nahm es dabei eine erstrebte Bereicherung von etwa 2,5 Mio. Euro an (UA<br />

S. 903).<br />

2. Das Landgericht ist wegen Vorliegens eines sog. uneigentlichen Organisationsdelikts von Tateinheit (§ 52 StGB)<br />

zwischen allen Betrugstaten (§ 263 StGB) ausgegangen (UA S. 915). Hierbei hat es nur in 15 Fällen Vollendung <strong>und</strong><br />

im Übrigen - entsprechend einem rechtlichen Hinweis in der Hauptverhandlung - lediglich versuchten Betrug angenommen.<br />

In den weiteren 53.479 Fällen habe es „nicht vollkommen ausschließen“ können, „dass Rechnungsempfänger<br />

die Unrichtigkeit der Rechnungsstellung erkannten <strong>und</strong> ausschließlich leisteten, um ihre Ruhe zu haben“.<br />

Nach Auffassung des Landgerichts hätte eine umfassende Aufklärung die Vernehmung sämtlicher K<strong>und</strong>en erfordert,<br />

um die Motivation bei der Überweisung des Rechnungsbetrages zu ergründen. Dies sei bei über 50.000 K<strong>und</strong>en „aus<br />

prozessökonomischen Gründen“ nicht möglich gewesen (UA S. 914).<br />

3. Die Nachprüfung des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des<br />

Angeklagten ergeben; die von der Revision des Angeklagten erhobenen formellen <strong>und</strong> materiellen Beanstandungen<br />

sind aus den Gründen der Antragsschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwalts unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO). Näherer Erörterung<br />

bedarf lediglich die Vorgehensweise des Landgerichts, nur fünfzehn Geschädigte zu vernehmen <strong>und</strong> im Übrigen<br />

hinsichtlich der weit überwiegenden Zahl der tateinheitlich begangenen Taten „aus verfahrens-ökonomischen<br />

Gründen“ lediglich Tatversuch anzunehmen (UA S. 914, 917). Das Landgericht sah sich ersichtlich nur auf diesem<br />

Wege in der Lage, die Hauptverhandlung, die bereits nahezu fünf Monate gedauert hatte, in angemessener Zeit zu<br />

beenden.<br />

a) Die vom Landgericht mit dem Begriff der „Prozessökonomie“ beschriebene Notwendigkeit, die Funktionsfähigkeit<br />

der Strafrechtspflege zu erhalten (vgl. dazu auch Landau, Die Pflicht des Staates zum Erhalt einer funktionstüchtigen<br />

Strafrechtspflege, NStZ 2007, 121), besteht. Jedoch muss ein Tatgericht im Rahmen der Beweisaufnahme die<br />

in der Strafprozessordnung dafür bereit gehaltenen Wege beschreiten. Ein solcher Weg ist etwa die Beschränkung<br />

des Verfahrensstoffes gemäß den §§ 154, 154a StPO, die allerdings die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft voraussetzen.<br />

Eine einseitige Beschränkung der Strafverfolgung auf bloßen Tatversuch ohne Zustimmung der Staatsanwaltschaft,<br />

wie sie das Landgericht hier - freilich im Rahmen gleichartiger Tateinheit mit vollendeten Delikten - vorgenommen<br />

hat, sieht die Strafprozessordnung jedoch nicht vor.<br />

b) Es trifft allerdings zu, dass in Fällen eines hohen Gesamtschadens, der sich aus einer sehr großen Anzahl von<br />

Kleinschäden zusammensetzt, die Möglichkeiten einer sinnvollen Verfahrensbeschränkung eingeschränkt sind. Denn<br />

dann sind keine Taten mit höheren Einzelschäden vorhanden, auf die das Verfahren sinnvoll beschränkt werden<br />

könnte. Dies bedeutet aber nicht, dass es einem Gericht deshalb - um überhaupt in angemessener Zeit zu einem Verfahrensabschluss<br />

gelangen zu können - ohne weiteres erlaubt wäre, die Beweiserhebung über den Taterfolg zu unterlassen<br />

<strong>und</strong> lediglich wegen Versuches zu verurteilen. Vielmehr hat das Tatgericht die von der Anklage umfasste<br />

prozessuale Tat (§ 264 StPO) im Rahmen seiner gerichtlichen Kognitionspflicht nach den für die Beweisaufnahme<br />

geltenden Regeln der Strafprozessordnung (vgl. § 244 StPO) aufzuklären. Die richterliche Amtsaufklärungspflicht (§<br />

244 Abs. 2 StPO) gebietet dabei, zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen<br />

<strong>und</strong> Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.<br />

c) Für das Tatbestandsmerkmal des Irrtums bei Betrug (§ 263 StGB) bedeutet dies:<br />

aa) Da der Betrugstatbestand voraussetzt, dass die Vermögensverfügung durch den Irrtum des Getäuschten veranlasst<br />

worden ist, müssen die Urteilsgründe regelmäßig darlegen, wer die Verfügung getroffen hat <strong>und</strong> welche Vorstellungen<br />

er dabei hatte. Die Überzeugung des Gerichts, dass der Verfügende einem Irrtum erlegen ist, wird dabei -<br />

von einfach gelagerten Fällen (z.B. bei standardisierten, auf massenhafte Erledigung ausgerichteten Abrechnungsverfahren)<br />

abgesehen - in der Regel dessen Vernehmung erfordern (BGH, Urteil vom 5. Dezember 2002 - 3 StR 161/02,<br />

NStZ 2003, 313, 314). bb) Allerdings stößt die praktische Feststellung des Irrtums im Strafverfahren als Tatfrage<br />

nicht selten auf Schwierigkeiten. Diese können jedoch in vielen Fällen dadurch überw<strong>und</strong>en werden, dass das Tatgericht<br />

seine Überzeugung auf Indizien (vgl. BGH, Urteil vom 26. Oktober 1993 - 4 StR 347/93, BGHR StGB § 263<br />

- 57 -


Abs. 1 Irrtum 9) wie das wirtschaftliche oder sonstige Interesse des Opfers an der Vermeidung einer Schädigung<br />

seines eigenen Vermögens (vgl. Tiedemann in LK-StGB, 12. Aufl., § 263 Rn. 87) stützen kann. In Fällen eines normativ<br />

geprägten Vorstellungsbildes kann es daher insgesamt ausreichen, nur einige Zeugen einzuvernehmen, wenn<br />

sich dabei das Ergebnis bestätigt findet. Aus diesem Gr<strong>und</strong> hat der B<strong>und</strong>esgerichtshof etwa die Vernehmung der<br />

170.000 Empfänger einer falsch berechneten Straßenreinigungsgebührenrechnung für entbehrlich gehalten (BGH,<br />

Urteil vom 17. Juli 2009 - 5 StR 394/08, wistra 2009, 433, 434; vgl. dazu auch Hebenstreit in Müller-<br />

Gugenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl. 2011, § 47 Rn. 37).<br />

cc) Ist die Beweisaufnahme auf eine Vielzahl Geschädigter zu erstrecken, besteht zudem die Möglichkeit, bereits im<br />

Ermittlungsverfahren durch Fragebögen zu ermitteln, aus welchen Gründen die Leistenden die ihr Vermögen schädigende<br />

Verfügung vorgenommen haben. Das Ergebnis dieser Erhebung kann dann - etwa nach Maßgabe des § 251<br />

StPO - in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Hierauf kann dann auch die Überzeugung des Gerichts gestützt<br />

werden, ob <strong>und</strong> gegebenenfalls in welchen Fällen die Leistenden eine Vermögensverfügung irrtumsbedingt vorgenommen<br />

haben. Ob es in derartigen Fällen dann noch einer persönlichen Vernehmung von Geschädigten bedarf,<br />

entscheidet sich nach den Erfordernissen des Amtsaufklärungsgr<strong>und</strong>satzes (§ 244 Abs. 2 StPO) <strong>und</strong> des Beweisantragsrechts<br />

(insb. § 244 Abs. 3 StPO). In Fällen eines normativ geprägten Vorstellungsbildes kommt dabei die Ablehnung<br />

des Antrags auf die Vernehmung einer größeren Zahl von Geschädigten als Zeugen in Betracht (vgl. BGH,<br />

Urteil vom 17. Juli 2009 - 5 StR 394/08, wistra 2009, 433, 434).<br />

dd) Demgegenüber dürfte in Fällen mit individueller Motivation zur Leistung eines jeden Verfügenden die „Schätzung<br />

einer Irrtumsquote“ als Methode der Überzeugungsbildung nach § 261 StPO ausscheiden. Hat ein Tatgericht in<br />

solchen Fällen Zweifel, dass ein Verfügender, ohne sich über seine Zahlungspflicht geirrt zu haben, allein deshalb<br />

geleistet hat, „um seine Ruhe zu haben“, muss es nach dem Zweifelssatz („in dubio pro reo“) zu Gunsten des Täters<br />

entscheiden, sofern nicht aussagekräftige Indizien für das Vorliegen eines Irrtums vorliegen, die die Zweifel wieder<br />

zerstreuen.<br />

d) Für die Strafzumessung hat die Frage, ob bei einzelnen Betrugstaten Vollendung gegeben oder nur Versuch eingetreten<br />

ist, in der Regel bestimmende Bedeutung. Gleichwohl sind Fälle denkbar, in denen es für die Strafzumessung<br />

im Ergebnis nicht bestimmend ist, ob es bei (einzelnen) Betrugstaten zur Vollendung kam oder mangels Irrtums des<br />

Getäuschten oder wegen fehlender Kausalität zwischen Irrtum <strong>und</strong> Vermögensverfügung beim Versuch blieb. Solches<br />

kommt etwa in Betracht, wenn Taten eine derartige Nähe zur Tatvollendung aufwiesen, dass es - insbesondere<br />

aus Sicht des Täters - vom bloßen Zufall abhing, ob die Tatvollendung letztlich doch noch am fehlenden Irrtum des<br />

Tatopfers scheitern konnte. Denn dann kann das Tatgericht unter besonderer Berücksichtigung der versuchsbezogenen<br />

Gesichtspunkte auf der Gr<strong>und</strong>lage einer Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters <strong>und</strong> der Tatumstände<br />

des konkreten Einzelfalls zum Ergebnis gelangen, dass jedenfalls die fakultative Strafmilderung gemäß § 23 Abs. 2<br />

i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB zu versagen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 28. September 2010 - 3 StR 261/10, wistra 2011,<br />

18 mwN). Eine solche Wertung hat das Tatgericht in den Urteilsgründen für das Revisionsgericht ebenso nachprüfbar<br />

darzulegen wie die Würdigung, dass <strong>und</strong> aus welchen Gründen (etwa Nähe zur Tatvollendung, Gefährlichkeit<br />

des Versuchs <strong>und</strong> eingesetzte kriminelle Energie) der Umstand, dass die getroffene Vermögensverfügung letztlich<br />

trotz eines entsprechenden Vorsatzes des Täters nicht auf einer irrtumsbedingten Vermögensverfügung beruhte, auch<br />

für die konkrete Strafzumessung im Rahmen des eröffneten Strafrahmens nicht von Bedeutung war.<br />

e) Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob hier ein normativ geprägter Irrtum vorliegen könnte, mit der Folge,<br />

dass die Anwendung des Zweifelssatzes durch das Landgericht sachlich-rechtlich fehlerhaft gewesen sein könnte.<br />

Denn jedenfalls ist der Angeklagte durch die vom Landgericht „aus prozessökonomischen Gründen“ gewählte Verfahrensweise<br />

nicht beschwert. Es ist auszuschließen, dass das Landgericht eine niedrigere Strafe verhängt hätte,<br />

wenn es hinsichtlich weiterer tateinheitlich begangener Taten statt von Versuch von Tatvollendung ausgegangen<br />

wäre.<br />

- 58 -


StGB § 263 Sportwetten - Spielmanipulation<br />

BGH, Urt. v. 20.12.2012 - 4 StR 55/12 - NJW 2013, 883 m. Anm. Anja Schiemann<br />

LS: Zur Schadensfeststellung beim Sportwettenbetrug (Fortführung von BGH, Urteil vom 15. Dezember<br />

2006 – 5 StR 181/06, BGHSt 51, 165).<br />

1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Bochum vom 19. Mai 2011 mit den<br />

zugehörigen Feststellungen aufgehoben<br />

a) hinsichtlich des Angeklagten C.<br />

im Schuldspruch in den Fällen 2, 8, 18, 25 <strong>und</strong> 28,<br />

im Ausspruch über die Gesamtstrafe;<br />

b) hinsichtlich des Angeklagten S.<br />

im Schuldspruch in den Fällen 18, 25 <strong>und</strong> 28<br />

sowie – insoweit unter Aufrechterhaltung der Feststellungen – in den Fällen 1, 5, 7, 9, 10, 13, 14, 15, 16, 17, 19, 20,<br />

21, 23, 24, 26 <strong>und</strong> 27,<br />

im Ausspruch über die Gesamtstrafe <strong>und</strong> hinsichtlich der Feststellung zu § 111i Abs. 2 StPO.<br />

2. Auf die Revision des Angeklagten S. wird das vorbezeichnete Urteil, soweit es ihn betrifft, im gesamten Strafausspruch<br />

mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.<br />

3. Im Umfang der Aufhebungen wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der<br />

Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> des Angeklagten S., an eine andere Strafkammer des Landgerichts Bochum<br />

zurückverwiesen.<br />

4. Die weiter gehenden Revisionen der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> des Angeklagten S. sowie die Revision des Angeklagten<br />

C. werden verworfen.<br />

5. Der Angeklagte C. hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat die Angeklagten C. <strong>und</strong> S. wegen „gewerbsmäßigen“ Betrugs in 26 Fällen, wobei es in fünf<br />

Fällen beim Versuch blieb (C.) <strong>und</strong> „gewerbsmäßigen“ Betrugs in 22 Fällen, wobei es in drei Fällen beim Versuch<br />

blieb (S.), jeweils zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt. Ferner hat es hinsichtlich<br />

beider Angeklagten Feststellungen nach § 111i Abs. 2 StPO getroffen. Mit ihren Revisionen beanstanden<br />

die Angeklagten das Verfahren <strong>und</strong> rügen die Verletzung materiellen Rechts. Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit<br />

ihren zu Ungunsten der Angeklagten eingelegten Revisionen, dass keine Verurteilung wegen Bandenbetrugs gemäß<br />

§ 263 Abs. 5 StGB erfolgt ist <strong>und</strong> in den Fällen 2, 8, 18, 25 <strong>und</strong> 28 nur ein versuchter <strong>und</strong> kein vollendeter Betrug<br />

angenommen wurde. Außerdem habe das Landgericht rechtsfehlerhaft nicht in seine Betrachtungen einbezogen, dass<br />

die Angeklagten in einer Vielzahl von Fällen „Vermögensverluste großen Ausmaßes“ im Sinne von § 263 Abs. 3 Nr.<br />

2 StGB verursacht haben. Soweit die Staatsanwaltschaft eine Verurteilung der Angeklagten wegen Bandenbetruges<br />

anstrebt, wird ihr Rechtsmittel durch den Generalb<strong>und</strong>esanwalt nicht vertreten.<br />

I. Nach den Feststellungen platzierten die Angeklagten zumeist gemeinsam, aber auch allein, bei verschiedenen<br />

Wettanbietern in Europa <strong>und</strong> Asien zu verbindlichen Quoten angebotene Wetten auf die Ergebnisse von Fußballspielen,<br />

auf deren Ausgang sie durch Zahlungen an Spieler oder Schiedsrichter Einfluss genommen hatten. Bei Wetten<br />

mit verbindlichen Quoten lobt der Wettanbieter für das jeweilige Spiel eine bestimmte Wettquote aus, die das Verhältnis<br />

von Einsatz <strong>und</strong> möglichem Gewinn widerspiegelt. Dabei geht der Wettanbieter davon aus, dass sich die<br />

Wetteinsätze weitgehend nach den Wahrscheinlichkeiten verteilen werden, mit denen ein bestimmter Spielausgang<br />

zu erwarten ist. Die Wettquoten werden nach der zu erwartenden Verteilung der Wetteinsätze kalkuliert <strong>und</strong> so bemessen,<br />

dass „unter dem Strich“ unabhängig von dem Ergebnis des jeweiligen Spiels ein Gewinn verbleibt (UA 16).<br />

Wird auf das Spielergebnis manipulativ eingewirkt, kann der Wettanbieter das betroffene Spiel nicht mehr zuverlässig<br />

kalkulieren. Wetten auf bekannt manipulierte Spiele werden daher nicht angenommen (UA 17). Soweit von den<br />

Angeklagten gemeinsam Wetten mit Anbietern aus Asien abgeschlossen wurden, geschah dies durch den Angeklagten<br />

S., der sich dazu in der Regel der in London ansässigen Ltd. als Vermittler bediente (Fälle 1, 5, 7, 9, 10, 13, 14,<br />

15, 16, 17, 18, 21, 23, 24, 25, 26, 27, 28). Dabei teilte der Angeklagte S. den Mitarbeitern der Firma Ltd. zumeist<br />

telefonisch mit, welche Wetten er platzieren wollte. Die Vermittler schlossen dann bei verschiedenen Wettanbietern<br />

- 59 -


einen oder mehrere Wettverträge auf das jeweilige Spiel ab. Nach der Ausführung des Auftrages erhielt der Angeklagte<br />

S. auf gleichem Weg eine Bestätigung. Den Mitarbeitern der Ltd. waren die Manipulationen bekannt. Bei<br />

einem Treffen am 11. August 2008 besprachen der Angeklagte S. <strong>und</strong> die für die Ltd. angereisten anderweitig verfolgten<br />

H. , Ch. <strong>und</strong> Cha. die Konditionen für die weitere Zusammenarbeit. Dabei wurde ein sog. „Sterne-System“<br />

entwickelt, nach dem der Angeklagte S. bei der Aufgabe einer Wette den Mitarbeitern der Ltd. mitteilen sollte, in<br />

welchem Ausmaß er die zu bewettende Partie manipuliert hatte. Je mehr Spieler von ihm korrumpiert worden waren,<br />

desto mehr „Sterne“ sollte er der Partie verleihen. Die Ltd. verdiente an der Vermittlung, indem sie die von den<br />

Wettanbietern in Asien angebotenen Quoten gegenüber dem Angeklagten S. geringfügig verschlechterte. Spiele, die<br />

den Mitarbeitern der Firma Ltd. als „sicher“ erschienen, wurden von ihnen – ohne Wissen der Angeklagten – auch<br />

gezielt zu Wetten auf eigene Rechnung ausgenutzt. Weder der Angeklagte S. noch die von ihm beauftragten Vermittler<br />

der Firma Ltd. legten gegenüber den asiatischen Wettanbietern offen, dass die gewetteten Spiele manipuliert<br />

waren. Den Wettanbietern wurde auf diese Weise vorgespiegelt, dass es sich um „normale“ unbeeinflusste Spiele<br />

handelte (UA 20, 21 f.). Die erzielten Gewinne flossen über die Vermittler zunächst auf ein von dem Angeklagten S.<br />

geführtes Konto. Der Angeklagte C. erhielt seinen Anteil im Rahmen eines „Kontokorrentsystems“, das von Zeit zu<br />

Zeit durch Zahlungen ausgeglichen wurde <strong>und</strong> bei dem es zu Verrechnungen mit neu zu leistenden Einsätzen kam<br />

(UA 24). In einem Fall platzierte der Angeklagte S. eine Wette für sich <strong>und</strong> den Angeklagten C. bei einem asiatischen<br />

Wettanbieter über den niederländischen Staatsangehörigen R. (Fall 22). In einem weiteren Fall wurde eine<br />

Wette durch den Angeklagten C. bei dem auf Malta registrierten Wettanbieter - auf ein von ihm zusammen mit dem<br />

Angeklagten S. beeinflusstes Spiel abgeschlossen. Der Angeklagte S. war an dem von dem Angeklagten C. erzielten<br />

Gewinn über eine Wette beteiligt, die C. von ihm auf dieses Spiel angenommen hatte (Fall 11). Auch in diesen Fällen<br />

wurden die Manipulationen nicht offengelegt (UA 30, 37). In zwei Fällen schloss der Angeklagte S. Wettverträge<br />

auf manipulierte Spiele ohne Beteiligung des Angeklagten C. mit asiatischen Wettanbietern ab (Fälle 19, 20), wobei<br />

er sich ebenfalls der Ltd. als Vermittler bediente. Außerdem platzierte er auf ein manipuliertes Spiel neben der gemeinsamen<br />

auch eine eigene Wette, wobei er den Vertrag über einen griechischen Vermittler abschloss (Fall 27).<br />

Neben den gemeinsamen Wetten mit dem Angeklagten S. schloss der Angeklagte C. in sechs weiteren Fällen allein<br />

oder mit anderen Mittätern Wetten bei dem Anbieter - oder bei asiatischen Wettanbietern auf manipulierte Fußballspiele<br />

ab (Fälle 2, 3, 4, 6, 8, 12) <strong>und</strong> platzierte zudem ohne Wissen des Angeklagten S. weitere eigene Wetten auf<br />

Spiele, auf die der Angeklagte S. oder beide bereits gemeinsam gewettet hatten (Fälle 7, 9, 10, 13, 14, 23). Auch<br />

dabei wurden die Manipulationen nicht offengelegt (UA 21 ff.).<br />

Insgesamt wettete der Angeklagte S. gemeinsam mit dem Angeklagten C. oder allein auf 22 beeinflusste Fußballspiele,<br />

wobei es in 19 Fällen zu dem angestrebten Spielausgang kam. Dadurch konnte der Angeklagte S. Gewinne<br />

zwischen 7.500 Euro <strong>und</strong> 534.875,03 Euro erzielen. In drei Fällen verlor er seinen Einsatz, weil die Spiele anders als<br />

gewettet ausgingen. Der Angeklagte C. schloss allein oder gemeinsam mit dem Angeklagten S. auf 26 beeinflusste<br />

Fußballspiele Wetten ab. In 21 Fällen kam es zu dem von ihm gewetteten Spielausgang. Dabei erzielte er Gewinne<br />

zwischen 10.224,50 Euro <strong>und</strong> 561.262,53 Euro. In fünf Fällen gingen die Spiele anders als gewettet aus, sodass der<br />

Angeklagte C. seinen Einsatz verlor. Das Landgericht hat bei beiden Angeklagten in allen Fällen einen vollendeten<br />

Betrug angenommen, in denen Gewinne erzielt <strong>und</strong> ausbezahlt wurden. Die Fälle, in denen die Angeklagten keine<br />

Zahlungen erhielten, hat das Landgericht als versuchten Betrug gewertet, weil den Wettanbietern kein Vermögensschaden<br />

entstanden sei. Ein sog. Quotenschaden, der bereits mit dem Abschluss des Wettvertrages eintreten soll,<br />

liege nicht vor, weil die Wettanbieter bei Kenntnis der Manipulationen die Wettverträge nicht lediglich anders kalkuliert,<br />

sondern gar nicht abgeschlossen hätten. Auch könne ein Quotenschaden nicht in einer Weise quantifiziert werden,<br />

die den vom B<strong>und</strong>esverfassungsgericht in seinem Urteil vom 23. Juni 2010 (BVerfGE 126, 170) aufgestellten<br />

Anforderungen genüge.<br />

II. Die Revision des Angeklagten S. führt zur Aufhebung des ihn betreffenden Strafausspruchs. Im Übrigen ist sie<br />

unbegründet. Die Revision des Angeklagten C. hat insgesamt keinen Erfolg.<br />

1. Die von den Angeklagten erhobenen Verfahrensrügen greifen nicht durch.<br />

a) Die Rüge des Angeklagten S., das Landgericht habe gegen § 136a Abs. 1 Satz 3 1. Alt. StPO verstoßen, indem es<br />

ihn am 11. Hauptverhandlungstag durch die Androhung, den gegen ihn gerichteten Haftbefehl wieder in Vollzug zu<br />

setzen, dazu veranlasst habe, sich von drei Beweisanträgen seiner Verteidiger <strong>und</strong> den darin aufgestellten Behauptungen<br />

zu einer Kenntnis der asiatischen Wettanbieter von den Manipulationen zu distanzieren <strong>und</strong> deren Rücknahme<br />

zu veranlassen, bleibt erfolglos, weil das hierzu angebrachte Tatsachenvorbringen, soweit es bewiesen ist, den<br />

geltend gemachten Rechtsverstoß nicht belegt.<br />

- 60 -


aa) Der Angeklagte S. trägt – gestützt auf entsprechende anwaltliche Versicherungen – vor, der Vorsitzende habe<br />

nach der Stellung von drei Beweisanträgen erklärt, der Angeklagte rücke aus seiner Sicht mit diesen Anträgen von<br />

seiner Einlassung ab <strong>und</strong> stelle sein bisheriges Prozessverhalten infrage. Die Kammer werde deshalb die Frage der<br />

Fluchtgefahr neu zu bewerten haben, weil darin möglicherweise ein Abrücken von dem vorherigen Geständnis liege<br />

<strong>und</strong> damit die Straferwartung, die bei der Haftverschonung nach dem in der Hauptverhandlung abgegebenen Geständnis<br />

zugr<strong>und</strong>e gelegt worden sei, entfallen sein könnte. Der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft habe dem<br />

beigepflichtet. Da er, der Angeklagte S., auf keinen Fall das Risiko einer erneuten Inhaftierung habe eingehen wollen,<br />

habe sein Verteidiger während der anschließenden Unterbrechung der Hauptverhandlung das Dienst- <strong>und</strong> Beratungszimmer<br />

des Gerichts aufgesucht. Dabei habe er die Richter in einer Situation angetroffen, die für ihn deutlich<br />

gemacht habe, dass diese gerade beim Abfassen eines Wiederinhaftierungsbeschlusses gewesen seien. Der Verteidiger<br />

habe den anwesenden Berufsrichtern erklärt, dass der Angeklagte auf keinen Fall eine erneute Inhaftierung riskieren<br />

wolle <strong>und</strong> bereit sei, die gestellten Beweisanträge zurückzunehmen. Der Vorsitzende habe daraufhin mitgeteilt,<br />

dass die Kammer in diesem Fall erwägen würde, von einer Wiederinhaftierung abzusehen. Nach einer Diskussion<br />

über die Bedingungen für ein Absehen von einer erneuten Inhaftierung habe der Vorsitzende schließlich auch<br />

noch erklärt, dass ihm eine Rücknahme der Beweisanträge nicht ausreiche; der Angeklagte müsse sich auch noch<br />

von den aufgestellten Beweisbehauptungen distanzieren. In der Folge habe er auch diese Erklärung abgegeben. Nach<br />

dem Protokoll wurde im Anschluss an die Verlesung der Beweisanträge von dem Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft<br />

„in seiner Stellungnahme herausgestellt, ob die Frage der Haftverschonung angesichts der gestellten Beweisanträge<br />

möglicherweise neu zu beurteilen ist“. Wie sich aus der dienstlichen Stellungnahme der Berufsrichter ergibt,<br />

hat der Vorsitzende nach der Antragstellung mitgeteilt, dass der Angeklagte mit diesen Beweisanträgen von seiner<br />

bisherigen geständigen Aussage abrücke. Die Hauptverhandlung sei unterbrochen worden, um die auch von der<br />

Staatsanwaltschaft aufgeworfene Frage der Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls zu beraten. Der Verteidiger des<br />

Angeklagten habe das Dienstzimmer aufgesucht. Zu diesem Zeitpunkt sei noch keine irgendwie geartete konkrete<br />

Maßnahme zur Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls vorbereitet oder bereits durchgeführt worden. Der Verteidiger<br />

habe angekündigt, die gestellten Beweisanträge zurückzunehmen. Von der Kammer sei ihm zudem anheim gestellt<br />

worden, den Angeklagten auch selbst versichern zu lassen, dass er sich von den gestellten Anträgen <strong>und</strong> ihrem<br />

Inhalt distanziere.<br />

bb) Eine Drohung mit einer unzulässigen Maßnahme gemäß § 136a Abs. 1 Satz 3 1. Alt. StPO liegt vor, wenn eine in<br />

der konkreten Situation prozessual unstatthafte Maßnahme in Aussicht gestellt wird <strong>und</strong> dadurch für den Bedrohten<br />

eine Zwangslage entsteht, die ihm eine sofortige Entscheidung abnötigt (vgl. BGH, Urteil vom 6. Dezember 1961 – 2<br />

StR 485/60, BGHSt 17, 14, 20 f.). Dies hat der Senat (Urteil vom 16. September 2004 – 4 StR 84/04, NStZ 2005,<br />

279, 280) in einem Fall bejaht, in dem das Gericht eindeutig zum Ausdruck gebracht hatte, dass der Angeklagte in<br />

Haft genommen werde, falls er nicht gestehe, sondern den beabsichtigten Beweisantrag stelle. Hiervon unterscheidet<br />

sich der vorliegende Fall maßgeblich. Die eindeutig als eigene vorläufige Einschätzung gekennzeichnete Erklärung<br />

des Vorsitzenden zum Inhalt der Beweisanträge <strong>und</strong> ihrer möglichen Bedeutung für die Haftfrage („aus meiner<br />

Sicht“, „möglicherweise“) stellt noch keine zu einer Drohung verdichtete Ankündigung der sofortigen Inhaftierung<br />

dar (vgl. Gleß in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 136a Rn. 57). Auch war dem anwaltlich vertretenen Angeklagten<br />

bekannt, dass eine Invollzugsetzung des Haftbefehls nicht durch den Vorsitzenden allein, sondern nur durch eine<br />

Entscheidung aller drei Berufsrichter bewirkt werden konnte. Dass der Erklärung des Vorsitzenden eine Verständigung<br />

unter den Berufsrichtern vorangegangen ist, trägt die Revision nicht vor. Auch in der Unterbrechung der Sitzung,<br />

um über eine Invollzugsetzung des Haftbefehls zu beraten, lag keine (konkludente) Androhung einer sofortigen<br />

Inhaftierung des Angeklagten. Nachdem auch der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft in seiner Stellungnahme<br />

zu den Beweisanträgen diese Maßnahme ausdrücklich in den Raum gestellt hatte, bestand ein entsprechender<br />

Erörterungsbedarf. Soweit der Verteidiger bei seinem Erscheinen im Beratungszimmer den Eindruck gewonnen<br />

hatte, dass die Richter gerade mit der Abfassung eines Invollzugsetzungsbeschlusses befasst waren, stehen dem die<br />

dienstlichen Äußerungen entgegen. Der Vortrag, bei dem anschließenden Gespräch im Beratungszimmer sei dem<br />

Angeklagten über seinen Verteidiger die Distanzierungserklärung unter Hinweis auf eine sonst drohende Inhaftierung<br />

abverlangt worden, widerspricht ebenfalls den dienstlichen Erklärungen der beteiligten Richter („anheimgestellt“)<br />

<strong>und</strong> ist daher nicht bewiesen.<br />

b) Die von den beiden Angeklagten erhobenen Aufklärungsrügen greifen aus den in den Zuschriften des Generalb<strong>und</strong>esanwalts<br />

vom 1. März 2012 genannten Gründen nicht durch.<br />

- 61 -


2. Soweit die Angeklagten wegen (versuchten) Betrugs verurteilt worden sind, weist das Urteil keinen sie beschwerenden<br />

Rechtsfehler auf.<br />

a) Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Angeklagten selbst oder durch ihre Vermittler bei der<br />

Abgabe der Wetten gegenüber den Wettanbietern konkludent der Wahrheit zuwider erklärt haben, dass der Verlauf<br />

oder der Ausgang der gewetteten Spiele von ihnen nicht beeinflusst worden ist. Die Manipulationsfreiheit des Wettgegenstandes<br />

gehört zur Geschäftsgr<strong>und</strong>lage der Wette. Beide Parteien sichern sich daher stillschweigend zu, auf das<br />

gewettete Spiel keinen Einfluss genommen zu haben. Dadurch wurde bei den Wettanbietern – jedenfalls in der Form<br />

des sachgedanklichen Mitbewusstseins – ein entsprechender Irrtum erregt. Dies entspricht der Rechtsprechung des<br />

Reichsgerichts <strong>und</strong> des B<strong>und</strong>esgerichtshofs (BGH, Urteil vom 15. Dezember 2006 – 5 StR 181/06, BGHSt 51, 165<br />

Rn. 16 ff.; Urteil vom 19. Dezember 1979 – 3 StR 313/79, BGHSt 29, 165, 167 f.; RG, Urteil vom 17. Dezember<br />

1928 – III 1006/28, RGSt 62, 415, 416), die in der Literatur weitgehend Zustimmung gef<strong>und</strong>en hat (Cramer/Perron,<br />

in Schönke/Schröder, 28. Aufl., § 263 Rn. 16e; Fischer, 60. Aufl., § 263 Rn. 32; SSW-StGB/Satzger, § 263 Rn. 38;<br />

Fasten/Oppermann, JA 2006, 69, 71; Feinendegen, NJW 2007, 787, 788; Gaede, HRRS 2007, 16; Krack, ZIS 2007,<br />

103, 105; Kubiciel, HRRS 2007, 68, 69 f.; Petropoulos/Morozinis, wistra 2009, 254, 255; Reinhart, SpuRt 2007, 52,<br />

53 f.; Saliger/Rönnau/Kirch-Heim, NStZ 2007, 361, 362 ff.; vgl. auch Maaß, GA 1984, 264, 280 ff.; aus zivilrechtlicher<br />

Sicht Henssler, Risiko als Vertragsgegenstand, S. 471). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Die Erfassung<br />

konkludenter Täuschungen ist vom Wortlaut der Vorschrift des § 263 Abs. 1 StGB gedeckt <strong>und</strong> führt nicht zu<br />

einer Entgrenzung des Tatbestandes, sodass im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG keine Bedenken bestehen (vgl.<br />

BVerfG, NStZ 2012, 496 Rn. 168). Der Einwand, es liege keine Feststellung von Tatsachen mehr vor, wenn das<br />

Vorliegen einer konkludenten Täuschung über die Manipulationsfreiheit des gewetteten Spieles ohne Ermittlung des<br />

tatsächlichen Verständnisses der Beteiligten allein aus dem Wesen des Wettvertrages hergeleitet werde, verfängt<br />

nicht (Jahn/Maier, JuS 2007, 215, 217; a.A. Saliger/Rönnau/Kirch-Heim, NStZ 2007, 361, 362 f.; vgl. noch Kraatz,<br />

JR 2012, 329, 331). Ob in einer bestimmten Kommunikationssituation neben einer ausdrücklichen auch eine konkludente<br />

Erklärung abgegeben worden ist <strong>und</strong> welchen Inhalt sie hat, bestimmt sich nach dem objektiven Empfängerhorizont,<br />

der unter Berücksichtigung der Gesamtumstände <strong>und</strong> der Verkehrsanschauung festzulegen ist (vgl. BGH,<br />

Urteil vom 26. April 2001 – 4 StR 439/00, NStZ 2001, 430; Urteil vom 10. November 1994 – 4 StR 331/94, BGHR<br />

StGB § 263 Abs. 1 Irrtum 10; SSW-StGB/Satzger, § 263 Rn. 37 f.). Wenn der Tatrichter dabei – wie hier – seine<br />

Bewertung maßgeblich auf die sich aus dem Wesen des abgeschlossenen Vertrages ergebende Risiko- <strong>und</strong> Pflichtenverteilung<br />

stützt, ist dies revisionsrechtlich bedenkenfrei (vgl. BGH, Urteil vom 14. August 2009 – 3 StR 552/08,<br />

BGHSt 54, 69 Rn. 150; MünchKomm-StGB/Hefendehl, § 263 Rn. 86, 93; Kubiciel, HRRS 2007, 68, 69). Auch wird<br />

durch die Annahme einer konkludenten Täuschung die für die Strafbarkeit eines Unterlassens erforderliche Feststellung<br />

einer Garantenpflicht nicht umgangen (so aber Schild, ZfWG 2006, 213, 216 f.; Schlösser, NStZ 2005, 423,<br />

426). Die Abgabe einer auf den Abschluss eines Rechtsgeschäfts gerichteten Erklärung ist positives Tun, auch wenn<br />

sie zugleich als (stillschweigende) Negativerklärung in Bezug auf zu dem Geschäftszweck in Widerspruch stehende<br />

Umstände verstanden wird (vgl. NK-StGB-Kindhäuser, § 263 Rn. 110; LK-StGB/Tiedemann, 12. Aufl., § 263 Rn.<br />

29; SSW-StGB/Satzger, § 263 Rn. 41). Die Manipulationsfreiheit ist eine notwendige Bedingung für die Durchführbarkeit<br />

eines auf ein ungewisses Ereignis ausgerichteten Wettvertrages; sie gehört deshalb zum Inhalt eines in sich<br />

schlüssigen (konkludenten) Antrags auf dessen Abschluss (vgl. BGH, Urteil vom 15. Dezember 2006 – 5 StR<br />

181/06, BGHSt 51, 165 Rn. 27). Das Verhalten der in die Manipulationen eingeweihten als Vermittler tätigen Mitarbeiter<br />

der Ltd. ist den Angeklagten nach § 25 Abs. 2 StGB zuzurechnen. Hinsichtlich der Vermittler, die keine<br />

Kenntnis von den Manipulationen der Angeklagten hatten, erfolgt die Zurechnung nach den Gr<strong>und</strong>sätzen zur mittelbaren<br />

Täterschaft (§ 25 Abs. 1 StGB).<br />

b) In denjenigen Fällen, in denen die Wettanbieter den entsprechend der vereinbarten Quote berechneten Gewinn<br />

ausbezahlt <strong>und</strong> dadurch für sich den endgültigen Vermögensverlust in Höhe der Differenz zwischen Wetteinsatz <strong>und</strong><br />

Wettgewinn herbeigeführt haben, ist das Landgericht zu Recht von einem vollendeten Betrug <strong>und</strong> einem Schaden in<br />

dieser Höhe ausgegangen.<br />

aa) Da nach den Feststellungen die Wettanbieter die Wettverträge nicht abgeschlossen <strong>und</strong> dementsprechend auch<br />

keine Gewinne ausbezahlt hätten, wenn ihnen die Manipulationen der gewetteten Spiele bekannt geworden wären, ist<br />

der für die Annahme eines Betruges erforderliche Ursachenzusammenhang zwischen dem täuschungsbedingten<br />

Irrtum <strong>und</strong> der in der Gewinnausschüttung liegenden Vermögensverfügung gegeben (BGH, Urteil vom 15. Dezember<br />

2006 – 5 StR 181/06, BGHSt 51, 165 Rn. 34). Der Umstand, dass das Landgericht keine näheren Feststellungen<br />

dazu getroffen hat, wer bei den Wettanbietern im konkreten Fall die Wetten angenommen hat <strong>und</strong> wie die Gewinn-<br />

- 62 -


auszahlungen veranlasst wurden, steht dem nicht entgegen, weil keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass es im<br />

Geschäftsbetrieb der Wettanbieter an irgendeiner Stelle ein Wissen um die Manipulationen gegeben hat <strong>und</strong> der<br />

durch die Täuschung ausgelöste Irrtum über die Manipulationsfreiheit deshalb nicht verfügungsursächlich geworden<br />

sein könnte (vgl. BGH, Urteil vom 5. Dezember 2002 – 3 StR 161/02, NStZ 2003, 313 Rn. 8 f.; Beckemper/Wegner,<br />

NStZ 2003, 315, 316). Auch hat das irrtumsbedingte Verhalten auf Seiten der Wettanbieter ohne weitere deliktische<br />

Zwischenschritte der Angeklagten zu der Vermögensverfügung geführt (vgl. BGH, Urteil vom 20. Februar 1991 – 2<br />

StR 421/90, BGHR StGB § 263 Abs. 1 Vermögensschaden 29).<br />

bb) Der Umstand, dass die Wettanbieter schon mit der auf derselben Täuschung beruhenden Eingehung der Wettverträge<br />

einen Vermögensnachteil erlitten haben (dazu unten III. 1), steht einer Schadensbestimmung nach Maßgabe der<br />

in der Erfüllungsphase geleisteten Zahlungen nicht entgegen. Die Erfüllung einer täuschungsbedingt eingegangenen<br />

vermögensnachteiligen Verpflichtung vertieft den bereits eingetretenen Schaden. Beide Verfügungen <strong>und</strong> die durch<br />

sie ausgelösten Nachteile bilden zusammen eine Betrugstat (vgl. BGH, Urteil vom 14. August 2009 – 3 StR 552/08,<br />

BGHSt 54, 69 Rn. 162 f.; Urteil vom 15. Dezember 2006 – 5 StR 181/06, BGHSt 51, 165 Rn. 35 f.; Urteil vom 29.<br />

Januar 1997 – 2 StR 633/96, NStZ 1997, 542, 543; RG, Urteil vom 17. März 1932 – III 841/31, RGSt 66, 175, 180;<br />

LK-StGB/Lackner, 10. Aufl., § 263 Rn. 292 f.; LK-StGB/Tiedemann, 12. Aufl., § 263 Rn. 274; Tenckhoff in FS<br />

Lackner, S. 677, 680). Dabei ist für die Schadensfeststellung jedenfalls dann allein auf die Erfüllungsphase abzustellen,<br />

wenn – wie hier – der Getäuschte seine Verpflichtung aus dem Vertrag restlos erfüllt hat <strong>und</strong> der mit dem Vertragsschluss<br />

ausgelöste Nachteil deshalb vollständig in dem durch die Vertragserfüllung herbeigeführten Schaden<br />

enthalten ist (BGH, Beschluss vom 14. April 2011 − 2 StR 616/10, NStZ 2011, 638 Rn. 12 a.E.; vgl. Klein, Das<br />

Verhältnis von Eingehungs- <strong>und</strong> Erfüllungsbetrug, 2003, S. 178 ff.). Auf die Frage, ob die Manipulationen der Angeklagten<br />

tatsächlich den Ausgang der betroffenen Spiele beeinflusst haben, kommt es nicht an (BGH, Urteil vom<br />

15. Dezember 2006 – 5 StR 181/06, BGHSt 51, 165 Rn. 35 f.; a.A. Saliger/Rönnau/Kirch-Heim, NStZ 2007, 361,<br />

368; Saliger in FS Samson, S. 455, 460). Entscheidend ist vielmehr, dass die Wettanbieter Wetten auf manipulierte<br />

Spiele nicht angenommen hätten. Dass es den Angeklagten in den Fällen, in denen das gewettete Spielergebnis unabhängig<br />

von ihrer Einflussnahme auf den Spielverlauf eintrat, möglich gewesen wäre, den Wettgewinn auch ohne<br />

Manipulation <strong>und</strong> damit ohne eine hierauf bezogene Täuschung zu erzielen, ist ohne Belang, weil für die innere<br />

Verknüpfung von Täuschung, Irrtum <strong>und</strong> Vermögensverfügung allein der tatsächliche Verlauf der Willensbildung<br />

maßgebend ist (BGH, Urteil vom 24. Februar 1959 – 5 StR 618/58, BGHSt 13, 13, 14 f.; im Ergebnis ebenso Pawlik,<br />

Das unerlaubte Verhalten beim Betrug, 1999, S. 250 f.).<br />

3. Auf die Revision des Angeklagten S. ist jedoch der gesamte ihn betreffende Strafausspruch aufzuheben, weil das<br />

Landgericht eine Strafmilderung nach § 46b Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht erwogen hat. Nach den Feststellungen hat der<br />

umfassend geständige Angeklagte im Ermittlungsverfahren bei über 30 Vernehmungen Angaben zu einer Vielzahl<br />

von Sachverhalten gemacht, die den Ermittlungsbehörden zuvor nicht bekannt waren (UA 12). Danach liegt es nahe,<br />

dass die Voraussetzungen des § 46b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB, § 100a Abs. 2 Nr. 1 Buchst. n StPO gegeben sind.<br />

Das Landgericht hat die Angaben des Angeklagten S. im Ermittlungsverfahren nur im Rahmen der konkreten Strafzumessung<br />

als allgemeinen Strafmilderungsgr<strong>und</strong> berücksichtigt (UA 53). Es hat nicht erörtert, ob durch diese Angaben<br />

ein wesentlicher Aufklärungserfolg im Sinne des § 46b Abs. 1 Satz 1 StGB eingetreten ist. Der Umstand, dass<br />

der Angeklagte C. im Ermittlungsverfahren ebenfalls ein Geständnis abgelegt hat (UA 51, 53), führt nicht dazu, dass<br />

dem Angeklagten S. die Vergünstigung des § 46b StGB nicht mehr zu Gute kommen kann. Die geständige Einlassung<br />

des Angeklagten C. erfolgte nach der Einlassung des Angeklagten S. . In der Regel sind die Vorteile des § 46b<br />

StGB zunächst demjenigen Mittäter zu gewähren, der als erster einen über seinen Tatbeitrag hinausgehenden Aufklärungsbeitrag<br />

leistet, weil dadurch die Möglichkeit der Strafverfolgung im Hinblick auf begangene Taten nachhaltig<br />

verbessert <strong>und</strong> die Kooperation mit den Ermittlungsbehörden auch für die übrigen Mittäter zu einer naheliegenden<br />

Strategie wird (vgl. BGH, Beschluss vom 30. August 2011 – 2 StR 141/11, StV 2012, 80, 81; Beschluss vom 17.<br />

März 1992 – 5 StR 60/92, BGHR BtMG § 31 Nr. 1 Aufdeckung 23). Auf dem gezeigten Rechtsfehler beruht der<br />

gesamte Strafausspruch, weil das Landgericht nicht geprüft hat, ob die Strafrahmen gemäß § 46b Abs. 1 Satz 1 StGB<br />

zu mildern sind <strong>und</strong> nicht auszuschließen ist, dass im Fall einer solchen Strafrahmenverschiebung niedrigere Einzelstrafen<br />

<strong>und</strong> eine geringere Gesamtstrafe verhängt worden wären (vgl. BGH, Beschluss vom 24. April 2003 – 4 StR<br />

94/03, NStZ-RR 2003, 297).<br />

III. Die zu Ungunsten der Angeklagten eingelegten Revisionen der Staatsanwaltschaft haben in dem aus der Urteilsformel<br />

ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen sind sie unbegründet. Darauf, dass die Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft<br />

auch zu Gunsten der Angeklagten wirken (§ 301 StPO), kommt es nach dem entsprechenden (Teil-)Erfolg<br />

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der Revision des Angeklagten S. nicht mehr an (BGH, Urteil vom 28. September 2011 – 2 StR 93/11, Rn. 29; Urteil<br />

vom 15. Juli 2008 – 1 StR 144/08, Rn. 3; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 301 Rn. 3).<br />

1. Das Urteil hat in den Fällen, in denen es nicht zu einer Gewinnauszahlung kam (Fälle 2 <strong>und</strong> 8 hinsichtlich des<br />

Angeklagten C. <strong>und</strong> Fälle 18, 25 <strong>und</strong> 28 hinsichtlich beider Angeklagten), keinen Bestand, weil das Landgericht die<br />

Annahme eines vollendeten Betruges mit nicht tragfähigen Erwägungen abgelehnt hat.<br />

a) Der 5. Strafsenat hat entschieden, dass bei Wetten mit festen Quoten auf manipulierte Fußballspiele bereits mit<br />

Abschluss des Wettvertrages ein vollendeter Betrug zum Nachteil der getäuschten Wettanbieter gegeben ist. Die<br />

aufgr<strong>und</strong> eines bestimmten Risikos ermittelte Quote stelle gleichsam den „Verkaufspreis“ der Wettchance dar. Durch<br />

die Manipulationen sei das Wettrisiko erheblich zugunsten der täuschenden Wettk<strong>und</strong>en verschoben worden. Die bei<br />

Vertragsschluss von den Wettanbietern vorgegebene Quote entspreche deshalb nicht mehr dem Risiko, das ihrer<br />

Kalkulation zugr<strong>und</strong>e gelegen habe. Die von dem Wettk<strong>und</strong>en erkaufte Chance auf den Wettgewinn sei wesentlich<br />

mehr wert, als er dafür in Ausnutzung seiner Täuschung bezahlt habe. Für seine jeweiligen Einsätze hätte der Wettk<strong>und</strong>e<br />

bei realistischer Einschätzung des tatsächlichen Wettrisikos einen erheblich geringeren Gewinn erkaufen können.<br />

Diese „Quotendifferenz“ stelle bei jedem Vertragsschluss einen nicht unerheblichen Vermögensschaden dar.<br />

Dieser Quotenschaden müsse nicht beziffert werden. Es reiche aus, wenn die insoweit relevanten Risikofaktoren<br />

gesehen <strong>und</strong> bewertet werden (BGH, Urteil vom 15. Dezember 2006 – 5 StR 181/06, BGHSt 51, 165 Rn. 32 f.;<br />

SSW-StGB/Satzger, § 263 Rn. 212; Engländer, JR 2007, 477, 479; Gaede, HRRS 2007, 16, 18; Krack, ZIS 2007,<br />

103, 109; Ostermeier, ZfWG 2007, 253, 260).<br />

b) Auch der Senat bejaht gr<strong>und</strong>sätzlich einen Vermögensschaden bereits mit Abschluss des Wettvertrags. Allerdings<br />

ist die eingetretene Vermögensminderung abweichend zu bestimmen.<br />

aa) Wurde der Getäuschte zum Abschluss eines gegenseitigen Vertrages verleitet (Eingehungsbetrug), sind bei der<br />

für die Schadensfeststellung erforderlichen Gesamtsaldierung der Geldwert des erworbenen Anspruchs gegen den<br />

Täuschenden <strong>und</strong> der Geldwert der eingegangenen Verpflichtung miteinander zu vergleichen. Der Getäuschte ist<br />

geschädigt, wenn sich dabei ein Negativsaldo zu seinem Nachteil ergibt (st. Rspr. vgl. BGH, Beschluss vom 14.<br />

April 2011 − 2 StR 616/10, NStZ 2011, 638 Rn. 12; Urteil vom 14. August 2009 – 3 StR 552/08, BGHSt 54, 69 Rn.<br />

156; Beschluss vom 18. Februar 1999 – 5 StR 193/98, BGHSt 45, 1, 4; Beschluss vom 18. Juli 1961 – 1 StR 606/60,<br />

BGHSt 16, 220, 221; LK-StGB/Tiedemann, 12. Aufl., § 263 Rn. 160, 173). Ist der Getäuschte ein Risikogeschäft<br />

eingegangen, kommt es für die Bestimmung des Schadens maßgeblich auf die täuschungs- <strong>und</strong> irrtumsbedingte Verlustgefahr<br />

an, die über die vertraglich zu Gr<strong>und</strong>e gelegte hinausgeht (vgl. BGH, Beschluss vom 14. April 2011 − 2<br />

StR 616/10, NStZ 2011, 638 Rn. 12; Beschluss vom 18. Februar 2009 – 1 StR 731/08, BGHSt 53, 199 Rn. 12 f.;<br />

Beschluss vom 23. Februar 1982 – 5 StR 685/81, BGHSt 30, 388, 389 f.; Jaath in FS Dünnebier, S. 583, 591 f.).<br />

Auch ein nur drohender, ungewisser Vermögensabfluss kann einen Schaden darstellen, wenn der wirtschaftliche<br />

Wert des gefährdeten Vermögens bereits gesunken ist (vgl. Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., § 263 Rn. 40 ff.; Schuhr,<br />

ZStW 123 [2011], 517, 529 f.; Riemann, Vermögensgefährdung <strong>und</strong> Vermögensschaden, 1989, S. 7). Die bloße<br />

Möglichkeit eines Wertverlustes genügt dabei allerdings noch nicht. Auch dürfen die Verlustwahrscheinlichkeiten<br />

nicht so diffus sein oder sich in so niedrigen Bereichen bewegen, dass der Eintritt eines realen Schadens ungewiss<br />

bleibt. Zur Verhinderung einer tatbestandlichen Überdehnung <strong>und</strong> zur Wahrung des Charakters des Betrugstatbestandes<br />

als Erfolgsdelikt ist der Schaden daher der Höhe nach zu beziffern <strong>und</strong> nachvollziehbar darzulegen. Bestehen<br />

Unsicherheiten, kann ein Mindestschaden unter Beachtung des Zweifelssatzes im Wege einer tragfähigen Schätzung<br />

ermittelt werden (BVerfG, NStZ 2012, 496 Rn. 176; vgl. NStZ 2010, 626 Rn. 28; BGH, Urteil vom 14. August 2009<br />

– 3 StR 552/08, BGHSt 54, 69 Rn. 163; Beschluss vom 18. Februar 2009 – 1 StR 731/08, BGHSt 53, 199 Rn. 13;<br />

LK-StGB/Tiedemann, 12. Aufl., § 263 Rn. 165 mwN; Kraatz, JR 2012, 329, 332 ff.). Normative Gesichtspunkte<br />

können bei der Bewertung des Schadens eine Rolle spielen; sie dürfen die wirtschaftliche Betrachtung allerdings<br />

nicht überlagern oder verdrängen (BVerfG, NStZ 2012, 496 Rn. 176).<br />

bb) Bei Wettverträgen auf Sportereignisse mit verbindlichen Quoten gestehen sich der Wettende <strong>und</strong> der Wetthalter<br />

gegenseitig je einen Anspruch auf einen bestimmten Geldbetrag zu <strong>und</strong> übernehmen das entsprechende Haftungsrisiko.<br />

Beide Ansprüche stehen zueinander im Verhältnis der Alternativität, weil sie mit unterschiedlichen Vorzeichen<br />

von dem Eintritt des gewetteten Spielergebnisses oder Spielverlaufs <strong>und</strong> damit von entgegengesetzten Bedingungen<br />

abhängen (vgl. Staudinger/Engel, BGB, Neubearb. 2008, § 762 Rn. 4 ff.; MünchKomm-BGB/Habersack, 5. Aufl., §<br />

762 Rn. 7; Henssler, Risiko als Vertragsgegenstand, S. 440 ff.). Der Anspruch des Wettenden ist auf den seinen<br />

Einsatz entsprechend der vereinbarten Quote übersteigenden Wettgewinn <strong>und</strong> der Anspruch des Wettanbieters auf<br />

ein Behaltendürfen des vorgeleisteten Wetteinsatzes gerichtet. Ihr Geldwert bestimmt sich nach der vereinbarten<br />

- 64 -


Höhe (Einsatz x Quote – Einsatz bzw. Einsatz) sowie der Wahrscheinlichkeit des Eintrittes des zur Bedingung gemachten<br />

Spielausganges. Wird durch eine nicht offen gelegte Manipulation des Wettenden die Wahrscheinlichkeit<br />

erhöht, dass es zu dem von ihm gewetteten Spielausgang kommt, erhöht sich damit auch der Geldwert seines Anspruchs<br />

gegen den getäuschten Wettanbieter <strong>und</strong> das korrespondierende Haftungsrisiko. Zugleich vermindert sich<br />

der Geldwert des alternativen Anspruchs des Wettanbieters auf ein Behaltendürfen des Einsatzes. Die getäuschten<br />

Wettanbieter haben mithin einen Vermögensschaden erlitten, wenn bei objektiver Betrachtung die von ihnen gegenüber<br />

den Angeklagten eingegangene – infolge der Manipulationen mit einem erhöhten Realisierungsrisiko behaftete<br />

– Verpflichtung zur Auszahlung des vereinbarten Wettgewinns nicht mehr durch den Anspruch auf den Wetteinsatz<br />

aufgewogen wird.<br />

cc) Die Tatsache, dass die beeinträchtigten Ansprüche der Wettanbieter auf ein Behaltendürfen des Wetteinsatzes<br />

von dem Nichteintritt des gewetteten Spielergebnisses abhängen, lässt den strafrechtlichen Vermögensschutz nicht<br />

entfallen. Auch bedingte Forderungen gehören zum strafrechtlich geschützten Vermögen, wenn mit ihrer Realisierung<br />

ernsthaft zu rechnen ist <strong>und</strong> sie deshalb im Geschäftsverkehr als werthaltig angesehen werden (vgl. BGH, Beschluss<br />

vom 27. Mai 2008 – 4 StR 58/08, NStZ 2008, 627). Dies war hier ersichtlich der Fall. dd) Soweit die getäuschten<br />

Wettanbieter in der Gesamtschau keinen Verlust erlitten haben, weil das auf die betroffenen Spiele entfallene<br />

Wettaufkommen die an die Angeklagten auszuschüttenden Gewinne gedeckt hat, steht dies der Annahme eines<br />

Vermögensschadens nicht entgegen (a.A. Saliger/ Rönnau/Kirch-Heim, NStZ 2007, 361, 366; Reinhart, SpuRt 2007,<br />

52, 54 f.; Rönnau in FS Rissing-van Saan, S. 517, 528; Saliger in FS Samson, S. 455, 459 f.). Die dem Wettanbieter<br />

verbleibenden Wetteinsätze der Wettverlierer stellen im Verhältnis zu den manipulativ agierenden Wettgewinnern<br />

keinen unter dem Gesichtspunkt der Schadenskompensation zu berücksichtigenden Ausgleich dar. Kommt es im<br />

Zusammenhang mit einer nachteiligen Vermögensverfügung an anderer Stelle zu einem Vermögenszuwachs, scheidet<br />

die Annahme eines Vermögensschadens nur dann aus, wenn dieser Vorteil von der Verfügung selbst zeitgleich<br />

mit dem Nachteil hervorgebracht worden ist <strong>und</strong> nicht – wie hier – auf rechtlich selbstständigen Handlungen beruht<br />

(vgl. BGH, Beschluss vom 10. November 2009 – 4 StR 194/09, NStZ 2010, 330 Rn. 2; Beschluss vom 27. August<br />

2003 – 5 StR 254/03, NStZ 2004, 205 Rn. 2; Urteil vom 23. Mai 2002 – 1 StR 372/01, BGHSt 47, 295, 301 f.; Urteil<br />

vom 4. März 1999 – 5 StR 355/98, NStZ 1999, 353, 354; SSW-StGB/Satzger, § 263 Rn. 144).<br />

ee) Die Sache bedarf daher insoweit neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung. Der neue Tatrichter wird dabei – gegebenenfalls<br />

mit sachverständiger Hilfe – die Wahrscheinlichkeit eines Wetterfolges <strong>und</strong> dessen Beeinflussung durch die<br />

Manipulationen zu beurteilen <strong>und</strong> danach den wirtschaftlichen Wert sowohl der bedingten Verbindlichkeit (Zahlung<br />

des Wettgewinns) als auch des gegenüberstehenden Anspruchs (Behaltendürfen des Wetteinsatzes) des getäuschten<br />

Wettanbieters zu bestimmen haben. Dabei können die auf dem Wettmarkt für die jeweiligen Spiele anfänglich angebotenen<br />

Quoten einen Anhalt für die Bewertung des Wettrisikos vor der Manipulation bieten. Für die Bewertung der<br />

Beeinflussung des Wettrisikos durch die Manipulation geben die Zahl <strong>und</strong> die Bedeutung der beeinflussten Spieler<br />

oder sonstigen Teilnehmer einen wesentlichen Anhaltspunkt. Soweit für eine Schadensbestimmung eine Anknüpfung<br />

an die Gr<strong>und</strong>sätze zu Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten <strong>und</strong> drohende Verluste aus schwebenden<br />

Geschäften (§ 249 Abs. 1 Satz 1 HGB) in Betracht kommt (vgl. Kozikowski/Schubert in Beck´scher Bilanzkommentar,<br />

8. Aufl., § 249 Rn. 60; Kraatz, JR 2012, 329, 334), wird besonders zu beachten sein, dass es hier um die Ermittlung<br />

eines Mindestschadens geht. Betriebswirtschaftliche sowie handels- <strong>und</strong> gesellschaftsrechtliche Bewertungsverfahren<br />

sind in erheblichem Maß von Gr<strong>und</strong>sätzen geprägt (Vorsichtsprinzip), die im Zweifel zur Annahme niedriger<br />

Werte <strong>und</strong> zu einer Überbewertung von Verlustrisiken führen, was ihrer Anwendung auf einen strafrechtlichen<br />

Sachverhalt Grenzen setzt (Schuhr, ZStW 123 [2011], 517, 530; Becker, HRRS 2009, 334, 338 f.; Kempf in FS<br />

Volk, S. 231, 240 f.; Tiedemann in FS Klug, Bd. II., S. 405, 415). Lassen sich keine belastbaren Aussagen treffen<br />

<strong>und</strong> kann deshalb auch ein Mindestschaden nicht mehr geschätzt werden, scheidet ein Schuldspruch wegen vollendeten<br />

Betrugs aus.<br />

ff) Eine Divergenzvorlage nach § 132 Abs. 2 GVG ist nicht erforderlich, weil der 5. Strafsenat die in seinem Urteil<br />

vom 15. Dezember 2006 (5 StR 181/06, BGHSt 51, 165 Rn. 32 f.) vertretene Auffassung, dass der eingetretene<br />

Vermögensschaden nicht beziffert werden müsse, mit Beschluss vom 13. April 2012 (5 StR 442/11, NJW 2012,<br />

2370 Rn. 7) aufgegeben <strong>und</strong> mit Rücksicht auf den Beschluss des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom 7. Dezember 2011<br />

(2 BvR 2500/09 u.a., NStZ 2012, 496 Rn. 176) entschieden hat, dass es im Fall der Annahme eines Eingehungsbetrugs<br />

einer ausreichenden Beschreibung <strong>und</strong> Bezifferung der täuschungsbedingten Vermögensschäden bedarf.<br />

- 65 -


2. Hinsichtlich des Angeklagten S. war das Urteil darüber hinaus auch in den Fällen 1, 5, 7, 9, 10, 13, 14, 15, 16, 17,<br />

19, 20, 21, 23, 24, 26 <strong>und</strong> 27 aufzuheben, weil das Landgericht bei der Ablehnung eines Bandenbetruges gemäß §<br />

263 Abs. 5 StGB von einem unzutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen ist.<br />

a) Der Begriff der Bande setzt den Zusammenschluss von mindestens drei Personen voraus, die sich mit dem Willen<br />

verb<strong>und</strong>en haben, künftig für eine gewisse Dauer mehrere selbstständige, im Einzelnen noch ungewisse Straftaten<br />

des im Gesetz benannten Deliktstyps zu begehen. Ein „gefestigter Bandenwille“ oder ein „Tätigwerden in einem<br />

übergeordneten Bandeninteresse“ ist nicht erforderlich. Es steht der Annahme einer Bande deshalb nicht entgegen,<br />

wenn deren Mitglieder bei der Tatbegehung ihre eigenen Interessen an einer risikolosen <strong>und</strong> effektiven Tatausführung<br />

sowie Beute- <strong>und</strong> Gewinnerzielung verfolgen (BGH, Beschluss vom 22. März 2001 – GSSt 1/00, BGHSt 46,<br />

321, 335; Urteil vom 16. November 2006 – 3 StR 204/06, NStZ 2007, 269).<br />

b) Die Abrede zwischen dem Angeklagten S. <strong>und</strong> den Vermittlern der Ltd. (H., Ch. <strong>und</strong> Cha. ) vom 11. August 2008<br />

war ersichtlich auf eine unbestimmte Vielzahl zukünftiger Betrugstaten zum Nachteil asiatischer Wettanbieter gerichtet.<br />

Soweit das Landgericht die Annahme einer Bande mit der Erwägung verneint hat, dass die gesondert verfolgten<br />

H. <strong>und</strong> Cha. lediglich aus eigenem Interesse an den Wetten des Angeklagten S. mitgewirkt <strong>und</strong> diesen zur Maximierung<br />

ihres Gewinnes regelmäßig übervorteilt haben (UA 48), wird ein Interessengleichlauf zur Bedingung für<br />

eine bandenmäßige Begehungsweise gemacht, der nach der Aufgabe der Rechtsprechung zum „übergeordneten Bandeninteresse“<br />

(vgl. BGH, Urteil vom 9. Oktober 1996 – 3 StR 220/96, BGHSt 42, 255, 259 f.) gerade nicht mehr<br />

erforderlich ist. Dessen ungeachtet haben die Mitarbeiter der Ltd. in Bezug auf die getäuschten Wettanbieter tatsächlich<br />

dasselbe deliktische Ziel verfolgt wie der Angeklagte S. <strong>und</strong> seine weiteren Mittäter, denn auch ihr Gewinninteresse<br />

hing von einer erfolgreichen Platzierung der Wetten <strong>und</strong> deren Gewinn ab (vgl. BGH, Urteil vom 16. November<br />

2006 – 3 StR 204/06, NStZ 2007, 269, 270). Übervorteilen sich Beteiligte nach ihren gemeinsam begangenen<br />

Taten bei der Beute- oder Gewinnverteilung, stellt dies eine bandenmäßige Begehungsweise nicht in Frage. Die<br />

Sache bedarf daher auch insoweit neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung. Da es sich um einen reinen Bewertungsfehler<br />

handelt, der auch die bereits aus anderen Gründen aufgehobenen Fälle 18, 25 <strong>und</strong> 28 betrifft, können in den Fällen<br />

1, 5, 7, 9, 10, 13, 14, 15, 16, 17, 19, 20, 21, 23, 24, 26 <strong>und</strong> 27 die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen<br />

bestehen bleiben. Ergänzende – hierzu nicht in Widerspruch stehende – Feststellungen sind möglich. Sollte der<br />

Tatrichter zur Annahme eines Bandenbetruges gelangen, wird dieser in den Tenor aufzunehmen sein (vgl. BGH,<br />

Urteil vom 16. November 2006 – 3 StR 204/06, NStZ 2007, 269, 270).<br />

3. Die weiter gehende Revision der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg.<br />

a) In Bezug auf den Angeklagten C. hat das Landgericht zu Recht eine bandenmäßige Begehungsweise gemäß § 263<br />

Abs. 5 StGB verneint. Nach den Feststellungen waren die manipulationswilligen Spieler nur für eng begrenzte Zeiträume<br />

in das Geschehen eingeb<strong>und</strong>en, sodass eine (konkludente) Bandenabrede mit dem Angeklagten C. insoweit<br />

nicht belegbar ist. Gleiches gilt für die verschiedenen Gehilfen <strong>und</strong> Mittäter, die bei einzelnen Spielen aufgr<strong>und</strong> von<br />

Einzelabsprachen im Verb<strong>und</strong> mit dem Angeklagten C. tätig waren. In die Absprachen mit der Ltd. war der Angeklagte<br />

C. nicht eingeb<strong>und</strong>en.<br />

b) Der Umstand, dass das Landgericht in den Fällen 1, 5, 7, 9, 10, 14, 15, 17, 19, 21, 23, 26 <strong>und</strong> 27 einen Vermögensverlust<br />

großen Ausmaßes gemäß § 263 Abs. 3 Nr. 2 Alt. 1 StGB nicht ausdrücklich geprüft hat, lässt keinen<br />

durchgreifenden Rechtsfehler erkennen. Die Annahme eines Vermögensverlustes von großem Ausmaß kommt in<br />

Betracht, wenn der angerichtete Schaden mehr als 50.000 Euro beträgt (BGH, Urteil vom 7. Oktober 2003 – 1 StR<br />

274/03, BGHSt 48, 360, 362 ff.; Beschluss vom 11. Februar 2009 – 5 StR 11/09, wistra 2009, 236, 237; LK-StGB/<br />

Tiedemann, 12. Aufl., § 263 Rn. 298a mwN). Dabei ist der Umfang der Vermögenseinbuße opferbezogen zu bestimmen.<br />

Werden – wie hier durch die Platzierung mehrerer Wetten auf ein manipuliertes Spiel – mehrere Opfer<br />

geschädigt, kommt es auf die Verluste bei jedem einzelnen Opfer an. Eine Addition von Einzelschäden ist nur dann<br />

möglich, wenn sie dasselbe Opfer betreffen (BGH, Beschluss vom 18. Oktober 2011 – 4 StR 253/11, NStZ 2012,<br />

213; Beschluss vom 15. März 2011 – 1 StR 529/10, NJW 2011, 1825, 1827). Danach kam in den Fällen 1, 5, 15, 17<br />

<strong>und</strong> 26 die Annahme eines Vermögensverlustes von großem Ausmaß schon deshalb nicht in Betracht, weil die Feststellungen<br />

nicht belegen, dass bei einem der betroffenen Wettanbieter ein Verlust von mehr als 50.000 Euro eingetreten<br />

ist. In den übrigen Fällen vermag der Senat auszuschließen, dass eine ausdrückliche Berücksichtigung des Umstandes,<br />

dass die Verluste der einzelnen Wettanbieter mehr als 50.000 Euro betragen haben <strong>und</strong> damit auch das Regelbeispiel<br />

des § 263 Abs. 3 Nr. 2 Alt. 1 StGB verwirklicht ist, zu einer höheren Bestrafung geführt hätte. Die Kammer<br />

ist in allen Fällen vom Strafrahmen des § 263 Abs. 3 StGB ausgegangen, weil sie ein gewerbsmäßiges Vorgehen<br />

- 66 -


der Angeklagten angenommen hat. Die Höhe der verursachten Schäden wurde bei der Strafzumessung ausdrücklich<br />

berücksichtigt.<br />

IV. Wegen der Aufhebung des Schuldspruchs bei dem Angeklagten S. waren auch die – an sich rechtsfehlerfrei<br />

getroffenen – ihn betreffenden Feststellungen zur Rückgewinnungshilfe nach § 111i Abs. 2 StPO aufzuheben.<br />

StGB § 263a - Sportwettenbetrug durch Wetten im Internet - Schaden<br />

BGH, Beschl. v. 20.12.2012 - 4 StR 580/11 - NJW 2013, 1017<br />

LS: Zur Schadensfeststellung beim Sportwettenbetrug durch Wetten im Internet <strong>und</strong> an Wettautomaten.<br />

Der 4. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalb<strong>und</strong>esanwalts <strong>und</strong> der Beschwerdeführer<br />

am 20. Dezember 2012 gemäß § 349 Abs. 2 <strong>und</strong> 4 StPO beschlossen:<br />

1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bochum vom 14. April 2011 mit den Feststellungen<br />

aufgehoben<br />

a) hinsichtlich des Angeklagten G. im Fall C II. 4 der Urteilsgründe,<br />

b) hinsichtlich des Angeklagten A. in den Fällen C II. 1, 4 <strong>und</strong> 18 der Urteilsgründe,<br />

c) hinsichtlich des Angeklagten R. in den Fällen C II. 5, 9 <strong>und</strong> 17 der Urteilsgründe<br />

d) sowie in den Aussprüchen über die Gesamtstrafen.<br />

2. Im Umfang der Aufhebungen wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der<br />

Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

3. Die weiter gehenden Revisionen werden verworfen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten G. des Betruges <strong>und</strong> des Computerbetruges in jeweils zwei Fällen <strong>und</strong> des<br />

Betruges in Tateinheit mit Computerbetrug in drei Fällen, den Angeklagten A. der Beihilfe zum banden- <strong>und</strong> gewerbsmäßigen<br />

Betrug in zwei Fällen, des banden- <strong>und</strong> gewerbsmäßigen Betruges in drei Fällen, davon in einem Fall<br />

in Tateinheit mit Computerbetrug, des banden- <strong>und</strong> gewerbsmäßigen Computerbetruges in zwei Fällen, des Betruges<br />

in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Computerbetrug, <strong>und</strong> des Computerbetruges <strong>und</strong> den Angeklagten<br />

R. des banden- <strong>und</strong> gewerbsmäßigen Betruges in fünf Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Computerbetrug,<br />

des banden- <strong>und</strong> gewerbsmäßigen Computerbetruges in drei Fällen <strong>und</strong> des Betruges schuldig gesprochen. Es<br />

hat den Angeklagten G. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren, den Angeklagten A. zu einer solchen von drei<br />

Jahren <strong>und</strong> acht Monaten <strong>und</strong> den Angeklagten R. zu einer solchen von drei Jahren <strong>und</strong> elf Monaten verurteilt. Ferner<br />

hat es festgestellt, dass gegen den Angeklagten G. wegen eines Geldbetrages in Höhe von 50.000 € <strong>und</strong> gegen<br />

den Angeklagten A. wegen eines Geldbetrages in Höhe von 148.198,04 € lediglich deshalb nicht auf Verfall von<br />

Wertersatz erkannt wird, weil Ansprüche Verletzter im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB entgegenstehen. Mit ihren<br />

Revisionen rügen die Angeklagten jeweils die Verletzung materiellen Rechts. Die Angeklagten G. <strong>und</strong> R. beanstanden<br />

darüber hinaus das Verfahren. Die Rechtsmittel haben den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im<br />

Übrigen sind sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.<br />

A. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen <strong>und</strong> Wertungen getroffen:<br />

1. Die Angeklagten unterhielten schon einige Jahre vor den hier abgeurteilten Taten enge Kontakte zur Glücks- <strong>und</strong><br />

Wettspielszene. In diesem Zusammenhang lernten sie unabhängig voneinander zu unterschiedlichen Zeitpunkten den<br />

gesondert verfolgten C. kennen, der ebenfalls in großem Umfang auf den Ausgang von Fußballspielen wettete <strong>und</strong><br />

sich auch mit der Manipulation von Spielen durch Geldzuwendungen an Spieler <strong>und</strong> Schiedsrichter befasste. Spätestens<br />

seit einer zwischen den Angeklagten A. <strong>und</strong> R. sowie dem gesondert verfolgten C. abgesprochenen Begegnung<br />

zwischen Vereinen aus V. <strong>und</strong> K. am 6. Juni 2009 waren sich diese Beteiligten zumindest stillschweigend darüber<br />

einig, in Zukunft eine unbestimmte Anzahl von Wettbetrugstaten zu begehen.<br />

2. a) Insgesamt kam es in der Zeit von April bis November 2009 unter wechselnder Beteiligung der Angeklagten G. ,<br />

A. <strong>und</strong> R. sowie der gesondert verfolgten C. <strong>und</strong> S. <strong>und</strong> weiterer Personen in mindestens achtzehn Fällen zu manipulierten<br />

Wettvertragsabschlüssen. Namentlich die Angeklagten G. <strong>und</strong> R. trafen persönlich oder über Mittelsmänner<br />

die erforderlichen Absprachen mit Spielern oder Schiedsrichtern zur Manipulation des jeweiligen Spielergebnisses.<br />

Dabei gingen sie von der Ernsthaftigkeit der gegen Zahlung teilweise hoher Geldbeträge erhaltenen Zusagen aus. Die<br />

- 67 -


tatsächliche Bereitschaft der Geldempfänger zur Manipulation konnte indes ebenso wenig sicher festgestellt werden<br />

wie deren Einflussnahme auf den Spielverlauf.<br />

b) In einer Vielzahl von Fällen platzierten von den Angeklagten beauftragte, nicht eingeweihte Dritte die Wetten.<br />

Zumeist wurde zeitgleich eine Vielzahl solcher Personen (sog. Läufer) bei Wettanbietern an verschiedenen Orten mit<br />

zeitnahen Wetteinsätzen beauftragt, um bei den Wettanbietern kein Misstrauen zu erregen, die Höchstgrenzen für<br />

Einsätze zu umgehen <strong>und</strong> eine Quotenanpassung vor Wettannahme zu ihren Ungunsten zu verhindern. Dabei wurden<br />

die Wetten zumeist in Wettbüros platziert, <strong>und</strong> zwar entweder durch persönliche Annahme des für einen kommerziellen<br />

Wettanbieter handelnden Wettbürobetreibers oder an dort aufgestellten Wettautomaten verschiedener Wetthalter.<br />

In anderen Fällen erfolgte die Platzierung bei den Wettanbietern telefonisch oder über das Internet. Nach den<br />

Feststellungen waren die Wettautomaten von den Wettspielern selbst zu bedienende, elektronische Wettannahmegeräte,<br />

die mit den Hauptcomputern der im europäischen Ausland ansässigen Wettanbieter verb<strong>und</strong>en waren. Diese<br />

gaben ihrerseits die Wettquoten sowie die zulässigen Höchsteinsätze elektronisch vor. Innerhalb der zulässigen<br />

Grenzen erfolgte Platzierungen wurden sogleich durch Ausdruck eines Wettbelegs ohne persönliche Gegenprüfung<br />

angenommen. Bei Wetten über das Internet wurden die Platzierungen über die Anbieterseiten der Wettanbieter eingegeben<br />

<strong>und</strong> die Einsätze per Kreditkarte übermittelt oder von einem elektronisch aufgeladenen K<strong>und</strong>enkonto abgebucht.<br />

Bei einzelnen oder kumulierten Einsätzen ab 5.000 € wurden die Wetten vor ihrer Annahme von Mitarbeitern<br />

der Wettanbieter zum Zweck der Abwehr von Manipulationen überprüft, in allen anderen Fällen erfolgte die Annahme<br />

ohne persönliche Gegenprüfung auf rein elektronischem Wege.<br />

c) Bei Wetten mit verbindlichen Quoten lobt der Wettanbieter für das jeweilige Spiel eine bestimmte Wettquote aus,<br />

die das Verhältnis von Einsatz <strong>und</strong> möglichem Gewinn widerspiegelt. Dabei geht der Wettanbieter davon aus, dass<br />

sich die Wetteinsätze weitgehend nach den Wahrscheinlichkeiten verteilen werden, mit denen ein bestimmter<br />

Spielausgang zu erwarten ist. Die Wettquoten werden nach der zu erwartenden Verteilung der Wetteinsätze kalkuliert<br />

<strong>und</strong> so bemessen, dass „unter dem Strich“ unabhängig von dem Ergebnis des jeweiligen Spiels ein Gewinn<br />

verbleibt. Wird auf das Spielergebnis manipulativ eingewirkt, kann der Wettanbieter das betroffene Spiel nicht mehr<br />

zuverlässig kalkulieren. Wetten auf bekannt manipulierte Spiele werden daher nicht angenommen.<br />

3. In zeitlicher Reihenfolge kam es im Tatzeitraum zu folgenden Manipulationshandlungen <strong>und</strong> Wettplatzierungen,<br />

wobei keiner der Wettanbieter von der Beeinflussung der jeweiligen Spiele Kenntnis hatte:<br />

(1) Nach von ihm veranlasster Manipulationsabsprache empfahl der gesondert verfolgte C. den Angeklagten G. <strong>und</strong><br />

A. das Spiel des Go. gegen den T. vom 17. April 2009 als sicheren Wettgegenstand. G., der dies in diesem <strong>und</strong> auch<br />

in anderen Fällen als Hinweis auf eine abgesprochene Manipulation verstand, platzierte insgesamt dreizehn Vierer-<br />

Kombinationswetten mit einem Gesamteinsatz von 1.250 € an Wettautomaten verschiedener Anbieter, die sämtlich<br />

erfolgreich waren <strong>und</strong> zu einem Wettgewinn von insgesamt 31.587,28 € führten. A., gleichermaßen über die Manipulation<br />

informiert, schloss bei einem privaten Wetthalter mehrere Kombinationswetten unter Einschluss des genannten<br />

Spiels ab, die er verlor, da einige der übrigen Partien entgegen der Vorhersage ausgingen (Fall C II. 1).<br />

(2) Nach vorangegangener Manipulation des Angeklagten G. durch Gewährung eines finanziellen Vorteils an einen<br />

Spieler des O. ging das Spiel dieser Mannschaft gegen den A. vom 17. April 2009 absprachegemäß verloren. Der<br />

Angeklagte, der über im Internet geführte Wettkonten des gesondert verfolgten C. fünf Einzelwetten auf dem asiatischen<br />

Wettmarkt platziert hatte, erzielte damit einen Gewinn von 124.100 €. Wegen der Höhe der Einsätze waren die<br />

Wetten vor der Bestätigung von Mitarbeitern der Wettunternehmen persönlich kontrolliert worden (Fall C II. 2).<br />

(3) Das Spiel des Vereins Y. gegen den T. vom 26. April 2009 gewann nach einer Manipulation durch den gesondert<br />

verfolgten C. absprachegemäß die Mannschaft aus Y.. Die Angeklagten G. <strong>und</strong> A., die nach einer entsprechenden<br />

Wettempfehlung durch C. jeweils mehrere Wetten teils bei ausländischen Wettanbietern, teils bei privaten Wetthaltern,<br />

aber auch an Wettautomaten platziert hatten, die alle erfolgreich waren, erzielten Wettgewinne in Höhe von<br />

47.800 € für G. <strong>und</strong> 23.200 € für A. (Fall C II. 3).<br />

(4) Weitere Wetten tätigten die Angeklagten G. <strong>und</strong> A., nachdem ihnen der gesondert verfolgte C. die Partie Se.<br />

gegen Go. vom 30. Mai 2009 empfohlen hatte. Zwei Spieler des Go. hatten sich gegen das Versprechen von Geldzuwendungen<br />

bereit erklärt, auf eine Niederlage ihrer Mannschaft hinzuwirken, die auch eintrat. Die Vierer-<br />

Kombinationswetten gingen indes sämtlich verloren, da jeweils mindestens eine der übrigen Ergebnisvorhersagen<br />

nicht eintraf (Fall C II. 4).<br />

(5) Nachdem der Angeklagte R. Spieler des Vereins V. durch Geldzuwendungen dazu veranlasst hatte, auf eine Niederlage<br />

ihrer Mannschaft hinzuwirken, unterrichtete er darüber den gesondert verfolgten C., der über das Internet<br />

jeweils zwei sog. Systemwetten „3 aus 4“ auf verschiedene Spiele unter Einschluss der manipulierten Partie von M.<br />

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gegen den V. vom 30. Mai 2009 platzierte. Zumindest stillschweigend waren sich R. <strong>und</strong> C. dahin einig, dass R. im<br />

Erfolgsfall eine Beteiligung am Wettgewinn einschließlich der Erstattung der „Bestechungskosten“ erhalten sollte.<br />

Entgegen der Absprache endete die Partie mit einem Sieg des V.; die Wetten gingen insgesamt verloren (Fall C II.<br />

5).<br />

(6) Nachdem die Angeklagten A. <strong>und</strong> R. im Auftrag des C. den manipulationswilligen Spielern des V. verdeutlicht<br />

hatten, dass sie den Verlust aus der vorherigen Partie gegen M. durch eine weitere, nunmehr erfolgreiche Manipulation<br />

auszugleichen hätten, sahen sich diese Spieler verpflichtet, in der bevorstehenden Begegnung mit dem K. am 6.<br />

Juni 2009 auf ihre eigene Niederlage hinzuwirken. Die Partie endete mit 1:0 für die Mannschaft des K.. Neben dem<br />

gesondert verfolgten C. platzierte auch der Angeklagte G. bei Wettbürobetreibern persönlich <strong>und</strong> an Wettautomaten<br />

in Kenntnis der manipulativen Hintergründe Kombinationswetten unter Einschluss der genannten Partie, wodurch er<br />

einen Wettgewinn in Höhe von 15.100 € erzielte. Die Angeklagten A. <strong>und</strong> R. wetteten selbst nicht, wussten indes<br />

von den Wettverträgen des C.; R. hoffte im Erfolgsfall auf eine Gewinnbeteiligung (Fall C II. 6).<br />

(7) Um den gesondert verfolgten C. bei seiner ins Auge gefassten Manipulation des Spiels des Sp. gegen Ob. vom 2.<br />

August 2009 zu unterstützen, nannte der Angeklagte A. dem C. auf entsprechende Nachfrage den Namen eines<br />

Wettbürobesitzers, der für C. den Kontakt zu einem manipulationswilligen Spieler des Sp. herstellte. Die erfolgreiche<br />

Manipulation erbrachte für C. einen Wettgewinn von insgesamt 87.681,81 €; der Angeklagte A. wettete selbst<br />

nicht, rechnete aber mit Wetteinsätzen des C. auf ein manipuliertes Spiel (Fall C II. 7).<br />

(8) Das Spiel Al. gegen F. vom 19. September 2009 wurde von dem Angeklagten R. durch eine Absprache mit dem<br />

Torwart von Al. zu Lasten seiner eigenen Mannschaft manipuliert. Absprachegemäß unterlag Al. mit 1:0. Der Angeklagte<br />

A. platzierte vier Systemwetten an Wettautomaten in Wettbüros <strong>und</strong> erzielte einen Wettgewinn von insgesamt<br />

13.998,04 €; der Angeklagte R. selbst wettete nicht; ob er am Wettgewinn des A. beteiligt wurde, konnte nicht festgestellt<br />

werden (Fall C II. 8).<br />

(9) Entgegen einer zwischen dem Angeklagten R. <strong>und</strong> Spielern des Vereins V. getroffenen Absprache, eine Niederlage<br />

in dem Spiel gegen M. am 19. September 2009 herbeizuführen, gewann der V. diese Partie mit 1:0. Eine auf<br />

dieses Spiel abgeschlossene Dreier-Kombinationswette des Angeklagten A. an einem Wettautomaten ging verloren.<br />

R., der in der Hoffnung auf eine Gewinnbeteiligung auch C. von der Manipulation unterrichtet hatte, wettete selbst<br />

nicht <strong>und</strong> erhielt auch keinen Gewinnanteil (Fall C II. 9).<br />

(10) Das Spiel des L. gegen Go. am 26. September 2009 wurde erneut von C. manipuliert; Spieler des Go. hatten<br />

gegen Geldzuwendungen zugesagt, auf eine Niederlage der eigenen Mannschaft hinzuwirken. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong><br />

empfahl C. das Spiel den Angeklagten G. <strong>und</strong> A. als sicheren Wettgegenstand. G. platzierte mindestens elf<br />

Vierer-Kombinationswetten unter Einschluss des genannten Spiels über Mittelsmänner bei Wettbetreibern, telefonisch<br />

bei den Wetthaltern <strong>und</strong> auch an Automaten. Er erzielte einen Wettgewinn in Höhe von 102.400 € (Fall C II.<br />

10).<br />

(11) In der Erwartung einer Beteiligung an etwaigen Wettgewinnen des C. sowie des Angeklagten A. bewog der<br />

Angeklagte R. erneut den Torhüter der Mannschaft Al. , auf eine Niederlage im Spiel gegen den V. A. am 17. Oktober<br />

2009 hinzuwirken. Der V. A. gewann die Partie. Die Angeklagten G. <strong>und</strong> A. platzierten mehrere Wetten, wobei<br />

beide Angeklagten Wettbüros einschalteten <strong>und</strong> der Angeklagte A. sich darüber hinaus des Einsatzes von Wettautomaten<br />

bediente. G. erzielte einen Gewinn in Höhe von 8.400 €, A. einen solchen in Höhe von 14.000 € (Fall C II.<br />

11).<br />

(12) Für das Spiel des Sa. gegen V. am 31. Oktober 2009 traf der Angeklagte R. mit dem Mannschaftskapitän des V.<br />

eine Absprache dahin, dieser solle gegen Zahlung von mindestens 10.000 € auf die Niederlage seiner Mannschaft<br />

hinwirken. Absprachegemäß siegte die Mannschaft aus Sa. mit 3:1, weshalb die Wetten des gesondert verfolgten,<br />

von R. in die Manipulation eingeweihten C. erfolgreich waren <strong>und</strong> einen Wettgewinn in Höhe von 52.400 € erbrachten.<br />

R. erhielt von C. 14.000 € als Anteil (Fall C II. 12).<br />

(13) In ähnlicher Weise manipulierte der Angeklagte R. das Spiel der U 19-Mannschaften der Vereine Bo. <strong>und</strong> Bi.<br />

am 31. Oktober 2009 dahin, dass Spieler von Bi. auf die Niederlage ihrer Mannschaft hinwirken sollten. Die Mannschaft<br />

des Bo. siegte mit 4:0, so dass die Wetten des gesondert verfolgten C. erfolgreich waren. R. wurde u.a. aus<br />

dessen Wettgewinn in Höhe von 10.800 € entlohnt (Fall C II. 13).<br />

(14) Gegen Zahlung von mindestens 3.000 € erklärte sich der Torwart von Al. gegenüber dem Angeklagten R. bereit,<br />

wiederum auf eine Niederlage der eigenen Mannschaft im Spiel gegen St. vom 31. Oktober 2009 hinzuwirken, die<br />

auch eintrat. Die von C. über das Internet platzierte Siegwette, die wegen der Höhe des Einsatzes von Mitarbeitern<br />

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des Wettanbieters überprüft wurde, war erfolgreich <strong>und</strong> erbrachte einen Gewinn in Höhe von 38.500 €, von dem R.<br />

einen Anteil erhielt (Fall C II. 14).<br />

(15) Anlässlich der Begegnung zwischen Go. <strong>und</strong> Va. am 1. November 2009 erreichte der gesondert verfolgte C.<br />

durch das Versprechen von Geldzuwendungen die Zusage mehrerer Spieler beider Mannschaften, dass diese sich<br />

bereit erklärten, auf einen Sieg von Va. hinzuwirken, wobei in der zweiten Halbzeit drei Tore für Va. fallen sollten.<br />

Die Absprache wurde erfüllt. Die für den Angeklagten A. durch Dritte an Wettautomaten platzierten mindestens<br />

sechs Vierer-Kombinationswetten waren sämtlich erfolgreich <strong>und</strong> brachten einen Wettgewinn von 77.800 € ein (Fall<br />

C II. 15).<br />

(16) Nach einer Absprache des gesondert verfolgten S. , der seinerseits mit C. zusammenwirkte, mit dem Schiedsrichter<br />

der Partie Ba. gegen So. am 5. November 2009 über eine Zahlung von 50.000 € ging diese Partie 3:1 für den<br />

Ba. aus. Der in die Manipulation eingeweihte Angeklagte A. ließ mindestens sechs Einzelwetten bei Wettbürobetreibern<br />

platzieren, die ihm einen Wettgewinn von 19.200 € einbrachten (Fall C II. 16).<br />

(17) In dem Bestreben, an möglichen Wettgewinnen des Angeklagten A. <strong>und</strong> des gesondert verfolgten C. zu partizipieren,<br />

erreichte der Angeklagte R. gegen das Versprechen von Geldzuwendungen die Zusage mehrerer Spieler der<br />

U 19-Mannschaft des Vereins Bi. , eine Niederlage (mit zwei Toren) in dem Spiel gegen die U 19-Mannschaft des<br />

Sc. am 8. November 2009 herbeizuführen. Da R. nicht im erhofften Umfang wetten konnte <strong>und</strong> einer der manipulationswilligen<br />

Spieler nicht zum Einsatz kam, sagte der Angeklagte die Manipulation in der Halbzeitpause ab. Die<br />

Mannschaft von Bi. gewann die Partie mit 2:1. Die vor dieser Absage durch R. über das Internet platzierte Wette in<br />

Höhe von 300 € darauf, dass die Mannschaft des Sc. das nächste Tor erzielen werde, ging verloren (Fall C II. 17).<br />

(18) Der für den Einsatz in der Begegnung der U 21-Mannschaften der S. <strong>und</strong> G. am 18. November 2009 vorgesehene<br />

Schiedsrichter nahm das Angebot des C. an, gegen Zahlung von 20.000 € auf einen Sieg der Mannschaft aus der<br />

S. mit einer Differenz von drei Toren hinzuwirken. Die von dem eingeweihten Angeklagten A. bei verschiedenen<br />

Wettbürobetreibern platzierten Wetten gingen jedoch verloren, weil die Partie entgegen der Absprache mit einem<br />

1:0-Sieg der S. endete (Fall C II. 18).<br />

B.<br />

I. Den von den Angeklagten G. <strong>und</strong> R. erhobenen Verfahrensrügen bleibt aus den Gründen der Antragsschriften des<br />

Generalb<strong>und</strong>esanwalts vom 20. Dezember 2011 der Erfolg versagt.<br />

II. Die Verurteilung der Angeklagten wegen Betruges hält nicht in allen Fällen der rechtlichen Nachprüfung stand.<br />

1. Das Landgericht ist, soweit es die Angeklagten wegen Betruges verurteilt hat, zunächst zutreffend davon ausgegangen,<br />

dass diese selbst, im mittäterschaftlichen Zusammenwirken oder durch ihre nicht eingeweihten Vermittler (§<br />

25 Abs. 1 2. Alt. StGB) bei der Abgabe der Wetten gegenüber den Wettanbietern konkludent der Wahrheit zuwider<br />

erklärt haben, dass der Verlauf oder der Ausgang der gewetteten Spiele von ihnen nicht beeinflusst worden ist.<br />

a) Die Manipulationsfreiheit des Wettgegenstandes gehört zur Geschäftsgr<strong>und</strong>lage der Wette. Beide Parteien sichern<br />

sich daher stillschweigend zu, auf das gewettete Spiel keinen Einfluss genommen zu haben. Dadurch wurde bei den<br />

Wettanbietern – jedenfalls in der Form des sachgedanklichen Mitbewusstseins – ein entsprechender Irrtum erregt.<br />

Dies entspricht der Rechtsprechung des Reichsgerichts <strong>und</strong> des B<strong>und</strong>esgerichtshofs (BGH, Urteil vom 15. Dezember<br />

2006 – 5 StR 181/06, BGHSt 51, 165 Tz. 16 ff.; Urteil vom 19. Dezember 1979 – 3 StR 313/79, BGHSt 29, 165, 167<br />

f.; RG, Urteil vom 17. Dezember 1928 – III 1006/28, RGSt 62, 415, 416), die in der Literatur weitgehend Zustimmung<br />

gef<strong>und</strong>en hat (Cramer/Perron in Schönke/Schröder, 28. Aufl., § 263 Tz. 16e; Fischer, 60. Aufl., § 263 Tz. 32;<br />

SSW-StGB/Satzger, § 263 Tz. 38; Fasten/Oppermann, JA 2006, 69, 71; Feinendegen, NJW 2007, 787, 788; Gaede,<br />

HRRS 2007, 16; Krack, ZIS 2007, 103, 105; Kubiciel, HRRS 2007, 68, 69 f.; Petropoulos/Morozinis, wistra 2009,<br />

254, 255; Reinhart, SpuRt 2007, 52, 53 f.; Saliger/Rönnau/Kirch-Heim, NStZ 2007, 361, 362 ff.; vgl. auch Maaß,<br />

GA 1984, 264, 280 ff.; aus zivilrechtlicher Sicht Henssler, Risiko als Vertragsgegenstand, S. 471).<br />

b) Wie der Senat in seinen Urteilen vom heutigen Tage in den Verfahren 4 StR 55/12 <strong>und</strong> 4 StR 125/12 bereits ausgeführt<br />

hat, hält er an dieser Rechtsprechung fest. Die Erfassung konkludenter Täuschungen ist vom Wortlaut der<br />

Vorschrift des § 263 Abs. 1 StGB gedeckt <strong>und</strong> führt nicht zu einer Entgrenzung des Tatbestandes, sodass im Hinblick<br />

auf Art. 103 Abs. 2 GG keine Bedenken bestehen (vgl. BVerfG, NStZ 2012, 496 Tz. 168). Der Einwand, es<br />

liege keine Feststellung von Tatsachen mehr vor, wenn das Vorliegen einer konkludenten Täuschung über die Manipulationsfreiheit<br />

des gewetteten Spieles ohne Ermittlung des tatsächlichen Verständnisses der Beteiligten allein aus<br />

dem Wesen des Wettvertrages hergeleitet werde, verfängt nicht (Jahn/Maier, JuS 2007, 215, 217; a.A. Saliger/Rönnau/Kirch-Heim,<br />

NStZ 2007, 361, 362 f.; vgl. noch Kraatz, JR 2012, 329, 331). Ob in einer bestimmten<br />

Kommunikationssituation neben einer ausdrücklichen auch eine konkludente Erklärung abgegeben worden ist <strong>und</strong><br />

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welchen Inhalt sie hat, bestimmt sich nach dem objektiven Empfängerhorizont, der unter Berücksichtigung der Gesamtumstände<br />

<strong>und</strong> der Verkehrsanschauung festzulegen ist (vgl. BGH, Urteil vom 26. April 2001 – 4 StR 439/00,<br />

NStZ 2001, 430; Urteil vom 10. November 1994 – 4 StR 331/94, BGHR § 263 Abs. 1 Irrtum 10; SSW-<br />

StGB/Satzger, § 263 Tz. 37 f.). Wenn der Tatrichter dabei – wie hier – seine Bewertung maßgeblich auf die sich aus<br />

dem Wesen des abgeschlossenen Vertrages ergebende Risiko- <strong>und</strong> Pflichtenverteilung stützt, ist dies revisionsrechtlich<br />

bedenkenfrei (vgl. BGH, Urteil vom 14. August 2009 – 3 StR 552/08, BGHSt 54, 69 Tz. 150; MünchKomm-<br />

StGB/Hefendehl, § 263 Tz. 86, 93; Kubiciel, HRRS 2007, 68, 69). Auch wird durch die Annahme einer konkludenten<br />

Täuschung die für die Strafbarkeit eines Unterlassens erforderliche Feststellung einer Garantenpflicht nicht umgangen<br />

(so aber Schild, ZfWG 2006, 213, 216 f.; Schlösser, NStZ 2005, 423, 426). Die Abgabe einer auf den Abschluss<br />

eines Rechtsgeschäfts gerichteten Erklärung ist positives Tun, auch wenn sie zugleich als (stillschweigende)<br />

Negativerklärung in Bezug auf zu dem Geschäftszweck in Widerspruch stehende Umstände verstanden wird (vgl.<br />

NK-StGB/Kindhäuser, § 263 Tz. 110; LK-StGB/Tiedemann, 12. Aufl., § 263 Tz. 29; SSW-StGB/Satzger, § 263 Tz.<br />

41). Die Manipulationsfreiheit ist eine notwendige Bedingung für die Durchführbarkeit eines auf ein ungewisses<br />

Ereignis ausgerichteten Wettvertrages; sie gehört deshalb zum Inhalt eines in sich schlüssigen (konkludenten) Antrags<br />

auf dessen Abschluss (vgl. BGH, Urteil vom 15. Dezember 2006 – 5 StR 181/06, BGHSt 51, 165 Tz. 27).<br />

2. Da nach den Feststellungen die Wettanbieter die Wettverträge nicht abgeschlossen <strong>und</strong> dementsprechend auch<br />

keine Gewinne ausbezahlt hätten, wenn ihnen die Manipulationen der gewetteten Spiele bekannt geworden wären, ist<br />

der für die Annahme eines Betruges erforderliche Ursachenzusammenhang zwischen dem bei ihnen eingetretenen<br />

täuschungsbedingten Irrtum <strong>und</strong> der in der Gewinnausschüttung liegenden Vermögensverfügung gegeben (BGH,<br />

Urteil vom 15. Dezember 2006 – 5 StR 181/06, BGHSt 51, 165, Tz. 34). Der Umstand, dass das Landgericht keine<br />

näheren Feststellungen dazu getroffen hat, wer bei den Wettanbietern im konkreten Fall die Wetten angenommen hat<br />

<strong>und</strong> wie die Gewinnauszahlungen veranlasst wurden, steht dem nicht entgegen, weil keine Anhaltspunkte dafür bestehen,<br />

dass es im Geschäftsbetrieb der Wettanbieter an irgendeiner Stelle ein Wissen um die Manipulationen gegeben<br />

hat <strong>und</strong> der durch die Täuschung ausgelöste Irrtum über die Manipulationsfreiheit deshalb nicht verfügungsursächlich<br />

geworden sein könnte (vgl. BGH, Urteil vom 5. Dezember 2002 – 3 StR 161/02, NStZ 2003, 313 Tz. 8 f.;<br />

Beckemper/Wegner, NStZ 2003, 315, 316). Auch hat das irrtumsbedingte Verhalten auf Seiten der Wettanbieter<br />

ohne weitere deliktische Zwischenschritte der Angeklagten zu der Vermögensverfügung geführt (vgl. BGH, Urteil<br />

vom 20. Februar 1991 – 2 StR 421/90, BGHR StGB § 263 Abs. 1 Vermögensschaden 29).<br />

3. Die Wertung des Landgerichts, die Angeklagten A. <strong>und</strong> R. hätten in den Fällen C II. 6, 7, 11, 12, 13, 14, 16 <strong>und</strong> 18<br />

jeweils als Mitglieder einer Bande gewerbsmäßig gehandelt (§ 263 Abs. 5 StGB) <strong>und</strong> der Angeklagte A. nur in den<br />

Fällen C II. 6 <strong>und</strong> 7 als Gehilfe, ist aus Rechtsgründen ebenfalls nicht zu beanstanden.<br />

a) Der Begriff der Bande setzt den Zusammenschluss von mindestens drei Personen voraus, die sich mit dem Willen<br />

verb<strong>und</strong>en haben, künftig für eine gewisse Dauer mehrere selbstständige, im Einzelnen noch ungewisse Straftaten<br />

des im Gesetz benannten Deliktstyps zu begehen. Ein „gefestigter Bandenwille“ oder ein „Tätigwerden in einem<br />

übergeordneten Bandeninteresse“ ist nicht erforderlich. Es steht der Annahme einer Bande deshalb nicht entgegen,<br />

wenn deren Mitglieder bei der Tatbegehung ihre eigenen Interessen an einer risikolosen <strong>und</strong> effektiven Tatausführung<br />

sowie Beute- <strong>und</strong> Gewinnerzielung verfolgen (BGH, Beschluss vom 22. März 2001 – GSSt 1/00, BGHSt 46,<br />

321, 335; Urteil vom 16. November 2006 – 3 StR 204/06, NStZ 2007, 269).<br />

b) Das Landgericht hat im angefochtenen Urteil, ausgehend von diesen rechtlichen Gr<strong>und</strong>sätzen, eine zumindest<br />

konkludente Bandenabrede zwischen den Angeklagten A. <strong>und</strong> R. mit dem gesondert verfolgten C. mit zutreffenden<br />

Erwägungen dargelegt. Diese bei einem gemeinsamen Treffen im Zusammenhang mit der im Fall C II. 5 misslungenen<br />

Manipulation getroffene Abrede war nach den Feststellungen ersichtlich auf eine unbestimmte Vielzahl zukünftiger<br />

Betrugstaten zum Nachteil einer Reihe unterschiedlicher Wettanbieter gerichtet. Dass die Angeklagten <strong>und</strong> der<br />

gesondert verfolgte C. in der Absicht dauerhafter Erzielung erheblicher Gewinne handelten, hat die Strafkammer vor<br />

dem Hintergr<strong>und</strong> der großen Zahl manipulierter Wettverträge mit erheblichen Wetteinsätzen in einem Tatzeitraum<br />

von lediglich acht Monaten ebenfalls hinreichend belegt.<br />

4. Zu Unrecht wendet sich der Angeklagte R. in den Fällen C II. 5, 6, 11, 13 <strong>und</strong> 14 gegen die Annahme von Mittäterschaft.<br />

a) Ob ein Beteiligter ein so enges Verhältnis zur Tat hat, dass sein Beitrag als Teil der Tätigkeit des anderen <strong>und</strong><br />

umgekehrt dessen Tun als Ergänzung seines eigenen Tatanteils erscheint, er also nicht nur fremdes Tun fördert, ist<br />

nach der ständigen Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs vom Tatrichter auf der Gr<strong>und</strong>lage einer wertenden Gesamtbetrachtung<br />

unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Falles festzustellen (BGH, Urteil vom 20. Ja-<br />

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nuar 1998 – 5 StR 501/97, NStZ-RR 1998, 136 mwN). Lässt das angefochtene Urteil erkennen, dass der Tatrichter<br />

die genannten Maßstäbe erkennt <strong>und</strong> den Sachverhalt vollständig gewürdigt hat, so kann das gef<strong>und</strong>ene Ergebnis<br />

vom Revisionsgericht auch dann nicht als rechtsfehlerhaft beanstandet werden, wenn eine andere tatrichterliche<br />

Beurteilung möglich gewesen wäre (BGH aaO).<br />

b) Danach wird die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte R. habe als Mittäter gehandelt, von den Feststellungen<br />

getragen. Die Strafkammer konnte insoweit rechtsfehlerfrei darauf abstellen, dass der Angeklagte mit dem gesondert<br />

verfolgten C. zumindest stillschweigend übereingekommen war, in den genannten Fällen die erforderlichen<br />

Spielmanipulationen durchzuführen, wofür er von C. jeweils einen Anteil an den Wettgewinnen erhalten sollte.<br />

Jedoch ist das Landgericht bei der Bestimmung des eingetretenen Vermögensschadens nicht in allen Fällen von<br />

einem zutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen.<br />

a) In denjenigen Fällen, in denen die Wettanbieter den entsprechend der vereinbarten Quote berechneten Gewinn<br />

ausbezahlt <strong>und</strong> dadurch für sich einen Vermögensverlust in Höhe der Differenz zwischen Wetteinsatz <strong>und</strong> Wettgewinn<br />

herbeigeführt haben, ist das Landgericht ohne Rechtsfehler von einem vollendeten Betrug <strong>und</strong> einem Schaden<br />

in dieser Höhe ausgegangen.<br />

(1) Die Tatsache, dass die Wettanbieter schon mit der auf derselben Täuschung beruhenden Eingehung der Wettverträge<br />

einen Vermögensnachteil erlitten haben (dazu unten II. 5 b), steht, wie die Strafkammer zutreffend ausgeführt<br />

hat, einer Schadensbestimmung nach Maßgabe der in der Erfüllungsphase geleisteten Zahlungen nicht entgegen. Die<br />

Erfüllung einer täuschungsbedingt eingegangenen, vermögensnachteiligen Verpflichtung vertieft den bereits eingetretenen<br />

Schaden. Beide Verfügungen <strong>und</strong> die durch sie ausgelösten Nachteile bilden zusammen eine Betrugstat (vgl.<br />

BGH, Urteil vom 14. August 2009 – 3 StR 552/08, BGHSt 54, 69 Tz. 162 f.; Urteil vom 15. Dezember 2006 – 5 StR<br />

181/06, BGHSt 51, 165 Tz. 35 f.; Urteil vom 29. Januar 1997 – 2 StR 633/96, NStZ 1997, 542, 543; RG, Urteil vom<br />

17. März 1932 – III 841/31, RGSt 66, 175, 180; LK-StGB/Lackner, 10. Aufl., § 263 Tz. 292 f.; LK-<br />

StGB/Tiedemann, 12. Aufl., § 263 Tz. 274; Tenckhoff in FS Lackner, S. 677, 680). Dabei ist für die Schadensfeststellung<br />

jedenfalls dann allein auf die Erfüllungsphase abzustellen, wenn – wie hier – die Getäuschten ihre Verpflichtungen<br />

aus dem jeweiligen Vertrag restlos erfüllt haben <strong>und</strong> der mit dem Vertragsschluss ausgelöste Nachteil deshalb<br />

vollständig in dem durch die Vertragserfüllung herbeigeführten Schaden enthalten ist (BGH, Beschluss vom 14.<br />

April 2011 − 2 StR 616/10, NStZ 2011, 638 Tz. 12 a.E.; vgl. Klein, Das Verhältnis von Eingehungs- <strong>und</strong> Erfüllungsbetrug,<br />

2003, S. 178 ff.).<br />

(2) Auf die Frage, ob die Manipulationen tatsächlich den Ausgang der betroffenen Spiele beeinflusst haben, kommt<br />

es nicht an (BGH, Urteil vom 15. Dezember 2006 – 5 StR 181/06, BGHSt 51, 165 Tz. 35 f.; a.A. Saliger/Rönnau/<br />

Kirch-Heim, NStZ 2007, 361, 368; Saliger in FS Samson, S. 455, 460). Entscheidend ist vielmehr, dass die Wettanbieter<br />

Wetten auf manipulierte Spiele nicht angenommen hätten. Dass es den Angeklagten in den Fällen, in denen<br />

das gewettete Spielergebnis unabhängig von einer Einflussnahme auf den Spielverlauf eintrat, möglich gewesen<br />

wäre, den Wettgewinn auch ohne Manipulation <strong>und</strong> damit auch ohne eine hierauf bezogene Täuschung zu erzielen,<br />

ist schon deshalb ohne Belang, weil für die innere Verknüpfung von Täuschung, Irrtum <strong>und</strong> Vermögensverfügung<br />

allein der tatsächliche Verlauf der Willensbildung maßgebend ist (BGH, Urteil vom 24. Februar 1959 – 5 StR<br />

618/58, BGHSt 13, 13, 14 f.; im Ergebnis ebenso Pawlik, Das unerlaubte Verhalten beim Betrug, 1999, S. 250 f.).<br />

(3) Soweit Wetten bei Wetthaltern im Ausland platziert wurden, ist es ferner unerheblich, ob das von dort betriebene<br />

Wettgeschäft erlaubt war. Jedenfalls aus wirtschaftlicher Sicht ist auf Seiten der betreffenden ausländischen Wettanbieter<br />

eine Schädigung eingetreten (vgl. auch BGH, Urteil vom 15. Dezember 2006 – 5 StR 181/06, BGHSt 51, 165<br />

Tz. 49).<br />

b) In den Fällen C II. 1, 5 <strong>und</strong> 18 hat das angefochtene Urteil jedoch keinen Bestand. Die Strafkammer hat das Vorliegen<br />

eines Vermögensschadens <strong>und</strong> damit die Voraussetzungen eines vollendeten Betruges nicht hinreichend festgestellt.<br />

(1) Das Landgericht ist bei der Beurteilung des Vermögensschadens in den Fällen, in denen es nicht zur Auszahlung<br />

von Wettgewinnen kam, weil die Wetten verloren wurden, von den Gr<strong>und</strong>sätzen ausgegangen, die vom 5. Strafsenat<br />

des B<strong>und</strong>esgerichtshofs zum sog. Quotenschaden entwickelt worden sind. In seinem Urteil vom 15. Dezember 2006<br />

(5 StR 181/06) hat der 5. Strafsenat entschieden, dass bei Wetten mit festen Quoten auf manipulierte Fußballspiele<br />

bereits mit Abschluss des Wettvertrages ein vollendeter Betrug zum Nachteil der getäuschten Wettanbieter gegeben<br />

ist. Die aufgr<strong>und</strong> eines bestimmten Risikos ermittelte Quote stelle gleichsam den „Verkaufspreis“ der Wettchance<br />

dar. Durch die Manipulationen sei das Wettrisiko erheblich zugunsten der täuschenden Wettk<strong>und</strong>en verschoben<br />

worden. Die bei Vertragsschluss von den Wettanbietern vorgegebene Quote entspreche deshalb nicht mehr dem<br />

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Risiko, das ihrer Kalkulation zugr<strong>und</strong>e gelegen habe. Die von dem Wettk<strong>und</strong>en erkaufte Chance auf den Wettgewinn<br />

sei wesentlich mehr wert, als er dafür in Ausnutzung seiner Täuschung bezahlt habe. Für seine jeweiligen Einsätze<br />

hätte der Wettk<strong>und</strong>e bei realistischer Einschätzung des tatsächlichen Wettrisikos einen erheblich geringeren Gewinn<br />

erkaufen können. Diese „Quotendifferenz“ stelle bei jedem Vertragsschluss einen nicht unerheblichen Vermögensschaden<br />

dar. Dieser Quotenschaden müsse nicht beziffert werden. Es reiche aus, wenn die insoweit relevanten Risikofaktoren<br />

gesehen <strong>und</strong> bewertet werden (BGH, Urteil vom 15. Dezember 2006 – 5 StR 181/06, BGHSt 51, 165 Tz.<br />

32 f.; SSW-StGB/Satzger, § 263 Tz. 212; Engländer, JR 2007, 477, 479; Gaede, HRRS 2007, 16, 18; Krack, ZIS<br />

2007, 103, 109; Ostermeier, ZfWG 2007, 253, 260).<br />

(2) Auch im vorliegenden Fall bejaht der Senat gr<strong>und</strong>sätzlich einen Vermögensschaden bereits mit Abschluss des<br />

Wettvertrags. Allerdings ist die eingetretene Vermögensminderung abweichend zu bestimmen.<br />

(aa) Wurde der Getäuschte zum Abschluss eines gegenseitigen Vertrages verleitet (Eingehungsbetrug), sind bei der<br />

für die Schadensfeststellung erforderlichen Gesamtsaldierung der Geldwert des erworbenen Anspruchs gegen den<br />

Täuschenden <strong>und</strong> der Geldwert der eingegangenen Verpflichtung miteinander zu vergleichen. Der Getäuschte ist<br />

geschädigt, wenn sich dabei ein Negativsaldo zu seinem Nachteil ergibt (st. Rspr. vgl. BGH, Beschluss vom 14.<br />

April 2011 – 2 StR 616/10, NStZ 2011, 638 Tz. 12; Urteil vom 14. August 2009 – 3 StR 552/08, BGHSt 54, 69 Tz.<br />

156; Beschluss vom 18. Februar 1999 – 5 StR 193/98, BGHSt 45, 1, 4; Beschluss vom 18. Juli 1961 – 1 StR 606/60,<br />

BGHSt 16, 220, 221; LK-StGB/Tiedemann, 12. Aufl., § 263 Tz. 160, 173). Ist der Getäuschte ein Risikogeschäft<br />

eingegangen, kommt es für die Bestimmung des Schadens maßgeblich auf die täuschungs- <strong>und</strong> irrtumsbedingte Verlustgefahr<br />

an, die über die vertraglich zu Gr<strong>und</strong>e gelegte hinausgeht (vgl. BGH, Beschluss vom 14. April 2011 – 2<br />

StR 616/10, NStZ 2011, 638 Tz. 12; Beschluss vom 18. Februar 2009 – 1 StR 731/08, BGHSt 53, 199 Tz. 12 f.;<br />

Beschluss vom 23. Februar 1982 – 5 StR 685/81, BGHSt 30, 388, 389 f.; Jaath in FS Dünnebier, S. 583, 591 f.).<br />

Auch ein nur drohender, ungewisser Vermögensabfluss kann einen Schaden darstellen, wenn der wirtschaftliche<br />

Wert des gefährdeten Vermögens bereits gesunken ist (vgl. Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., § 263 Tz. 40 ff.; Schuhr,<br />

ZStW 123 [2011], 517, 529 f.; Riemann, Vermögensgefährdung <strong>und</strong> Vermögensschaden, 1989, S. 7). Die bloße<br />

Möglichkeit eines Wertverlustes genügt dabei allerdings noch nicht. Auch dürfen die Verlustwahrscheinlichkeiten<br />

nicht so diffus sein oder sich in so niedrigen Bereichen bewegen, dass der Eintritt eines realen Schadens ungewiss<br />

bleibt. Zur Verhinderung einer tatbestandlichen Überdehnung <strong>und</strong> zur Wahrung des Charakters des Betrugstatbestandes<br />

als Erfolgsdelikt ist der Schaden daher der Höhe nach zu beziffern <strong>und</strong> nachvollziehbar darzulegen. Bestehen<br />

Unsicherheiten, kann ein Mindestschaden unter Beachtung des Zweifelssatzes im Wege einer tragfähigen Schätzung<br />

ermittelt werden (BVerfG, NStZ 2012, 496 Tz. 176; NStZ 2010, 626 Tz. 28; BGH, Urteil vom 14. August 2009 – 3<br />

StR 552/08, BGHSt 54, 69 Tz. 163; Beschluss vom 18. Februar 2009 – 1 StR 731/08, BGHSt 53, 199 Tz. 13; LK-<br />

StGB/ Tiedemann, 12. Aufl., § 263 Tz. 165 mwN; Kraatz, JR 2012, 329, 332 ff.). Normative Gesichtspunkte können<br />

bei der Bewertung des Schadens eine Rolle spielen; sie dürfen die wirtschaftliche Betrachtung allerdings nicht überlagern<br />

oder verdrängen (BVerfG, NStZ 2012, 496 Tz. 176).<br />

(bb) Bei Wettverträgen auf Sportereignisse mit verbindlichen Quoten gestehen sich der Wettende <strong>und</strong> der Wetthalter<br />

gegenseitig je einen Anspruch auf einen bestimmten Geldbetrag zu <strong>und</strong> übernehmen das entsprechende Haftungsrisiko.<br />

Beide Ansprüche stehen zueinander im Verhältnis der Alternativität, weil sie mit unterschiedlichen Vorzeichen<br />

von dem Eintritt des gewetteten Spielergebnisses oder Spielverlaufs <strong>und</strong> damit von entgegengesetzten Bedingungen<br />

abhängen (vgl. Staudinger/Engel, BGB, Neubearb. 2008, § 762 Tz. 4 f.; MünchKommBGB/Habersack, 5. Aufl., §<br />

762 Tz. 7; Henssler, Risiko als Vertragsgegenstand, S. 440 ff.). Der Anspruch des Wettenden ist auf den seinen Einsatz<br />

entsprechend der vereinbarten Quote übersteigenden Wettgewinn <strong>und</strong> der Anspruch des Wettanbieters auf ein<br />

Behaltendürfen des vorgeleisteten Wetteinsatzes gerichtet. Ihr Geldwert bestimmt sich nach der vereinbarten Höhe<br />

(Einsatz x Quote – Einsatz bzw. Einsatz) sowie der Wahrscheinlichkeit des Eintrittes des zur Bedingung gemachten<br />

Spielausganges. Wird durch eine nicht offen gelegte Manipulation des Wettenden die Wahrscheinlichkeit erhöht,<br />

dass es zu dem von ihm gewetteten Spielausgang kommt, erhöht sich damit auch der Geldwert seines Anspruchs<br />

gegen den getäuschten Wettanbieter <strong>und</strong> das korrespondierende Haftungsrisiko. Zugleich vermindert sich der Geldwert<br />

des alternativen Anspruchs des Wettanbieters auf ein Behaltendürfen des Einsatzes. Die getäuschten Wettanbieter<br />

haben mithin einen Vermögensschaden erlitten, wenn bei objektiver Betrachtung die von ihnen gegenüber den<br />

Angeklagten eingegangene – infolge der Manipulationen mit einem erhöhten Realisierungsrisiko behaftete – Verpflichtung<br />

zur Auszahlung des vereinbarten Wettgewinns nicht mehr durch den Anspruch auf den Wetteinsatz aufgewogen<br />

wird.<br />

- 73 -


(cc) Die Tatsache, dass die beeinträchtigten Ansprüche der Wettanbieter auf ein Behaltendürfen des Wetteinsatzes<br />

von dem Nichteintritt des gewetteten Spielergebnisses abhingen, lässt den strafrechtlichen Vermögensschutz nicht<br />

entfallen. Auch bedingte Forderungen gehören zum strafrechtlich geschützten Vermögen, wenn mit ihrer Realisierung<br />

ernsthaft zu rechnen ist <strong>und</strong> sie deshalb im Geschäftsverkehr als werthaltig angesehen werden (vgl. BGH, Beschluss<br />

vom 27. Mai 2008 – 4 StR 58/08, NStZ 2008, 627). Dies war hier ersichtlich der Fall.<br />

(dd) Soweit die getäuschten Wettanbieter in der Gesamtschau keinen Verlust erlitten haben, weil das auf die betroffenen<br />

Spiele entfallene Wettaufkommen die an die Angeklagten auszuschüttenden Gewinne gedeckt hat, steht<br />

dies der Annahme eines Vermögensschadens nicht entgegen (a.A. Saliger/ Rönnau/Kirch-Heim, NStZ 2007, 361,<br />

366; Reinhart, SpuRt 2007, 52, 54 f.; Rönnau in FS Rissing-van Saan, S. 517, 528; Saliger in FS Samson, S. 455,<br />

459 f.). Die dem Wettanbieter verbleibenden Wetteinsätze der Wettverlierer stellen im Verhältnis zu den manipulativ<br />

agierenden Wettgewinnern keinen unter dem Gesichtspunkt der Schadenskompensation zu berücksichtigenden Ausgleich<br />

dar. Kommt es im Zusammenhang mit einer nachteiligen Vermögensverfügung an anderer Stelle zu einem<br />

Vermögenszuwachs, scheidet die Annahme eines Vermögensschadens nur dann aus, wenn dieser Vorteil von der<br />

Verfügung selbst zeitgleich mit dem Nachteil hervorgebracht worden ist <strong>und</strong> nicht – wie hier – auf rechtlich selbstständigen<br />

Handlungen beruht (vgl. BGH, Beschluss vom 10. November 2009 – 4 StR 194/09, NStZ 2010, 330 Tz. 2;<br />

Beschluss vom 27. August 2003 – 5 StR 254/03, NStZ 2004, 205 Tz. 2; Urteil vom 23. Mai 2002 – 1 StR 372/01,<br />

BGHSt 47, 295, 301 f.; Urteil vom 4. März 1999 – 5 StR 355/98, NStZ 1999, 353, 354; SSW-StGB/Satzger, § 263<br />

Tz. 144).<br />

(ee) Die Sache bedarf daher in den genannten Fällen neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung. Der neue Tatrichter wird<br />

dabei – gegebenenfalls mit sachverständiger Hilfe – die Wahrscheinlichkeit eines Wetterfolges <strong>und</strong> dessen Beeinflussung<br />

durch die Manipulationen zu beurteilen <strong>und</strong> danach den wirtschaftlichen Wert sowohl der bedingten Verbindlichkeit<br />

(Zahlung des Wettgewinns), als auch des gegenüberstehenden Anspruchs (Behaltendürfen des Wetteinsatzes)<br />

des getäuschten Wettanbieters zu bestimmen haben. Dabei können die auf dem Wettmarkt für die jeweiligen<br />

Spiele anfänglich angebotenen Quoten einen Anhalt für die Bewertung des Wettrisikos vor der Manipulation bieten.<br />

Für die Bewertung der Beeinflussung des Wettrisikos durch die Manipulation geben die Zahl <strong>und</strong> die Bedeutung der<br />

beeinflussten Spieler oder sonstigen Teilnehmer einen wesentlichen Anhaltspunkt.<br />

Soweit für eine Schadensbestimmung eine Anknüpfung an die Gr<strong>und</strong>sätze zu Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten<br />

<strong>und</strong> drohende Verluste aus schwebenden Geschäften (§ 249 Abs. 1 Satz 1 HGB) in Betracht kommt<br />

(vgl. Kozikowski/Schubert in Beck´scher Bilanzkommentar, 8. Aufl., § 249 Tz. 60; Kraatz, JR 2012, 329, 334), wird<br />

besonders zu beachten sein, dass es hier um die Ermittlung eines Mindestschadens geht. Betriebswirtschaftliche<br />

sowie handels- <strong>und</strong> gesellschaftsrechtliche Bewertungsverfahren sind in erheblichem Maß von Gr<strong>und</strong>sätzen geprägt<br />

(Vorsichtsprinzip), die im Zweifel zur Annahme niedriger Werte <strong>und</strong> zu einer Überbewertung von Verlustrisiken<br />

führen, was ihrer Anwendung auf einen strafrechtlichen Sachverhalt Grenzen setzt (Schuhr, ZStW 123 [2011], 517,<br />

530; Becker, HRRS 2009, 334, 338 f.; Kempf in FS Volk, S. 231, 240 f.; Tiedemann in FS Klug, Bd. II., S. 405,<br />

415). Lassen sich keine belastbaren Aussagen treffen <strong>und</strong> kann deshalb auch ein Mindestschaden nicht mehr geschätzt<br />

werden, scheidet ein Schuldspruch wegen vollendeten Betrugs aus.<br />

(ff) Eine Divergenzvorlage nach § 132 Abs. 2 GVG ist nicht erforderlich, weil der 5. Strafsenat die in seinem Urteil<br />

vom 15. Dezember 2006 (5 StR 181/06, BGHSt 51, 165 Tz. 32 f.) vertretene Auffassung, dass der eingetretene Vermögensschaden<br />

nicht beziffert werden müsse, mit Beschluss vom 13. April 2012 (5 StR 442/11, NJW 2012, 2370<br />

Tz. 7) aufgegeben <strong>und</strong> mit Rücksicht auf den Beschluss des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom 7. Dezember 2011 (2<br />

BvR 2500/09 u.a., NStZ 2012, 496 Tz. 176) entschieden hat, dass es im Fall der Annahme eines Eingehungsbetrugs<br />

einer ausreichenden Beschreibung <strong>und</strong> Bezifferung der täuschungsbedingten Vermögensschäden bedarf. III. Die<br />

Verurteilung der Angeklagten wegen Computerbetruges (§ 263a StGB) begegnet nur in den Fällen C II. 4, 9 <strong>und</strong> 17<br />

durchgreifenden rechtlichen Bedenken; im Übrigen weist sie, auch soweit sie tateinheitlich erfolgt ist, keinen die<br />

Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler auf.<br />

1. Im Gr<strong>und</strong>satz zutreffend hat das Landgericht angenommen, dass die Angeklagten die Tatmodalität des unbefugten<br />

Verwendens von Daten im Sinne des § 263a Abs. 1 StGB verwirklicht haben, indem sie selbst oder über dritte Personen<br />

an elektronischen Wettautomaten der verschiedenen Wettanbieter oder bei von den Wettanbietern nicht überprüften<br />

Internetwetten mit einem Einsatz von unter 5.000 € auf Fußballspiele setzten, deren Manipulation ihnen auf<br />

der Gr<strong>und</strong>lage von den Wetthaltern nicht zugänglichem Sonderwissen bekannt war.<br />

a) Nach der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs ist der Anwendungsbereich dieser Tatmodalität unter Berücksichtigung<br />

des gesetzgeberischen Zwecks der Vorschrift durch die Struktur- <strong>und</strong> Wertgleichheit mit dem Betrugstat-<br />

- 74 -


estand bestimmt. Mit § 263a StGB sollte (lediglich) die Strafbarkeitslücke geschlossen werden, die dadurch entstanden<br />

war, dass der Tatbestand des Betruges menschliche Entscheidungsprozesse voraussetzt, die beim Einsatz von<br />

EDV-Anlagen fehlen (BGH, Beschluss vom 21. November 2001 – 2 StR 260/01, BGHSt 47, 160, 162 mN zu den<br />

Gesetzesmaterialien). Das Tatbestandsmerkmal „unbefugt“ erfordert daher eine betrugsspezifische Auslegung (BGH,<br />

Urteil vom 22. November 1991 – 2 StR 376/91, BGHSt 38, 120, 124; Beschluss vom 21. November 2011 – 2 StR<br />

260/01, BGHSt 47, 160, 163). Unbefugt ist die Verwendung der Daten dann, wenn sie gegenüber einer natürlichen<br />

Person Täuschungscharakter hätte (BGH aaO; vgl. auch LK-StGB/ Tiedemann/Valerius, 12. Aufl., § 263a Tz. 44;<br />

Fischer, StGB, 60. Aufl., § 263a Tz. 11, jeweils mwN; krit. NK-StGB/Kindhäuser, 3. Aufl., § 263a Tz. 25 f.). Diese<br />

Voraussetzung ist insbesondere dann gegeben, wenn – entsprechend den Gr<strong>und</strong>sätzen der konkludenten Täuschung<br />

beim Betrug – die Befugnis des Täters typischerweise zur Gr<strong>und</strong>lage des betreffenden (Rechts-)Geschäfts gehört <strong>und</strong><br />

nach der Verkehrsanschauung als selbstverständlich vorhanden vorausgesetzt wird (Tiedemann/Valerius <strong>und</strong> Fischer,<br />

jeweils aaO; Lackner/ Kühl, StGB, 27. Aufl., § 263a Tz. 13).<br />

b) Gemessen daran ist die Wertung des Landgerichts, das Verhalten der Angeklagten bei Abschluss von Wettverträgen<br />

über Wettautomaten oder im Internet mit Einsätzen unter 5.000 € stelle eine unbefugte Verwendung von Daten<br />

im Sinne des § 263a Abs. 1 StGB dar, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.<br />

aa) Die für das Tatbestandsmerkmal der unbefugten Verwendung von Daten erforderliche Täuschungsäquivalenz<br />

ergibt sich aus den Ausführungen unter B. II. 1 zur konkludenten Täuschung im Rahmen des Betrugstatbestandes.<br />

Wie dort näher ausgeführt, haben die Angeklagten, soweit der Abschluss der Wettverträge gegenüber den Wettanbietern<br />

persönlich erfolgte, konkludent der Wahrheit zuwider erklärt, dass der Verlauf <strong>und</strong> das Resultat der jeweils<br />

gewetteten Spiele von ihnen nicht beeinflusst worden ist. Die Manipulationsfreiheit gehört als notwendige Bedingung<br />

zum Inhalt des Antrags auf den jeweiligen Vertragsabschluss. Dementsprechend ist die Benutzung eines Datenverarbeitungssystems,<br />

hier in Gestalt der von den Wettanbietern zur Verfügung gestellten <strong>und</strong> von den Wettern<br />

allein zu bedienenden Wettautomaten oder die nicht überprüfte Wette über das Internet, unter Verheimlichung manipulationsbezogenen<br />

Sonderwissens täuschungsäquivalent.<br />

bb) Dass in der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs die für die Anwendbarkeit des Tatbestandes des Computerbetruges<br />

erforderliche Täuschungsäquivalenz nur hinsichtlich solcher Tatsachen bejaht worden ist, die von dem<br />

jeweiligen elektronischen Datenverarbeitungssystem auch geprüft werden <strong>und</strong> der Tatbestand nur bezüglich gefälschter,<br />

manipulierter oder durch verbotene Eigenmacht erlangter Daten erfüllt ist (vgl. BGH, Beschluss vom 21.<br />

November 2001 – 2 StR 260/01, BGHSt 47, 160, 163), steht, wie die Strafkammer zutreffend ausgeführt hat, der<br />

Anwendbarkeit dieser Strafvorschrift hier nicht entgegen. Dabei kann dahinstehen, ob diese für den Fall des Missbrauchs<br />

von Scheckkarten entwickelten Gr<strong>und</strong>sätze uneingeschränkt auf die vorliegende Fallkonstellation zu übertragen<br />

sind. Dagegen spricht insbesondere, dass es nicht um mögliches strafbares Verhalten im Rahmen einer bereits<br />

bestehenden Vertragsbeziehung geht, sondern um die Erschleichung eines Vertragsabschlusses (zu dieser Unterscheidung<br />

Fischer, StGB, 60. Aufl., § 263a Tz. 11). Das Landgericht hat indes festgestellt, dass der Wille der<br />

Wettanbieter, Wetten auf manipulierte Spiele gar nicht oder jedenfalls nicht zu den gegebenen Wettquoten zuzulassen,<br />

in den Datenverarbeitungsprogrammen durch die Festlegung von Höchstgrenzen für Wetteinsätze oder durch<br />

eine persönliche Kontrolle bei Überschreitung bestimmter Einsatzhöhen seinen Ausdruck gef<strong>und</strong>en hat. Jedenfalls<br />

damit ist die Täuschungsäquivalenz hinreichend dargetan.<br />

2. Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage ist die Verurteilung der Angeklagten A. <strong>und</strong> R. in den Fällen, in denen es zur Auszahlung<br />

von Wettgewinnen kam, wegen banden- <strong>und</strong> gewerbsmäßigen Computerbetrugs aus den unter B. II. 3 <strong>und</strong> 4 dargelegten<br />

Gründen nicht zu beanstanden. Gleiches gilt für die Verurteilung des Angeklagten R. als Mittäter. Hingegen<br />

hat die Verurteilung der Angeklagten G. <strong>und</strong> A. im Fall C II. 4 sowie die Verurteilung des Angeklagten R. in den<br />

Fällen C II. 9 <strong>und</strong> 17 keinen Bestand, da die Strafkammer auch in diesen Fällen nicht erfolgreicher Wetten bei der<br />

Prüfung, ob <strong>und</strong> in welcher Höhe ein Vermögensschaden eingetreten ist, einen unzutreffenden rechtlichen Ansatzpunkt<br />

gewählt hat. Insoweit gelten die Ausführungen unter B. II. 5 auch hier, da der Schadensbegriff des § 263a<br />

StGB dem des § 263 StGB entspricht (SSW-StGB/Hilgendorf, § 263a Tz. 30).<br />

IV. Die Teilaufhebung der Schuldsprüche zieht die Aufhebung der Aussprüche über die Gesamtstrafe nach sich. Die<br />

hinsichtlich der Angeklagten G. <strong>und</strong> A. ergangenen, jeweils für sich genommen rechtsfehlerfreien Anordnungen über<br />

die Rückgewinnungshilfe gemäß § 111i Abs. 2 StPO bleiben von der Teilaufhebung der Schuldsprüche unberührt.<br />

Das Landgericht hat seiner Berechnung insoweit lediglich die den Angeklagten effektiv zugeflossenen Wettgewinne<br />

zu Gr<strong>und</strong>e gelegt.<br />

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StGB § 263a Computerbetrug durch falsche Lastschriften<br />

BGH, Beschl. v. 22.01.2013 - 1 StR 416/12 - BeckRS 2013, 04114<br />

LS: Zum Computerbetrug bei Abbuchungsauftragslastschrift.<br />

Der 1. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat am 22. Januar 2013 gemäß § 154a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 StPO, §<br />

349 Abs. 2 <strong>und</strong> 4 StPO beschlossen:<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Heidelberg vom 7. Mai 2012 wird<br />

a) die Strafverfolgung mit Zustimmung des Generalb<strong>und</strong>esanwalts auf den Vorwurf des versuchten Computerbetrugs<br />

zum Nachteil der Bankk<strong>und</strong>en in 18.031 tateinheitlichen Fällen beschränkt,<br />

b) das vorgenannte Urteil im Schuldspruch dahin abgeändert, dass der Angeklagte wegen versuchten Computerbetrugs<br />

in 18.031 tateinheitlichen Fällen verurteilt ist.<br />

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten A. wegen Computerbetrugs zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.<br />

Zu seinem Nachteil wurden sein Laptop der Marke Apple Macbook Pro, Modell Nr. A 1260, <strong>und</strong> sein Mobiltelefon<br />

Apple iPhone eingezogen. Den nicht revidierenden Mitangeklagten N. hat das Landgericht wegen Beihilfe zum<br />

Computerbetrug zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Diese Strafe hat es zur Bewährung<br />

ausgesetzt. Einen weiteren Mitangeklagten hat es freigesprochen <strong>und</strong> angeordnet, dass er für erlittene Untersuchungshaft<br />

zu entschädigen ist. Die Revision des Angeklagten, mit der die Verletzung formellen <strong>und</strong> sachlichen<br />

Rechts gerügt wird, führt zur teilweisen Beschränkung der Strafverfolgung gemäß § 154a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2<br />

StPO <strong>und</strong> hat insoweit zum Schuldspruch den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4<br />

StPO); im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.<br />

I. Es liegen folgende Feststellungen <strong>und</strong> Wertungen des Landgerichts zugr<strong>und</strong>e:<br />

1. Das Landgericht hat festgestellt: Der bereits rechtskräftig verurteilte S. verfügte im Frühjahr 2011 über zwei Dateien,<br />

die persönliche Datensätze von 30.002 Personen enthielten. Diese Datensätze umfassten neben Namen <strong>und</strong><br />

Anschrift der Personen auch eine Kontoverbindung (Bankleitzahl sowie die Kontonummer). Sie sollten - so der Plan<br />

des S. sowie mindestens eines weiteren Beteiligten namens „E. “ - dazu missbraucht werden, im Wege des Lastschriftverfahrens<br />

über ein von einem Strohmann zu errichtendes Bankkonto Geldbeträge in Höhe von unter 10 Euro<br />

von den in den Datensätzen enthaltenen Konten abzubuchen, dies ohne Zustimmung der jeweiligen Bankk<strong>und</strong>en. Zu<br />

diesem Zwecke hatte bereits der ebenfalls rechtskräftig verurteilte P. in Begleitung des Mitangeklagten N. mittels<br />

falscher Personaldokumente <strong>und</strong> einer frei erf<strong>und</strong>enen Firmenlegende bei der Raiffeisen Privatbank eG W. (im Folgenden:<br />

Raiffeisenbank) ein Geschäftskonto auf den Namen „M. “ errichtet <strong>und</strong> plangemäß die erforderliche Zulassung<br />

zum Lastschriftverfahren bewirkt. Nachdem erste Versuche zur Umsetzung des Tatplans gescheitert waren,<br />

kam S. mit dem Angeklagten dahingehend überein, dass er, der Angeklagte, am weiteren Geschehen mitwirken <strong>und</strong><br />

die technische Abwicklung der geplanten Abbuchungen vornehmen sollte. Der Angeklagte führte die geplanten<br />

Abbuchungen aufgr<strong>und</strong> einheitlich zuvor gefassten Entschlusses am 28. April 2011 zwischen 17.57 Uhr <strong>und</strong> 19.36<br />

Uhr <strong>und</strong> am darauf folgenden Tag zwischen 11.50 Uhr <strong>und</strong> 14.37 Uhr aus. Dabei bediente er sich einer speziellen<br />

Software, mit der im Online-Banking-Verfahren bis zu 500 Abbuchungen in einem Buchungsvorgang zusammengefasst<br />

werden konnten. In insgesamt 39 solcher Buchungsvorgänge übermittelte der Angeklagte 18.816 Lastschriftaufträge<br />

an ein Unternehmen namens F., das seitens der Raiffeisenbank mit der technischen Abwicklung des Lastschriftverfahrens<br />

beauftragt worden war. Die Daten der angeblich zahlungspflichtigen Bankk<strong>und</strong>en entnahm er den<br />

genannten zwei Dateien S. s. Durch Eintrag der Ziffer 4 in dem dafür vorgesehenen Feld der Maske kennzeichnete er<br />

die Lastschriftaufträge als solche im Abbuchungsauftragsverfahren <strong>und</strong> erweckte damit den unzutreffenden Eindruck,<br />

die jeweiligen Kontoinhaber hätten einen entsprechenden Abbuchungsauftrag erteilt. Der einzuziehende Betrag<br />

belief sich jeweils auf 9,28 Euro, der Verwendungszweck enthielt die frei erf<strong>und</strong>ene Angabe „Telefongebühren<br />

0900300182414695 Firma G. GmbH 1020 Wien, Österreich“. Dass mittels der Lastschriftaufträge nicht reelle Forderungen<br />

eingezogen werden sollten <strong>und</strong> dementsprechend keiner der Kontoinhaber einen Abbuchungsauftrag erteilt<br />

hatte, war dem Angeklagten bekannt. Ihm ging es darum, gemeinsam mit den weiteren Tatbeteiligten über die im<br />

Lastschriftverfahren „eingezogenen Beträge verfügen zu können“. Die F. leitete automatisiert die Lastschriftaufträge<br />

an die jeweilige kontoführende Bank (im Folgenden: Zahlstellen) der angeblich zahlungspflichtigen Bankk<strong>und</strong>en<br />

- 76 -


weiter. Dementsprechend wurden deren Konten belastet. Ebenso wurde jeweils ein Betrag gleicher Höhe auf dem<br />

Konto des „M. “ (insgesamt 174.612,48 Euro) vorläufig gutgeschrieben. Bis zur endgültigen Wertstellung (drei<br />

Werktage nach Eingang des Auftrages) war ein Zugriff auf die vorläufig gutgeschriebenen Geldbeträge nicht ohne<br />

ausdrückliche Zustimmung der Raiffeisenbank möglich. Großteils „widersprachen“ die Zahlstellen der jeweiligen<br />

Lastschrift, gaben die Lastschriftaufträge an die Raiffeisenbank als sog. Rücklastschrift zurück <strong>und</strong> belasteten das<br />

Konto des „M.“ mit Rücklastschriftgebühren. Angesichts der zahlreichen Rücklastschriften, die bereits am Morgen<br />

des 29. April 2011 bei der Raiffeisenbank eingegangen waren, sperrte ein Bankangestellter der Raiffeisenbank am<br />

späten Vormittag das Konto des „M.“, nachdem er bereits um 9.30 Uhr auf telefonische Nachfrage des S. zur Verfügbarkeit<br />

des gutgeschriebenen Geldes nur ausweichend geantwortet hatte. Ein gemeinsamer am Nachmittag in<br />

Auftrag von S. unternommener Versuch des P. <strong>und</strong> N., bei der Raiffeisenbank 10.000 Euro abzuheben, scheiterte<br />

dementsprechend. Aus nicht festgestellten Gründen sind von den verfahrensgegenständlichen 18.816 Lastschriftaufträgen<br />

insgesamt 785 Lastschriften von den Zahlstellen nicht als Rücklastschriften an die Raiffeisenbank zurückgegeben<br />

worden, obwohl auch in diesen Fällen keine Abbuchungsaufträge ihrer K<strong>und</strong>en vorlagen. Dies führte dazu,<br />

dass es insoweit bei einer endgültigen Wertstellung auf dem Konto des „M. “ in Höhe von insgesamt 7.284,80 Euro<br />

verblieb. Dennoch wies das Konto des „M.“ wegen Rücklastschriftgebühren, die in den anderen Fällen entstanden<br />

waren, ein Minussaldo in Höhe von 34.701,39 Euro auf.<br />

2. Das Landgericht hat das Geschehen mit Blick auf den von Anfang an erstrebten Taterfolg (UA S. 61) als e i n e<br />

Tat des vollendeten Computerbetruges (§ 263a StGB) in Form unbefugter Verwendung von Daten gewertet. Letztlich<br />

hat es, wie den Strafzumessungserwägungen (UA S. 66) entnommen werden kann, offen gelassen, ob „als Geschädigter<br />

der Tat die Raiffeisenbank (…) oder die bezogenen Kontoinhaber (bzw. deren Banken) anzusehen sind“.<br />

Die Tatvollendung verstehe sich hinsichtlich der 785 Lastschriften, in denen es trotz fehlenden Abbuchungsauftrags<br />

zu keinen Rücklastschriften kam, von selbst; im Übrigen liege ein Gefährdungsschaden zum Nachteil der Raiffeisenbank<br />

vor. Bereits mit der Abbuchung der eingezogenen Beträge vom Konto der vermeintlich Zahlungspflichtigen sei<br />

eine schädigende Vermögensminderung eingetreten (UA S. 60, 61).<br />

II. Den Verfahrensrügen bleibt aus den vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt zutreffend dargelegten Gründen der Erfolg versagt.<br />

III. Der Senat hat aus prozessökonomischen Gründen gemäß § 154a Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 StPO mit Zustimmung<br />

des Generalb<strong>und</strong>esanwalts die aus der Beschlussformel ersichtliche Beschränkung vorgenommen, da ein weitergehender<br />

Schuldspruch im vorliegenden Fall nicht beträchtlich ins Gewicht fällt. Die Feststellung eines vollendeten<br />

Delikts würde einen erheblichen Ermittlungsaufwand erfordern. Die bisherigen Feststellungen tragen aber bereits<br />

jetzt sicher den Schuldspruch wegen eines versuchten Computerbetrugs (§ 263a Abs. 2 i.V.m. § 263 Abs. 2 StGB, §§<br />

22, 23 StGB) zum Nachteil der nur angeblich zahlungspflichtigen Bankk<strong>und</strong>en.<br />

1. Ein vollendeter Computerbetrug ist nicht hinreichend festgestellt. Das Landgericht geht insgesamt von einem<br />

vollendeten Computerbetrug mit einem Gesamtschaden in Höhe von 174.612,48 Euro aus, dies allerdings bei unterschiedlichen<br />

Geschädigten. Bezogen auf diejenigen 785 Lastschriften, bei denen es nicht zu Rücklastschriften kam,<br />

sondern die Lastschriftbeträge auf dem Konto des „M.“ endgültig wertgestellt wurden (insgesamt 7.284,80 Euro), hat<br />

das Landgericht ersichtlich eine Vermögensschädigung bei den Bankk<strong>und</strong>en angenommen, von deren Konten die<br />

jeweiligen Lastschrifteinzüge erfolgten. Soweit es im Übrigen weit überwiegend zu Rücklastschriften kam, hat es im<br />

Wesentlichen darauf abgestellt, dass bereits zuvor ein Gefährdungsschaden in voller Höhe bei der Raiffeisenbank<br />

entstanden sei, indem diese auf dem Konto des „M. “ die Lastschriftbeträge vorläufig gutgeschrieben habe. Ergänzend<br />

stellt das Landgericht auch darauf ab, dass bereits bei der „Abbuchung“ der Lastschriftbeträge ebenfalls ein<br />

Vermögensschaden (gemeint ist wohl: bei den Bankk<strong>und</strong>en) in voller Höhe, mithin insgesamt 174.612,48 Euro,<br />

eingetreten sei. Auch hält es ersichtlich eine Vermögensschädigung bei den Zahlstellen für möglich. Diese Wertungen<br />

halten schon im Ansatz rechtlicher Überprüfung nicht stand. Indem das Landgericht im Kern davon ausgegangen<br />

ist, dass ein zunächst bei der Raiffeisenbank entstandener Gefährdungsschaden letztlich andernorts, hier namentlich<br />

bei 785 Bankk<strong>und</strong>en in einen endgültigen Schaden umgeschlagen ist, hat es die tatbestandlichen Voraussetzungen<br />

des Computerbetruges nicht hinreichend in den Blick genommen. Die bloße Feststellung einer Tathandlung im Sinne<br />

des § 263a Abs. 1 StGB <strong>und</strong> einer Vermögensschädigung bei verschiedenen Beteiligten genügt nicht. Tatbestandserfüllend<br />

sind vielmehr (nur) diejenigen Vermögensschädigungen, die für sich genommen unmittelbare Folge eines<br />

vermögensrelevanten Datenverarbeitungsvorgangs sind, <strong>und</strong> dieser Datenverarbeitungsvorgang muss seinerseits<br />

unmittelbar durch die Tathandlung beeinflusst sein. Dies erfordert eine getrennte Betrachtung der einzelnen - hier<br />

- 77 -


freilich ineinander übergreifenden - Datenverarbeitungsvorgänge bei den beteiligten Banken. Darüber hinaus sind die<br />

Feststellungen zum Schadenseintritt insgesamt unvollständig.<br />

2. Das vom Landgericht rechtsfehlerfrei festgestellte Verhalten des Angeklagten erfüllt jedoch die Merkmale des -<br />

versuchten - (Dreiecks-)Computerbetruges (§ 263a Abs. 2 i.V.m. § 263 Abs. 2 StGB, §§ 22, 23 StGB) zum Nachteil<br />

der Bankk<strong>und</strong>en, von deren Konten die Lastschriftbeträge von jeweils 9,28 Euro eingezogen werden sollten. Die<br />

Feststellungen belegen, dass der Angeklagte nach seinem Tatentschluss zur Verwirklichung des Computerbetruges<br />

unmittelbar angesetzt hat (§ 22 StGB) <strong>und</strong> nicht strafbefreiend zurückgetreten ist (§ 24 StGB).<br />

a) Diese rechtliche Bewertung folgt aus den banktechnischen Abläufen des Lastschriftverfahrens, die, soweit sich -<br />

wie hier - des Abbuchungsauftragsverfahrens bedient wird, Besonderheiten aufweisen. Allgemein stellt das Lastschriftverfahren<br />

ein Instrument des bargeldlosen Zahlungsverkehrs dar, das im Gegensatz zur Giroüberweisung nicht<br />

vom Zahlenden, sondern vom Zahlungsempfänger in Gang gesetzt wird (vgl. BGH, Urteil vom 15. Juni 2005 - 2 StR<br />

30/05, BGHSt 50, 147, 151 ff. mwN). Neben dem Zahlungspflichtigen selbst <strong>und</strong> dem Zahlungsempfänger sind<br />

dabei die als "Erste Inkassostelle“ bezeichnete Bank des Zahlungsempfängers (hier die Raiffeisenbank) <strong>und</strong> die als<br />

"Zahlstelle" bezeichnete(n) Bank(en) des bzw. der Zahlungspflichtigen beteiligt. Für die Ausführung von Zahlungen<br />

mittels Abbuchungsauftragslastschrift muss der Zahlungspflichtige - im Unterschied zur Einzugsermächtigungslastschrift<br />

(vgl. hierzu eingehend BGH aaO) - seine Bank unmittelbar anweisen, die Abbuchungsauftragslastschrift seinem<br />

Konto zu belasten <strong>und</strong> den Lastschriftbetrag an den Zahlungsdienstleister des Zahlungsempfängers zu übermitteln<br />

(sog. Abbuchungsauftrag, vgl. Bunte, AGB Banken, 3. Aufl., SB Lastschrift Rn. 13). Der Zahlungsempfänger<br />

setzt sodann den Zahlungsvorgang in Gang, indem er seiner Bank, also der Ersten Inkassostelle, mit der Lastschrift<br />

den Auftrag erteilt, den geschuldeten Betrag beim Zahlungspflichtigen einzuziehen. Die Erste Inkassobank leitet die<br />

Lastschrift an die Zahlstellen weiter. Gleichzeitig wird auf dem Konto des Zahlungsempfängers der Lastschriftbetrag<br />

unter Vorbehalt des Eingangs gutgeschrieben (E.v.-Gutschrift, vgl. Ellenberger in Schimansky/Bunte/Lwowski,<br />

Bankrechts-Handbuch, 4. Aufl. § 56 Rn. 44). Über das Guthaben verfügen darf der Zahlungsempfänger zunächst nur<br />

im Einvernehmen mit dem Inkassoinstitut (vgl. Gr<strong>und</strong>mann in Ebenroth/Boujong/ Joost/Strohn, HGB, 2. Aufl., Band<br />

2, Bank- <strong>und</strong> Börsenrecht Rn. II 133; Ellenberger aaO, § 58 Rn. 13); nach Einlösung der Lastschrift durch die Zahlstelle<br />

entfällt der Vorbehalt (Gr<strong>und</strong>mann aaO). Die Zahlstelle belastet das Konto des Zahlungspflichtigen am Tag<br />

des Zugangs mit dem Lastschriftbetrag (sog. Belastungsbuchung). Ohne Abbuchungsauftrag ist die Zahlstelle jedoch<br />

nicht zur Einlösung berechtigt; die Kontobelastung erfolgt insoweit, ebenso wie im Falle fehlender Deckung, nicht<br />

oder wird spätestens am zweiten Bankarbeitstag nach ihrer Vornahme rückgängig gemacht (vgl. Hopt in Baumbacht/Hopt,<br />

HGB, 35. Aufl., 2. Teil, Abschn. V, (7) Bankgeschäfte, Kap. 3 D/14). In diesen Fällen wird die Lastschrift<br />

als sog. Rücklastschrift (= eine Lastschrift, die nicht eingelöst wird, vgl. Ellenberger aaO, § 56 Rn. 23) an die<br />

Erste Inkassostelle zurückgegeben. Erfolgt trotz fehlenden Abbuchungsauftrags keine Rückgängigmachung, kann die<br />

Lastschrift zwar im Verhältnis zwischen der Zahlstelle <strong>und</strong> der Ersten Inkassostelle als eingelöst gelten (vgl. Ellenberger<br />

aaO, § 58 Rn. 34; Hopt aaO; BGH, Urteil vom 15. Dezember 1980 - II ZR 53/80, BGHZ 79, 381, 388); der<br />

K<strong>und</strong>e kann jedoch von seiner Bank, also der Zahlstelle, nach näherer Maßgabe insbesondere die Rückgängigmachung<br />

der Buchung auf seinem Konto verlangen (vgl. Bunte aaO Rn. 13; Hopt aaO D/13).<br />

b) Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage liegt in Fällen wie hier bei vollautomatisierten Abläufen ein Computerbetrug in Form von<br />

Verwendung unrichtiger Daten (§ 263a Abs. 1, 2. Alt. StGB) vor.<br />

(1) Computerbetrug in Form einer Verwendung unrichtiger oder unvollständiger Daten umfasst Fälle sog. Inputmanipulationen.<br />

Unrichtig sind die Daten, wenn der durch sie vermittelte Informationsgehalt keine Entsprechung in der<br />

Wirklichkeit hat, unvollständig sind sie, wenn sie den zugr<strong>und</strong>eliegenden Lebenssachverhalt nicht ausreichend erkennen<br />

lassen (vgl. MüKo-StGB/ Wohlers, § 263a Rn. 27; Cramer/Perron in Schönke/Schröder, StGB, § 263a, 28.<br />

Aufl., Rn. 6 mwN). Verwendet sind die Daten, wenn sie (wie ersichtlich hier) in ein Datenverarbeitungsgerät eingebracht<br />

werden (Cramer/Perron aaO mwN). Zwar werden Fälle, in denen der Täter „lediglich“ seine Berechtigung zur<br />

Auslösung des vermögensrelevanten Datenverarbeitungsvorganges vorspiegelt (so z.B. Dieb einer ec-Karte, der<br />

diese zur Abhebung an einem Geldautomaten verwendet), von § 263a Abs. 1, 2. Alt. StGB nicht erfasst (vgl. Tiedemann<br />

in Leipziger Kommentar, StGB, 12. Aufl., § 263a Rn. 35; Rossa, CR 1997, 219, 228; vgl. auch Fischer, StGB,<br />

60. Aufl., § 263a Rn. 7). In derartigen Fallkonstellationen ist vielmehr entscheidend, ob - bei betrugsnaher Auslegung<br />

- eine unbefugte Verwendung von Daten im Sinne des § 263a Abs. 1, 3. Alt. StGB statt-findet. Unbefugt ist sie<br />

dann, wenn sie gegenüber einer natürlichen Person Täuschungscharakter hätte (zum Prüfungsmaßstab im Einzelnen<br />

vgl. BGH, Beschluss vom 21. November 2001 - 2 StR 260/01, BGHSt 47, 160, 161 ff.). Reicht daher der Täter vertragswidrig<br />

bei der Ersten Inkassostelle, also seiner Bank, im Wege des Online-Bankings mittels ihm überlassener<br />

- 78 -


PINs <strong>und</strong> TANs Lastschriften ein, so handelt er - bei betrugsnaher Auslegung - insoweit nicht unbefugt im Sinne des<br />

§ 263a Abs. 1, 3. Alt. StGB. Denn ein Bankangestellter der Bank des Täters, der sich mit den Fragen befasste, die<br />

anstatt dessen der Computer prüft, würde lediglich etwa anhand der PINs <strong>und</strong> TANs dessen Zugangsberechtigung,<br />

nicht aber die allgemeine Vertragswidrigkeit seines Verhaltens überprüfen (vgl. Trück in Müller-<br />

Gugenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl., § 49 Rn. 42, 52, der sich allerdings mit der Tatbestandsvariante<br />

der 2. Alt. nicht befasst). Indem der Täter fingierte Forderungen als Lastschriften im Wege des Abbuchungsauftragsverfahrens<br />

einreicht, obwohl demgemäß keine Abbuchungsaufträge erteilt wurden, verwendet er aber unrichtige<br />

Daten im Sinne des § 263a Abs. 1, 2. Alt. StGB. Dies ergibt sich daraus, dass er den Lastschriftauftrag als solchen im<br />

Abbuchungsverfahren kennzeichnet, denn damit bringt er jedenfalls regelmäßig - so nach den Feststellungen des<br />

Landgerichts (UA S. 22) auch hier - zumindest schlüssig zum Ausdruck, der (angeblich) Zahlungspflichtige habe<br />

seiner Bank einen entsprechenden Abbuchungsauftrag erteilt. Im Übrigen liegt der Möglichkeit, als Einziehender<br />

zum Lastschriftverfahren zugelassen zu werden, eine Vorprüfung durch die Erste Inkassostelle zugr<strong>und</strong>e (vgl. Ellenberger<br />

aaO § 58 Rn. 3 sowie Hopt aaO D/42), so dass die Erste Inkassostelle allein mit der Übermittlung der Lastschriften<br />

an die Zahlstelle ihr den Eindruck vermittelt, es bestünden keine Bedenken gegen die Bonität des Einziehenden<br />

<strong>und</strong> dessen Vertragstreue (so zum Betrug auch OLG <strong>Hamm</strong>, NJW 1977, 1834, 1836). Diese Informationsgehalte<br />

gehen jedoch über die Frage des unberechtigten bzw. vertragswidrigen Verhaltens des Täters im dargelegten<br />

Sinne hinaus.<br />

(2) Es kann offen bleiben, ob <strong>und</strong> inwieweit die Tatbestandsalternative des Verwendens unrichtiger oder unvollständiger<br />

Daten dann ausscheidet, soweit diese Daten programmgemäß irrelevant sind (diese sog. computerspezifische<br />

Auslegung befürwortend etwa Wohlers in MüKo StGB, § 263a Rn. 28; Tiedemann aaO, § 263a Rn. 35; im Einzelnen<br />

streitig): Die Zahlstelle bzw. deren EDV-Anlage prüft zwar nicht, ob einem Abbuchungsauftrag eine tatsächliche<br />

Zahlungsverpflichtung ihres K<strong>und</strong>en zu Gr<strong>und</strong>e liegt (vgl. Ellenberger, aaO § 58 Rn. 31); Gegenstand der - heutzutage<br />

üblicherweise automatisierten - Überprüfung ist es aber jedenfalls regelmäßig, ob der Zahlstelle ein die Lastschrift<br />

abdeckender Abbuchungsauftrag ihres K<strong>und</strong>en vorliegt (vgl. Hadding/ Häuser in MüKo, HGB, 2. Aufl., Bd. 5<br />

Anh. I C 64 sowie Ellenberger aaO, § 56 Rn. 80).<br />

(3) Der Täter beeinflusst bei vollautomatisierten Vorgängen durch die Verwendung der unrichtigen Daten auch das<br />

Ergebnis eines unmittelbar vermögensrelevanten Datenverarbeitungsvorgangs (vgl. hierzu näher Cornelius in Kilian/Heussen,<br />

Computerrecht, 31. Lfg. 2012, Abschn. 1, Teil 10, Kap. 102, § 263a Rn. 74 ff.). Ein solcher liegt jedenfalls<br />

vor, wenn <strong>und</strong> soweit die EDV-Anlage der Zahlstelle keine Rückgabe der Rücklastschrift auslöst, <strong>und</strong> sie mithin<br />

die Einlösung der Lastschrift bewirkt. Zwar ist in Fällen wie den vorliegenden, in denen ein Abbuchungsauftrag<br />

nicht vorliegt, die Abbuchung im Verhältnis zwischen der Zahlstelle <strong>und</strong> ihrem K<strong>und</strong>en unwirksam (vgl. Ellenberger<br />

aaO, § 58 Rn. 34), <strong>und</strong> der K<strong>und</strong>e kann von der Bank nach näherer Maßgabe die Rückbuchung des Vorganges verlangen.<br />

Unbeschadet dieser Möglichkeit entsteht dem K<strong>und</strong>en aber ein mit der Einlösung der Lastschriften korrespondierender<br />

wirtschaftlicher Schaden im Sinne eines Gefährdungsschadens: Das Vermögen des Kontoinhabers mag<br />

sich zwar mit Blick auf die Unwirksamkeit der Abbuchung nicht in Höhe des Lastschriftbetrages materiell vermindern.<br />

Es tritt aber jedenfalls eine zumindest faktische Vermögensminderung ein (vgl. auch Trück aaO, § 49 Rn. 58<br />

mwN zu Fallgestaltungen, in denen der Täter sich etwa durch sog. Phishing Zugangsdaten zu Bankkonten verschafft<br />

<strong>und</strong> mittels dieser Daten eine Bank zu Transaktionen, namentlich Überweisungen, veranlasst). Der Bankk<strong>und</strong>e trägt<br />

nunmehr nämlich das Risiko, die Abbuchung überhaupt zu bemerken, um eine Rückbuchung verlangen zu können.<br />

Bis dahin weist sein Konto einen um den Lastschriftbetrag verminderten Kontostand auf <strong>und</strong> er ist jedenfalls faktisch<br />

daran gehindert, über diesen Betrag zu disponieren. Die Zahlstelle ist auch - analog zu den zum Dreiecksbetrug entwickelten<br />

Gr<strong>und</strong>sätzen - dem Lager ihrer K<strong>und</strong>en zuzurechnen. Das hierfür erforderliche Näheverhältnis ist gegeben<br />

(vgl. Trück aaO; vgl. auch OLG <strong>Hamm</strong> aaO, a.A., insoweit ohne nähere Begründung Soyka, NStZ 2004, 538, 541):<br />

Die Zahlstelle hat bereits aufgr<strong>und</strong> der vertraglichen Vereinbarungen zu ihren K<strong>und</strong>en die Möglichkeit, - wie hier -<br />

Abbuchungen von deren Konten zu veranlassen.<br />

c) Das festgestellte Verhalten des Angeklagten erfüllt die objektiven <strong>und</strong> subjektiven Voraussetzungen des versuchten<br />

Computerbetrugs zum Nachteil der Bankk<strong>und</strong>en, von deren Konten die Lastschriften eingezogen werden sollten<br />

(hierzu nachfolgend unter (1)); die Tatvollendung ist hingegen im Hinblick auf einen Schadenseintritt nicht hinreichend<br />

belegt (hierzu nachfolgend unter (2)).<br />

(1) Dem Angeklagten war bekannt, dass den Lastschriften keine reellen Forderungen zu Gr<strong>und</strong>e lagen <strong>und</strong> dementsprechend<br />

keiner der lediglich angeblich zahlungspflichtigen Bankk<strong>und</strong>en seiner Bank einen Abbuchungsauftrag<br />

erteilt hatte. Ihm ging es darum, gemeinsam mit den weiteren Tatbeteiligten über die im Lastschriftverfahren „einge-<br />

- 79 -


zogenen Beträge verfügen zu können“ (UA S. 22). Er handelte somit im Bewusstsein der Schädigung der betreffenden<br />

Bankk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> daher vorsätzlich. Zudem war seine Absicht, sich <strong>und</strong> Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil<br />

zu verschaffen, gegeben. Dass der Angeklagte eine rein automatisierte Bearbeitung der von ihm online<br />

übermittelten Lastschriftaufträge nicht in seinen Vorsatz aufgenommen haben könnte, liegt ohnehin fern. Keiner<br />

weiteren Erörterung bedarf zudem, dass er durch die Übermittlung der Lastschriftaufträge die nach § 22 StGB maßgebliche<br />

Schwelle zum Versuch überschritten hatte. Ebenso scheidet ein freiwilliger Rücktritt des Angeklagten ersichtlich<br />

aus.<br />

(2) Die bisherigen Feststellungen tragen die Wertung, es sei bei den angeblich zahlungspflichtigen Bankk<strong>und</strong>en<br />

bereits ein Vermögensschaden eingetreten, nicht.<br />

(a) Dies gilt zunächst für die Würdigung des Landgerichts, bereits durch die „Abbuchung“ der Lastschriftbeträge sei<br />

ein Schaden (gemeint ist ersichtlich zum Nachteil aller Bankk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> damit in einer Gesamthöhe von 174.612,48<br />

Euro) eingetreten. Unmittelbare Folge der Übersendung der Lastschriftaufträge an die Zahlstellen war zwar, dass<br />

diese die Konten ihrer K<strong>und</strong>en in Höhe von 9,28 Euro belasteten (sog. Belastungsbuchung). Diese Belastungsbuchungen<br />

waren jedoch zunächst nur vorläufiger Art <strong>und</strong> mit Blick auf die fehlenden Abbuchungsaufträge bis zum<br />

zweiten Bankarbeitstag von den Zahlstellen rückgängig zu machen, so wie dies hier auch ganz überwiegend erfolgt<br />

ist. Bis dahin mag das Vermögen der Bankk<strong>und</strong>en beeinträchtigt gewesen sein, wenn <strong>und</strong> soweit die Konten zunächst<br />

einen um den Lastschriftbetrag verminderten Kontostand auswiesen <strong>und</strong> die Bankk<strong>und</strong>en bis zur Rückgabe<br />

der Lastschriften insoweit in ihrer Dispositionsfreiheit jedenfalls eine Zeit lang eingeschränkt waren. Hierzu ist jedoch<br />

bislang nichts festgestellt. Zudem ist - jedenfalls bei vollautomatisierten Überprüfungen - zumindest nicht fernliegend,<br />

dass eine fehlende Dispositionsmöglichkeit allenfalls auf eine „logische Sek<strong>und</strong>e“ begrenzt war <strong>und</strong> damit<br />

keine auch nur faktische Beeinträchtigung des Vermögens der Bankk<strong>und</strong>en zur Folge hatte.<br />

(b) Soweit das Landgericht hinsichtlich der 785 Lastschriften, bei denen es zu keinen Rücklastschriften kam, eine<br />

Vermögensschädigung der insoweit betroffenen Bankk<strong>und</strong>en angenommen hat, liegt ein vollendeter Computerbetrug<br />

zu deren Nachteil zwar nach dem oben unter III. 2. b) (3) Erläuterten gr<strong>und</strong>sätzlich nahe.<br />

Jedoch blieben die Gründe für die Vorgänge bei den Zahlstellen insoweit ausdrücklich ungeklärt (vgl. UA S. 60).<br />

Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> ist jedenfalls nicht völlig auszuschließen, dass andere - vom Angeklagten nicht beeinflusste<br />

- Faktoren hierzu geführt haben. Es kann den Feststellungen daher nur sicher das Vorliegen eines versuchten Computerbetruges<br />

zum Nachteil der Bankk<strong>und</strong>en entnommen werden.<br />

Dass das Landgericht mit Blick (allein) auf den einheitlich gefassten Tatentschluss lediglich eine Tat angenommen<br />

hat, beschwert den Angeklagten jedenfalls nicht.<br />

3. Einen vollendeten Computerbetrug zum N a c h t e i l der R a i f f e i s e n b a n k ergeben die bisherigen Feststellungen<br />

nicht. Es ist jedenfalls ein Gefährdungsschaden zu deren Nachteil bislang nicht hinreichend belegt. Ob in<br />

Fällen der vorliegenden Art, in denen der Täter (auch) bewirkt, dass die Erste Inkassostelle die Lastschriftbeträge auf<br />

seinem Konto vorläufig gutschreibt, ein Computerbetrug zu deren Nachteil bereits deswegen ausscheidet, weil die<br />

EDV-Anlage dieser Bank weder die zugr<strong>und</strong>eliegenden Forderungen (in diese Richtung wohl Trück aaO, § 49 Rn.<br />

42, 52; anders Lenckner/ Winkelbauer CR 1986, 654, 656) noch das Vorliegen von Abbuchungsaufträgen überprüft,<br />

kann offenbleiben. Denn die bisherigen Feststellungen tragen jedenfalls den vom Landgericht angenommenen Gefährdungsschaden<br />

nicht: Im Ansatzpunkt zutreffend geht das Landgericht zwar davon aus, dass auch die Erteilung<br />

einer Vorbehaltsgutschrift zu einer schadensgleichen Vermögensgefährdung führen kann, soweit der Kontoinhaber<br />

tatsächlich die Möglichkeit hat, auf den vorläufig gutgeschriebenen Betrag zuzugreifen (vgl. zum insoweit gleich zu<br />

behandelnden Fall der betrügerischen Scheckeinreichung BGH, Beschluss vom 6. März 2012 - 4 StR 669/11; Beschluss<br />

vom 24. April 2007 - 4 StR 558/06, NStZ-RR 2007, 236, 237; Trück aaO, § 49 Rn. 16) <strong>und</strong> die Erste Inkassostelle<br />

nach den konkreten Umständen des Einzelfalles durch das ihr zukommende Rückbelastungsrecht nicht hinreichend<br />

gegen eine Vermögenseinbuße gesichert ist.<br />

Die bisherigen Feststellungen des Landgerichts belegen jedenfalls angesichts des unmittelbar bei der Raiffeisenbank<br />

entstandenen Verdachts <strong>und</strong> der bereits am Morgen des 29. April 2011 erfolgten Sperrung des Kontos keine k o n k r<br />

e t e Möglichkeit, auf die vorläufig dem Konto des „M.“ gutgeschriebenen Beträge zugreifen zu können. Rein abstrakte<br />

Möglichkeiten reichen zur Annahme einer schadensgleichen Vermögensgefährdung bei der Raiffeisenbank<br />

jedoch nicht aus.<br />

4. Die bisherigen Feststellungen würden im Übrigen mit Blick auf eine Schädigung der Raiffeisenbank noch nicht<br />

einmal einen Schuldspruch wegen v e r s u c h t e n Computerbetrugs zu deren Nachteil tragen. Die Feststellungen<br />

ergeben bislang nicht hinreichend, dass der Angeklagte davon ausgegangen sein könnte, es könne auf die auf dem<br />

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Konto „M.“ vorläufig gutgeschriebenen Beträge sofort ohne Weiteres zugegriffen werden. Schon die telefonische<br />

Nachfrage von S. zur Verfügbarkeit der gutgeschriebenen Beträge spricht dagegen, dass S. , der wiederholt mit der<br />

Bank in telefonischem Kontakt gestanden hatte, davon ausging, die Bank sei zu diesem Zeitpunkt zur Auszahlung<br />

verpflichtet. Bestätigt wird dies durch den späteren Versuch, (nur) 10.000 Euro abzuheben. Die Beschränkung auf<br />

eine solche vergleichsweise geringe Teilsumme hätte aus der Sicht des Täterkreises keinen Sinn, wenn die Auffassung<br />

bestanden hätte, es bestünde ein sofortiger Auszahlungsanspruch hinsichtlich des gesamten Betrags.<br />

5. Der Senat hat erwogen, ob, wie vom Landgericht zwar nicht festgestellt, im Rahmen der Strafzumessung aber<br />

angedeutet, ein Computerbetrug zum Nachteil der Zahlstellen vorliegen könnte. Möglicherweise könnte die Erwägung<br />

zu Gr<strong>und</strong>e gelegen haben, dass den Zahlstellen, die trotz fehlender Abbuchungsaufträge keine Rücklastschriften<br />

erteilten, jedoch jederzeit damit rechnen mussten, von ihren K<strong>und</strong>en zu einer Rückgängigmachung der Abbuchung<br />

oder zu Ersatzleistungen aufgefordert zu werden, ein wirtschaftlicher Schaden entstanden ist (so wohl Trück<br />

aaO, § 49 Rn. 57, 58 aE für Fälle missbräuchlicher Lastschriften im Einzugsermächtigungsverfahren). Jedoch fehlen<br />

nähere Feststellungen zu derartigen Vorgängen bei den Zahlstellen.<br />

6. Ein Schuldspruch wegen Kreditbetrugs (§ 265b StGB) gegenüber der Raiffeisenbank im Zusammenhang mit der<br />

Zulassung des Kontos des „M.A. “ zum Lastschriftverfahren kommt schon mit Blick darauf, dass der Angeklagte erst<br />

hinzugezogen wurde, nachdem die Zulassung des Konto des „M.“ zum Lastschriftverfahren bereits abgeschlossen<br />

war, nicht in Betracht. Im Übrigen läge ein Kreditantrag im Sinne dieser Vorschrift (vgl. hierzu näher Tiedemann<br />

aaO, § 265b Rn. 51 mwN) zwar vor, wenn nach den getroffenen Vereinbarungen der vorläufig gutgeschriebene Betrag<br />

zur freien Verfügung gestellt werden sollte (vgl. Tiedemann aaO Rn. 36, 54 aE). Dass dies aber so gewesen sein<br />

könnte, ergeben die Feststellungen nicht.<br />

IV. Der Senat hat daher aus Gründen der Prozessökonomie mit Zustimmung des Generalb<strong>und</strong>esanwalts das Verfahren<br />

auf den Vorwurf des versuchten Computerbetrugs zum Nachteil der Bankk<strong>und</strong>en (zu dieser Möglichkeit vgl.<br />

BGH, Beschluss vom 12. September 1990 - 3 StR 277/90, HFR 1991, 496) in 18.031 tateinheitlichen Fällen beschränkt.<br />

Denn aus den unter III. dargelegten Gründen tragen die bisherigen Feststellungen lediglich den Schuldspruch<br />

wegen (versuchten) Computerbetruges, <strong>und</strong> zwar zum Nachteil der angeblich zahlungspflichtigen Bankk<strong>und</strong>en.<br />

Angesichts der in objektiver Hinsicht bedeutenden Vielzahl der ansonsten maßgeblichen bankinternen Vorgänge<br />

<strong>und</strong> der Notwendigkeit, dem Angeklagten die entsprechende subjektive Tatseite nachzuweisen, würde die weitere<br />

Aufklärung einen unverhältnismäßigen Aufwand bedeuten. Gleiches gilt, soweit es bei 785 Lastschriften aus ungeklärten<br />

Gründen nicht zu Rücklastschriften kam. Dementsprechend wird insbesondere der Vorwurf des Computerbetrugs<br />

zum Nachteil der Raiffeisenbank sowie der Zahlstellen, des v o l l e n d e t e n Computerbetrugs zum Nachteil<br />

der angeblich Zahlungspflichtigen <strong>und</strong> der Verwirklichung weiterer 785 tateinheitlicher Fälle des Computerbetrugs<br />

zum Nachteil der Bankk<strong>und</strong>en von der Strafverfolgung ausgenommen.<br />

V. Infolge der Verfolgungsbeschränkung nach § 154a StPO war daher der Schuldspruch wie geschehen zu ändern<br />

<strong>und</strong> neu zu fassen. Die gleichartige Tateinheit wurde im Tenor zum Ausdruck gebracht, Gründe der Übersichtlichkeit<br />

(vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 13. November 2010 - 1 StR 220/09 Rn. 69 mwN, insoweit in NStZ 2011, 37 ff.<br />

nicht abgedruckt) gebieten hier nichts anderes. § 265 StPO steht der Schuldspruchänderung nicht entgegen. Es ist<br />

nicht ersichtlich, dass der Angeklagte sich anders als geschehen hätte verteidigen können, zumal schon die Anklage<br />

von einer Schädigung der Bankk<strong>und</strong>en ausgegangen ist <strong>und</strong> der Generalb<strong>und</strong>esanwalt seine Zustimmung zur Beschränkung<br />

(§ 154a Abs. 2 StPO) der Verteidigung mitgeteilt hat. Ohnehin lag auf der Hand, dass das Geld von den<br />

Konten der Bankk<strong>und</strong>en abgezogen werden sollte.<br />

VI. Der Strafausspruch kann trotz der Schuldspruchänderung bestehen bleiben. Der Umstand, dass das Landgericht<br />

die verhängte Strafe aus dem Strafrahmen des § 263a Abs. 1 StGB bestimmt <strong>und</strong> die fakultative Strafmilderung<br />

wegen Versuchs nach § 23 Abs. 2 StGB, § 49 Abs. 1 StGB nicht geprüft hat, hat sich hier nicht zulasten des Angeklagten<br />

ausgewirkt. „Trotz Vollendung der Tat im rechtlichen Sinne“ hat das Landgericht bei der Strafzumessung<br />

das Tatgeschehen mit Blick auf die ganz überwiegende Rückabwicklung der Lastschriften „weitgehend einem fehlgeschlagenen<br />

Versuch“ gleichgestellt (UA S. 65). So hat es (auch) im Rahmen der konkreten Strafzumessung ausdrücklich<br />

zu Gr<strong>und</strong>e gelegt, dass es bei einer „weitgehend fehlende(n) Realisierung des Betrugsschadens“ (UA S.<br />

67) verblieb. Seine weiteren Erwägungen hat es daneben insbesondere darauf gestützt, dass die Tat einen einschlägigen<br />

Bewährungsbruch des Angeklagten darstellte. Das Landgericht hat sich ersichtlich nicht an der Strafrahmenobergrenze<br />

des § 263a Abs. 1 StGB orientiert. Angesichts dessen kann der Senat sicher ausschließen, dass die<br />

Schuldspruchänderung selbst bei Zugr<strong>und</strong>elegung eines veränderten Strafrahmens Einfluss auf die ohnehin maßvolle<br />

Strafe gehabt hätte. Gleiches gilt, soweit diejenigen (tateinheitlich verwirklichten) 785 Fälle von der Strafverfolgung<br />

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ausgenommen wurden, in denen keine Rücklastschriften ergingen, so dass es bei einer endgültigen Wertstellung auf<br />

dem Konto „M.“ in Höhe von insgesamt 7.284,80 Euro verblieb. Diese Summe stellt lediglich einen geringfügigen<br />

Bruchteil des jedenfalls verbleibenden intendierten Gesamtschadens in Höhe von 167.327,68 Euro dar.<br />

VII. Eine Erstreckung der Berichtigung des Schuldspruchs auch auf den früheren Mitangeklagten N. gemäß § 357<br />

StPO kam nicht in Betracht, weil die Änderung des Schuldspruchs auf einer Verfahrensbeschränkung beruhte (vgl.<br />

BGH, Beschluss vom 9. Oktober 2008 - 1 StR 359/08 mwN, insoweit in NStZ-RR 2009, 17 f. nicht abgedruckt).<br />

VIII. Der allenfalls geringfügige Erfolg der Revision rechtfertigt es nicht, den Beschwerdeführer von den durch sein<br />

Rechtsmittel entstandenen Kosten <strong>und</strong> Auslagen auch nur teilweise zu entlasten (§ 473 Abs. 4 StPO).<br />

IX. Der Schriftsatz vom 21. Januar 2013 lag bei der Beratung vor.<br />

StGB§ 263a Computerbetrug - Erfordernis der Unmittelbarkeit zwischen Datenverarbeitung <strong>und</strong><br />

Vermögensminderung<br />

BGH Beschl. v. 28.05.2013 - 3 StR 80/13 - BeckRS 2013, 11676<br />

Der Tatbestand des Computerbetruges gemäß § 263a StGB wurde zur Schließung von Strafbarkeitslücken<br />

in das Strafgesetzbuch eingeführt, weil es bei der Manipulation von Datenverarbeitungsvorgängen<br />

regelmäßig an der Täuschung <strong>und</strong> infolgedessen der Erregung eines Irrtums einer<br />

natürlichen Person fehlt, was zur Unanwendbarkeit des Betrugstatbestandes nach § 263 StGB<br />

führt. Bei der Umsetzung dieses Ziels orientierte sich der Gesetzgeber konzeptionell an dem Tatbestand<br />

des Betruges, wobei an die Stelle der Täuschung die Tathandlungen des § 263a Abs. 1 StGB<br />

treten <strong>und</strong> mit der Irrtumserregung <strong>und</strong> dem ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal der Vermögensverfügung<br />

die Beeinflussung des Ergebnisses eines - vermögenserheblichen - Datenverarbeitungsvorgangs<br />

korrespondiert. Aufgr<strong>und</strong> dieser Struktur- <strong>und</strong> Wertgleichheit mit dem Betrugstatbestand<br />

muss der in tatbestandsmäßiger Weise beeinflusste, vermögensrelevante Datenverarbeitungsvorgang<br />

unmittelbar vermögensmindernd wirken.<br />

Der 3. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers <strong>und</strong> des Generalb<strong>und</strong>esanwalts<br />

am 28. Mai 2013 gemäß § 349 Abs. 4, § 357 StPO einstimmig beschlossen:<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Duisburg vom 4. Juni 2012, auch soweit es den<br />

Mitangeklagten A. betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.<br />

Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere<br />

Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe<br />

[1] Das Landgericht hat den Angeklagten sowie den nichtrevidierenden Mitangeklagten A. jeweils wegen Computerbetruges<br />

in 14 Fällen verurteilt. Gegen den Angeklagten hat es eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren <strong>und</strong><br />

drei Monaten verhängt. Hiergegen wendet sich die Revision des Beschwerdeführers, mit der er ein Verfahrenshindernis<br />

geltend macht, mehrere Verfahrensbeanstandungen erhebt <strong>und</strong> die Verletzung materiellen Rechts rügt.<br />

I.<br />

[2] 1. Das Verfahrenshindernis der sachlichen Unzuständigkeit (§ 338 Nr. 4 i.V.m. § 6 StPO) besteht aus den Gründen<br />

der Antragsschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwalts nicht. Die Verfahrensrügen sind - wie der Generalb<strong>und</strong>esanwalt<br />

ebenfalls zutreffend ausgeführt hat - nicht in der Form des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO erhoben <strong>und</strong> deshalb unzulässig.<br />

[3] 2. Das Rechtsmittel hat indes mit der Sachrüge Erfolg. Der Schuldspruch wegen Computerbetruges in 14 Fällen<br />

hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.<br />

[4] a) Nach den Feststellungen des Landgerichts entwickelten der Mitangeklagte A. <strong>und</strong> der gesondert Verfolgte Av.<br />

im Frühjahr 2008 den Plan, mit Hilfe gefälschter Unterlagen auf die Namen fiktiver Personen Mobilfunkverträge<br />

abzuschließen, um so die bei Vertragsschluss zur Verfügung gestellten Mobilfunkgeräte zu erlangen. Für diese war<br />

ein allenfalls geringes Entgelt sofort zu zahlen; die wesentliche Gegenleistung bestand in der Erfüllung des Mobilfunkvertrages<br />

über eine feste Vertragslaufzeit, die A. <strong>und</strong> Av. , wie von Anfang an geplant, jedoch in keinem Fall<br />

erbrachten.<br />

- 82 -


[5] Die Verträge wurden in verschiedenen Filialen der DUG-Telekom - sogenannten DUG-Shops - geschlossen,<br />

deren verantwortliche "Shop-Manager" - der Angeklagte war einer von ihnen - in den Tatplan eingeweiht waren. Der<br />

Mitangeklagte A. erstellte mit Hilfe eines Computerprogramms Dateien, deren Ausdrucke aussahen wie Kopien der<br />

Urk<strong>und</strong>en, die nach den Vorgaben der DUG Telekom bei Vertragsschluss vorzulegen waren; dabei verwendete er<br />

erf<strong>und</strong>ene Daten nicht existierender niederländischer Staatsangehöriger. Die Ausdrucke wurden von dem gesondert<br />

Verfolgten Av. oder einem anderen Mittäter in die jeweiligen DUG-Shops gebracht. Dort gaben der "Shop-Manager"<br />

oder ein anderer in den Tatplan eingeweihter Mitarbeiter die aus den Unterlagen ersichtlichen Daten in das elektronische<br />

Antragsformular ein. Dies verstieß gegen die internen Vorgaben der DUG-Telekom, die vorsahen, dass die<br />

K<strong>und</strong>en selbst in den DUG-Shops vorstellig werden mussten <strong>und</strong> die angeforderten Urk<strong>und</strong>en im Original vorzulegen<br />

hatten. Das Antragsformular wurde auf elektronischem Wege an ein Rechenzentrum verschickt, in dem es automatisch<br />

ausschließlich auf Auffälligkeiten im Sinne unvollständiger oder offensichtlich widersprüchlicher Angaben<br />

überprüft wurde. Aus dem Rechenzentrum heraus wurde - ebenfalls automatisiert - eine Anfrage an die Schufa Holding<br />

AG gerichtet, ob zu der Person, deren Daten übermittelt wurden, negative Einträge vorlägen. War dies der Fall,<br />

wurde der Abschluss eines Mobilfunkvertrages automatisch abgelehnt. Andernfalls wurde an den DUG-Shop, der<br />

den Antrag eingereicht hatte, über das genutzte Computersystem die automatische Mitteilung gemacht, dass der<br />

Vertrag zustande komme; nach den Vorgaben der DUG-Telekom durfte erst zu diesem Zeitpunkt der Vertrag vollzogen<br />

<strong>und</strong> dem K<strong>und</strong>en das Mobilfunkgerät ausgehändigt werden. Da die von dem Mitangeklagten A. erstellten Datensätze<br />

sämtlich fiktive Personen betrafen, zu denen negative Einträge bei der Schufa Holding AG folglich nicht<br />

vorliegen konnten, wurde ein Vertragsschluss in keinem der verfahrensgegenständlichen Fällen abgelehnt.<br />

[6] Der Angeklagte war seit einem nicht genau bestimmbaren Zeitpunkt - jedenfalls aber deutlich vor August 2008 -<br />

in den Tatplan eingeweiht <strong>und</strong> wirkte seitdem bewusst <strong>und</strong> gewollt zusammen mit dem Mitangeklagten A. <strong>und</strong> dem<br />

gesondert Verfolgten Av. an dem Abschluss einer Vielzahl solcher Verträge in maßgeblicher Weise mit. In den 14<br />

ausgeurteilten Fällen zwischen dem 4. August 2008 <strong>und</strong> dem 31. Januar 2009 gab er in dem DUG-Shop, dessen<br />

verantwortlicher "Shop-Manager" er war, entweder selbst die fiktiven Daten in das im EDV-System hinterlegte Antragsformular<br />

ein <strong>und</strong> später die Mobiltelefone an seine Mittäter heraus, oder er veranlasste seine Mitarbeiter, dies zu<br />

erledigen; in jedem Fall stellte er zumindest seine Barcodekarte zur Verfügung, die für die Aktivierung des vor der<br />

Herausgabe der Geräte zu durchlaufenden Ausbuchungsvorganges erforderlich war.<br />

[7] b) Diese Feststellungen tragen die Verurteilung wegen Computerbetruges in 14 Fällen nicht.<br />

[8] Der Tatbestand des Computerbetruges gemäß § 263a StGB wurde zur Schließung von Strafbarkeitslücken in das<br />

Strafgesetzbuch eingeführt, weil es bei der Manipulation von Datenverarbeitungsvorgängen regelmäßig an der Täuschung<br />

<strong>und</strong> infolgedessen der Erregung eines Irrtums einer natürlichen Person fehlt, was zur Unanwendbarkeit des<br />

Betrugstatbestandes nach § 263 StGB führt (Fischer, StGB, 60. Aufl., § 263a Rn. 2 mwN). Bei der Umsetzung dieses<br />

Ziels orientierte sich der Gesetzgeber konzeptionell an dem Tatbestand des Betruges, wobei an die Stelle der Täuschung<br />

die Tathandlungen des § 263a Abs. 1 StGB treten <strong>und</strong> mit der Irrtumserregung <strong>und</strong> dem ungeschriebenen<br />

Tatbestandsmerkmal der Vermögensverfügung die Beeinflussung des Ergebnisses eines - vermögenserheblichen -<br />

Datenverarbeitungsvorgangs korrespondiert (BT-Drucks. 10/318 S. 19). Aufgr<strong>und</strong> dieser Struktur- <strong>und</strong> Wertgleichheit<br />

mit dem Betrugstatbestand (vgl. dazu BGH, Beschlüsse vom 21. November 2001 - 2 StR 260/01, BGHSt 47,<br />

160, 162 <strong>und</strong> vom 20. Dezember 2012 - 4 StR 580/11, NJW 2013, 1017, 1018) entspricht es in Rechtsprechung <strong>und</strong><br />

Schrifttum einhelliger Auffassung, dass der in tatbestandsmäßiger Weise beeinflusste, vermögensrelevante Datenverarbeitungsvorgang<br />

unmittelbar vermögensmindernd wirken muss (BGH, Beschluss vom 22. Januar 2013 -1 StR<br />

416/12, ZIP 2013, 715, 716; OLG Celle, Beschluss vom 6. Mai 1996 -3 Ss 21/96, NJW 1997, 1518, 1519; Lenckner/Winkelbauer,<br />

CR 1986, 654, 659; MünchKommStGB/Wohlers, 1. Aufl., § 263a Rn. 61; LK/Tiedemann, StGB,<br />

12. Aufl., § 263a Rn. 65 mwN). Daran fehlt es hier:<br />

[9] Die Minderung des Vermögens der DUG-Telekom trat vorliegend nicht dadurch ein, dass die erf<strong>und</strong>enen Daten<br />

nicht existierender niederländischer Staatsangehöriger in die elektronischen Antragsformulare eingegeben wurden<br />

<strong>und</strong> über das so manipulierte Ergebnis der automatisierten Anfrage bei der Schufa die elektronische Mitteilung an<br />

die DUG-Shops bewirkt wurde, dass der Vertrag zustande komme. Vielmehr kam es zu der Vermögensminderung<br />

erst dadurch, dass der Angeklagte oder die von ihm instruierten Mitarbeiter im Anschluss an diese Mitteilung die<br />

Mobiltelefone herausgaben. Zwar kann in Fällen, in denen - wie hier - noch weitere Verfügungen vorgenommen<br />

werden, das Merkmal der Unmittelbarkeit der Vermögensminderung gleichwohl zu bejahen sein, wenn das Ergebnis<br />

des von dem Täter manipulierten Datenverarbeitungsvorgangs ohne eigene Entscheidungsbefugnis <strong>und</strong> ohne inhaltliche<br />

Kontrolle von einer Person lediglich umgesetzt wird (LK/Tiedemann aaO Rn. 67; Münch-KommStGB/Wohlers<br />

- 83 -


aaO Rn. 62). Eine solche Konstellation ist hier indes schon deshalb nicht gegeben, weil der Angeklagte in jedem der<br />

zur Verurteilung gelangten Fälle wusste, dass die vermeintlichen Vertragspartner der DUG-Telekom bzw. der von<br />

dieser vertretenen Mobilfunkanbieter tatsächlich nicht existierten <strong>und</strong> dass die Verträge nicht erfüllt werden sollten.<br />

Er war bereits vor Ingangsetzen des Datenverarbeitungsvorgangs entschlossen, die Mobiltelefone an seine Mittäter<br />

herauszugeben, ohne dass diese eine nennenswerte Gegenleistung erbrachten. Somit lag in jeder Herausgabe jeweils<br />

eine eigenverantwortliche Vermögensverfügung des Angeklagten oder seiner Mitarbeiter, mit der allerdings nicht<br />

das Ergebnis des vorangegangenen Datenverarbeitungsvorgangs umgesetzt wurde. Vielmehr stand schon vorher fest,<br />

dass die Verfügung, die - mit Blick auf die Mitarbeiter - jedenfalls eine Missachtung der internen Vorgaben der<br />

DUG-Telekom für das Vorgehen bei Vertragsschlüssen <strong>und</strong> hinsichtlich des Angeklagten eine bewusste Überschreitung<br />

dessen darstellte, was ihm von der DUG-Telekom als "Shop-Manager" gestattet war, durchgeführt werden sollte.<br />

Die Beeinflussung des Datenverarbeitungsvorgangs führte also nicht zu einer unmittelbaren Vermögensminderung,<br />

sie diente vielmehr in erster Linie der Verschleierung des tatsächlich vermögensmindernd wirkenden, unerlaubten<br />

Verhaltens.<br />

II.<br />

[10] Die Aufhebung des Urteils wirkt gemäß § 357 StPO auch zugunsten des nichtrevidierenden Mitangeklagten A. ,<br />

weil dieser wegen der nämlichen Taten ebenfalls wegen Computerbetruges verurteilt worden ist.<br />

III.<br />

[11] Für die neue Verhandlung weist der Senat auf Folgendes hin: Da die Gesetzesverletzung, auf die die Staatsanwaltschaft<br />

die Strafverfolgung mit Anklageerhebung beschränkt hat, nicht gegeben ist, sind die ausgeschiedenen<br />

Teile wieder einzubeziehen (Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl., § 154a Rn. 24 mwN).<br />

[12] Der Angeklagte kann sich in den zur Verurteilung gelangten Fällen wegen Untreue nach § 266 Abs. 1 StGB<br />

strafbar gemacht haben. Eine Schuldspruchänderung kam insoweit nicht in Betracht, weil - mit Blick auf den rechtlichen<br />

Ausgangspunkt des Landgerichts konsequent - bislang Feststellungen zu einer - allerdings nicht fern liegenden -<br />

Vermögensbetreuungspflicht des Angeklagten fehlen.<br />

[13] Da für den Mitangeklagten A. das Vorliegen einer Vermögensbetreuungspflicht gegenüber der DUG-Telekom<br />

nach den bisherigen Feststellungen nicht in Betracht kommen dürfte, kommt für ihn insoweit allenfalls eine Verurteilung<br />

wegen Teilnahme an etwaigen Untreuehandlungen des Angeklagten in Betracht (vgl. Fischer aaO § 25 Rn. 16).<br />

[14]Um das Tatunrecht vollständig zu erfassen, könnte bei beiden Angeklagten zudem eine Strafbarkeit wegen Urk<strong>und</strong>enfälschung<br />

- gegebenenfalls gewerbs- <strong>und</strong>/oder bandenmäßig begangen - zu prüfen sein.<br />

StGB § 266 Grenzen faktischer Geschäftsführung<br />

BGH, Beschl. v. 13.12.2012 - 5 StR 407/12 – NJW 2013, 624<br />

LS: Zu den Anforderungen an die Annahme einer faktischen Geschäftsführerstellung gegenüber<br />

einem abhängigen Unternehmen.<br />

Der 5. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat am 13. Dezember 2012 beschlossen: Auf die Revision des Angeklagten<br />

N. wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 12. Dezember 2011 gemäß § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben, soweit es<br />

ihn betrifft; die Feststellungen hierzu – mit Ausnahme derjenigen zum Verhältnis des Angeklagten zur Gesellschafterin<br />

der A GmbH – bleiben bestehen. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet<br />

verworfen. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten<br />

des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Untreue in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren<br />

verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung<br />

hat es von der Gesamtfreiheitsstrafe drei Monate als vollstreckt erkannt. Die Revision des Angeklagten erzielt den<br />

aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.<br />

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts errichtete der Angeklagte die „S. Unternehmensgruppe“, deren Geschäftsgegenstand<br />

die Sanierung <strong>und</strong> Vermarktung von Immobilien war. Im Tatzeitraum war er Geschäftsführer der<br />

V. A. GmbH, die als Komplementärin in verschiedenen <strong>und</strong> für jedes Bauvorhaben gesondert gegründeten Kommanditgesellschaften<br />

(nachfolgend: Bauherren-KG’s) fungierte. Die Bauherren-KG’s beauftragten als Generalüber-<br />

- 84 -


nehmer für Sanierungsarbeiten die A. GmbH, deren bestellte Geschäftsführerin im Tatzeitrum die Mitangeklagte Ne.<br />

war. Gesellschafterin der A. GmbH war die C. GmbH mit im Tatzeitraum wechselnden Alleingesellschaftern. Zur<br />

Durchführung der Bauvorhaben beauftragte die A. GmbH ihrerseits Generalunternehmer <strong>und</strong> verschiedene Subunternehmer,<br />

wobei sie faktisch als „Schutzschild vor den Bauherren-KG’s“ (UA S. 8) agierte, um die Ansprüche der<br />

unbezahlten oder nur zum Teil bezahlten Leistungserbringer abzufangen. Sie erteilte teilweise Aufträge, ohne dass<br />

die Absicht bestand, diese vollständig zu bezahlen. Überdies veranlasste die A. GmbH kleine <strong>und</strong> unerfahrene<br />

Handwerksunternehmen dazu, trotz Ausbleibens ihrer Bezahlung weitere Leistungen zu erbringen. Die Bauherren-<br />

KG’s finanzierten die Vorhaben durch Darlehen, die auf der Gr<strong>und</strong>lage von Abschlagsrechnungen der A. GmbH<br />

direkt an die Generalübernehmerin ausgezahlt wurden. Von diesen Beträgen überwies die Mitangeklagte Ne. auf<br />

Veranlassung des Angeklagten <strong>und</strong> einem gemeinsamen Tatplan entsprechend größere Summen aufgr<strong>und</strong> rechtsgr<strong>und</strong>loser<br />

Stornierungen der Abschlagsrechnungen direkt an die Bauherren-KG’s. Den Angeklagten war dabei<br />

bewusst, dass der stornierte Betrag nicht ausgeglichen werden würde <strong>und</strong> die Stornierung deshalb einen Verzicht auf<br />

die Forderung bedeutete. Durch die so veranlassten Stornierungen geriet die A. GmbH selbst zunehmend in Liquiditätsschwierigkeiten<br />

<strong>und</strong> konnte Handwerksleistungen nicht mehr bezahlen; letztlich führten sechs Stornierungen<br />

bzw. Rücküberweisungen der Abschlagsbeträge im Zeitraum vom 13. April 2004 bis 23. August 2005 über einen<br />

Betrag von insgesamt mehr als 820.000 € (Taten 1 bis 6, UA S. 11) zur Insolvenz der A. GmbH, was die Angeklagten<br />

zumindest billigend in Kauf nahmen. Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass der Angeklagte faktischer<br />

Geschäftsführer der A. GmbH war <strong>und</strong> seine Vermögensbetreuungspflicht ihr gegenüber verletzt habe, indem er die<br />

Mitangeklagte Ne. zu den rechtsgr<strong>und</strong>losen Stornierungen (Taten 1 bis 6) angewiesen habe. Er habe „im Einverständnis<br />

mit dem jeweiligen Gesellschafter die Stellung des Geschäftsführers tatsächlich eingenommen, indem er<br />

den wesentlichen Teil der klassischen Kernbereiche der Unternehmung bestimmt habe“; seine tatsächliche Verfügungsmacht<br />

habe sich daraus ergeben, dass die Mitangeklagte Ne. – wie er gewusst habe – seinen Anweisungen stets<br />

loyal gefolgt sei (vgl. UA S. 59).<br />

2. Die Verurteilung wegen Untreue hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Feststellungen tragen<br />

nicht die Annahme, dass der Angeklagte gegenüber der A. GmbH vermögensbetreuungspflichtig nach § 266 Abs. 1<br />

StGB war. Gr<strong>und</strong>lage einer Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des § 266 Abs. 1 StGB kann neben Gesetz, behördlichem<br />

Auftrag oder Rechtsgeschäft auch ein sogenanntes „tatsächliches Treueverhältnis" sein. Ein solches<br />

„tatsächliches Treueverhältnis“ kann dadurch begründet sein, dass der Betreffende die organschaftlichen Aufgaben<br />

eines Geschäftsführers übernommen <strong>und</strong> diese ausgeführt hat (vgl. Fischer, StGB, 60. Aufl., § 266 Rn. 40, 42; LK-<br />

Schünemann, 12. Aufl., § 266 Rn. 61, 65). Daneben kann aus einer tatsächlichen Übernahme eines nicht ganz unbedeutenden<br />

Pflichtenkreises – ohne dass eine faktische Organstellung vorliegen muss – eine Vermögensbetreuungspflicht<br />

auch dadurch begründet werden, dass der Betreffende diese Interessen wahrnimmt <strong>und</strong> der Vermögensinhaber<br />

auf die pflichtgemäße Wahrnehmung vertrauen darf (vgl. BGH, Urteil vom 14. Juli 1999 – 3 StR 188/99, NStZ 1999,<br />

558). Dass eine der beiden vorgenannten Voraussetzungen hier vorliegt, belegen die Feststellungen indes nicht.<br />

a) Nach der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs ist als Geschäftsführer auch derjenige anzuerkennen, der die<br />

Geschäftsführung mit Einverständnis der Gesellschafter ohne förmliche Bestellung faktisch übernommen hat, tatsächlich<br />

ausübt <strong>und</strong> gegenüber dem formellen Geschäftsführer eine überragende Stellung einnimmt oder zumindest<br />

das deutliche Übergewicht hat (vgl. BGH, Urteile vom 24. Juni 1952 – 1 StR 153/52, BGHSt 3, 32, 37 f., vom 22.<br />

September 1982 – 3 StR 287/82, BGHSt 31, 118, 122, <strong>und</strong> vom 10. Mai 2000 – 3 StR 101/00, BGHSt 46, 62, 64 f.).<br />

Den Urteilsgründen lässt sich zwar entnehmen, dass der Angeklagte tatsächlich einen erheblichen Einfluss gegenüber<br />

der bestellten Geschäftsführerin der A. GmbH hatte, die nahezu keine eigenständigen Entscheidungen getroffen<br />

hat. Dies reicht aber für sich genommen nicht aus, um eine faktische Organstellung zu begründen. Im vorliegenden<br />

Fall fehlten dem Angeklagten nämlich die für eine organschaftliche Stellung typischen Befugnisse. Die Feststellungen<br />

ergeben nicht, dass er etwa eine Bankvollmacht hatte, oder im Außenverhältnis Pflichten übernahm, die typischerweise<br />

mit der Stellung eines Organs verb<strong>und</strong>en sind (wie etwa gegenüber Sozialversicherungsträgern oder<br />

Finanzbehörden). Sind dem Betreffenden solche Kompetenzen nicht übertragen, spricht dies indiziell gegen die<br />

Annahme einer faktischen Geschäftsführung, weil sie zu den Essentialien einer Organstellung zählen (vgl. BGH,<br />

Urteil vom 27. Juni 2005 – II ZR 113/03, ZIP 2005, 1414). Die Urteilsgründe legen nicht dar, dass dem Angeklagten<br />

entsprechende auf das Außenverhältnis bezogene Befugnisse jedenfalls faktisch übertragen wurden. Die insoweit<br />

pauschale Feststellung, der Angeklagte habe „im Einvernehmen mit der Gesellschafter-GmbH von Anfang an die<br />

Stellung des Geschäftsführers“ eingenommen (UA S. 12), wird nicht näher begründet. Die Urteilsgründe ergeben<br />

zwar, dass der Angeklagte die Geschäftsführerin der A. GmbH eingestellt hat (UA S. 3, 54) <strong>und</strong> die Gesellschafterin<br />

- 85 -


keinen Einfluss auf die Geschäftsführung der A. GmbH genommen, sondern die Mitangeklagte Ne. zu Fragen der<br />

Geschäftsführung auf den Angeklagten verwiesen hat (UA S. 52). Die Feststellungen verhalten sich indes nicht dazu,<br />

in welchem Verhältnis der Angeklagte zu der Gesellschafterin der A. GmbH stand <strong>und</strong> aus welchen Gründen <strong>und</strong> in<br />

welchem Umfang ihm eine derartige Machtposition – möglicherweise auch gegenüber der Gesellschafterin – eingeräumt<br />

worden sein soll. Dies wäre auch deshalb erörterungsbedürftig gewesen, weil das Landgericht die Anweisungen<br />

des Angeklagten zu den rechtgr<strong>und</strong>losen Stornierungen als pflichtwidrig gewertet hat, für die kein Einverständnis<br />

der Gesellschafterseite bestanden hat (vgl. UA S. 52). Allerdings hat die Rechtsprechung es im Einzelfall auch<br />

ausreichen lassen, wenn der faktische Geschäftsführer den förmlich bestellten Geschäftsführer anweisen kann <strong>und</strong> er<br />

durch ihn die Geschäftspolitik des Unternehmens tatsächlich bestimmt (vgl. BGH, Urteil vom 11. Dezember 1997 –<br />

4 StR 323/97, StV 1998, 416; vgl. auch BGH, Urteil vom 25. Februar 2002 – II ZR 196/00, BGHZ 150, 61). Beruht<br />

die Macht des Dritten allein darauf, dass er sich gegenüber dem formellen Geschäftsführer in den wesentlichen unternehmerischen<br />

Fragen durchsetzen kann, bedarf das Verhältnis zur Gesellschafterebene vertiefter Betrachtung.<br />

Diesem Erfordernis werden die Urteilsgründe gleichfalls nicht gerecht. Dass ein außenstehender Dritter, der weder<br />

Mitgesellschafter noch Angestellter ist, sondern vielmehr auf der Seite des – wenngleich wirtschaftlich einflussreichen<br />

– Auftraggebers steht, über seine wirtschaftliche Macht als Auftraggeber hinaus ermächtigt ist, die Geschäfte<br />

seines Vertragspartners zu führen <strong>und</strong> damit auch verpflichtet ist, dessen Vermögensinteressen zu schützen, erklärt<br />

sich aufgr<strong>und</strong> der bloß faktischen Einflussnahme nicht selbst. Vielmehr wird in solchen Fällen der Abhängigkeit des<br />

Geschäftspartners die übermächtige Vertragsgegenseite häufig die Geschäftstätigkeit des abhängigen Geschäftspartners<br />

bestimmen können. Dies genügt aber nicht für die Annahme einer „faktischen Geschäftsführung“, auch weil<br />

ansonsten der Angeklagte gegenläufigen Vermögenspflichten, nämlich für den Vertragspartner <strong>und</strong> das eigene Unternehmen,<br />

ausgesetzt wäre. Derjenige, der im Rahmen von schuldrechtlichen Beziehungen jedoch eigene Interessen<br />

im Wirtschaftsleben verfolgt, kann nicht die Vermögensinteressen der anderen Vertragspartei wahrnehmen. Deshalb<br />

sollen gr<strong>und</strong>sätzlich auch nur fremdnützig typisierte Schuldverhältnisse mit Geschäftsbesorgungscharakter Treuepflichten<br />

begründen können (vgl. LK-Schünemann, aaO Rn. 75 f.; Fischer, aaO Rn. 38 <strong>und</strong> vgl. auch BGH, Urteil<br />

vom 13. Mai 2004 – 5 StR 73/03; BGHSt 49, 147, 155, <strong>und</strong> Beschluss vom 2. April 2008 – 5 StR 354/07, BGHSt 52,<br />

182, 186 f.). Um vorliegend bewerten zu können, dass der Angeklagte im „Einvernehmen“ mit der Gesellschafterin<br />

die Geschäfte für die A. GmbH faktisch geführt hat, hätte es einer eingehenden Darlegung der Hintergründe sowie<br />

der Art <strong>und</strong> des Umfanges dieses „Einvernehmens“ bedurft. Maßgeblich ist, dass der Angeklagte in die Gesellschafterebene<br />

hinein über ein solches Machtpotential verfügt, das ihn in die Lage versetzt, die Unternehmensentscheidungen<br />

zu determinieren. Eine solche weitgehende Beherrschung wird regelmäßig gegeben sein, wenn die Gesellschafterin<br />

der A. GmbH für ihn handelt. Dies setzt gr<strong>und</strong>sätzlich entweder eine persönliche Abhängigkeit oder aber ein<br />

aus anderen Gründen einverständliches Zusammenwirken mit ihr voraus, die es rechtfertigen, die A. GmbH als<br />

gleichsam abhängige <strong>und</strong> unselbständige Strohmannfirma für das Unternehmen des Angeklagten zu sehen. Nur dann<br />

kann dem Angeklagten auch eine weitere Vermögensbetreuungspflicht auferlegt werden (vgl. zu den Pflichtenstellungen<br />

im faktischen GmbH-Konzern: BGH, Urteil vom 10. Juli 1996 – 3 StR 50/96, BGHR StGB § 266 Abs. 1<br />

Vermögensbetreuungspflicht 25). Ob eine entsprechende Abhängigkeit der Gesellschafterin der A. GmbH oder ein<br />

Zusammenwirken mit ihr vorlag, bleibt indes unerörtert <strong>und</strong> kann ohne nähere Kenntnis der Beziehungen des Angeklagten<br />

zur Gesellschafterebene der A. GmbH nicht beurteilt werden.<br />

b) Unabhängig davon, ob dem Angeklagten aufgr<strong>und</strong> der Reichweite seiner Einflussnahme tatsächlich eine faktische<br />

Organstellung innerhalb der A. GmbH zukam, genügen die bisher getroffenen Feststellungen auch im Übrigen nicht<br />

zur Annahme einer Vermögensbetreuungspflicht. Zwar knüpft der Treubruchtatbestand des § 266 Abs. 1 StGB nicht<br />

an die formale Position als Geschäftsführer, sondern an die tatsächliche Verfügungsmacht über ein bestimmtes Vermögen<br />

an, wenn damit ein schützenswertes Vertrauen in die pflichtgemäße Wahrnehmung der Vermögensinteressen<br />

verb<strong>und</strong>en ist (vgl. BGH, Urteile vom 10. Juli 1996 – 3 StR 50/96 aaO, <strong>und</strong> vom 14. Juli 1999 – 3 StR 188/99, NStZ<br />

1999, 558, Fischer aaO Rn. 33). Feststellungen dazu, ob <strong>und</strong> inwieweit dem Angeklagten das Vermögen der A.<br />

GmbH von Seiten ihrer Gesellschafterin unterhalb der Geschäftsführerebene „anvertraut“ worden ist <strong>und</strong> eine Vermögensbetreuungspflicht<br />

besteht, hat das Landgericht indes nicht getroffen. Es kann aus den bereits unter a) angeführten<br />

Gründen nicht beurteilt werden, ob dem Angeklagten von Gesellschafterebene faktisch eine weitgehende<br />

Betriebsführung eingeräumt worden ist oder ob lediglich in einer Vielzahl von Einzelentscheidungen seiner wirtschaftlichen<br />

Machtstellung als Organ des praktisch einzigen Geschäftspartners jeweils nachgegeben wurde.<br />

- 86 -


3. Die Sache bedarf deshalb insgesamt neuer tatgerichtlicher Sachaufklärung <strong>und</strong> Prüfung. Die Feststellungen – mit<br />

Ausnahme derjenigen zum Verhältnis des Angeklagten zur Gesellschafterin der A. GmbH – können bestehen bleiben.<br />

Das neue Tatgericht kann weitere Feststellungen treffen, soweit sie den aufrechterhaltenen nicht widersprechen.<br />

StGB § 266, 27, 13; GmbHG § 43; AktG § 93; BGB § 823 Abs. 2<br />

BGH, Urt. v. 10.07.2012 - VI ZR 341/10 - NJW 2012, 3439<br />

LS: Allein aus der Stellung als Geschäftsführer einer GmbH bzw. Mitglied des Vorstands einer Aktiengesellschaft<br />

ergibt sich keine Garantenpflicht gegenüber außenstehenden Dritten, eine Schädigung<br />

ihres Vermögens zu verhindern. Die Pflichten aus der Organstellung zur ordnungsgemäßen<br />

Führung der Geschäfte der Gesellschaft aus § 43 Abs. 1 GmbHG, § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG, zu denen<br />

auch die Pflicht gehört, für die Rechtmäßigkeit des Handelns der Gesellschaft Sorge zu tragen, bestehen<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich nur dieser gegenüber <strong>und</strong> lassen bei ihrer Verletzung Schadensersatzansprüche<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich nur der Gesellschaft entstehen.<br />

Der VI. Zivilsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 10. Juli 2012 durch den Vorsitzenden<br />

Richter Galke, den Richter Zoll, die Richterin Diederichsen, den Richter Pauge <strong>und</strong> die Richterin von Pentz<br />

für Recht erkannt: Auf die Revisionen der Beklagten zu 2 <strong>und</strong> 3 wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts<br />

München vom 16. November 2010 im Kostenpunkt <strong>und</strong> insoweit aufgehoben, als zu ihrem Nachteil entschieden<br />

worden ist. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die<br />

Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.<br />

Tatbestand:<br />

Der Kläger ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der N. AG. Er nimmt die Beklagten zu 2 <strong>und</strong> 3, soweit im<br />

Revisionsverfahren noch von Interesse, wegen Beihilfe zu Untreuetaten des Vorstandsvorsitzenden der N. AG auf<br />

Schadensersatz in Anspruch. Die N. AG stellte Markenplüsch- <strong>und</strong> Geschenkartikel her. Sie stand in langjähriger<br />

Geschäftsbeziehung zu der O.-Handelsgesellschaft mbH, die u.a. Markenartikel der N. AG an verschiedene Großabnehmer<br />

absetzte. Geschäftsführer der O.-Handelsgesellschaft mbH waren seit ihrer Gründung der Beklagte zu 2 <strong>und</strong><br />

seit 1999 auch der Beklagte zu 3. Im August 2003 übernahm der Beklagte zu 3, der an der O.-Handelsgesellschaft<br />

mbH bis dahin zu 49,43 % beteiligt gewesen war, vom Beklagten zu 2 einen (weiteren) Geschäftsanteil von 35,57 %.<br />

Mit Wirkung vom 28. November 2003 wurde die O.-Handelsgesellschaft mbH durch Formwechsel in eine Aktiengesellschaft<br />

- die Beklagte zu 1 - umgewandelt. Ihr Vorstand besteht aus den Beklagten zu 2 <strong>und</strong> 3. Im Zeitraum von<br />

Oktober 2002 bis August 2003 stellte die O.-Handels-gesellschaft mbH der N. AG elf Warenrechnungen über insgesamt<br />

14.017.462,82 € netto. Die angeblich zugr<strong>und</strong>e liegenden Forderungen veräußerte sie zum Teil an ein Factoring-Unternehmen<br />

<strong>und</strong> zum Teil an eine Bank. Die N. AG zahlte die Rechnungsbeträge im Zeitraum von Februar bis<br />

November 2003 an den Factor bzw. die Bank. Im Zusammenhang mit den Warenrechnungen berechnete die O.-<br />

Handelsgesellschaft mbH der N. AG mit elf gesonderten Rechnungen darüber hinaus "Handlinggebühren" in Höhe<br />

von insgesamt 377.509,39 € netto, die die N. AG ebenfalls beglich. Am 1. August 2006 wurde über das Vermögen<br />

der N. AG das Insolvenzverfahren eröffnet. Der Kläger behauptet, der Vorstandsvorsitzende der N. AG, P., habe, um<br />

Liquidität zu erzeugen, Scheingeschäfte initiiert. Er habe veranlasst, dass die K. P. GmbH, deren Geschäftsführer<br />

sein Bruder war, Rechnungen für die angebliche Lieferung diverser Artikel der N. AG an die Beklagte zu 1 gestellt<br />

habe, denen tatsächlich keine Warenlieferung zugr<strong>und</strong>e gelegen habe. Die Beklagte zu 1 habe die Rechnungen bezahlt<br />

<strong>und</strong> die angeblich gelieferten Artikel absprachegemäß der N. AG mit einem Aufschlag von 10 % in Rechnung<br />

gestellt. In einzelnen Fällen habe die N. AG die Ware ihrerseits der Firma K. P. GmbH berechnet. Bei den Rechnungen<br />

der O.-Handelsgesellschaft mbH über insgesamt 14.017.462,82 € netto <strong>und</strong> den Handlingrechnungen über insgesamt<br />

377.509,39 € netto handele es sich um derartige Scheinrechnungen für fingierte Warenlieferungen. Dies sei den<br />

Beklagten zu 2 <strong>und</strong> 3 bekannt gewesen. Mit der vorliegenden Teilklage begehrt der Kläger von den Beklagten zu 2<br />

<strong>und</strong> 3 als Gesamtschuldnern die Zahlung eines Betrags in Höhe von 10.000.000 €. Das Landgericht hat die Beklagten<br />

zu 2 <strong>und</strong> 3 als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 8.333.603,72 € nebst Zinsen zu zahlen, <strong>und</strong> die Klage<br />

gegen die Beklagten zu 2 <strong>und</strong> 3 im Übrigen abgewiesen. Dieses Urteil haben die Beklagten mit der Berufung <strong>und</strong> der<br />

Kläger mit der Anschlussberufung angegriffen. Während des Berufungsverfahrens hat der Kläger die Klageforde-<br />

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ung in Höhe von 10.575,76 € gegen den Kostenerstattungsanspruch der Beklagten aus dem auf der Gr<strong>und</strong>lage des<br />

erstinstanzlichen Urteils ergangenen Kostenfestsetzungsbeschluss aufgerechnet; insoweit haben die Parteien den<br />

Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt. Seinen Antrag hat der Kläger in der vollen Höhe von 10.000.000 €<br />

aufrechterhalten. Die Berufung der Beklagten zu 2 <strong>und</strong> 3 hatte keinen Erfolg. Auf die Anschlussberufung des Klägers<br />

hat das Oberlandesgericht das Urteil des Landgerichts dahin abgeändert, dass die Beklagten als Gesamtschuldner<br />

zur Zahlung von 10.000.000 € nebst Zinsen verurteilt werden. Mit den vom Senat zugelassenen Revisionen verfolgen<br />

die Beklagten zu 2 <strong>und</strong> 3 ihre Anträge auf Abweisung der Klage in vollem Umfang weiter.<br />

Entscheidungsgründe:<br />

A. Nach Auffassung des Berufungsgerichts sind die Beklagten zu 2 <strong>und</strong> 3 dem Kläger aus unerlaubter Handlung<br />

gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 266 Abs. 1, § 27 StGB zum Ausgleich des der N. AG entstandenen<br />

Schadens verpflichtet. Die Haupttat, zu der die Beklagten zu 2 <strong>und</strong> 3 Beihilfe geleistet hätten, sei die von P. begangene<br />

Untreue (§ 266 Abs. 1 StGB). P. habe die ihm als alleinvertretungsberechtigtem Mitglied des Vorstands der N.<br />

AG obliegende Vermögensbetreuungspflicht dadurch verletzt, dass er mittels fingierter Geschäftsvorfälle den Abfluss<br />

von Vermögensbestandteilen der N. AG initiiert habe. Die N. AG habe auf seine Veranlassung auf Scheinrechnungen<br />

der O.-Handelsgesellschaft mbH gezahlt, denen keine entsprechenden Forderungen zugr<strong>und</strong>e gelegen hätten.<br />

Durch die pflichtwidrigen Handlungen des P. sei der N. AG ein Schaden entstanden. Denn die Zahlungen seien aus<br />

ihrem Vermögen abgeflossen, ohne dass die N. AG einen Gegenwert hierfür erlangt habe. Es sei weder ersichtlich<br />

noch dargetan, dass P. ständig Gelder zum Ersatz des Vermögensabflusses bereitgehalten habe oder eine alsbaldige<br />

Erstattung der zu Unrecht abgezweigten Mittel aus anderen Gründen sicher habe erwartet werden können. P. habe<br />

auch vorsätzlich gehandelt. Ihm sei der Scheincharakter der Rechnungen bekannt gewesen. Durch die Erfassung der<br />

fingierten Vorfälle in den Geschäftsunterlagen der N. AG habe er die wahre Sachlage <strong>und</strong> den wahren wirtschaftlichen<br />

Hintergr<strong>und</strong> verschleiern wollen, der in der Schaffung von Liquidität zu Gunsten der N. AG <strong>und</strong> der K. P.<br />

GmbH bestanden habe. Der Beklagte zu 2 habe Beihilfe zu den Untreuetaten des P. durch aktives Tun geleistet,<br />

indem er mit diesem die für die Durchführung der Scheingeschäfte erforderlichen Absprachen getroffen habe. Er<br />

habe mit ihm insbesondere die Höhe der jeweiligen Scheinrechnung abgestimmt. Hierdurch habe der Beklagte zu 2<br />

die Untreuetaten des P. aktiv gefördert. Denn dieser sei auf die Kenntnis des zur Verfügung stehenden Finanzierungsrahmens<br />

angewiesen gewesen. Auf diese Weise habe er das Volumen der von der K. P. GmbH auf seine Veranlassung<br />

zu erstellenden Eingangsrechnungen bei der O.-Handelsgesellschaft mbH, die wiederum die Gr<strong>und</strong>lage für<br />

deren Ausgangsrechnungen gewesen sei, kalkulieren können. Der Beklagte zu 2 habe auch in Kenntnis aller Umstände,<br />

die seinen Beitrag als Förderung der Haupttat qualifizierten, <strong>und</strong> mit dem Wollen der Förderung gehandelt.<br />

Ihm sei aufgr<strong>und</strong> des Gesprächsinhaltes bewusst gewesen, dass mit der Rechnungsstellung an die N. AG Handelsgeschäfte<br />

nur hätten vorgetäuscht werden sollen <strong>und</strong> nicht geschuldete Zahlungen zu Lasten des Gesellschaftsvermögens<br />

der N. AG veranlasst werden würden, denen eine Gegenleistung der O.-Handelsgesellschaft mbH nicht gegenübergestanden<br />

habe. Der Beklagte zu 3 habe Beihilfe durch pflichtwidriges Unterlassen geleistet. Ein aktiver Gehilfenbeitrag<br />

könne ihm zwar nicht nachgewiesen werden. Der Beklagte zu 3 habe aber Kenntnis von der Tatsache der<br />

Übereinkunft zwischen P. <strong>und</strong> dem Beklagten zu 2 betreffend die Durchführung von Finanzierungsgeschäften der<br />

streitgegenständlichen Art gehabt. Er sei deshalb in seiner Funktion zunächst als Geschäftsführer der O.-<br />

Handelsgesellschaft mbH <strong>und</strong> sodann als Vorstandsmitglied der Beklagten zu 1 dazu verpflichtet gewesen, gegen die<br />

Beteiligung an Straftaten aus dem Unternehmensbereich der Beklagten zu 1 heraus einzuschreiten. Die Kenntnis des<br />

Beklagten zu 3 von den Absprachen zwischen P. <strong>und</strong> dem Beklagten zu 2 über die Scheingeschäfte ergebe sich daraus,<br />

dass sich der Beklagte zu 3 im Rahmen der Aufstockung seines Geschäftsanteils an der O.-Handelsgesellschaft<br />

mbH von 49,43 % auf 85 % intensiv mit den Geschäften dieser Gesellschaft befasst habe. Nach dem eigenen Vortrag<br />

der Beklagten sei die N. AG der größte <strong>und</strong> bedeutendste Geschäftspartner der O.-Handelsgesellschaft mbH gewesen.<br />

Unter diesen Umständen könne ausgeschlossen werden, dass der Beklagte zu 3 den Geschäftsbereich der N. AG<br />

aus seinen intensiven Erk<strong>und</strong>igungen <strong>und</strong> Prüfungen ausgenommen habe. Im Rahmen seiner Beschäftigung mit<br />

diesem Geschäftsbereich könne ihm nicht verborgen geblieben sein, dass Eingangsrechnungen über Beträge in Millionenhöhe<br />

Ausgangsrechnungen an die N. AG über dieselbe Ware korrespondierten <strong>und</strong> diese Geschäfte bei objektiver<br />

Betrachtung nur einem Zweck, dem der Veräußerung an Factoring-Unternehmen, hätten dienen können, ohne<br />

dass reale Absatzbemühungen geplant gewesen <strong>und</strong> durchgeführt worden seien. Als Auskunftsperson habe ihm darüber<br />

hinaus der Beklagte zu 2 zur Verfügung gestanden. Aus den objektiven Umständen habe sich dem Beklagten zu<br />

3 der Schluss auf das Vorliegen von Scheinrechnungen aufgedrängt. Ausweislich der Anteilsübertragung sei im Jahr<br />

2003 die "Stabübergabe" vom Beklagten zu 2 auf den Beklagten zu 3 erfolgt. Es liege nahe, dass sich der Beklagte<br />

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zu 3 bereits im Zusammenhang mit der Planung <strong>und</strong> Durchführung der Unternehmensumgestaltung umfassende<br />

Kenntnisse über die wesentlichen Unternehmensbereiche verschafft habe <strong>und</strong> deshalb schon während des Jahres<br />

2003 Kenntnis vom wahren Hintergr<strong>und</strong> der Scheingeschäfte gehabt habe. Der Beklagte zu 3 habe selbst ausgesagt,<br />

dass dem Umgestaltungsprozess eine intensive Prüfung vorausgegangen sei. Er könne sich daher nicht mit Blick auf<br />

den Zeitpunkt der notariellen Beurk<strong>und</strong>ung der Geschäftsanteilsabtretung im August 2003 auf Unkenntnis des maximal<br />

sechs Monate davorliegenden wahren Sachverhaltes berufen. Zu den zentralen Aufgaben des Beklagten zu 3<br />

als Mitgeschäftsführer oder Vorstandsmitglied zähle die Pflicht, aus dem eigenen Unternehmen entspringende Straftaten<br />

zu verhindern. Diese Pflicht habe dem Beklagten zu 3 nicht nur im Innenverhältnis zur Beklagten zu 1, sondern<br />

auch gegenüber der N. AG als Vertragspartnerin oblegen. Da der Beklagte zu 3 durch Einschreiten die Durchführung<br />

<strong>und</strong> Fortsetzung der Absprache habe unterbinden können <strong>und</strong> ihm dies auch zumutbar gewesen sei, sei ihm der Vorwurf<br />

der Beihilfe zur Untreue des P. zu machen. Der infolge der Schutzgesetzverletzung kausal verursachte <strong>und</strong><br />

deshalb von den Beklagten zu 2 <strong>und</strong> 3 auszugleichende Schaden bestehe im Umfang der von der N. AG auf die<br />

"Luftrechnungen" <strong>und</strong> die damit sachlich verknüpften Handlingrechnungen geleisteten Zahlungen in Höhe der Bruttobeträge.<br />

Im Umfang der an die N. AG gelangten <strong>und</strong> dort ungeschmälert verbliebenen Rückflüsse sei allerdings ein<br />

gegenzurechnender Vorteil bzw. eine Schadenswiedergutmachung eingetreten. Die einzelnen Vorfälle begründeten<br />

jeweils einen eigenen Schadensersatzanspruch in Höhe des Zahlungsabflusses. Nur soweit der jeweils eingetretene<br />

Schaden durch einen hierauf bezogenen Zufluss ausgeglichen worden sei, könne der Zufluss Berücksichtigung finden.<br />

B. Diese Erwägungen halten weder den Angriffen der Revision des Beklagten zu 3 noch denen der Revision des<br />

Beklagten zu 2 stand.<br />

I. Revision des Beklagten zu 3: Die Revision wendet sich mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts,<br />

der Beklagte zu 3 sei dem Kläger wegen Beihilfe zur Untreue gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 266<br />

Abs. 1, § 27 StGB zum Schadensersatz verpflichtet.<br />

1. Zutreffend <strong>und</strong> von der Revision nicht angegriffen ist das Berufungsgericht allerdings davon ausgegangen, dass<br />

die Bestimmungen der § 266 Abs. 1, § 27 StGB Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB sind (vgl. Senatsurteile<br />

vom 17. März 1987 - VI ZR 282/85, BGHZ 100, 190, 192; vom 25. Mai 2010 - VI ZR 205/09, BGHZ 185, 378<br />

Rn. 6, jeweils mwN).<br />

2. Die getroffenen Feststellungen tragen aber nicht die Annahme, dass der Beklagte zu 3 den Tatbestand der § 266<br />

Abs. 1, § 27 StGB verwirklicht hat.<br />

a) Gemäß § 27 Abs. 1 StGB ist Gehilfe, wer vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger<br />

Tat Hilfe leistet. Als Hilfeleistung in diesem Sinne ist gr<strong>und</strong>sätzlich jede Handlung anzusehen, die die Herbeiführung<br />

des Taterfolges durch den Haupttäter objektiv fördert oder erleichtert; dass sie für den Eintritt dieses Erfolges<br />

in seinem konkreten Gepräge in irgendeiner Weise kausal wird, ist nicht erforderlich (BGH, Urteile vom 16.<br />

November 2006 - 3 StR 139/06, NJW 2007, 384, 388 f.; vom 5. Mai 2011 - 3 StR 445/10, StraFo 2011, 332). Dabei<br />

leistet auch derjenige dem Täter Hilfe, der die Tatförderung eines (weiteren) Gehilfen unterstützt (vgl. BGH, Urteile<br />

vom 8. März 2001 - 4 StR 453/00, NJW 2001, 2409, 2410; vom 5. Mai 2011 - 3 StR 445/10, aaO S. 333 mwN).<br />

b) Das Berufungsgericht hat die für die Annahme von Beihilfe erforderliche, vorsätzlich begangene rechtswidrige<br />

Haupttat zutreffend in den Untreuetaten des Vorstandsvorsitzenden der N. AG, P., gesehen. Es ist mit Recht davon<br />

ausgegangen, dass P. durch die gezielte Veranlassung von Zahlungen der N. AG auf Scheinrechnungen der O.-<br />

Handelsgesellschaft mbH den Tatbestand des § 266 Abs. 1 StGB verwirklicht hat. Hiergegen erhebt die Revision<br />

auch keine Beanstandungen.<br />

c) Die Revision wendet sich aber mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Beklagte zu 3 habe<br />

Hilfe zu den Untreuetaten des P. geleistet. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat der Beklagte zu 3<br />

weder P. noch den Beklagten zu 2 bei der Tatbegehung aktiv unterstützt, so dass Beihilfe durch positives Tun ausscheidet.<br />

Die getroffenen Feststellungen rechtfertigen auch nicht die Annahme, der Beklagte zu 3 habe Beihilfe<br />

durch Unterlassen geleistet.<br />

aa) Ein Unterlassen kann dem positiven Tun gemäß § 13 Abs. 1 StGB nur dann gleichgestellt werden, wenn der<br />

Täter rechtlich dafür einzustehen hat, dass der tatbestandliche Erfolg nicht eintritt, <strong>und</strong> das Unterlassen der Verwirklichung<br />

des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht. Bei den unechten Unterlassungsdelikten muss ein<br />

besonderer Rechtsgr<strong>und</strong> festgestellt werden, wenn jemand ausnahmsweise dafür verantwortlich gemacht werden soll,<br />

dass er es unterlassen hat, zum Schutz fremder Rechtsgüter aktiv tätig zu werden. Der Täter muss rechtlich verpflichtet<br />

sein, den deliktischen Erfolg abzuwenden, also eine Garantenstellung innehaben (BGH, Urteile vom 25. Juli 2000<br />

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- 1 StR 162/00, NJW 2000, 3013, 3014 mwN; vom 12. Januar 2010 - 1 StR 272/09, NJW 2010, 1087 Rn. 57). Eine<br />

sittliche Pflicht oder die bloße Möglichkeit, den Erfolg zu verhindern, genügen nicht (vgl. BGH, Urteil vom 24.<br />

Februar 1982 - 3 StR 34/82, BGHSt 30, 391, 394; BVerfG, NJW 2003, 1030). Ob eine solche Garantenstellung besteht,<br />

die es rechtfertigt, das Unterlassen der Erfolgsabwendung dem Herbeiführen des Erfolgs gleichzustellen, ist<br />

nicht nach abstrakten Maßstäben zu bestimmen. Vielmehr hängt die Entscheidung von den Umständen des konkreten<br />

Einzelfalles ab; dabei bedarf es einer Abwägung der Interessenlage <strong>und</strong> der Bestimmung des konkreten Verantwortungsbereichs<br />

der Beteiligten (vgl. BGH, Urteile vom 25. Juli 2000 - 1 StR 162/00, aaO; vom 12. Januar 2010 - 1<br />

StR 272/09, aaO Rn. 57 f.; vom 17. Juli 2009 - 5 StR 394/08, BGHSt 54, 44 Rn. 23 ff.; Stree/Bosch in Schönke/<br />

Schröder, StGB, 28. Aufl., § 13 Rn. 14).<br />

bb) Danach kann eine Garantenstellung des Beklagten zu 3 auf der Gr<strong>und</strong>lage der getroffenen Feststellungen nicht<br />

bejaht werden. Das Berufungsgericht hat keine Umstände festgestellt, aus denen sich eine rechtliche Verpflichtung<br />

des Beklagten zu 3 gegenüber der N. AG ergab, den dieser durch die Zahlung auf die Scheinrechnungen entstandenen<br />

Vermögensschaden zu verhindern.<br />

(1) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ergibt sich eine entsprechende Garantenpflicht des Beklagten zu<br />

3 gegenüber der N. AG nicht allein aus seiner Stellung als Geschäftsführer der O.-Handelsgesellschaft mbH bzw. als<br />

Mitglied des Vorstands der Beklagten zu 1.<br />

(a) Eine Garantenstellung des Beklagten zu 3 zugunsten der N. AG kann insbesondere nicht aus § 43 Abs. 1 GmbHG<br />

oder § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG abgeleitet werden. Zwar umfassen die Pflichten zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung,<br />

die dem Geschäftsführer einer GmbH bzw. den Mitgliedern des Vorstands einer Aktiengesellschaft aufgr<strong>und</strong><br />

ihrer Organstellung obliegen (§ 43 Abs. 1 GmbHG, § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG), auch die Verpflichtung, dafür zu sorgen,<br />

dass sich die Gesellschaft rechtmäßig verhält <strong>und</strong> ihren gesetzlichen Verpflichtungen nachkommt (Legalitätspflicht,<br />

vgl. Senatsurteil vom 15. Oktober 1996 - VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370, 375; BGH, Urteil vom 28. April<br />

2008 - II ZR 264/06, BGHZ 176, 204 Rn. 38; KK-AktG/Mertens/Cahn, 3. Aufl., § 93 Rn. 71; MünchKomm-<br />

AktG/Spindler, 3. Aufl., § 93 Rn. 63 f.; Paefgen in Ulmer/ Habersack/Winter, GmbHG, 2006, § 43 Rn. 23, 32; Verse,<br />

ZHR 175 (2011), 401, 403 ff.). Nach der gefestigten Rechtsprechung des erkennenden <strong>und</strong> des II. Zivilsenats<br />

besteht diese Pflicht aber gr<strong>und</strong>sätzlich nur der Gesellschaft gegenüber <strong>und</strong> nicht auch im Verhältnis zu außenstehenden<br />

Dritten. Denn die Bestimmungen der § 43 Abs. 1 GmbHG, § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG regeln allein die Pflichten<br />

des Geschäftsführers bzw. Vorstandsmitglieds aus seinem durch die Bestellung begründeten Rechtsverhältnis zur<br />

Gesellschaft. Sie dienen nicht dem Zweck, Gesellschaftsgläubiger vor den mittelbaren Folgen einer sorgfaltswidrigen<br />

Geschäftsleitung zu schützen. Wie sich aus § 43 Abs. 2 GmbHG <strong>und</strong> § 93 Abs. 2 AktG ergibt, lässt eine Verletzung<br />

der Pflichten zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung Schadensersatzansprüche nur der Gesellschaft, nicht<br />

hingegen der Gläubiger entstehen (vgl. Senatsurteile vom 14. Mai 1974 - VI ZR 8/73, NJW 1974, 1371, 1372; vom<br />

5. Dezember 1989 - VI ZR 335/88, BGHZ 109, 297, 303; BGH, Urteile vom 9. Juli 1979 - II ZR 211/76, NJW 1979,<br />

1829; vom 19. Februar 1990 - II ZR 268/88, BGHZ 110, 342, 359 f.; vom 13. April 1994 - II ZR 16/93, BGHZ 125,<br />

366, 375 f.; so auch BGH, Urteil vom 15. November 2002 - LwZR 8/02, MDR 2003, 581, 582; OLG Frankfurt am<br />

Main, VersR 1992, 240, 241; Paefgen in Ulmer/Habersack/Winter, aaO § 43 Rn. 166; MünchKomm AktG/Spindler,<br />

aaO § 93 Rn. 273, 287; KK-AktG/Mertens/Cahn, aaO § 93 Rn. 224; Krieger/Sailer-Coceani in Schmidt/Lutter,<br />

AktG, 2. Aufl., § 93 Rn. 1, 66; Bank in Patzina/Bank/Schimmer/Simon-Widmann, Haftung von Unternehmensorganen,<br />

2010, Kap. 10 Rn. 36 f.; Hemeling, ZHR 175 (2011), 368, 385; Goette, ZHR 175 (2011), 388, 398; Münch-<br />

KommBGB/Wagner, 5. Aufl., § 823 Rn. 393; so wohl auch BGH, Urteil vom 13. September 2010 - 1 StR 220/09,<br />

Rn. 37; Beschluss vom 13. September 2010 - 1 StR 220/09, BGHSt 55, 288 Rn. 37). Aus diesem Gr<strong>und</strong> sind die<br />

Bestimmungen der § 93 Abs. 1 AktG, § 43 Abs. 1 GmbHG auch keine Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2<br />

BGB (BGH, Urteile vom 9. Juli 1979 - II ZR 211/76, WM 1979, 853, 854; vom 19. Februar 1990 - II ZR 268/88,<br />

BGHZ 110, 342, 359 f.; vom 13. April 1994 - II ZR 16/93, aaO S. 375; MünchKommGmbHG/Fleischer, 1. Aufl., §<br />

43 Rn. 353; Hopt in Hopt/Wiedemann, AktG, 4. Aufl., § 93 Rn. 492) <strong>und</strong> ist zwischen den Interessen der eigenen<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> denen außenstehender Dritter zu differenzieren (vgl. BGH, Urteil vom 17. Juli 2009 - 5 StR 394/08,<br />

BGHSt 54, 44 Rn. 29: "Trennung zwischen einerseits den Interessen des eigenen Unternehmens <strong>und</strong> andererseits den<br />

Interessen außenstehender Dritter"). Eine Außenhaftung des Geschäftsführers einer GmbH oder des Mitglieds des<br />

Vorstands einer Aktiengesellschaft kommt nur in begrenztem Umfang aufgr<strong>und</strong> besonderer Anspruchsgr<strong>und</strong>lagen in<br />

Betracht (vgl. MünchKommGmbHG/ Fleischer, aaO Rn. 339 f., 350 f.; Fleischer in Spindler/Stilz, AktG, 2. Aufl., §<br />

93 Rn. 308; Haas/Ziemons in Michalski, GmbHG, 2. Aufl., § 43 Rn. 284 f.; Hopt in Hopt/Wiedemann, aaO § 93 Rn.<br />

492; Paefgen in Ulmer/Habersack/Winter, aaO Rn. 188). So haften der Geschäftsführer bzw. das Vorstandsmitglied<br />

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persönlich, wenn sie den Schaden selbst durch eine unerlaubte Handlung herbeigeführt haben (vgl. Senatsurteile vom<br />

14. Mai 1974 - VI ZR 8/73, NJW 1974, 1371, 1372; vom 5. Dezember 1989 - VI ZR 335/88, BGHZ 109, 297, 303<br />

f.; vom 12. März 1996 - VI ZR 90/95, VersR 1996, 713, 714; BGH, Urteile vom 31. März 1971 - VIII ZR 256/69,<br />

BGHZ 56, 73, 77; vom 5. Dezember 2008 - V ZR 144/07, NJW 2009, 673 Rn. 12; MünchKommGmbHG/Fleischer,<br />

aaO Rn. 339, 347; Paefgen in Ulmer/Habersack/Winter, aaO Rn. 202; KK-AktG/Mertens/Cahn, aaO Rn. 223).<br />

(b) Eine außenstehenden Dritten gegenüber bestehende Verpflichtung des Geschäftsführers einer GmbH oder des<br />

Mitglieds des Vorstands einer Aktiengesellschaft, Vermögensschäden zu verhindern, folgt entgegen der Auffassung<br />

der Revisionserwiderung auch nicht aus der von ihr herangezogenen Rechtsprechung des I. Zivilsenats. Diese Rechtsprechung<br />

betrifft die hier nicht einschlägige Störerhaftung (vgl. BGH, Urteile vom 26. September 1985 - I ZR<br />

86/83, NJW 1987, 127, 129 - Sporthosen; vom 14. Juni 2006 - I ZR 249/03, GRUR 2006, 957 - Stadt Geldern; vom<br />

22. Juli 2010 - I ZR 139/08, GRUR 2011, 152 Rn. 48 - Kinderhochstühle im Internet).<br />

(2) Das Berufungsgericht hat auch keine Umstände festgestellt, die die Annahme rechtfertigten, dass der Beklagte zu<br />

3 - über die ihm gegenüber der O.-Handelsgesellschaft mbH bzw. der Beklagten zu 1 obliegenden Pflichten aus der<br />

Organstellung hinaus - weitere Pflichten übernommen hatte, die er nicht nur für diese Gesellschaften als deren Organ<br />

zu erfüllen hatte, sondern die ihn aus besonderen Gründen persönlich gegenüber der N. AG trafen <strong>und</strong> den Schutz<br />

ihrer Vermögensinteressen zum Gegenstand hatten (vgl. zur Garantenstellung aus Gewährsübernahme: BGH, Urteile<br />

vom 19. April 2000 - 3 StR 442/99, NJW 2000, 2754, 2756; vom 31. Januar 2002 - 4 StR 289/01, BGHSt 47, 224,<br />

229; vom 17. Juli 2009 - 5 StR 394/08, BGHSt 54, 44 Rn. 23; vom 12. Januar 2010 - 1 StR 272/09, NJW 2010, 1087<br />

Rn. 59; Fischer, StGB, 59. Aufl., § 13 Rn. 20). Soweit das Berufungsgericht eine Garantenstellung des Beklagten zu<br />

3 zugunsten der N. AG daraus ableiten möchte, dass diese "Vertragspartner" gewesen sei, übersieht es, dass nach<br />

seinen Feststellungen vertragliche Beziehungen allein zwischen der N. AG <strong>und</strong> der O.-Handelsgesellschaft mbH,<br />

nicht aber zwischen der N. AG <strong>und</strong> dem Beklagten zu 3, bestanden. Abgesehen davon reichen vertragliche Pflichten<br />

aus gegenseitigen Rechtsgeschäften zur Begründung einer Garantenpflicht nicht ohne weiteres aus (vgl. BGH, Urteil<br />

vom 12. Januar 2010 - 1 StR 272/09, aaO Rn. 58 mwN).<br />

d) Die Revision wendet sich auch mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Beklagte zu 3 habe<br />

Kenntnis von der zwischen P. <strong>und</strong> dem Beklagten zu 2 getroffenen Absprache über die Durchführung der Scheingeschäfte<br />

gehabt.<br />

aa) Nach § 286 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen <strong>und</strong> des Ergebnisses<br />

einer Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr<br />

oder für nicht wahr zu erachten ist. Diese Würdigung ist gr<strong>und</strong>sätzlich Sache des Tatrichters. An dessen Feststellungen<br />

ist das Revisionsgericht nach § 559 ZPO geb<strong>und</strong>en. Revisionsrechtlich ist lediglich zu überprüfen, ob sich der<br />

Tatrichter mit dem Prozessstoff <strong>und</strong> den Beweisergebnissen umfassend <strong>und</strong> widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat,<br />

die Würdigung also vollständig <strong>und</strong> rechtlich möglich ist <strong>und</strong> nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt<br />

(vgl. Senatsurteil vom 20. Dezember 2011 - VI ZR 309/10, VersR 2012, 454 Rn. 13 mwN).<br />

bb) Derartige Rechtsfehler sind vorliegend gegeben. Die Beweiswürdigung ist unvollständig <strong>und</strong> verstößt gegen<br />

Denkgesetze. Die Revision beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht die erforderliche Kenntnis des Beklagten<br />

zu 3 maßgeblich daraus abgeleitet hat, dieser habe die Beklagte zu 1 im Rahmen der Vorbereitung der Aufstockung<br />

seines Anteils "sehr gründlich durchleuchtet <strong>und</strong> sich eingehend <strong>und</strong> umfassend Kenntnis über die Geschäfte<br />

<strong>und</strong> die wirtschaftliche Lage der Beklagten zu 1" verschafft, ohne tatsächliche Feststellungen dazu zu treffen, welche<br />

Unterlagen dieser Prüfung zugr<strong>und</strong>e lagen. Damit hat das Berufungsgericht der Prüfung eine Indizwirkung zuerkannt,<br />

die sie in der festgestellten Form nicht hat (vgl. dazu Senatsurteile vom 22. Januar 1991 - VI ZR 97/90, VersR<br />

1991, 566; vom 24. April 2001 - VI ZR 36/00, VersR 2001, 1298, 1301 insoweit in BGHZ 147, 269 nicht abgedruckt;<br />

BGH, Urteil vom 23. Juni 2010 - VIII ZR 256/09, NJW 2010, 2648 Rn. 15). Ohne konkrete Feststellungen<br />

zum Gegenstand der vom Beklagten zu 3 vorgenommenen Prüfung oder zu weiteren in diese Richtung weisenden<br />

Umständen ist die Annahme nicht gerechtfertigt, ihm habe nicht verborgen bleiben können, dass Eingangsrechnungen<br />

über Beträge in Millionenhöhe Ausgangsrechnungen an die N. AG über dieselbe Ware korrespondierten <strong>und</strong><br />

diese Geschäfte bei objektiver Betrachtung nur einem Zweck, dem der Veräußerung an Factoring-Unternehmen,<br />

dienen könnten, ohne dass reale Absatzbemühungen geplant seien <strong>und</strong> durchgeführt würden. Dies gilt umso mehr,<br />

als die Scheingeschäfte nach den Feststellungen des Berufungsgerichts für einen mit der Absprache nicht Vertrauten<br />

nicht ohne weiteres erkennbar waren, sondern von den Beteiligten durch das Erstellen von Lieferscheinen <strong>und</strong> die<br />

Vornahme realer, ordnungsgemäß abgerechneter Geschäfte gezielt verschleiert wurden. Konkrete Feststellungen<br />

zum Prüfungsgegenstand sind auch nicht deshalb entbehrlich, weil der Beklagte zu 2 als "Auskunftsperson" zur<br />

- 91 -


Verfügung stand. Denn das Berufungsgericht hat weder festgestellt, dass der Beklagte zu 3 den Beklagten zu 2 um<br />

Auskunft ersucht noch dass der Beklagte zu 2 dem Beklagten zu 3 Auskunft erteilt hat. Der bloße Umstand, dass der<br />

Beklagte zu 2 in die Absprache über die Durchführung der Scheingeschäfte eingeweiht war <strong>und</strong> der Beklagte zu 3<br />

ihn diesbezüglich hätte befragen können, vermag eine Kenntnis des Beklagten zu 3 von der Durchführung der<br />

Scheingeschäfte entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht zu begründen.<br />

e) Wie die Revision zu Recht geltend macht, fehlt es auch an den erforderlichen tatsächlichen Feststellungen dazu,<br />

zu welchem Zeitpunkt der Beklagte zu 3 Kenntnis von dem "Geschäftsmodell" des P. <strong>und</strong> des Beklagten zu 2 erlangt<br />

hat. Nach der gefestigten Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs kann Beihilfe nur bis zur Beendigung der Haupttat<br />

geleistet werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 1. Oktober 2007 - 3 StR 384/07, NStZ 2008, 152; vom 1. Februar 2011<br />

- 3 StR 432/10, NStZ 2011, 637 f.; Fischer, aaO, § 27 Rn. 6, jeweils mwN). Im Fall der Untreue tritt die Beendigung<br />

der Tat mit dem endgültigen Vermögensverlust beim Geschädigten ein (vgl. BGH, Urteil vom 8. Mai 2003 - 4 StR<br />

550/02, NStZ 2003, 540 f.; Fischer, aaO, § 266 Rn. 187; Perron in Schönke/Schröder, aaO § 266 Rn. 51). Nach den<br />

Feststellungen des Berufungsgerichts ist der N. AG infolge der Untreuehandlungen des P. ein endgültiger Vermögensverlust<br />

jeweils durch Zahlung auf die jeweiligen Scheinrechnungen entstanden. Ausweislich der tatbestandlichen<br />

Feststellungen erfolgten die Zahlungen der N. AG aber zum Großteil vor der Anteilsübernahme durch den<br />

Beklagten zu 3. So zahlte die N. AG auf die Rechnungen gemäß Anlage K 6 <strong>und</strong> 8 im Februar 2003, auf die Rechnung<br />

gemäß Anlage K 10 im März 2003, auf die Rechnungen gemäß Anlagen K 12 <strong>und</strong> 14 im Mai 2003, auf die<br />

Rechnung gemäß Anlage K 17 im Juli 2003 <strong>und</strong> auf die Rechnung gemäß Anlage K 19 am 1. August 2003.<br />

II. Revision des Beklagten zu 2: Auch die Verurteilung des Beklagten zu 2 zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe<br />

von 10.000.000 € hält den Angriffen der Revision nicht stand.<br />

1. Das Berufungsgericht ist allerdings zutreffend davon ausgegangen, dass der Beklagte zu 2 dem Kläger dem Gr<strong>und</strong>e<br />

nach wegen Beihilfe zu den Untreuetaten des P. zum Schadensersatz verpflichtet ist (§ 823 Abs. 2 BGB, § 266<br />

Abs. 1, § 27 StGB). Gegen diese Beurteilung erhebt die Revision auch keine Beanstandungen.<br />

2. Die Revision wendet sich aber mit Erfolg gegen die Höhe des dem Kläger zuerkannten Schadensersatzanspruchs.<br />

a) Die Revision beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht seiner Schadensberechnung die auf die Scheinrechnungen<br />

erfolgten Zahlungen der N. AG in Höhe der Bruttobeträge zugr<strong>und</strong>e gelegt <strong>und</strong> dem Kläger damit unter<br />

Verstoß gegen § 308 Abs. 1 ZPO mehr zugesprochen hat, als er beantragt hat. Ausweislich der tatbestandlichen Feststellungen<br />

im Berufungsurteil <strong>und</strong> des Tatbestands des landgerichtlichen Urteils, auf den das Berufungsgericht ergänzend<br />

Bezug genommen hat, macht der Kläger gegen die Beklagten zu 2 <strong>und</strong> 3 einen auf 10.000.000 € begrenzten<br />

Teilbetrag des von ihm insgesamt auf 15.376.391,17 € - in der Berufungsinstanz um den Aufrechnungsbetrag in<br />

Höhe von 10.575,76 € reduziert - bezifferten Schadens geltend. Dabei stützt er seinen Ersatzanspruch auf die in den<br />

Tabellen unter Ziffer 1 <strong>und</strong> 2 im Einzelnen aufgeführten Zahlungen der N. AG in Höhe der Nettobeträge. Die auf die<br />

einzelnen Beträge entfallende Mehrwertsteuer ist nicht Gegenstand seines Begehrens. Diese tatbestandlichen Feststellungen<br />

des Berufungsgerichts sind bindend. Sie erbringen gemäß § 314 ZPO Beweis für das mündliche Parteivorbringen<br />

in der Berufungsinstanz. Die Revisionserwiderung hält ihnen ohne Erfolg entgegen, der Kläger habe den<br />

gegen die Beklagten zu 2 <strong>und</strong> 3 geltend gemachten Teilbetrag von 10.000.000 € in Wirklichkeit auf den Gesamtbruttoschaden<br />

in Höhe von 18.420.883,77 € gestützt. Die Beweiskraft des Tatbestands kann nur durch das Sitzungsprotokoll,<br />

nicht jedoch durch den Inhalt der Schriftsätze entkräftet werden. Eine etwaige Unrichtigkeit tatbestandlicher<br />

Darstellungen im Berufungsurteil kann nur im Berichtigungsverfahren nach § 320 ZPO behoben werden. Eine Verfahrensrüge<br />

nach § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ZPO oder - wie hier - eine entsprechende verfahrensrechtliche Gegenrüge<br />

des Revisionsbeklagten, die auf ein im Berufungsurteil nur allgemein in Bezug genommenes schriftsätzliches Vorbringen<br />

gestützt wird, kommt zur Richtigstellung eines derartigen Mangels nicht in Betracht (vgl. BGH, Urteile vom<br />

8. Januar 2007 - II ZR 334/04, NJW-RR 2007, 1434 Rn. 11; vom 16. Dezember 2010 - I ZR 161/08, NJW 2011,<br />

1513 Rn. 12 mwN; Musielak/Ball, ZPO, 9. Aufl., § 559 Rn. 16; Zöller/Heßler, ZPO, 29. Aufl., § 559 Rn. 1). Bei den<br />

Einzelforderungen, aus denen sich der geltend gemachte Teilbetrag zusammensetzt, handelt es sich auch nicht um<br />

unselbständige Rechnungsposten eines einheitlichen Anspruchs, die der Tatrichter der Höhe nach verschieben <strong>und</strong><br />

dabei hinsichtlich einzelner Rechnungsposten über das Geforderte hinausgehen darf, sofern die Endsumme nicht<br />

überschritten wird (vgl. Senatsurteil vom 7. Juni 2011 - VI ZR 260/10, VersR 2011, 1008 Rn. 7; BGH, Urteil vom<br />

16. November 1989 - I ZR 15/88, NJW-RR 1990, 997, 998), sondern um rechtlich selbständige, jeweils einen eigenen<br />

Streitgegenstand begründende Ersatzansprüche. Denn sie beruhen auf jeweils selbständigen Scheingeschäften<br />

<strong>und</strong> Zahlungen (vgl. Zöller/Vollkommer, aaO Einl. Rn. 72 f.). Der Verstoß gegen § 308 ZPO ist auch nicht dadurch<br />

geheilt worden, dass der Kläger Zurückweisung der Revision beantragt <strong>und</strong> sich damit die Entscheidung des Beru-<br />

- 92 -


fungsgerichts zu eigen gemacht hat. Denn eine Klageerweiterung ist in der Revisionsinstanz nicht zulässig (vgl.<br />

Senatsurteile vom 7. März 1989 - VI ZR 183/88, NJW-RR 1989, 1087; vom 30. September 2003 - VI ZR 78/03,<br />

VersR 2004, 219; BGH, Urteil vom 14. März 2012 - XII ZR 164/09, NJW-RR 2012, 516 Rn. 16).<br />

b) Die Revision rügt auch mit Erfolg, dass das Berufungsgericht die vom Kläger selbst den streitgegenständlichen<br />

Scheingeschäften zugeordneten Einnahmen der N. AG in Höhe von 777.600 €, 853.028,49 €, 1.080.000 € <strong>und</strong><br />

900.000 € netto, d.h. insgesamt 3.610.628,49 € netto bei seiner Schadensberechnung nicht anspruchsmindernd berücksichtigt<br />

hat. Ausweislich der tatbestandlichen Feststellungen im Berufungsurteil ist der Kläger bei seiner Schadensberechnung<br />

zwar von den (Netto)Beträgen der im Berufungsurteil in den Tabellen unter Ziffer 1 <strong>und</strong> 2 im Einzelnen<br />

aufgeführten Zahlungen der N. AG in Höhe von insgesamt 14.394.972,21 € ausgegangen. Er hat hiervon aber<br />

die der N. AG aufgr<strong>und</strong> der Scheingeschäfte zugeflossenen <strong>und</strong> im Berufungsurteil im Einzelnen aufgelisteten Nettoeinnahmen<br />

in Höhe von insgesamt 7.151.368,49 € schadensmindernd in Abzug gebracht <strong>und</strong> damit zum Ausdruck<br />

gebracht, dass er seinen Ersatzanspruch insoweit nicht auf die in den Tabellen unter Ziffer 1 <strong>und</strong> 2 im Einzelnen<br />

aufgeführten Vorgänge stützt. So hat er durch die ausdrückliche Zuordnung der ersten drei in der Tabelle aufgeführten<br />

Einnahmen zu den Vorgängen Nr. 6, Nr. 8 <strong>und</strong> Nr. 10 klargestellt, dass er in Hinblick auf die Zahlung der N. AG<br />

vom 17. Juni 2003 (Rechnung Nr. 6) nur eine Einzelforderung in Höhe von 364.740 € (1.628.340 € - 1.263.600 €), in<br />

Hinblick auf die Zahlung vom 2. September 2003 (Rechnung Nr. 8) nur eine solche von 207.360 € (1.425.600 € -<br />

1.218.240 €) <strong>und</strong> in Hinblick auf die Zahlung vom 20. Oktober 2003 nur eine solche von 181.200 € (1.240.100 € -<br />

1.058.900 €) geltend macht. Die weiteren Zahlungszuflüsse in Höhe von 777.600 €, 853.028,49 €, 1.080.000 € <strong>und</strong><br />

900.000 € netto hat der Kläger zwar nicht ausdrücklich bestimmten Scheingeschäften zugeordnet. Durch seine Erklärung,<br />

der mit der Teilklage geltend gemachte Betrag in Höhe von 10.000.000 € setze sich aus den im Berufungsurteil<br />

unter den Ziffern 1, 2 <strong>und</strong> 3 dargestellten Sachverhalten in der Reihenfolge ihrer Auflistung zusammen, hat er aber<br />

konkludent zum Ausdruck gebracht, dass die weiteren der N. AG aufgr<strong>und</strong> der Scheingeschäfte zugeflossenen Einnahmen<br />

von den in den Tabellen aufgeführten (begründeten) Einzelforderungen "von oben nach unten", d.h. in der<br />

Reihenfolge ihrer Auflistung, in Abzug gebracht werden sollten. Denn andernfalls wäre die Teilklage mangels nachvollziehbarer<br />

Aufschlüsselung des geltend gemachten Teilbetrags auf die Einzelansprüche unzulässig (vgl. BGH,<br />

Urteile vom 8. Dezember 1989 - V ZR 174/88, NJW 1990, 2068, 2069 mwN; vom 17. Juli 2008 - IX ZR 96/06,<br />

NJW 2008, 3142 Rn. 7). Es ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger eine unzulässige Teilklage erheben wollte.<br />

III. Das Berufungsurteil war aufzuheben <strong>und</strong> die Sache zur neuen Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung an das Berufungsgericht<br />

zurückzuverweisen, damit es die erforderlichen Feststellungen treffen kann (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz<br />

1 ZPO). Es wird dabei Gelegenheit haben, sich auch mit den in den Revisionsschriftsätzen weiter vorgebrachten<br />

Einwänden der Parteien zu befassen.<br />

StGB § 283 Abs. 1 Nr. 8 Bankrott - Firmenbestattung<br />

BGH, Beschl. v. 15.11.2012 - 3 StR 199/12 - NJW 2013, 1892<br />

LS: Zur Strafbarkeit wegen Bankrotts in Fällen der sog. Firmenbestattung.<br />

Der 3. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat nach Anhörung der Beschwerdeführer <strong>und</strong> des Generalb<strong>und</strong>esanwalts -<br />

zu 3. auf dessen Antrag - am 15. November 2012 gemäß § 349 Abs. 2 <strong>und</strong> 4, § 354 Abs. 1 StPO einstimmig beschlossen:<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten B. wird das Urteil des Landgerichts Rostock vom 10. Juni 2011, soweit es ihn<br />

betrifft, im Strafausspruch aufgehoben; jedoch bleiben die getroffenen Feststellungen aufrecht erhalten. Im Umfang<br />

der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an<br />

eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

2. Auf die Revision des Angeklagten P. wird das vorgenannte Urteil, soweit es ihn betrifft, im Schuldspruch dahin<br />

geändert, dass er der Beihilfe zur Insolvenzverschleppung <strong>und</strong> zum Bankrott sowie zum Betrug in acht Fällen schuldig<br />

ist; die im Fall A.V.8 der Urteilsgründe verhängte Einzelfreiheitsstrafe von sieben Monaten entfällt.<br />

3. Die weitergehenden Revisionen der Angeklagten B. <strong>und</strong> P. sowie die Revision des Angeklagten M. werden verworfen.<br />

4. Die Beschwerdeführer M. <strong>und</strong> P. haben die Kosten ihrer Rechtsmittel zu tragen.<br />

Gründe:<br />

- 93 -


Das Landgericht hat den Angeklagten M. unter Freispruch im Übrigen wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung<br />

<strong>und</strong> vorsätzlichen Bankrotts in jeweils vier Fällen sowie wegen Betruges in 21 Fällen zur Gesamtfreiheitsstrafe von<br />

fünf Jahren, den Angeklagten B. wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung <strong>und</strong> vorsätzlichen Bankrotts in jeweils<br />

zwei Fällen sowie wegen Betruges in zwölf Fällen zur Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren <strong>und</strong> acht Monaten<br />

sowie den Angeklagten P. wegen Beihilfe zur Insolvenzverschleppung <strong>und</strong> zum Bankrott sowie zum Betrug in neun<br />

Fällen zur Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr <strong>und</strong> vier Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung<br />

ausgesetzt hat. Wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung hat es jeweils Teile der verhängten Gesamtfreiheitsstrafen<br />

für vollstreckt erklärt. Dagegen richten sich die Revisionen der Beschwerdeführer. Die Angeklagten<br />

M. <strong>und</strong> B. rügen die Verletzung formellen <strong>und</strong> materiellen Rechts, der Angeklagte P. erhebt die allgemeine<br />

Sachrüge. Die Rechtsmittel der Angeklagten B. <strong>und</strong> P. haben den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg;<br />

im Übrigen sind sie - wie die Revision des Angeklagten M. - unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.<br />

1. Der Strafausspruch gegen den Angeklagten B. hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand. Nach § 46 Abs. 1<br />

Satz 2 StGB sind bei der Festsetzung der schuldangemessenen Strafe die Wirkungen zu berücksichtigen, die von ihr<br />

für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind. Dazu gehören nach ständiger Rechtsprechung<br />

des B<strong>und</strong>esgerichtshofs auch die berufs- <strong>und</strong> standesrechtlichen Folgen der Strafe. Der Umstand, dass eine strafgerichtliche<br />

Verurteilung nach den Vorschriften des Beamtenrechts die Beendigung des Beamtenverhältnisses zur<br />

Folge hat, ist deshalb regelmäßig als bestimmender Strafzumessungsgr<strong>und</strong> im Sinne des § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO zu<br />

erörtern (BGH, Beschluss vom 3. November 2009 - 4 StR 445/09, NStZ-RR 2010, 39 mwN).<br />

Dies hat die Strafkammer bei dem Angeklagten B., einem Zollbeamten, dessen Beamtenverhältnis nach § 24 Abs. 1<br />

Nr. 1 BeamtStG mit Eintritt der Rechtskraft der strafgerichtlichen Verurteilung zu mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe<br />

endet, ersichtlich nicht bedacht. Das Urteil beruht auf dem Rechtsfehler, denn der Senat kann nicht ausschließen,<br />

dass die Strafkammer bei Berücksichtigung dieses Umstandes, der bereits bei der Strafrahmenwahl in den Blick<br />

zu nehmen ist (BGH, Urteil vom 16. Dezember 1987 - 2 StR 527/87, BGHSt 35, 148), niedrigere Einzelstrafen<br />

<strong>und</strong>/oder eine niedrigere Gesamtfreiheitsstrafe gegen den Angeklagten verhängt hätte. Die dem Strafausspruch zugr<strong>und</strong>e<br />

liegenden tatsächlichen Feststellungen werden von dem Rechtsfehler nicht berührt <strong>und</strong> können deshalb aufrecht<br />

erhalten bleiben. Ergänzende Feststellungen sind zulässig, soweit sie den bisherigen nicht widersprechen.<br />

2. Der Schuldspruch gegen den Angeklagten P. weist allein mit Blick auf die konkurrenzrechtliche Bewertung durch<br />

das Landgericht einen durchgreifenden Rechtsfehler zu seinen Ungunsten auf. Bei einer Deliktserie unter Beteiligung<br />

mehrerer Personen ist die Frage, ob die einzelnen Taten tateinheitlich oder tatmehrheitlich zusammentreffen,<br />

für jeden einzelnen Beteiligten gesondert zu prüfen <strong>und</strong> dabei auf seinen individuellen Tatbeitrag abzustellen. Bewirkt<br />

dieser, dass dadurch mehrere Tatbeiträge von Tatgenossen gleichzeitig gefördert werden, sind ihm die gleichzeitig<br />

geförderten einzelnen Straftaten als tateinheitlich begangen zuzurechnen (vgl. BGH, Urteil vom 17. Juni 2004<br />

- 3 StR 344/03, NJW 2004, 2840, 2841 mwN). Nach diesen Maßstäben ergeben die Urteilsgründe nicht, dass der<br />

Angeklagte P. in den Fällen A.V.1 bis A.V.9 der Urteilsgründe in neun Fällen Beihilfe zu den Betrugstaten des Angeklagten<br />

M. geleistet hat. In den Fällen A.V.5 <strong>und</strong> A.V.8 der Urteilsgründe ist eine konkrete, die jeweiligen Betrugstaten<br />

gesondert fördernde Handlung des Angeklagten P. - anders als in den übrigen Fällen dieses Tatkomplexes<br />

- nicht festgestellt. Insoweit liegt sein Beitrag einzig darin, dass er durch die Übernahme des Amtes des Geschäftsführers<br />

der Gesellschaft in Kenntnis der betrügerischen Absichten des Angeklagten M. es diesem ermöglichte, die<br />

Fassade einer tatsächlich am Markt werbenden Spedition aufrecht zu erhalten <strong>und</strong> ihn so bei der Durchführung der<br />

Betrugstaten unterstützte. Dies stellt neben den festgestellten Beihilfehandlungen in den sieben anderen Fällen lediglich<br />

einen weiteren Fall der Beihilfe dar, so dass der Schuldspruch entsprechend auf Beihilfe zum Betrug in acht<br />

Fällen zu ändern war. Dies führt zum Wegfall der für den zeitlich später liegenden Fall A.V.8 verhängten Einzelfreiheitsstrafe<br />

von sieben Monaten. Der Gesamtstrafenausspruch wird davon nicht berührt; der Senat kann ausschließen,<br />

dass die Strafkammer bei rechtlich zutreffender Beurteilung der Konkurrenzen, die den Umfang der die Tatschuld<br />

des Angeklagten im Wesentlichen prägenden Betrugsschäden unberührt lässt, auf eine niedrigere Gesamtfreiheitsstrafe<br />

erkannt hätte.<br />

3. Die weitergehenden Revisionen der Angeklagten B. <strong>und</strong> P. sowie das Rechtsmittel des Angeklagten M. haben -<br />

auch mit Blick auf die von den Beschwerdeführern M. <strong>und</strong> B. umfänglich erhobenen Verfahrensrügen - aus den<br />

Gründen der Antragsschriften des Generalb<strong>und</strong>esanwalts keinen Erfolg. Der näheren Erörterung bedarf insoweit nur<br />

Folgendes: Im Ergebnis zu Recht ist das Landgericht davon ausgegangen, dass die Angeklagten M. <strong>und</strong> B. sich in<br />

den Fällen der Verurteilungen wegen Bankrotts jeweils nach § 283 Abs. 1 Nr. 6 <strong>und</strong> Nr. 8 StGB strafbar gemacht<br />

haben.<br />

- 94 -


a) Hierzu hat die Strafkammer festgestellt, dass der Angeklagte M. , der faktischer Geschäftsführer eines in Form<br />

einer GmbH geführten Speditionsunternehmens war, im Laufe des Jahres 2002 den Plan fasste, dieses <strong>und</strong> weitere,<br />

später von ihm ebenfalls als faktischer Geschäftsführer beherrschte Gesellschaften unter Einschaltung eines sog.<br />

Firmenbestatters verdeckt zu liquidieren. Zum jeweils geplanten Ende des Unternehmens sollten Forderungen der<br />

Gläubiger - insbesondere die in betrügerischer Absicht durch Stoßbetankungen der Fahrzeuge begründeten - nicht<br />

mehr erfüllt <strong>und</strong> die unternehmerische Tätigkeit mit einer Nachfolgegesellschaft fortgeführt werden. Dazu bediente<br />

sich der Angeklagte M. eines in Berlin ansässigen Dienstleistungsunternehmens - des sog. Firmenbestatters -, das<br />

gegen ein von den Angeklagten zu zahlendes Entgelt die Abwicklung übernahm. Teil dieser Dienstleistung war es,<br />

Personen zu finden - im internen Sprachgebrauch "Strohgeschäftsführer" genannt -, auf die die Geschäftsanteile zum<br />

Kaufpreis von einem Euro übertragen wurden <strong>und</strong> die das Amt des Geschäftsführers übernahmen. Diese veräußerten<br />

die Anteile nach wenigen Wochen an im europäischen Ausland lebende Personen weiter, die sich - teilweise nach<br />

Umfirmierung der Gesellschaft, die der weiteren Verschleierung diente - wiederum als Geschäftsführer einsetzen<br />

ließen. Auch diese Personen wählte der Firmenbestatter aus <strong>und</strong> wies sie an, wie sie sich bei den notariell beurk<strong>und</strong>eten<br />

Anteilsübertragungen <strong>und</strong> Geschäftsführerbestellungen zu verhalten hatten. Bei etwaigen Nachfragen von Gläubigern<br />

bereitete der Firmenbestatter - in der Regel hinhaltende - Schreiben vor, die von den neuen Geschäftsführern<br />

unterschrieben werden mussten; zum Teil leisteten sie auch Blankounterschriften, die für solche Zwecke verwendet<br />

wurden. Für ihre Bereitschaft, als "Strohgeschäftsführer" zu agieren, erhielten die ausgewählten Personen, bei denen<br />

es sich regelmäßig um Rentner oder Empfänger von Arbeitslosengeld II handelte, einmalige Zahlungen in Höhe von<br />

500 oder 1.000 €. Sie waren sämtlich nicht in der Lage, ein Speditionsunternehmen zu führen <strong>und</strong> hatten daran auch<br />

kein Interesse. Im Vorfeld der Anteilsübertragungen vernichteten <strong>und</strong>/oder versteckten die Angeklagten teilweise<br />

Geschäftsunterlagen, teilweise wurden diese auch an den Firmenbestatter übergeben, ohne dass sie allerdings den<br />

neuen Geschäftsführern zum Zwecke der Fortführung der Gesellschaft zur Verfügung gestellt wurden; sie sollten<br />

vielmehr dem Zugriff der Gläubiger <strong>und</strong> eines etwaigen Insolvenzverwalters dauerhaft entzogen werden. Ein Teil der<br />

Unterlagen wurde aus diesem Gr<strong>und</strong> - neben denen anderer Gesellschaften - ungeordnet auf Paletten an einen der<br />

"Strohgeschäftsführer" in Griechenland versandt. Die Geschäfte der auf diese Weise übertragenen Gesellschaften<br />

führte ein ebenfalls von dem Angeklagten M. beherrschtes Nachfolgeunternehmen weiter, das - jedenfalls soweit<br />

erforderlich - die Fahrzeuge <strong>und</strong> das Personal <strong>und</strong> teilweise auch die Büroausstattung <strong>und</strong> die -räumlichkeiten übernahm.<br />

Mit der Liquidation dieser Unternehmenswerte waren die Angeklagten jeweils noch nach den Anteilsübertragungen<br />

befasst. Ebenso wurden die in betrügerischer Absicht eingesetzten Tankkarten der Unternehmen noch nach<br />

der Anteilsübertragung auf Weisung des Angeklagten M. verwendet, um Benzinvorräte für die Nachfolgeunternehmen<br />

in illegalen Tanklagern anzulegen bzw. weiter aufzufüllen. In einigen Fällen hoben die von dem Angeklagten<br />

M. eingesetzten früheren Geschäftsführer - auch der Angeklagte B. - nach der offiziellen Veräußerung der Gesellschaft<br />

noch die auf dem Geschäftskonto befindlichen bzw. dort noch eingehenden Guthabenbeträge ab <strong>und</strong> gaben<br />

das Geld an ihn weiter. Nach diesem Muster verfuhr der Angeklagte M. bei der A. Spedition GmbH, deren nomineller<br />

Geschäftsführer bis zur Anteilsveräußerung im Oktober 2002 sein Vater gewesen war, bei der R. GmbH (Geschäftsführer<br />

vor der Anteilsveräußerung im September 2004: zunächst die Lebensgefährtin des Angeklagten <strong>und</strong><br />

sodann der gesondert Verfolgte T. ), bei der S L. GmbH (Geschäftsführer vor der Anteilsveräußerung im November<br />

2005: der Angeklagte B. , der mit dem Angeklagten M. arbeitsteilig zusammenwirkte) <strong>und</strong> bei der I GmbH (Geschäftsführer<br />

vor der Anteilsveräußerung im Juni 2005: der Angeklagte P. ), die von vornherein in erster Linie dazu<br />

bestimmt war, Dieseltreibstoff betrügerisch zu erlangen <strong>und</strong> ansonsten keine nennenswerte Geschäftstätigkeit entfaltete.<br />

In gleicher Weise agierte der Angeklagte B. bei der von ihm auch als eingetragener Geschäftsführer geleiteten<br />

& GmbH, deren Speditionsgeschäfte die R. GmbH weiter führte.<br />

b) aa) Das Landgericht hat mit Blick auf die teilweise Vernichtung <strong>und</strong> letztlich vollständige Entziehung der gesamten<br />

Geschäftsunterlagen - rechtlich unbedenklich - den Tatbestand des § 283 Abs. 1 Nr. 6 StGB als erfüllt angesehen:<br />

Es handelte sich insoweit um Handelsbücher <strong>und</strong> sonstige Unterlagen, zu deren Aufbewahrung die durchweg in der<br />

wirtschaftlichen Krise befindlichen Gesellschaften verpflichtet waren; durch ihre Unterdrückung wurde auch die<br />

Übersicht über ihren Vermögensstand erschwert.<br />

bb) Auch die Annahme der Strafkammer, in der Übertragung der Unternehmen auf einen zur Fortführung des Geschäfts<br />

ungeeigneten <strong>und</strong> unwilligen Strohmann liege eine Verschleierung der wirklichen geschäftlichen Verhältnisse<br />

im Sinne von § 283 Abs. 1 Nr. 8 Alt. 2 StGB, hält im Ergebnis sachlich-rechtlicher Prüfung stand. Mit dem<br />

Merkmal der "geschäftlichen Verhältnisse" sind über die Vermögensverhältnisse im engeren Sinn hinaus die Umstände<br />

angesprochen, die für die Beurteilung der Kreditwürdigkeit des in der Krise befindlichen Schuldners erheblich<br />

- 95 -


sind. Da der Tatbestand mit Blick auf die Gläubigerinteressen auszulegen ist, geht es bei der Tathandlung des Verschleierns<br />

zwar in erster Linie um die unrichtige Darstellung der Vermögensverhältnisse (BGH, Beschluss vom 24.<br />

März 2009 - 5 StR 353/08, NStZ 2009, 635, 636 mwN). Zu den geschäftlichen Verhältnissen zählen aber auch<br />

gr<strong>und</strong>legende unternehmerische Gesichtspunkte, namentlich Investitionsvorhaben, Planungsmaßnahmen <strong>und</strong> die<br />

zukünftige Entwicklung des Unternehmens (Kümmel, wistra 2012, 165, 168; LK/Tiedemann, 12. Aufl., § 283 Rn.<br />

173). Insbesondere über letztere wurden die Gläubiger vorliegend getäuscht, weil durch den Wechsel des Gesellschafters/Geschäftsführers<br />

ohne die Absicht, das Unternehmen fortzuführen, verschleiert wurde, dass die Gesellschaften<br />

tatsächlich von den Angeklagten liquidiert wurden <strong>und</strong> mangels jeglicher weiterer unternehmerischer Tätigkeit<br />

bereits feststand, dass sie die entstandenen Verbindlichkeiten auf keinen Fall würden begleichen können <strong>und</strong><br />

dies auch nicht wollten. Dadurch sowie durch die durchgeführten weiteren Veräußerungen <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen<br />

Sitzverlegungen ins Ausland konnten Gläubiger davon abgehalten werden, in Vermögensgegenstände der Gesellschaften<br />

zu vollstrecken (vgl. dazu BGH aaO). Angesichts des alleinigen Ziels der Gläubigerbenachteiligung<br />

waren diese Handlungen auch erkennbar grob wirtschaftswidrig.<br />

c) Allerdings hat sich das Landgericht nicht mit der Frage befasst, ob die insoweit maßgeblichen Bankrotthandlungen<br />

den Angeklagten auch als täterschaftliches Handeln zugerechnet werden können. Sie stellt sich, weil es sich bei<br />

dem Tatbestand des Bankrotts nach § 283 StGB um ein Sonderdelikt des Schuldners handelt; ist der Schuldner - wie<br />

hier - eine juristische Person, die nur durch ihre Organe/Vertreter handeln kann, so ist die Zurechnung der Schuldnereigenschaft<br />

über § 14 StGB vorzunehmen (BGH, Beschluss vom 10. Februar 2009 - 3 StR 372/08, NJW 2009,<br />

2225, 2226 mwN; zu den Zurechnungskriterien nach Aufgabe der Interessentheorie durch die Rechtsprechung des<br />

B<strong>und</strong>esgerichtshofs vgl. BGH, Beschluss vom 15. Mai 2012 - 3 StR 118/11, NJW 2012, 2366, 2368 f., zur Veröffentlichung<br />

in BGHSt bestimmt). Im Ergebnis gefährden die fehlenden Ausführungen dazu den Bestand des angefochtenen<br />

Urteils aber nicht.<br />

aa) Die Einhaltung der außerstrafrechtlichen Aufbewahrungspflicht, deren Verletzung die Strafbarkeit nach § 283<br />

Abs. 1 Nr. 6 StGB begründet, hatten bei den Gesellschaften deren Organe bzw. Vertretungsberechtigte zu gewährleisten<br />

(vgl. BGH, Beschluss vom 15. Mai 2012 - 3 StR 118/11, NJW 2012, 2366, 2369), also der Angeklagte M. als<br />

faktischer <strong>und</strong> der Angeklagte B. in den ihn betreffenden Fällen als eingetragener Geschäftsführer.<br />

bb) Die den Tatbestand des § 283 Abs. 1 Nr. 8 StGB begründenden Tathandlungen begingen die Angeklagten nur<br />

zum Teil selbst, indem sie die Geschäftsanteile veräußerten. Dies allein begründet die Strafbarkeit - jedenfalls wegen<br />

vollendeten Bankrotts - indes noch nicht, weil der formelle Akt der Anteilsübertragung für sich betrachtet - auch im<br />

Zusammenhang mit dem Ziel der "Firmenbestattung" - kein vollendetes Verschleiern der geschäftlichen Verhältnisse<br />

darstellt (Brand/Reschke, ZIP 2010, 2134, 2135 f.; Kümmel, wistra 2012, 165, 168). Erst im Zusammenhang mit den<br />

weiteren Handlungen der Strohmänner, die sich nach dem Erwerb der Anteile selbst zu Geschäftsführern einsetzten<br />

<strong>und</strong> - wenn auch auf Weisung des eingeschalteten Firmenbestatters - die Gesellschaften an im Ausland lebende weitere<br />

Strohmänner veräußerten <strong>und</strong> zum Teil auch umfirmierten, wurden die Gläubiger im oben dargelegten Sinne<br />

über die geschäftlichen Verhältnisse der Unternehmen in die Irre geführt. Diese Handlungen können den Angeklagten<br />

jedoch nach § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet werden. Insoweit gilt: Die Angeklagten blieben auch nach den jeweiligen<br />

Anteilsveräußerungen <strong>und</strong> den Bestellungen der Strohmänner zu Geschäftsführern der Gesellschaften nach §<br />

14 StGB taugliche Täter des Bankrotts nach § 283 StGB. Nach einer in der Literatur <strong>und</strong> insbesondere in der instanzgerichtlichen<br />

Rechtsprechung im Vordringen befindlichen Auffassung soll dies schon daraus folgen, dass sowohl<br />

die Anteilsübertragung als auch sämtliche Gesellschafterbeschlüsse, mit denen der frühere Geschäftsführer<br />

abberufen <strong>und</strong> der neue bestellt, die Firma geändert oder ihr Sitz verlegt wird, wegen der damit verb<strong>und</strong>enen <strong>und</strong><br />

intendierten Gläubigerbenachteiligung sittenwidrig im Sinne von § 138 Abs. 1 BGB <strong>und</strong> deshalb - mit Blick auf die<br />

Gesellschafterbeschlüsse in entsprechender Anwendung von § 241 Nr. 4 AktG - nichtig sind (Kilper, Unternehmensabwicklung<br />

außerhalb des gesetzlichen Insolvenz- <strong>und</strong> Liquidationsverfahrens in der GmbH, 2009, S. 371 ff.; Kümmel,<br />

wistra 2012, 165, 167; AG Memmingen, Beschluss vom 2. Dezember 2003 - HRB 8361, GmbHR 2004, 952,<br />

mit zust. Anm. Wachter, GmbHR 2004, 955 <strong>und</strong> Ries, Rpfleger 2004, 226; LG Potsdam, Beschluss vom 17. September<br />

2004 - 25 Qs 11/04, wistra 2005, 193, 195 f. mwN; für Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB auch Kleindiek,<br />

ZGR 2007, 276, 291 mwN; vgl. auch BGH, Beschluss vom 24. März 2009 - 5 StR 353/08, NStZ 2009, 635, 636;<br />

offen gelassen von BGH, Beschluss vom 30. Juli 2003 - 5 StR 221/03, BGHR StGB § 266a Abs. 1 Vorsatz 2, insoweit<br />

in BGHSt 48, 307 nicht abgedruckt; aA Brand/Reschke, ZIP 2010, 2134, 2136 f. mwN). Die Frage kann hier<br />

aufgr<strong>und</strong> der Besonderheiten des Falles indes offen bleiben: Der Angeklagte M. war - zum maßgeblichen Zeitpunkt -<br />

in keinem Fall eingetragener Geschäftsführer der von ihm faktisch beherrschten Gesellschaften, so dass die Frage<br />

- 96 -


einer Wirksamkeit der Gesellschafterbeschlüsse seine Strafbarkeit nicht berührt. Er war vielmehr vor den jeweiligen<br />

Anteilsveräußerungen faktischer Geschäftsführer der Gesellschaften <strong>und</strong> blieb dies auch über diesen Zeitpunkt hinaus<br />

bzw. übernahm die Stellung eines faktischen Liquidators (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 20. September 1999 -<br />

5 StR 729/98, NStZ 2000, 34, 36; Tiedemann in: Scholz, GmbHG, 10. Aufl., § 82 Rn. 46), indem er die Gesellschaften<br />

abwickelte. Der Angeklagte B. war zwar in beiden ihn betreffenden Fällen eingetragener Geschäftsführer der<br />

Gesellschaften; auf die zivilrechtliche Wirksamkeit seiner Abberufung kommt es aber ebenfalls nicht an, weil auch<br />

er - in einem Fall im arbeitsteiligen Zusammenwirken mit dem Angeklagten M. - diese Gesellschaften nach der Anteilsveräußerung<br />

faktisch weiter liquidierte. Daher kann beiden Angeklagten über § 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB das besondere<br />

persönliche Merkmal der Schuldnereigenschaft nach der neueren Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs zugerechnet<br />

werden. Sie wurden in ihrer Eigenschaft als (faktisches) Organ im Geschäftskreis der Gesellschaften tätig:<br />

Soweit sie rechtsgeschäftlich handelten, etwa bei der weiteren Verwendung der Tankkarten, zeigt sich ihr organschaftliches<br />

Handeln daran, dass die Rechtsfolgen - jedenfalls nach den Gr<strong>und</strong>sätzen der Anscheinsvollmacht - im<br />

Außenverhältnis unmittelbar die Gesellschaften trafen. Im Übrigen - etwa bei den Barabhebungen von den Geschäftskonten<br />

- handelten die Angeklagten mit Zustimmung der (neuen) Gesellschafter/Geschäftsführer, denn wesentlicher<br />

Bestandteil der Abrede zur Firmenbestattung war gerade, dass diese die Gesellschaften nicht fortführen<br />

wollten <strong>und</strong> den Angeklagten bei deren Abwicklung freie Hand ließen (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Mai 2012 - 3<br />

StR 118/11, NJW 2012, 2366, 2368 f.). Die jeweils neu eingesetzten Geschäftsführer wiesen ebenfalls gemäß § 14<br />

Abs. 1 Nr. 1 StGB die erforderliche Schuldnereigenschaft auf, so dass sie taugliche Mittäter des Bankrotts waren <strong>und</strong><br />

ihre täterschaftlich begangenen Beiträge zur Tatbestandverwirklichung den Angeklagten gemäß § 25 Abs. 2 StGB<br />

zugerechnet werden können. Sie handelten als Vertretungsberechtigte der Gesellschaft, denn ohne ihre besondere<br />

Organstellung als Geschäftsführer wären ihnen Handlungen wie Umfirmierung oder Sitzverlegung nicht möglich<br />

gewesen (vgl. BGH aaO). Auch insoweit kommt es auf die zivilrechtliche Wirksamkeit insbesondere ihrer Geschäftsführerbestellungen<br />

nicht an, denn im Falle der Unwirksamkeit wäre § 14 Abs. 1 StGB gleichwohl anzuwenden<br />

(§ 14 Abs. 3 StGB). Es kann deshalb offen bleiben, ob ihre Handlungen den Angeklagten nicht auch dann zugerechnet<br />

werden könnten, wenn die "Strohgeschäftsführer" selbst sich nur wegen Beihilfe zum Bankrott strafbar gemacht<br />

hätten, weil in ihrer Person das besondere persönliche Merkmal der Schuldnereigenschaft nicht vorlag.<br />

StGB § 283 Bankrott – Interessentheorie aufgegeben<br />

BGH, Beschhl. v. 15.05.2012 - 3 StR 118/11 - BGHSt 57, 229 = NJW 2012, 2366 = NStZ 2012, 630 = StV 2012, 729<br />

LS: Die Strafbarkeit des Geschäftsführers einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung wegen<br />

Bankrotts setzt nicht voraus, dass die Tathandlung im Interesse der Gesellschaft liegt (Aufgabe der<br />

"Interessentheorie").<br />

Der 3. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat auf Antrag des Generalb<strong>und</strong>esanwalts <strong>und</strong> nach Anhörung der Beschwerdeführer<br />

am 15. Mai 2012 gemäß § 349 Abs. 2 StPO einstimmig beschlossen: Die Revisionen der Angeklagten<br />

gegen das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 27. September 2010 werden verworfen.<br />

Die Beschwerdeführer haben die Kosten ihrer Rechtsmittel zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat die Angeklagten wegen Beihilfe zur Untreue in Tateinheit mit Beihilfe zum Bankrott zu Geldstrafen<br />

verurteilt, nachdem der Senat (mit Beschluss vom 10. Februar 2009 - 3 StR 372/08, NJW 2009, 2225) eine in<br />

derselben Sache zuvor ergangene Verurteilung wegen Beihilfe zum Bankrott aufgr<strong>und</strong> unzureichender Feststellungen<br />

aufgehoben hatte. Die gegen die (erneute) Verurteilung gerichteten Revisionen der Angeklagten, die sie auf<br />

Verfahrensrügen <strong>und</strong> sachlich-rechtliche Beanstandungen stützen, haben keinen Erfolg.<br />

I.<br />

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts waren die Angeklagten zu nahezu gleichen Teilen an der nach dem<br />

Tode des Vaters übernommenen G. S. Gruppe beteiligt. Der Angeklagte S. war Geschäftsführer der G. S. GmbH mit<br />

Sitz in E.. Diese Gesellschaft war Komplementärin der am selben Ort ansässigen G. S. GmbH & Co. KG (im Folgenden:<br />

S. KG), deren alleinige Kommanditisten der Angeklagte S. zu 51 Prozent <strong>und</strong> die Angeklagte L., geborene<br />

S., zu 49 Prozent waren. Die S. KG fungierte als Besitzgesellschaft <strong>und</strong> hielt die Anteile an der in N. ansässigen G.<br />

S. GmbH (im Folgenden: S. GmbH) sowie an der ebenfalls in N. ansässigen Se. Zucht- <strong>und</strong> Mastenten GmbH (im<br />

- 97 -


Folgenden: Se. GmbH), die wiederum die Anteile an weiteren Produktionsgesellschaften hielt. Der Angeklagte S.<br />

war auch in der S. GmbH <strong>und</strong> der Se. GmbH jeweils Geschäftsführer, der Angeklagten L. war Prokura erteilt. Die<br />

Angeklagten betrieben bis zum Jahr 2002 mit wirtschaftlichem Erfolg u.a. unter der Marke "B. Enten" die Entenzucht<br />

<strong>und</strong> den weltweiten Vertrieb von Entenprodukten. Ein Umsatzeinbruch führte im Frühjahr 2003 zu einem<br />

erhöhten Kreditbedarf. Es kam zu verschiedenen Verhandlungen mit den beiden Hausbanken. Als nach einem Gespräch<br />

am 13. Februar 2004 den Kreditwünschen nicht entsprochen wurde, erkannten die Angeklagten, dass der<br />

Bestand ihres Unternehmens ernsthaft in Gefahr war. Sie bemühten sich daraufhin - wie bereits zuvor - um eine<br />

Umschuldung <strong>und</strong> die Gewinnung eines weiteren Gesellschafters, blieben damit aber erfolglos. In dieser Situation<br />

bestellten die Angeklagten zum 1. März 2004 den ehemaligen Mitangeklagten K. zum Geschäftsführer der G. S.<br />

GmbH sowie der S. GmbH <strong>und</strong> der Se. GmbH. Der Angeklagte S. schied als Geschäftsführer aus, die Prokura der<br />

Angeklagten L. wurde widerrufen. Da der neue Geschäftsführer über keine Erfahrung in der Branche verfügte, blieben<br />

die Angeklagten weiter für die Gesellschaften tätig, wofür sie vom neuen Geschäftsführer pauschal jeweils<br />

250.000 € erhalten sollten. Wegen der angespannten Liquiditätslage der Gesellschaften vereinbarten die Angeklagten<br />

mit dem früheren Mitangeklagten eine rein erfolgsabhängige Geschäftsführervergütung. Es kam indes nur zu einem<br />

nach dieser Vereinbarung provisionspflichtigen Geschäftsabschluss mit einem Volumen von 1,67 Mio. €, weitere in<br />

Aus-sicht genommene Verträge kamen nicht zustande. In einem Gespräch mit Bankvertretern am 8. März 2004 kündigte<br />

K. an, zur Verbesserung der Liquidität Reserven aufzulösen. Die Bankvertreter untersagten ihm daraufhin<br />

weitere Verfügungen über den Banken zustehendes Sicherungsgut ohne deren Zustimmung, weil sie befürchteten, K.<br />

wolle Waren oder Güter verschleudern. Tatsächlich hatte er schon am 27. Februar 2004 zusammen mit dem Angeklagten<br />

S. 1.475 Tonnen Enten-fleisch zum Gesamtpreis von 1,67 Mio. € - <strong>und</strong> damit erheblich unter den Gestehungskosten<br />

- verkauft <strong>und</strong> dabei die Bezahlung mit LZB-Schecks vereinbart, die sodann nicht bei den Hausbanken,<br />

sondern bei anderen Banken eingelöst wurden. Die Hausbanken wurden davon nicht informiert, der Gegenwert der<br />

Schecks wurde nicht an diese abgeführt. Dies verstieß sowohl hinsichtlich der Preisgestaltung als auch hinsichtlich<br />

der Entgegennahme des Kaufpreises gegen die mit den Banken bestehende Globalzessionsabrede. Ab 1. März 2004<br />

ließ sich K. eingehende Schecks vorlegen <strong>und</strong> brachte diese unter Umgehung der Buchhaltung neu eröffneten Konten<br />

gut. Insgesamt reichte er in den folgenden Wochen Schecks im Wert von r<strong>und</strong> 3 Mio. € bei anderen Banken ein.<br />

In Absprache mit den Angeklagten, die auch sonst über alle wesentlichen Vorgänge informiert waren, verlagerte K.<br />

ab Ende März 2004 das operative Geschäft auf die "LM. GmbH". Diese Gesellschaft war die einzige innerhalb der S.<br />

-Firmengruppe, die keine unmittelbaren vertraglichen Beziehungen zu den Hausbanken hatte. Mit Schreiben vom 9.<br />

März 2004 verlangten die Hausbanken binnen drei Tagen u.a. die Vorlage eines Liquiditätsstatus <strong>und</strong> eine Übersicht<br />

über bereits veräußertes Sicherungsgut <strong>und</strong> drohten für den Fall des fruchtlosen Verstreichens der Frist mit der außerordentlichen<br />

Kündigung des Kreditengagements. K. vertröstete sie auf den 23. März 2004. Die Banken kündigten<br />

daraufhin am 15. März 2004 <strong>und</strong> am 23. März 2004 die gesamte Geschäftsverbindung <strong>und</strong> setzten für die bestehenden<br />

Verbindlichkeiten aller Gesellschaften, insgesamt fast 23 Mio. €, eine Zahlungsfrist bis zum 2. April 2004. Weder<br />

die S. GmbH noch die S. -Gruppe in ihrer Gesamtheit waren in der Lage, diese Forderung bei Fälligkeit oder in<br />

den folgenden drei Wochen zu begleichen. Anfang April 2004 stellte der Geschäftsführer K. in Absprache <strong>und</strong> nach<br />

Vereinbarung mit den Angeklagten der S. GmbH <strong>und</strong> der Se. GmbH drei Rechnungen über insgesamt fast 2 Mio. €,<br />

die nunmehr - entgegen der ursprünglichen Vereinbarung - auch eine erfolgsunabhängige Vergütung sowie Erfolgshonorare<br />

für tatsächlich nicht zustande gekommene Geschäfte zum Gegenstand hatten, <strong>und</strong> vereinnahmte diesen<br />

Betrag (abzüglich bereits erhaltener 250.000 €) letztlich aus dem Vermögen der S. GmbH. Nach der ursprünglichen<br />

Vereinbarung hätte ihm ein Anspruch in Höhe von allenfalls knapp 200.000 € zugestanden. Die Angeklagten waren<br />

einverstanden, weil sie sich aus den Beträgen, die K. erhielt, ihrerseits je 250.000 € erwarteten <strong>und</strong> mit Hilfe dieser<br />

Summe mit der zwischenzeitlich von ihnen erworbenen Gesellschaft "LM. GmbH" <strong>und</strong> der Marke "B. Enten" einen<br />

Neustart des Familienunternehmens schaffen wollten. Sie kannten die fehlende Berechtigung der Forderungen <strong>und</strong><br />

wussten zum Zeitpunkt ihrer Zustimmung um die wirtschaftliche Lage der Unternehmensgruppe, insbesondere, dass<br />

eine infolge der Kündigungen erforderliche fristgerechte Zahlung der bei den Banken bestehenden Verbindlichkeiten<br />

nicht geleistet werden konnte <strong>und</strong> sich die S. -Gruppe daher im Zustand der drohenden Zahlungsunfähigkeit befand.<br />

K. zahlte aus dem entnommenen Betrag an die beiden Angeklagten insgesamt 500.000 €. Über das Vermögen der S.<br />

GmbH <strong>und</strong> der Se. GmbH wurde auf Antrag der Banken das Insolvenzverfahren eröffnet.<br />

2. Das Landgericht hat das Verhalten des früheren Mitangeklagten K. - die Entnahme von r<strong>und</strong> 1,7 Mio. €, auf die<br />

ein Rechtsanspruch nicht bestand - als Untreue zum Nachteil der S. GmbH gewertet. Es hat ausgeführt, dass das<br />

Einverständnis der Angeklagten wegen der Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz der Gesellschaft durch die<br />

- 98 -


Entnahme unwirksam sei. Zugleich hat es das Verhalten als Bankrotthandlung nach § 283 Abs. 1 Nr. 1 StGB angesehen.<br />

Zwar habe der Geschäftsführer K. nicht im Interesse der S. GmbH, sondern eigennützig gehandelt, hierauf<br />

komme es indes nicht an. Das Verhalten der Angeklagten hat das Landgericht als Beihilfe zu den Taten des früheren<br />

Mitangeklagten K. beurteilt.<br />

II. Die gegen das Urteil von beiden Angeklagten übereinstimmend erhobenen Verfahrensrügen sind, wie vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt<br />

dargelegt, im Ergebnis unbegründet. Die Sachrüge hat ebenfalls keinen Rechtsfehler zum Nachteil<br />

der Angeklagten ergeben. Der näheren Erörterung bedarf insoweit lediglich die (zutreffende) rechtliche Würdigung<br />

des Landgerichts.<br />

1. Das Landgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass sich der frühere Mitangeklagte als Geschäftsführer der S.<br />

GmbH wegen Bankrotts unabhängig davon strafbar machte, dass er eigennützig <strong>und</strong> zum Schaden der Gesellschaft<br />

handelte, <strong>und</strong> die Angeklagten dazu Beihilfe leisteten.<br />

a) Der B<strong>und</strong>esgerichtshof ist bislang - die Rechtsprechung des Reichsgerichts (Urteil vom 29. März 1909 - III<br />

877/08, RGSt 42, 278, 282; aA indes RG, Urteil vom 22. Dezember 1938 - 2 D 581/38, RGSt 73, 68, 70) fortführend<br />

- in ständiger Rechtsprechung davon ausgegangen, dass der Geschäftsführer einer GmbH sich wegen Bankrotts nach<br />

§ 283 Abs. 1 Nr. 1, § 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB nur strafbar machen könne, wenn er die Tathandlung für die GmbH <strong>und</strong><br />

(zumindest auch) in deren Interesse vorgenommen hat (vgl. etwa BGH, Urteile vom 20. Mai 1981 - 3 StR 94/81,<br />

BGHSt 30, 127, 128; vom 5. Oktober 1954 - 2 StR 447/53, BGHSt 6, 314, 316 f.; vom 6. November 1986 - 1 StR<br />

327/86, BGHSt 34, 221, 223; Beschluss vom 14. Dezember 1999 - 5 StR 520/99, NStZ 2000, 206, 207, jeweils<br />

mwN; s. auch LK/Tiedemann, StGB, 12. Aufl., Vor §§ 283 ff. Rn. 79 ff.; Arloth, NStZ 1990, 570 ff.). Dieser als<br />

"Interessentheorie" bezeichneten Ansicht liegt die Auffassung zugr<strong>und</strong>e, dass das Gesellschaftsorgan nicht in dieser<br />

Eigenschaft handele, wenn ein Bezug zum - durch den Interessenkreis bestimmten - Geschäftsbetrieb fehle (RG,<br />

Urteil vom 29. März 1909 - III 877/08, RGSt 42, 278, 282). Daher hat die bisherige Rechtsprechung eine Strafbarkeit<br />

wegen Bankrotts abgelehnt, wenn der Vertreter ausschließlich im eigenen Interesse handelt.<br />

b) An der Interessentheorie hält der Senat nicht weiter fest, da sich weder aus dem Gesetzeswortlaut noch nach dem<br />

Gesetzeszweck eine solche auf das Interesse des Vertretenen abstellende Einschränkung ergibt <strong>und</strong> sie berechtigte<br />

Kritik erfahren hat.<br />

aa) Der Gesetzeswortlaut stellt für die Zurechnung nicht auf das Interesse des Vertretenen ab: Nach § 14 Abs. 1 Nr. 1<br />

Alt. 1 StGB kommt die Strafbarkeit des Geschäftsführers einer GmbH bei Bankrotttaten in Betracht, wenn er "als<br />

vertretungsberechtigtes Organ einer juristischen Person" gehandelt hat. Dies setzt neben der Organstellung als solcher<br />

voraus, dass der Vertretungsberechtigte in seiner Eigenschaft als Organ gehandelt hat (vgl. BT-Drucks. 5/1319<br />

S. 63; BT-Drucks. 14/8998 S. 8: " 'in Ausübung' seiner Funktion"). Eine nähere Konkretisierung, wann ein Vertretungsberechtigter<br />

gerade in dieser Eigenschaft handelt, enthält der Gesetzeswortlaut nicht.<br />

bb) Der vom Gesetzgeber mit der Regelung des § 14 StGB verfolgte Zweck besteht - ebenso wie bei dem zuvor<br />

geltenden § 50a StGB - darin, den Anwendungsbereich von Straftatbeständen allgemein auf Personen zu erweitern,<br />

die in einem bestimmten Vertretungs- oder Auftragsverhältnis für den Normadressaten handeln, <strong>und</strong> die kriminalpolitisch<br />

nicht erträgliche Lücke zu schließen, die sich daraus ergibt, dass der Normadressat mangels Handlung <strong>und</strong> der<br />

Handelnde deshalb nicht zur Verantwortung gezogen werden kann, weil er nicht Normadressat ist (BT-Drucks.<br />

5/1319 S. 62). Dieser Regelungs-zweck spricht nicht für eine einschränkende Normauslegung.<br />

cc) Mit der dargelegten Intention des § 14 StGB lässt sich insbesondere nicht vereinbaren, dass die Interessentheorie<br />

im Ergebnis bei einer Vielzahl von Taten einer Strafbarkeit nach § 283 StGB entgegensteht, weil der Vermögensträger<br />

als juristische Person <strong>und</strong> die handelnde natürliche Person auseinanderfallen. So lässt die Interessentheorie für<br />

die Insolvenzdelikte nur einen geringen Anwendungsbereich, wenn Schuldner im Sinne des § 283 StGB eine Handelsgesellschaft<br />

ist (LK/Tiedemann, StGB, 12. Aufl., Vor §§ 283 ff. Rn. 80; SK-StGB/Hoyer, § 283 Rn. 103 [Stand:<br />

März 2002]; MünchKommStGB/Radtke, 1. Aufl., Vor §§ 283 ff. Rn. 55; Labsch, wistra 1985, 1, 6 ff.; jeweils<br />

mwN); denn die in § 283 StGB aufgezählten Bankrotthandlungen widersprechen ganz überwiegend dem wirtschaftlichen<br />

Interesse der Gesellschaft. Damit läuft bei Anwendung der Interessentheorie der vom Gesetzgeber intendierte<br />

Gläubiger-schutz in der wirtschaftlichen Krise insbesondere von Kapitalgesellschaften bei Anwendung der Interessentheorie<br />

weitgehend leer (vgl. Winkler, jurisPR-StrafR 16/2009 Anm. 1). Besonders augenfällig wird dies in Fällen<br />

der Ein-Mann-GmbH, in denen der Gesellschafter/Geschäftsführer der Gesellschaft angesichts der drohenden<br />

Insolvenz zur Benachteiligung der Gläubiger Vermögen entzieht <strong>und</strong> auf seine privaten Konten umleitet, nach wirtschaftlicher<br />

Betrachtung also aus eigennützigen Motiven handelt. Nach der Interessentheorie ist er nicht des Bankrotts<br />

schuldig, obwohl er die Insolvenz gezielt herbeigeführt hat (vgl. BGH, Urteil vom 20. Mai 1981 - 3 StR 94/81,<br />

- 99 -


BGHSt 30, 127, 128 f.; kritisch dazu LK/Tiedemann, StGB, 12. Aufl., Vor §§ 283 ff. Rn. 80, 85). Während Einzelkaufleute<br />

in vergleichbaren Fällen regelmäßig wegen Bankrotts strafbar sind, entstehen so Strafbarkeitslücken für<br />

Vertreter oder Organe von Kapitalgesellschaften. Dies lässt sich nicht mit der Intention des Gesetzgebers vereinbaren,<br />

durch die Regelung des § 14 StGB Strafbarkeitslücken zu schließen. Zudem wird angesichts der besonderen<br />

Insolvenzanfälligkeit von in der Rechtsform der GmbH betriebenen Unternehmen der Schutzzweck der Insolvenzdelikte<br />

konterkariert (vgl. BGH, Beschluss vom 1. September 2009 - 1 StR 301/09, BGHR StGB § 283 Abs. 1 Geschäftsführer<br />

4; SK-StGB/Hoyer, § 283 Rn. 103 [Stand: März 2002]; MünchKommStGB/Radtke, 1. Aufl., Vor §§<br />

283 ff. Rn. 55). Das gilt insbesondere, wenn man die Interessenformel konsequent auch auf die Bankrotthandlungen<br />

anwendet, die die Verletzung von Buchführungs- oder Bilanzierungspflichten sanktionieren (§ 283 Abs. 1 Nr. 5-7<br />

StGB): Entfällt wegen des fehlenden Interesses der Gesellschaft die Bankrottstrafbarkeit, scheitert eine Verurteilung<br />

wegen Untreue regelmäßig am nicht festzustellenden oder nicht nachzuweisenden Vermögensschaden der Gesellschaft<br />

(vgl. Arloth, NStZ 1990, 570, 572; LK/Tiedemann, StGB, 12. Aufl., Vor §§ 283 ff. Rn. 84). Über die nicht<br />

gerechtfertigte Privilegierung von GmbH-Geschäftsführern gegenüber Einzelkaufleuten hinaus wird der Zweck der §<br />

283 Abs. 1 Nr. 5-8, § 283b StGB unterlaufen, der Verstöße gegen Buchführungs- <strong>und</strong> Bilanzierungsvorschriften<br />

wegen der besonderen Gefahr von Fehleinschätzungen mit schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen als eigenständiges<br />

Unrecht erfassen will (vgl. Arloth, NStZ 1990, 570, 572). Angesichts der dort genannten objektiven Anforderungen<br />

wäre kaum verständlich, dass daneben noch auf ein - zu-dem oft schwerlich zu ermittelndes - subjektives<br />

Interesse abzustellen sein soll (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2011 - 5 StR 122/11, StV 2012, 216; S/S-<br />

Perron, StGB, 28. Aufl., § 14 Rn. 26 mwN). Es besteht auch kein Anlass, bei der Auslegung des § 14 StGB im Hinblick<br />

auf § 283 Abs. 1 Nr. 5-7, § 283b StGB andere Anforderungen zu stellen als etwa im Rahmen des § 283 Abs. 1<br />

Nr. 1 StGB, da § 14 StGB eine der Rechtsvereinheitlichung dienende allgemeine Vorschrift darstellt (BT-Drucks.<br />

5/1319 S. 62). Überdies erscheint es problematisch, bei Fahrlässigkeits- <strong>und</strong> Unterlassungstaten die Zurechnung<br />

davon abhängig zu machen, in wessen Interesse der Vertreter handelte oder untätig blieb (vgl. S/S-Perron, StGB, 28.<br />

Aufl., § 14 Rn. 26). Ähnliches gilt bei nicht eigennützigem Verhalten, etwa bei der Zerstörung von Vermögensbestandteilen<br />

(§ 283 Abs. 1 Nr. 1 Var. 3 StGB), da ein solches bei einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise (vgl. BGH,<br />

Urteil vom 20. Mai 1981 - 3 StR 94/81, BGHSt 30, 127, 128 mwN) weder im Interesse des Vertreters noch des Vertretenen<br />

liegt (vgl. Brand, NStZ 2010, 9, 11).<br />

dd) In der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs ist die Interessentheorie bei Vertretern von Personengesellschaften<br />

für die praktisch relevanten Fälle, dass die Gesellschafter der Bankrotthandlung zustimmen (vgl. dazu Labsch,<br />

wistra 1985, 1, 7), zudem nicht durchgehalten worden; ein Handeln, das aus wirtschaftlicher Sicht im vollständigen<br />

Widerstreit zu den Interessen der vertretenen Gesellschaft steht, soll etwa bei der Kommanditgesellschaft gleichwohl<br />

von dem durch das Einverständnis erweiterten Auftrag des Schuldners - also der Gesellschaft - gedeckt sein, wenn<br />

der Komplementär zustimmt (BGH, Urteil vom 6. November 1986 - 1 StR 327/86, BGHSt 34, 221, 223 f. = BGH<br />

StV 1988, 14, 15 m. Anm. Weber). Die Einschränkung der Interessentheorie sei insbesondere aus Gründen des<br />

Gläubigerschutzes geboten (BGH, Urteil vom 6. November 1986 - 1 StR 327/86, BGHSt 34, 221, 224). Diese Rechtsprechung<br />

hat der B<strong>und</strong>esgerichtshof in der Folge auch auf Fälle der GmbH & Co. KG erstreckt, in denen der Geschäftsführer<br />

einer Komplementär-GmbH die Bankrotthandlungen mit Zustimmung der Gesellschafter dieser Kapitalgesellschaft<br />

<strong>und</strong> damit der Komplementärin vorgenommen hatte (BGH, Urteil vom 12. Mai 1989 - 3 StR 55/89,<br />

wistra 1989, 264, 267; aA BGH, Urteil vom 29. November 1983 - 5 StR 616/83, wistra 1984, 71; BGH, Urteil vom<br />

17. März 1987 - 5 StR 272/86, JR 1988, 254, 255 f. m. abl. Anm. Gössel; offen gelassen von BGH, Urteil vom 3.<br />

Mai 1991 - 2 StR 613/90, NJW 1992, 250, 252). Der Gläubigerschutz hat aber bei den in der Rechtsform der GmbH<br />

betriebenen Gesellschaften kein geringeres Gewicht als bei Personengesellschaften oder insbesondere der Mischform<br />

der GmbH & Co. KG, so dass mit dieser Argumentation nicht nachvollziehbar erscheint, warum die Zustimmung der<br />

Gesellschafter einer Komplementär-GmbH den Auftrag des Geschäftsführers erweitern kann, das Einverständnis der<br />

Gesellschafter bei einer reinen Kapitalgesellschaft für die Frage, ob der Geschäftsführer als Organ oder im Auftrag<br />

der Gesellschaft handelt, hingegen bedeutungslos sein soll. Auch in Bezug auf die Buchführungs- <strong>und</strong> Bilanzdelikte<br />

hat der B<strong>und</strong>es-gerichtshof nicht einheitlich an der Interessentheorie festgehalten, sondern die-se - teils ausdrücklich,<br />

teils stillschweigend - in Frage gestellt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 15. Dezember 2011 - 5 StR 122/11, StV 2012,<br />

216; vom 24. Mai 2009 - 5 StR 353/08, NStZ 2009, 635, 636; vom 18. Januar 1995 - 2 StR 693/94, wistra 1995, 146<br />

f.; anders etwa BGH, Beschluss vom 14. Dezember 1999 - 5 StR 520/99, NStZ 2000, 206, 207).<br />

c) Kommt es für ein Handeln als Vertretungsberechtigter im Sinne des § 14 Abs. 1 StGB nicht (mehr) darauf an, ob<br />

dieses im Interesse des Geschäftsherrn liegt, ist auf andere taugliche Abgrenzungskriterien Bedacht zu nehmen (dazu<br />

- 100 -


ereits BGH, Beschlüsse vom 10. Februar 2009 - 3 StR 372/08, NJW 2009, 2225, 2228; vom 15. September 2011 - 3<br />

StR 118/11, NStZ 2012, 89, 91). Entscheidend bleibt, dass der Handelnde gerade in seiner Eigenschaft als vertretungsberechtigtes<br />

Organ, also im Geschäftskreis des Vertretenen (BGH aaO), <strong>und</strong> nicht bloß "bei Gelegenheit" tätig<br />

wird (vgl. BT-Drucks. 14/8998 S. 8; 5/1319 S. 63). Dabei kann zwischen rechtsgeschäftlichem <strong>und</strong> sonstigem Handeln<br />

zu differenzieren sein (vgl. Münch-KommStGB/Radtke, 2. Aufl., § 14 Rn. 65 ff.; S/S-Perron, StGB, 28. Aufl., §<br />

14 Rn. 26; ausdrücklich anders noch BGH, Urteil vom 20. Mai 1981 - 3 StR 94/81, BGHSt 30, 127, 129). Handelt<br />

ein Organwalter rechtsgeschäftlich, ist ein organschaftliches Tätigwerden jedenfalls dann naheliegend gegeben,<br />

wenn er im Namen der juristischen Person auftritt oder für diese aufgr<strong>und</strong> der bestehenden Vertretungsmacht bindende<br />

Rechtsfolgen zumindest im Außenverhältnis herbeiführt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Februar 2009 - 3 StR<br />

372/08, NJW 2009, 2225, 2228; vom 15. September 2011 - 3 StR 118/11, NStZ 2012, 89, 91 m. Anm. Radtke/Hoffmann).<br />

Das Handeln des Vertretungsberechtigten als Organ wird etwa dadurch deutlich, dass er lediglich<br />

aufgr<strong>und</strong> seiner besonderen Organstellung überhaupt in der Lage ist, die vertretene juristische Person rechtlich zu<br />

binden. Diese Wirkung könnte er nicht herbeiführen, wenn er nicht als vertretungsberechtigtes Organ, sondern -<br />

gleichsam wie ein Außenstehender - als natürliche (Privat-) Person agierte (vgl. Arloth, NStZ 1990, 570, 574). Eine<br />

Zurechnung der Schuldnereigenschaft ist auch in den Fällen möglich, in denen der Vertretungsberechtigte aufgr<strong>und</strong><br />

seiner Stellung außerstraf-rechtliche, aber gleichwohl strafbewehrte Pflichten des Vertretenen zu erfüllen hat (s.<br />

LK/Tiedemann, 12. Aufl., Vor §§ 283 ff. Rn. 84; NK-StGB-Kindhäuser, 3. Aufl., Vor §§ 283 bis 283d Rn. 54). Dagegen<br />

erscheint die Abgrenzung bei einem bloß faktischen Handeln problematischer. Ein solches kann jedenfalls<br />

dann Gr<strong>und</strong>lage für eine Zurechnung sein, wenn eine Zustimmung des Vertretenen vorliegt (vgl. BGH, Beschluss<br />

vom 15. September 2011 - 3 StR 118/11, NStZ 2012, 89, 91; weitergehend BGH, Beschluss vom 10. Januar 2012 - 4<br />

ARs 17/11, wistra 2012, 191; s. auch MünchKommStGB/Radtke, 2. Aufl., § 14 Rn. 67 f.; Valerius, NZWiSt 2012,<br />

65, 66). Es bedarf hier keiner abschließenden Klärung, unter welchen Voraussetzungen im Einzelnen bei rein tatsächlichen<br />

Verhaltensweisen eine Zurechnung nach § 14 StGB in Betracht kommt; denn ein solches liegt nicht vor.<br />

Der Geschäftsführer K. ist rechtsgeschäftlich tätig geworden. Er verschaffte sich die Beträge im Wesentlichen durch<br />

Überweisungen, die er als Geschäftsführer der GmbH mit Wirkung für diese vornahm.<br />

d) Der Senat ist durch die bislang ergangenen Entscheidungen nicht daran gehindert, eine Strafbarkeit der Angeklagten<br />

wegen Beihilfe zum Bankrott anzunehmen, obschon der Geschäftsführer der S. GmbH Gesellschaftsvermögen<br />

nicht im Interesse der GmbH, sondern in eigenem Interesse beiseite schaffte. Auf Anfrage (§ 132 Abs. 3 Satz 1<br />

GVG) haben sämtliche anderen Strafsenate erklärt, an ihrer insoweit entgegenstehenden früheren Rechtsauffassung<br />

nicht festzuhalten (vgl. BGH, Beschlüsse vom 29. November 2011 - 1 ARs 19/11, wistra 2012, 113; vom 22. Dezember<br />

2011 - 2 ARs 403/11; vom 10. Januar 2012 - 4 ARs 17/11, wistra 2012, 191; vom 7. Februar 2012 - 5 ARs<br />

64/11). Auch der Senat selbst gibt seine entgegenstehende Rechtsansicht auf.<br />

2. Das Landgericht hat die Strafbarkeit wegen Beihilfe zur Untreue (§§ 266, 27 StGB) ebenfalls rechtsfehlerfrei<br />

angenommen. Der Geschäftsführer K. verursachte durch die vorgenommenen Verfügungen einen Vermögensnachteil<br />

der S. GmbH. Dies geschah pflichtwidrig, auch wenn die Angeklagten - durch die G. S. GmbH <strong>und</strong> die S. KG<br />

vermittelt - letztlich als natürliche Personen hinter der S. GmbH standen <strong>und</strong> damit einverstanden waren; denn ein<br />

solches Einverständnis ist jedenfalls dann unbeachtlich, wenn die betreffenden Verfügungen - wie hier - die wirtschaftliche<br />

Existenz der Gesellschaft gefährden. Hierzu gilt im Einzelnen: Ein - wirksames - Einverständnis des<br />

Inhabers des zu betreuenden Vermögens schließt bereits die Tatbestandsmäßigkeit aus, weil die Pflichtwidrigkeit des<br />

Handelns Merkmal des Untreuetatbestandes ist (BGH, Urteil vom 24. Juni 2010 - 3 StR 90/10, BGHR StGB § 266<br />

Abs. 1 Missbrauch 7 mwN). Vermögensträgerin ist die GmbH selbst, Vermögensträger sind nicht die einzelnen Gesellschafter.<br />

Allerdings tritt an die Stelle des Vermögensinhabers bei juristischen Personen deren oberstes Willensorgan<br />

für die Regelung der inneren An-gelegenheiten (BGH aaO), bei einer GmbH also die Gesamtheit ihrer Gesellschafter<br />

(BGH, Urteil vom 27. August 2010 - 2 StR 111/09, BGHSt 55, 266, 278). Indes kann auch diese nicht unbeschränkt<br />

in Vermögensverfügungen einwilligen. Vielmehr ist ein Einverständnis nach der gefestigten Rechtsprechung<br />

des B<strong>und</strong>esgerichtshofs, an welcher der Senat festhält, bei Gesellschaften mit beschränkter Haftung ausgeschlossen,<br />

wenn unter Verstoß gegen Gesellschaftsrecht die wirtschaftliche Existenz der Gesellschaft gefährdet wird,<br />

namentlich durch Beeinträchtigung des Stammkapitals entgegen § 30 GmbHG, durch Herbeiführung oder Vertiefung<br />

einer Überschuldung oder durch Gefährdung der Liquidität (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 30. August 2011 - 3 StR<br />

228/11, NStZ-RR 2012, 80; Beschluss vom 31. Juli 2009 - 2 StR 95/09, BGHSt 54, 52, 57 f.; Beschluss vom 30.<br />

September 2004 - 4 StR 381/04, NStZ-RR 2005, 86; Urteil vom 13. Mai 2004 - 5 StR 73/03, BGHSt 49, 147, 157 ff.<br />

[zur AG]; Urteil vom 20. Juni 1999 - 1 StR 668/98, NJW 2000, 154, 155; s. auch Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., §<br />

- 101 -


266 Rn. 20a; MünchKommStGB/Dierlamm, 2006, § 266 Rn. 133 ff.; LK/Rönnau, StGB, 12. Aufl., Vor § 32 Rn.<br />

178; LK/Schünemann, StGB, 11. Aufl., § 266 Rn. 125; ablehnend SK-StGB/Hoyer, § 266 Rn. 70 [Stand: Juli 2010];<br />

S/S-Perron, StGB, 28. Aufl., § 266 Rn. 21b; Fischer, StGB, 59. Aufl., § 266 Rn. 99; SSW-StGB/Saliger, 2009, § 266<br />

Rn. 86). Eine solche Sachlage, die einem wirksamen Einverständnis entgegensteht, ist durch die vom Landgericht<br />

getroffenen Feststellungen belegt. Es stellt entgegen einer vielfach im Schrifttum geäußerten Auffassung (s. z.B.<br />

Labsch, wistra 1985, 1, 7 f.; Arloth, NStZ 1990, 570, 573; Kasiske JR 2011, 235, 240; SK-StGB/Hoyer, § 266 Rn.<br />

73 [Stand: Juli 2010]) keinen Wertungswiderspruch dar, die mit Zustimmung der Gesellschafter vorgenommene<br />

Entnahme von Vermögenswerten durch den Geschäftsführer sowohl als Bankrott als auch als Untreue zu beurteilen.<br />

Ein Eingriff in das Gesellschaftsvermögen kann gleichzeitig verschiedene Rechtsgüter beeinträchtigen, die durch die<br />

unterschiedlichen Strafvorschriften geschützt sind: Während der Untreuetatbestand das Vermögen des Treugebers<br />

wahren soll, dienen die Bankrottbestimmungen dem Schutz der Insolvenzmasse im Interesse der Gläubiger (vgl.<br />

BGH, Urteile vom 20. Juli 1999 - 1 StR 668/98, NJW 2000, 154, 155; vom 4. April 1979 - 3 StR 488/78, BGHSt 28,<br />

371, 372 f.). Angesichts der eigenen Rechtspersönlichkeit der GmbH (§ 13 GmbHG) kann in den Fällen, in denen<br />

ein Ein-verständnis der Gesellschafter mit der Vermögensverfügung aus den dargelegten Gründen ausgeschlossen<br />

ist, ein Eingriff in das betreute Vermögen mithin die Strafbarkeit sowohl wegen Untreue als auch wegen Bankrotts<br />

begründen (s. BGH, Beschlüsse vom 10. Februar 2009 - 3 StR 372/08, NJW 2009, 2225, 2228; vom 15. September<br />

2011 - 3 StR 118/11, NStZ 2012, 89, 91 m. zust. Anm. Radtke/Hoffmann; LK/Schünemann, StGB, 11. Aufl., § 266<br />

Rn. 125, 171; aA etwa SK-StGB/Hoyer, § 266 Rn. 73 [Stand: Juli 2010]; S/S-Perron, StGB, 28. Aufl., § 266 Rn. 21b<br />

mwN). Es bleibt dabei, dass die Untreue den Schutz des betreuten Vermögens, nämlich des Vermögens der GmbH,<br />

zum Gegenstand hat. Die Unwirksamkeit des Einverständnisses dient gerade diesem Vermögensschutz, unabhängig<br />

davon, dass dies mittelbar auch den Gläubigern zugutekommt (vgl. Radtke, GmbHR 2012, 28, 30; Ransiek, wistra<br />

2005, 121, 122). Das gilt insbesondere vor dem Hintergr<strong>und</strong>, dass der Kapitalschutz nach § 30 GmbHG nicht ausschließlich<br />

den Gläubigern eine Befriedigungsreserve, sondern überdies der GmbH nach Möglichkeit ein ihren Bestand<br />

schützendes Mindestbetriebsvermögen sichern soll (s. BGH, Urteile vom 24. November 2003 - II ZR 171/01,<br />

BGHZ 157, 72, 75; vom 17. März 2008 - II ZR 24/07, BGHZ 176, 62, 65; Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff,<br />

GmbHG, 17. Aufl., § 30 Rn. 1). Es bestehen somit gesetzlich gewährleistete Eigeninteressen der GmbH (BGH, Urteil<br />

vom 10. Juli 1996 - 3 StR 50/96, BGHR StGB § 266 Abs. 1 Nachteil 37; s. auch BGH, Urteil vom 13. Mai 2004<br />

- 5 StR 73/03, BGHSt 49, 147, 157 ff.), die von den Interessen der Gesellschafter unabhängig sind <strong>und</strong> daher deren<br />

Dispositionsmöglichkeit begrenzen.<br />

StGB § 283, § 28 Abs. 1 Beiseitegeschafftes Vermögen <strong>und</strong> Täterbegriff beim Bankrott<br />

BGH; Beschl. v. 22.01.2013 - 1 StR 234/12 - NJW 2013, 949<br />

LS: 1. Zum Umgang mit effektiv versteckten Vermögenswerten bei der Begründung der Überschuldung<br />

oder Zahlungsunfähigkeit.<br />

2. Bei der Vorschrift des § 283 StGB handelt es sich um ein echtes Sonderdelikt. Täter, Mittäter<br />

oder mittelbarer Täter kann daher gr<strong>und</strong>sätzlich nur die Person sein, die für die Erfüllung der<br />

Verbindlichkeit haftet; dies gilt sowohl für die Begehungsweise des Abs. 1 als auch für die des Abs.<br />

2 der Norm. Bei der Pflichtenstellung handelt es sich um eine solche höchstpersönlicher Art <strong>und</strong><br />

mithin um ein besonderes persönliches Merkmal gemäß § 28 Abs. 1 StGB.<br />

Der 1. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat am 22. Januar 2013 gemäß § 349 Abs. 2 <strong>und</strong> 4, § 357 StPO beschlossen:<br />

Auf die Revision des Angeklagten H. wird das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 9. November 2011 im<br />

Strafausspruch, auch soweit es die gegen die Mitangeklagte S. erkannte Gesamt- <strong>und</strong> Einzelstrafe für die Beihilfe<br />

zum Bankrott im Tatkomplex B.III.3. (Verkauf der Villa) betrifft, aufgehoben. Seine weitergehende Revision wird<br />

als unbegründet verworfen. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung,<br />

auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten H. wegen Beihilfe zum Bankrott unter Einbeziehung anderweitig rechtskräftig<br />

gewordener Einzelfreiheitsstrafen von sechs <strong>und</strong> neun Monaten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren <strong>und</strong><br />

- 102 -


sechs Monaten verurteilt. Es hat ausgesprochen, dass hiervon drei Monate als vollstreckt gelten. Die nicht revidierende<br />

Mitangeklagte S. hat es wegen Beihilfe zum Bankrott in vier Fällen <strong>und</strong> wegen Betruges zu einer Gesamtfreiheitsstrafe<br />

von zwei Jahren <strong>und</strong> neun Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte H. mit der<br />

Rüge der Verletzung formellen <strong>und</strong> sachlichen Rechts.<br />

1. Die von ihm erhobenen Verfahrensrügen sind aus den vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt in seiner Antragsschrift vom 27.<br />

Juli 2012 aufgezeigten Gründen jedenfalls unbegründet.<br />

2. Der Schuldspruch hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung stand. Die getroffenen Feststellungen belegen eine Bankrotttat<br />

des Mitangeklagten P. gemäß § 283 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 StGB hinsichtlich der Villa in Südfrankreich.<br />

Aus der Gesamtheit der im Urteil mitgeteilten Umstände lassen sich insbesondere die für das Herbeiführen einer<br />

wirtschaftlichen Krise im Sinne des § 283 Abs. 2 StGB maßgeblichen Tatsachen ausreichend sicher feststellen. Der<br />

Eintritt der Zahlungsunfähigkeit durch die Bankrotthandlungen des Haupttäters P. ist danach mit Ende des Jahres<br />

2005 belegt, da das Beiseiteschaffen der noch vorhandenen Vermögenswerte dazu führte, dass die fälligen Verbindlichkeiten<br />

- schon ohne Berücksichtigung der zu diesem Zeitpunkt vom B<strong>und</strong>esministerium der Verteidigung noch<br />

geforderten Rückzahlung von 3,8 Mio. DM - aus dem liquiden Vermögen nicht mehr befriedigt werden konnten.<br />

Dabei waren die Steuerschulden für 1991 <strong>und</strong> 1992 freilich nicht auf dem Stand 10. Januar 2011, sondern mit der<br />

2001 fällig gestellten Höhe abzüglich der beigetriebenen Summe von 450.110,98 Euro in Rechnung zu bringen. Mit<br />

dem zum 22. März 2007 erfolgten Kostenansatz der Gerichtskosten erhöhten sich die Verbindlichkeiten entsprechend,<br />

ohne dass zur Tilgung vorhandene Mittel hinzugekommen wären. Zu Recht hat das Landgericht weder die<br />

durch die abgeurteilten Bankrotthandlungen des Mitangeklagten P. noch die möglicherweise bereits zuvor von ihm<br />

durch Verschleierung <strong>und</strong> Änderung der rechtlichen Zuordnung effektiv versteckten Vermögenswerte berücksichtigt<br />

(vgl. BGH, Urteil vom 22. Februar 2001 - 4 StR 421/00, BGHR StGB § 283 Abs. 1 Nr. 1 Beiseiteschaffen 4), denn<br />

hierdurch wurde ein alsbaldiger Zugriff möglicher Gläubiger jedenfalls erheblich erschwert, wenn nicht sogar objektiv<br />

unmöglich gemacht (vgl. zu diesem Maßstab BGH, Urteil vom 29. April 2010 - 3 StR 314/09, BGHSt 55, 107,<br />

113). Würde man solche - hier bis heute nicht aufgedeckten, von der Strafkammer nur als möglich behandelten -<br />

Vermögenswerte bei der Begründung der Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit einer natürlichen Person als<br />

Aktiva bzw. als liquide Mittel einstellen, würde die Tatbestandsvoraussetzung der Krise im Sinne des § 283 Abs. 2<br />

StGB kaum je anzunehmen sein, obwohl der Schuldner Vermögenswerte dem Zugriff seiner aktuellen Gläubiger<br />

entzogen hat (vgl. OLG Frankfurt NStZ 1997, 551). Dies wäre mit dem durch die Vorschrift zu schützenden Rechtsgut<br />

der Interessen dieser Gläubiger an einer vollständigen oder möglichst hohen Befriedigung ihrer vermögensrechtlichen<br />

Ansprüche nicht zu vereinbaren (vgl. zu diesem Schutzzweck BVerfG, Beschluss vom 28. August 2003 - 2<br />

BvR 704/01). Auch der Gehilfenvorsatz des Angeklagten H. ist, wenngleich knapp, so doch hinreichend belegt (UA<br />

S. 23). Dies umschließt den bedingten Vorsatz hinsichtlich der vom Mitangeklagten P. vorgenommenen Tathandlung<br />

des Verheimlichens. Dass demgegenüber keine konkrete Kenntnis des Angeklagten H. von der Abgabe der eidesstattlichen<br />

Versicherung festgestellt ist, ist unschädlich. Denn diese begründet hier die gemäß § 283 Abs. 6 StGB<br />

erforderliche objektive Bedingung der Strafbarkeit, auf die sich der Vorsatz des Teilnehmers nicht zu beziehen<br />

braucht.<br />

3. Der Strafausspruch kann jedoch keinen Bestand haben. Die Strafkammer hat die Strafe für den Angeklagten H.<br />

dem nach § 27 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmen des § 283 StGB entnommen. Die von § 28 Abs. 1<br />

StGB zwingend (zu Ausnahmekonstellationen vgl. BGH, Beschluss vom 8. Januar 1975 - 2 StR 567/74, BGHSt 26,<br />

53, 54) vorgesehene Strafrahmenverschiebung hat es hingegen nicht erkennbar erwogen. Dies erweist sich hier als<br />

rechtsfehlerhaft. Bei der Vorschrift des § 283 StGB handelt es sich um ein echtes Sonderdelikt. Täter, Mittäter oder<br />

mittelbarer Täter kann daher gr<strong>und</strong>sätzlich nur die Person sein, die für die Erfüllung der Verbindlichkeit haftet<br />

(BGH, Beschluss vom 10. Februar 2009 - 3 StR 372/08, vgl. auch Urteil vom 10. Mai 2000 - 3 StR 101/00); dies gilt<br />

sowohl für die Begehungsweise des Abs. 1 als auch für die des Abs. 2 der Norm. Bei dieser Pflichtenstellung handelt<br />

es sich - anders als bei der nach § 370 AO (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 25. Januar 1995 - 5 StR 491/94, BGHSt 41,<br />

1, 4) - um eine solche höchstpersönlicher Art <strong>und</strong> mithin um ein besonderes persönliches Merkmal gemäß § 28 Abs.<br />

1 StGB (vgl. hierzu Radtke in Münchener Kommentar, StGB, 2006, § 283 Rn. 80). Ist nicht allein schon wegen des<br />

Fehlens des strafbegründenden persönlichen Merkmals Beihilfe statt Täterschaft angenommen worden (BGH, Beschluss<br />

vom 8. Januar 1975 - 2 StR 567/74, BGHSt 26, 53, 54; BGH, Beschluss vom 1. März 2005 - 2 StR 507/04,<br />

NStZ-RR 2006, 106; zu weitgehend hierzu Tiedemann in Leipziger Kommentar, StGB, 12. Aufl., § 283 Rn. 228), ist<br />

der Strafrahmen für den Teilnehmer gemäß § 28 Abs. 1, § 49 Abs. 1 StGB zu mildern (vgl. BGH, Beschluss vom 8.<br />

September 1994 - 1 StR 169/94; offen gelassen in BGH, Urteil vom 25. Januar 1995 - 5 StR 491/94, BGHSt 41, 1, 2;<br />

- 103 -


Reinhart in Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- <strong>und</strong> Steuerstrafrecht, 2011, § 283 StGB Rn. 75; für Abs. 1 auch Fischer,<br />

StGB, 60. Aufl., § 283 Rn. 38; a.A. Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., § 283 Rn. 25). Hier belegen die Urteilsausführungen,<br />

dass das Landgericht die Art <strong>und</strong> Weise des Tatbeitrags zum Anlass genommen hat, den Angeklagten H.<br />

lediglich wegen Beihilfe zu verurteilen. Die weitere Strafrahmenmilderung nach § 28 Abs. 1 StGB hätte daher erörtert<br />

werden müssen. Der Senat kann angesichts der Einzelstrafhöhe von zwei Jahren <strong>und</strong> neun Monaten ein Beruhen<br />

des Strafausspruchs auf diesem Unterlassen nicht ausschließen.<br />

4. Nach § 357 Satz 1 StPO ist die Aufhebung auf die nicht revidierende Mitangeklagte S. zu erstrecken, soweit sie an<br />

der dem Angeklagten H. zur Last gelegten Tat beteiligt war (Tatkomplex B.III.3., Verkauf der Villa), denn insoweit<br />

beruht die Zumessung dieser Einzelstrafe von zwei Jahren auf demselben sachlich-rechtlichen Mangel. Dies führt zur<br />

Aufhebung auch der sie betreffenden Gesamtstrafe.<br />

5. Der Aufhebung von Feststellungen bedarf es nicht. Die neu zur Entscheidung berufene Strafkammer ist jedoch<br />

nicht gehindert, ergänzende Feststellungen zu treffen. Der Senat weist vorsorglich darauf hin, dass die Aufhebung<br />

eines tatrichterlichen Urteils durch das Revisionsgericht allein im Strafausspruch gr<strong>und</strong>sätzlich nicht die Frage der<br />

Kompensation einer bis zur revisionsgerichtlichen Entscheidung eingetretenen rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung<br />

erfasst (vgl. BGH, Urteil vom 27. August 2009 - 3 StR 250/09, BGHSt 54, 135; BGH, Beschluss vom 25.<br />

September 2012 - 1 StR 212/12, wistra 2013, 35).<br />

StGB § 316b Abs. 1 Nr. 3 Unbrauchbarmachen eines Radarmessgerätes nicht ohne substanzielle<br />

Einwirkung<br />

BGH, Beschl. v. 15.05. 2013 - 1 StR 469/12 - BeckRS 2013, 11002<br />

LS: Die Unbrauchbarmachung einer dem Betrieb dienenden Sache gemäß § 316b Abs. 1 Nr. 3 StGB<br />

erfordert für ein tatbestandsmäßiges Verhalten eine Einwirkung auf die Sachsubstanz.<br />

Die Sache wird an das Oberlandesgericht Karlsruhe zurückgegeben.<br />

Gründe:<br />

I. 1. Das Amtsgericht Waldkirch hat den Angeklagten am 30. November 2011 wegen Nötigung zu einer Geldstrafe<br />

von 20 Tagessätzen zu je 15 € verurteilt.<br />

a) Nach den getroffenen Feststellungen führte der Gemeindevollzugs-beamte B. als zuständiger Messbeamter der<br />

Stadt W. am Morgen des 1. Juni 2011 in der S. straße in W. im Bereich zwischen dem dortigen Schloss <strong>und</strong> der Bäckerei<br />

Z. eine Geschwindigkeits-messung durch. Dabei wurde der Angeklagte als Führer eines Kastenwagens, amtliches<br />

Kennzeichen, mit einer überhöhten Geschwindigkeit von 43 km/h gemessen, was die Auslösung des aufgebauten<br />

Blitzgerätes sowie die Fertigung eines Lichtbildes zur Folge hatte. Aus Verärgerung über die von ihm bemerkte<br />

Geschwindigkeitsmessung stellte der Angeklagte den von ihm gesteuerten Kastenwagen anschließend direkt vor dem<br />

Sensor der Messanlage ab. Dem Angeklagten ging es hierbei nur darum, dass der o.g. Messbeamte keine weiteren<br />

Geschwindigkeitsmessungen mehr durchführen konnte. Danach entfernte er sich zu Fuß <strong>und</strong> suchte seine nahegelegene<br />

Wohnung in der S. str. auf.<br />

Der Messbeamte ermittelte daraufhin die Telefonnummer des Angeklag-ten <strong>und</strong> rief diesen auf dessen Mobiltelefon<br />

an. Nachdem der Angeklagte erkannt hatte, dass es sich bei dem Anrufer um den betreffenden Messbeamten handelte,<br />

beendete er umgehend das Gespräch. Mehrere Folgeanrufe blieben erfolglos. Daraufhin begab sich der Gemeindevollzugs-beamte<br />

zum Anwesen des Angeklagten <strong>und</strong> forderte ihn auf, den Kastenwagen wegzufahren, da er den<br />

Messbetrieb verhindere. Der Angeklagte gab hierauf lediglich zu verstehen, dass er jederzeit auch vor einer Messeinrichtung<br />

parken könne, da dort kein Parkverbot herrsche. Daraufhin holte der Gemeinde-vollzugsbeamte bei seinem<br />

Dienstvorgesetzten die Genehmigung zum Abschleppen des Kastenwagens ein. Auf die danach erfolgte mündliche<br />

Androhung des Abschleppens mit entsprechender Kostenfolge reagierte der Angeklagte nicht.<br />

Der Gemeindevollzugsbeamte ging sodann zu seinem Messfahrzeug zurück <strong>und</strong> forderte telefonisch eine Abschleppfirma<br />

an. Noch während des Telefonats kam der Angeklagte mit einem Traktor <strong>und</strong> einem Zweiachs-anhänger angefahren.<br />

Er stellte den Kastenwagen weg <strong>und</strong> parkte stattdessen den Traktor an dieser Stelle. Zudem senkte er den<br />

Frontlader des Fahrzeugs ab. Auch hierbei ging es dem Angeklagten darum, weitere Geschwindigkeits-messungen<br />

durch den Messbeamten zu verhindern. Die an ihn gerichtete Aufforderung, den Traktor wegzustellen, ignorierte der<br />

- 104 -


Angeklagte <strong>und</strong> fuhr mit seinem Kastenwagen davon. Der inzwischen eingetroffene Abschleppunter-nehmer konnte<br />

den Traktor nicht abschleppen, da der Frontlader des Fahrzeugs herabgelassen war.<br />

Nachdem schließlich Polizeibeamte hinzugekommen waren, fuhr der Angeklagte den Traktor weg. Aufgr<strong>und</strong> des<br />

gesamten Geschehens konnte die Messstelle ca. eine St<strong>und</strong>e lang nicht betrieben werden, was der Angeklagte auch<br />

beabsichtigte.<br />

b) Nach Auffassung des Amtsgerichts sei deswegen der Tatbestand der Nötigung gemäß § 240 Abs. 1 Alt. 1 StGB<br />

verwirklicht, weil der Angeklagte Gewalt angewendet habe, um den Messbeamten zum Unterlassen weiterer Messungen<br />

zu zwingen. Die Gewaltanwendung zur Durchsetzung des von ihm verfolgten Ziels sei auch verwerflich im<br />

Sinne von § 240 Abs. 2 StGB gewesen.<br />

c) Gegen das Urteil legte der Angeklagte durch seinen Verteidiger am 7. Dezember 2011 „Rechtsmittel“ ein, welches<br />

innerhalb der Revisionsbegrün-dungsfrist als Sprungrevision bezeichnet wurde. Gestützt auf die Verletzung materiellen<br />

Rechts beantragte der Angeklagte, freigesprochen zu werden, hilfsweise das angefochtene Urteil mit seinen Feststellungen<br />

aufzuheben <strong>und</strong> die Sache zur erneuten Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen.<br />

Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts habe er durch sein Verhalten keine Gewalt im Sinne des Nötigungstatbestandes<br />

ausgeübt.<br />

2. Das zur Entscheidung über die Revision berufene Oberlandesgericht Karlsruhe ist der Auffassung, dass die Feststellungen<br />

des Amtsgerichts den Schuldspruch wegen Nötigung nicht tragen, weil durch sie nicht belegt sei, dass<br />

gegen den Messbeamten Gewalt im Sinne einer körperlichen Zwangswirkung ausgeübt worden sei. Vielmehr habe<br />

der Angeklagte mit seinem Vorgehen den Tatbestand der Störung öffentlicher Betriebe gemäß § 316b Abs. 1 Nr. 3<br />

StGB verwirklicht. Es beabsichtigt daher, in entsprechender Anwendung des § 354 StPO den Schuldspruch dahingehend<br />

abzuändern, dass der Angeklagte der Störung öffentlicher Betriebe gemäß § 316b Abs. 1 Nr. 3 StGB schuldig<br />

ist, <strong>und</strong> im Übrigen die Revision des Angeklagten durch Beschluss gemäß § 349 Abs. 2 StPO als offensichtlich unbegründet<br />

zu verwerfen. An der beabsichtigten Entscheidung sieht sich das Oberlandesgericht Karlsruhe durch den<br />

Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 3. März 1997 - 2 Ss 59/97 (NStZ 1997, 342) gehindert. Nach Auffassung<br />

des Oberlan-desgerichts Stuttgart liegt keine Störung des Betriebs einer der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit<br />

dienenden Einrichtung oder Anlage im Sinne des § 316b Abs. 1 Nr. 3 StGB vor, wenn eine Geschwindigkeitsmessanlage<br />

un-brauchbar gemacht (im dort zu entscheidenden Fall durch Beschmieren des Fotoobjektivs mit<br />

Senf bzw. einer cremeartigen weißen Masse) <strong>und</strong> dadurch die Ahndung von Verkehrsverstößen durch Verwarnungen<br />

oder Bußgeldbescheide unmöglich wird. Dies beruhe zum einen darauf, dass die Messanlage in ihrer Funktion keine<br />

eigenständige gemäß § 316b Abs. 1 Nr. 3 StGB geschützte Anlage sei, sondern nur eine dem Betrieb der Bußgeldbehörde<br />

dienende Sache darstelle, die als unselbständiges Glied in die Kette der betrieblichen Vorgänge von der Ermittlung<br />

bis zur Ahndung der Verkehrsordnungswidrig-keiten integriert sei. Dafür, ob durch den unbrauchbar gemachten<br />

Fotoapparat der Messanlage eine der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit dienende Einrichtung oder Anlage<br />

gestört wurde, sei deshalb auf die übergeordnete Organisationseinheit, die Bußgeldbehörde, abzustellen. Zum<br />

anderen schütze der unbestimmte Rechtsbegriff „der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit dienend“ die Funktion nur<br />

solcher besonders wichtiger Einrichtungen <strong>und</strong> Anlagen, deren Hauptzweck die unmittelbare Abwehr von Gefahren<br />

für bedeutende Rechtsgüter der Allgemeinheit oder des Einzelnen ist, soweit deren Schutz nicht bereits § 88 Abs. 1<br />

Nr. 4 StGB unterfalle. Weil der auf die Ermittlung <strong>und</strong> Ahndung von Ordnungswidrigkeiten ausgerichtete Hauptzweck<br />

der Bußgeldbehörde in erster Linie repressiv einzuordnen sei, sei sie keine der öffentlichen Ordnung oder<br />

Sicherheit dienende Einrichtung im Sinne des § 316b Abs. 1 Nr. 3 StGB. Sie unterscheide sich auch gr<strong>und</strong>legend von<br />

der unmittelbaren Gefahrenabwehr, die unabhängig von der Schuld des<br />

An der beabsichtigten Entscheidung sieht sich das Oberlandesgericht Karlsruhe durch den Beschluss des Oberlandesgerichts<br />

Stuttgart vom 3. März 1997 - 2 Ss 59/97 (NStZ 1997, 342) gehindert. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts<br />

Stuttgart liegt keine Störung des Betriebs einer der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit dienenden Einrichtung<br />

oder Anlage im Sinne des § 316b Abs. 1 Nr. 3 StGB vor, wenn eine Geschwindigkeitsmessanlage unbrauchbar<br />

gemacht (im dort zu entscheidenden Fall durch Beschmieren des Fotoobjektivs mit Senf bzw. einer cremeartigen<br />

weißen Masse) <strong>und</strong> dadurch die Ahndung von Verkehrsverstößen durch Verwarnungen oder Bußgeldbescheide<br />

unmöglich wird. Dies beruhe zum einen darauf, dass die Messanlage in ihrer Funktion keine eigenständige<br />

gemäß § 316b Abs. 1 Nr. 3 StGB geschützte Anlage sei, sondern nur eine dem Betrieb der Bußgeldbehörde dienende<br />

Sache darstelle, die als unselbständiges Glied in die Kette der betrieblichen Vorgänge von der Ermittlung bis zur<br />

Ahndung der Verkehrsordnungswidrig-keiten integriert sei. Dafür, ob durch den unbrauchbar gemachten Fotoapparat<br />

der Messanlage eine der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit dienende Einrichtung oder Anlage gestört wurde, sei<br />

- 105 -


deshalb auf die übergeordnete Organisationseinheit, die Bußgeldbehörde, abzustellen. Zum anderen schütze der<br />

unbestimmte Rechtsbegriff „der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit dienend“ die Funktion nur solcher besonders<br />

wichtiger Einrichtungen <strong>und</strong> Anlagen, deren Hauptzweck die unmittelbare Abwehr von Gefahren für bedeutende<br />

Rechtsgüter der Allgemeinheit oder des Einzelnen ist, soweit deren Schutz nicht bereits § 88 Abs. 1 Nr. 4 StGB<br />

unterfalle. Weil der auf die Ermittlung <strong>und</strong> Ahndung von Ordnungswidrigkeiten ausgerichtete Hauptzweck der Bußgeldbehörde<br />

in erster Linie repressiv einzuordnen sei, sei sie keine der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit dienende<br />

Einrichtung im Sinne des § 316b Abs. 1 Nr. 3 StGB. Sie unterscheide sich auch gr<strong>und</strong>legend von der unmittelbaren<br />

Gefahrenabwehr, die unabhängig von der Schuld des Verursachers an der Entwicklung des Geschehens akut<br />

drohende Schadensereignisse verhindern will. Dabei hat das Oberlandesgericht Stuttgart auch berücksichtigt, dass<br />

der Tätigkeit der Bußgeldbehörde im Hinblick auf den „Denkzetteleffekt“ bei den Betroffenen eine gewisse vorbeugende<br />

Gefahren-abwehr nicht abgesprochen werden kann.<br />

Das Oberlandesgericht Karlsruhe sieht - ohne auf die vom Oberlandes-gericht Stuttgart vorgenommene einengende<br />

Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit dienend“ einzugehen - eine<br />

Geschwindigkeitsmessanlage als eine der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit dienende Anlage im Sinne des §<br />

316b Abs. 1 Nr. 3 StGB an <strong>und</strong> hat deshalb die Sache gemäß § 121 Abs. 2 GVG dem B<strong>und</strong>esgerichtshof zur Entscheidung<br />

folgender Frage vorgelegt:<br />

„Ist eine Geschwindigkeitsmessanlage eine eigenständige, der öffentlichen Sicherheit <strong>und</strong> Ordnung dienende Anlage<br />

im Sinne des § 316 b Abs. 1 Nr. 3 StGB?“<br />

3. Der Generalb<strong>und</strong>esanwalt hat beantragt zu beschließen:<br />

Die Sache wird an das Oberlandesgericht Karlsruhe zurückgegeben.<br />

Er ist der Auffassung, dass die Vorlegungsfrage nicht entscheidungser-heblich ist. II.<br />

II. Die Vorlegung der Sache ist unzulässig, weil deren Voraussetzungen gemäß § 121 Abs. 2 GVG nicht gegeben<br />

sind.<br />

Der Senat hat bereits Zweifel daran, dass die Vorlegungsfrage mit der gewählten unbestimmten Formulierung „Geschwindigkeitsmessanlage“<br />

einer Vorlageentscheidung zugänglich ist oder wenigstens unter Berücksichtigung des<br />

Vorlagebeschlusses sowie des angefochtenen amtsgerichtlichen Urteils in einer Weise umformuliert werden kann,<br />

die zu einer ausreichenden inhaltlichen Bestimmtheit der Vorlegungsfrage <strong>und</strong> damit zu einer eindeutig zu beantwortenden<br />

Frage führt. Dies kann jedoch letztlich offen bleiben. Denn der zu Gr<strong>und</strong>e liegende Sachverhalt erfüllt jedenfalls<br />

keine der Tathandlungen des § 316b Abs. 1 StGB, so dass die das Tatobjekt betreffende Vorlegungsfrage keinesfalls<br />

entscheidungserheblich sein kann.<br />

1. Allerdings ist die Vorlegungspflicht gemäß § 121 Abs. 2 GVG, obwohl dort nicht ausdrücklich genannt, auch bei<br />

Sprungrevisionen, wie vorliegend, gegeben (BGH, Beschluss vom 24. Juli 1987 - 3 StR 36/87, BGHSt 35, 14, 16;<br />

BeckOK-StPO/Huber, Ed. 15, § 121 GVG Rn. 4).<br />

2. Das Oberlandesgericht Karlsruhe begründet die Vorlage der Sache <strong>und</strong> seine vom Oberlandesgericht Stuttgart<br />

abweichende Rechtsansicht, der das Oberlandesgericht München insoweit gefolgt ist (NJW 2006, 2132, 2133), wie<br />

folgt:<br />

„Eine Geschwindigkeitsmessanlage ist nach Auffassung des Senats eine der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit<br />

dienende Anlage im Sinne des § 316b Abs. 1 Nr. 3 StGB (so auch LK-König, StGB, 12. Aufl., § 316b Rn. 29; Fischer,<br />

a.a.O., § 316 b Rn. 5; SK-StGB/Wolters, 129. Lfg. 09/2011, § 316 b Rn. 7). Zwar handelt es sich bei einer von<br />

der Bußgeldbehörde einge-setzten Geschwindigkeitsmessanlage auch um ein technisches Einsatzmittel, dessen sich<br />

die Bußgeldbehörde zur Erfüllung ih-rer Aufgaben bedient. Trotzdem stellt ein solches Gerät eine Anlage im Sinne<br />

des § 316b Abs. 1 Nr. 3 StGB dar. Der Begriff der Anlage setzt dem Wortlaut nach zunächst eine Konstruktion aus<br />

technischen Materialien voraus (BGHSt 31, 1). Um eine klare Abgrenzung zu dem ebenfalls in § 316b Abs. 1 Nr. 3<br />

StGB aufgeführten Begriff der Einrichtung vorzunehmen, ist der Anlagenbegriff zudem als vornehmlich aus sächlichen<br />

Mitteln bestehende Funktionseinheit zur planmäßigen Erreichung ei-nes auf gewisse Dauer berechneten Erfolgs<br />

definiert (LK-König, a.a.O. Rn. 8). Diese Voraussetzungen sind bei einer Ge-schwindigkeitsmessanlage gegeben.<br />

Eine Geschwindigkeitsmessanlage dient auch der öffentlichen Sicherheit <strong>und</strong> Ordnung. Denn gerade Geschwindigkeitsmes-sungen<br />

erfolgen nicht allein aus repressiven, sondern auch aus präventiven Zwecken (LK-König, a.a.O.,<br />

Rn. 24; so im Ergebnis auch Fischer, a.a.O.; offen gelassen von OLG Stuttgart a.a.O.). Geschwindigkeitsmessungen<br />

haben nicht nur das Ziel, Ver-kehrsverstöße zu ahnden, sondern dienen auch dazu, die Ver-kehrsteilnehmer zur Einhaltung<br />

der erlaubten Höchstgeschwin-digkeit anzuhalten, um so Unfälle <strong>und</strong> andere Straßenver-kehrsgefährdungen<br />

zu verhindern.<br />

- 106 -


Der Angeklagte hat diese Messanlage durch das Parken seiner Fahrzeuge unmittelbar vor ihr unbrauchbar gemacht.<br />

Durch das Unterbrechen des Laser- bzw. Radarstrahls hat er auf das Ge-rät eingewirkt <strong>und</strong> dieses in seiner Funktionsfähigkeit<br />

jedenfalls nicht unerheblich beeinträchtigt. Die Frage der Brauchbarkeit beurteilt sich nach Zweck <strong>und</strong><br />

Funktionsweise der Anlage. Vor-liegend war die Geschwindigkeitsmessanlage, die den auf der Straße bewegenden<br />

Pkw-Verkehr umfassend kontrollieren soll, durch die verdeckenden Fahrzeuge des Angeklagten vollstän-dig außer<br />

Betrieb gesetzt, weil verhindert wurde, dass der Ver-kehr überhaupt von dem Laser- oder Radarstrahl erfasst wurde.<br />

Damit ist in einer für das Tatbestandsmerkmal Unbrauchbar-machen ausreichender Weise auf die Anlage selbst<br />

eingewirkt, weil die Aussendung des Laser- bzw. Radarstrahls unterbun-den wurde <strong>und</strong> die Messanlage für die Dauer<br />

der Störung nicht mehr ordnungsgemäß verwendet werden konnte. Hierdurch ist die typische, durch § 316b StGB<br />

ins Auge gefasste Gefahren-lage verwirklicht worden.<br />

Als unerheblich sieht es der Senat an, dass die Geschwindig-keitsmessanlage mobil <strong>und</strong> nicht fest mit dem Boden<br />

verbun-den war. Soweit eine Ortsfestigkeit als weitere Voraussetzung für den Anlagenbegriff gefordert wird, ist<br />

damit lediglich ein ortsfester Einsatz gemeint (LK-König, a.a.O. Rn. 8). Diese Vo-raussetzungen sind aber bei einer<br />

mobilen Geschwindigkeits-messanlage erfüllt. Nach dem Aufbau des Geräts <strong>und</strong> der er-forderlichen Einstellung vor<br />

dem ersten Gebrauch wird es an einer konkreten Stelle <strong>und</strong> damit ortsfest eingesetzt.<br />

Nach alledem sprechen sowohl Gesetzeswortlaut als auch Ge-setzeszweck dafür, Geschwindigkeitsmessanlagen als<br />

Anlagen <strong>und</strong> damit als Schutzobjekte des § 316b Abs. 1 Nr. 3 StGB an-zusehen.<br />

Demgegenüber findet die Auffassung des OLG Stuttgart, dass § 316b Abs. 1 Nr. 3 StGB eindeutig zwischen dem<br />

öffentlichen Betrieb, der gestört werde, <strong>und</strong> der Ursache der Störung unter-scheidet mit der Folge, dass Geschwindigkeitsmessanlagen<br />

keine eigenständigen Schutzobjekte im Sinne von § 316b Abs. 1 Nr. 3 StGB wären, im Gesetzeswortlaut<br />

keine Stütze. Denn der „öffentliche Betrieb“ wird im Tatbestand des § 316b Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht<br />

erwähnt, sondern findet sich lediglich in der amtlichen Überschrift des Straftatbestandes; es ist aber nicht zulässig,<br />

dem öffentlichen Betrieb als generell übergeordneter Einheit mithilfe der amtlichen Überschrift Eingang in den Tatbestand<br />

zu verschaffen (so auch LK-König, a.a.O. Rn. 9a). Vielmehr ist dem Wortlaut des § 316b Abs. 1 Nr. 3 StGB<br />

ein-deutig zu entnehmen, dass der Betrieb einer Einrichtung <strong>und</strong> der Betrieb einer Anlage gleichrangige Schutzgegenstände<br />

darstellen (LK-König, a.a.O.). Anlagen im Sinne des § 316b Abs. 1 Nr. 3 StGB werden gr<strong>und</strong>sätzlich von<br />

einer anderen Or-ganisationseinheit betrieben. Würde man die hinter der Anlage stehende Organisationseinheit als<br />

vorrangig ansehen, wäre die Anlage als eigenständiges Schutzobjekt überflüssig <strong>und</strong> hätte vom Gesetzgeber nicht in<br />

den Tatbestand aufgenommen wer-den müssen. § 316b Abs. 1 Nr. 3 StGB soll aber gerade ge-meinschaftswichtige<br />

Anlagen in ihrem Betrieb gegen Sabota-geakte <strong>und</strong> damit das ordnungsgemäße Arbeiten solcher Anla-gen als Funktionseinheiten<br />

schützen (Fischer, a.a.O. Rn. 1). Da solche Geschwindigkeitsmessanlagen aber in aller Regel auch<br />

Hilfsmittel der jeweiligen Behörden darstellen, würde der Schutzzweck nicht erreicht werden, wenn diese nicht als<br />

Schutzobjekte des § 316b Abs. 1 Nr. 3 StGB gelten.“<br />

3. Die Vorlegungsfrage ist, worauf bereits der Generalb<strong>und</strong>esanwalt in seiner Antragsschrift vom 14. November<br />

2012 zutreffend hingewiesen hat, mit der dort gewählten unbestimmten Formulierung „Geschwindigkeitsmessanlage“<br />

einer Vorlageentscheidung nicht zugänglich; denn von § 121 Abs. 2 GVG wer-den nur Rechtsfragen umfasst<br />

(BGH, Beschlüsse vom 7. Juni 1982 - 4 StR 60/82, BGHSt 31, 86, 89 mwN, <strong>und</strong> vom 3. April 2001 - 4 StR 507/00,<br />

BGHSt 46, 358, 361; vgl. auch BGH, Beschluss vom 28. Juni 1977 - 5 StR 30/77, BGHSt 27, 212, 213 [nicht bei<br />

„rechtlich unverbindlichen Hinweisen“]). Die Klä-rung einer Tatfrage ist einer Vorlage auch dann nicht zugänglich,<br />

wenn diese wie eine Rechtsfrage formuliert wird (vgl. BGH, Beschluss vom 12. April 1983 - 5 StR 513/82, BGHSt<br />

31, 314, 316). Ob eine in der Formulierung der Vorlage-frage „Geschwindigkeitsmessanlage“ „eine eigenständige,<br />

der öffentlichen Sicherheit <strong>und</strong> Ordnung dienende Anlage im Sinne des § 316b Abs. 1 Nr. 3 StGB“ ist, hängt angesichts<br />

der an eine solche zu stellenden Anforderun-gen auch von deren konkreter Beschaffenheit ab <strong>und</strong> ist damit<br />

Tatfrage. Das gilt insbesondere vor dem Hintergr<strong>und</strong> der kontrovers beurteilten Bedeutung der Ortsfestigkeit als<br />

Bestandteil des Anlagebegriffs in § 316b StGB (dazu LK-StGB/König, 12. Aufl., § 316b Rn. 8 mwN). Enthielte der<br />

Begriff der Anlage ein solches - wie auch immer im Detail zu verstehendes - Teilmerkmal, würden zumindest sog.<br />

Laserpistolen, möglicherweise aber auch mobile Messgeräte nicht als Anlage im Sinne von § 316b StGB verstanden<br />

werden können. Sie sind aber von der Formulierung „Geschwindigkeitsmessanlage“ erfasst.<br />

Ob eine - an sich rechtlich zulässige - Umformulierung der Vorlegungs-frage (vgl. BGH, Beschluss vom 3. April<br />

2001 - 4 StR 507/00, BGHSt 46, 358, 361 f.), wie sie der Generalb<strong>und</strong>esanwalt in seiner Antragsschrift ergänzend<br />

formuliert hat, möglich ist, kann offenbleiben. Zwar lassen sich unter Heranzie-hung der Sachverhalte der Vorlageentscheidung<br />

sowie des dieser zu Gr<strong>und</strong>e liegenden Urteils des Amtsgerichts Waldkirch Anhaltspunkte über die<br />

- 107 -


Beschaf-fenheit der konkret verwendeten Geschwindigkeitsmessanlage entnehmen („aufgebautes Blitzgerät“, Vorhandensein<br />

eines Sensors, Einsatz eines Laser- oder Radarstrahls, keine feste Verbindung mit dem Boden, Vorhandensein<br />

ei-nes Messfahrzeugs). Selbst auf der Gr<strong>und</strong>lage solcher tatsächlicher Gegeben-heiten wären die Vorlagevoraussetzungen<br />

nach § 121 Abs. 2 GVG aber nicht gegeben.<br />

III. Wie der Generalb<strong>und</strong>esanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend darge-legt hat, fehlt es auf der Gr<strong>und</strong>lage des<br />

vom Amtsgericht festgestellten <strong>und</strong> dem Vorlagebeschluss zugr<strong>und</strong>e liegenden Sachverhalts an einer dem Tatbestand<br />

des § 316b Abs. 1 Nr. 3 StGB unterfallenden Tathandlung des Angeklag-ten. Das vorlegende Oberlandesgericht<br />

kann daher mangels Tatbestandsmä-ßigkeit gemäß § 316b Abs. 1 StGB nicht von der Rechtsansicht des Oberlan-desgerichts<br />

Stuttgart abweichen.<br />

1. § 316b Abs. 1 StGB weist eine zweiaktige Struktur auf. Der Tatbe-stand setzt für den hier allein in Frage kommenden<br />

§ 316b Abs. 1 Nr. 3 StGB eine Störung oder eine Verhinderung des Betriebs einer der öffentlichen Ordnung<br />

oder Sicherheit dienenden Anlage voraus. Diese Störung oder Verhinde-rung muss ihre Ursache (siehe nur<br />

Fischer, StGB, 60. Aufl., § 316b Rn. 6) da-rin haben, dass eine dem Betrieb dienende Sache zerstört, beschädigt,<br />

besei-tigt, verändert oder unbrauchbar gemacht oder - was hier ersichtlich von vorn-herein nicht in Frage kommt -<br />

die für den Betrieb bestimmte elektrische Kraft entzogen wird.<br />

Hier kommt allenfalls das Merkmal des Unbrauchbarmachens einer dem Betrieb dienenden Sache, dem wie auch<br />

immer technisch gestalteten Messge-rät, in Betracht, was aber entgegen der vom vorlegenden Oberlandesgericht<br />

vertretenen Auffassung ebenfalls ausscheidet.<br />

2. Vorliegend hat der Angeklagte die beabsichtigten Geschwindigkeits-messungen allein dadurch verhindert, dass er<br />

mit seinen jeweils in Richtung des Messstrahls geparkten Fahrzeugen Messungen anderer vorbeifahrender Fahrzeuge<br />

verhinderte. Dabei wirkte er jedoch, anders als bei dem vom Oberlandesgericht Stuttgart (NStZ 1997, 342 f.) entschiedenen<br />

Fall, nicht einmal äußerlich durch Beschmieren oder bspw. Bekleben auf die Substanz der Sa-che ein. Es<br />

lag mithin keine Manipulation an dem Messgerät selbst oder einem wesentlichen Teil davon vor, die zu einer tatsächlichen<br />

Funktionsminderung geführt haben könnte, was aber Voraussetzung einer Tatbestandsmäßigkeit wäre<br />

(zur Erforderlichkeit einer Einwirkung auf die Sachsubstanz vgl. OLG Cel-le, NStZ 2005, 217; BVerfG NVwZ<br />

2006, 583; LK-StGB/Wolff, 12. Aufl., § 317 Rn. 9, 11; SK-StGB/Wolters, 129. Lief. § 316b Rn. 10; Fischer, aaO;<br />

Lack-ner/Kühl, StGB, 27. Aufl., § 316b Rn. 5). Der Generalb<strong>und</strong>esanwalt hat inso-weit zutreffend darauf hingewiesen,<br />

dass derjenige den Tatbestand nicht er-füllt, der einen Fernsprechanschluss dadurch blockiert, dass er diesen<br />

anwählt <strong>und</strong> nicht auflegt (vgl. LK-StGB/Wolff aaO). Dem entspricht auch, dass bei Blo-ckadeaktionen gegenüber<br />

einem Zug es nicht ausreichend ist, wenn dessen Weiterfahrt durch Personen auf den Gleisen verhindert wird; erst<br />

bei einem direkten Einwirken auf die Gleise selbst kann der Tatbestand gegeben sein (OLG Celle NStZ 2005, 217<br />

f.).<br />

So liegt der Fall auch hier. Mit dem Parken seiner Fahrzeuge vor dem Sensor der Messeinheit hat der Angeklagte<br />

zwar weitere Messungen anderer Fahrzeuge verhindert, an einem direkten Einwirken auf die Sachsubstanz fehl-te es<br />

aber. Dies erweist sich schon daraus, dass bereits ein leichtes Versetzen des Messfahrzeuges oder (je nach Gerät)<br />

auch nur der Messeinrichtung Mes-sungen wieder möglich gemacht hätte. Insoweit unterscheidet sich der Sachverhalt<br />

auch von den Fallgestaltungen der Oberlandesgerichte Stuttgart (NStZ 1997, 342 f. - Beschmieren des Fotoobjektivs)<br />

<strong>und</strong> München (NJW 2006, 2132 f. - Überbelichtung des Fotofilms durch Blitzlichtreflexion), bei denen<br />

eine bloße Veränderung des Standorts - auch wenn dies praktisch nicht möglich gewesen wäre - nichts an der allerdings<br />

nur vorübergehenden Beeinträchti-gung der Anlage selbst geändert hätte.<br />

3. Der Senat ist vorliegend nicht durch die Besonderheiten des Vorlage-verfahrens gemäß § 121 Abs. 2 GVG daran<br />

gehindert, ungeachtet der auf den Anlagenbegriff des § 316b Abs. 1 Nr. 3 StGB beschränkten Vorlagefrage die Entscheidungserheblichkeit<br />

der Vorlagefrage abweichend von dem vorlegen-den Oberlandesgericht zu beurteilen. Die<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich bestehende Bindung des Senats an die Auffassung des Oberlandesgerichts über das Vorliegen der<br />

Tathandlung gemäß § 316b Abs. 1 Nr. 3 StGB entfällt, weil dieses insoweit von einer rechtlich so nicht haltbaren<br />

Betrachtung ausgegangen ist. Nach der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs liegt in solchen Konstellationen die<br />

ansonsten bestehende Bindung an die Beurteilung der Entscheidungserheb-lichkeit durch das vorlegende Gericht<br />

nicht vor (BGH, Beschlüsse vom 22. August 1994 - 3 StR 209/84, NStZ 1985, 217, 218, <strong>und</strong> vom 14. Mai 1974 - 1<br />

StR 366/73, BGHSt 25, 325, 328; siehe auch BGH, Beschluss vom 21. Februar 1968 - 2 StR 360/67, BGHSt 22, 94,<br />

100 mwN). Das Oberlandes-gericht hat bei der Beurteilung des Vorliegens der Tathandlung gemäß § 316b Abs. 1<br />

Nr. 3 StGB im rechtlichen Ausgangspunkt nicht ausreichend deutlich zwischen dem Unbrauchbarmachen der dem<br />

Betrieb einer Anlage oder Ein-richtung dienenden Sache <strong>und</strong> der dadurch verursachten Verhinderung oder Störung<br />

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des Betriebs der Anlage oder Einrichtung unterschieden. Das trägt der Struktur des Tatbestandes nicht genügend<br />

Rechnung. Vor allem aber hat es in rechtlich nicht vertretbarer Weise bei dem Merkmal des Unbrauchbarmachens<br />

auf das Erfordernis einer Einwirkung auf die Sachsubstanz verzichtet. Die Not-wendigkeit einer solchen Art der<br />

Einwirkung ergibt sich für das Unbrauchbar-machen jedoch eindeutig aus dem systematischen Vergleich mit den<br />

übrigen in dem Tatbestand genannten Tathandlungen (Zerstören, Beschädigen, Beseiti-gen, Verändern). Dementsprechend<br />

wird - wie aufgezeigt (III.2.) - eine Sach-substanzeinwirkung für ein tatbestandsmäßiges Verhalten vorausgesetzt.<br />

Die Sache war daher an das Oberlandesgericht zurückzugeben.<br />

StGB § 339 – Rechtsbeugung durch notorische Verletzung des § 275 StPO<br />

BGH, Urt. v. 18.07.2013 - 4 StR 84/13 - BeckRS 2013, 14345<br />

1. Unter "Rechtssache" im Sinne des § 339 StGB ist das gesamte streitige Verhältnis zu verstehen,<br />

über das der Richter zu "entscheiden" hat, die "Leitung" der Rechtssache ist der Inbegriff aller<br />

Maßnahmen, die auf die Erledigung der Sache abzielen. Ob die Leitung der Rechtssache mit dem<br />

Erlass einer Entscheidung, also der Anordnung einer Rechtsfolge, beendet ist, hängt von der Art<br />

des Verfahrens <strong>und</strong> dem Gegenstand der Entscheidung ab.<br />

2. Die Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe ist originäre Aufgabe des erkennenden Richters<br />

<strong>und</strong> gehört zur Leitung <strong>und</strong> Entscheidung der Rechtssache. Dies gilt erst recht, wenn gegen die Entscheidung<br />

ein Rechtsmittel eingelegt ist. Die Tätigkeit des Richters kann in diesem Fall die künftige<br />

Entscheidung des Rechtsmittelgerichts zugunsten oder zum Nachteil des Angeklagten beeinflussen,<br />

das Verfahren hat mithin auch nach Erlass des mündlichen Urteils weiterhin die Leitung <strong>und</strong> Entscheidung<br />

einer Rechtssache zum Gegenstand.<br />

3. Eine Verletzung von Verfahrensvorschriften stellt nur dann einen Rechtsbruch im Sinne des §<br />

339 StGB dar, wenn darin allein oder unter Berücksichtigung des Motivs des Täters ein elementarer<br />

Rechtsverstoß gesehen werden kann.<br />

4. Die Verletzung des § 275 StPO kann als elementarer Rechtsverstoß anzusehen sein.<br />

5. Für § 339 StGB genügt bedingter Vorsatz; der Täter muss für möglich halten, dass seine fehlerhafte<br />

Entscheidung zur Bevorzugung oder Benachteiligung einer Partei führen wird <strong>und</strong> sich damit<br />

abfinden.<br />

6. Für den objektiven Tatbestand des § 339 StGB reicht der bewusste Rechtsverstoß (der sich bei<br />

formell ordnungsgemäßen Handlungen aus dem Motiv des Täters ergeben kann), eine darüber hinausgehende<br />

absichtliche Begünstigung oder Benachteiligung der Prozessparteien ist nicht erforderlich.<br />

War sich der Angeklagte über die Rechtswidrigkeit seines Handelns zum Nachteil der Revisionsführer<br />

im Klaren, dann hat er auch, <strong>und</strong> zwar mit direktem Vorsatz, das Recht gebeugt.)<br />

Der 4. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat in der Sitzung vom 18. Juli 2013 für Recht erkannt: Auf die Revision<br />

der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Halle vom 10. Oktober 2012 mit den Feststellungen aufgehoben.<br />

Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine<br />

andere Strafkammer des Landgerichts Halle zurückverwiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten, einen Vorsitzenden Richter, vom Vorwurf der Rechtsbeugung in Tateinheit<br />

mit Urk<strong>und</strong>enfälschung <strong>und</strong> Strafvereitelung im Amt freigesprochen. Die vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt vertretene Revision<br />

der Staatsanwaltschaft hat mit der Sachrüge Erfolg.<br />

I. Die Anklage legt dem Angeklagten Rechtsbeugung in Tateinheit mit Urk<strong>und</strong>enfälschung in fünf Fällen, davon in<br />

einem Fall in weiterer Tateinheit mit Strafvereitelung im Amt, zur Last, weil er entgegen dem in § 275 Abs. 1 Satz 3<br />

der Strafprozessordnung normierten Verbot nach Ablauf der gesetzlich vorgesehenen Frist von fünf Wochen die<br />

Urteilsgründe geändert oder ergänzt <strong>und</strong> dabei zumindest billigend in Kauf genommen habe, zum Nachteil des je-<br />

- 109 -


weiligen Revisionsführers zu handeln. Das Landgericht lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens ab, weil ein<br />

„schwerer Rechtsbruch“ nicht angenommen werden könne. Die Tatbestände der Urk<strong>und</strong>enfälschung <strong>und</strong> der Vollstreckungsvereitelung<br />

unterfielen der Sperrwirkung des § 339 StGB. Das Oberlandesgericht ließ die Anklage mit<br />

Beschluss vom 23. April 2012 (OLGSt StGB § 339 Nr. 3) zu <strong>und</strong> eröffnete das Verfahren vor dem Landgericht , weil<br />

der Angeklagte der Urk<strong>und</strong>enfälschung in fünf Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Strafvereitelung im<br />

Amt, hinreichend verdächtig sei.<br />

1. Nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils wurde der Angeklagte am 1. Oktober 1996 zum Vorsitzenden<br />

Richter befördert, wo er zunächst eine große Strafkammer leitete <strong>und</strong> später den Vorsitz in einer kleinen Strafkammer<br />

innehatte. Wegen verspäteter Zustellung von Urteilen kam es zu mehreren Disziplinarverfahren: Am 12. August<br />

1999 erteilte ihm der Präsident des Landgerichts einen Vorhalt, mit Schreiben vom 1. Juli 2002 erteilte er dem Angeklagten<br />

einen Verweis, weil er in sieben Fällen ohne erkennbaren Gr<strong>und</strong> die Zustellung von Urteilen erst dreieinhalb<br />

bis neun Monate nach ihrem Eingang auf der Geschäftsstelle verfügt hatte. Das Dienstgericht für Richter bei<br />

dem Landgericht verhängte gegen den Angeklagten mit rechtskräftigem Disziplinarbescheid vom 27. Juli 2006 eine<br />

Geldbuße von 1.500 €, weil er in elf Fällen wiederum die Zustellung von Urteilen erst viereinhalb bis zwölfeinhalb<br />

Monate nach ihrem Eingang auf der Geschäftsstelle verfügt hatte. Im August 2007 leitete die Staatsanwaltschaft<br />

gegen den Angeklagten ein Ermittlungsverfahren wegen Urk<strong>und</strong>enfälschung <strong>und</strong> Strafvereitelung ein. Mit Beschluss<br />

vom 8. Januar 2008 wurde der Angeklagte wegen der hier festgestellten fünf Sachverhalte <strong>und</strong> siebzehn weiterer<br />

Fälle, in denen unvollständig abgefasste Urteile zur Geschäftsstelle gelangt waren, durch das Dienstgericht für Richter<br />

bei dem Landgericht vorläufig des Dienstes enthoben.<br />

2. Das Landgericht hat zu den fünf angeklagten Fällen im Einzelnen folgende Feststellungen getroffen:<br />

a) In der Strafsache verwarf die vom Angeklagten geleitete Strafkammer die Berufung des A. M. nach eintägiger<br />

Hauptverhandlung am 28. Februar 2005 mit der Maßgabe der Herabsetzung der Freiheitsstrafe. Der Berufungsführer<br />

legte Revision ein. Am 1. April 2005, drei Tage vor Ablauf der fünfwöchigen Urteilsabsetzungsfrist des § 275 Abs. 1<br />

Satz 2 StPO, leitete der Angeklagte der zuständigen Geschäftsstellenmitarbeiterin ein Urteil zu, das lediglich das<br />

Rubrum, den Tenor, die Prozessgeschichte, die Feststellungen zur Person <strong>und</strong> die Kostenentscheidung, jedoch keine<br />

Feststellungen zur Sache <strong>und</strong> keine Beweiswürdigung, keine rechtliche Würdigung <strong>und</strong> keine Ausführungen zur<br />

Strafzumessung enthielt, <strong>und</strong> ließ den Eingangsvermerk nach § 275 Abs. 1 Satz 5 StPO anbringen. Nach Ablauf der<br />

Urteilsabsetzungsfrist ergänzte er das Urteil um die fehlenden Bestandteile. Die Zustellung des vervollständigten<br />

Urteils verfügte er am 28. Juli 2006. Das Oberlandesgericht verwarf die Revision unter Berichtigung im Schuldspruch<br />

am 10. November 2006.<br />

b) In der Strafsache wurde die Berufung des H. S. nach eintägiger Hauptverhandlung am 29. März 2006 mit der<br />

Maßgabe der Herabsetzung der Geldstrafe verworfen. Der Berufungsführer legte Revision ein. Am 3. Mai 2006, dem<br />

Tag des Ablaufs der Urteilsabsetzungsfrist, brachte die zuständige Geschäftsstellenmitarbeiterin auf Anweisung des<br />

Angeklagten den Eingangsvermerk auf dem schriftlichen Urteil an, das zu diesem Zeitpunkt das Rubrum, den Tenor,<br />

die Prozessgeschichte, die Feststellungen zur Person <strong>und</strong> die Kostenentscheidung enthielt, während die übrigen Urteilsbestandteile<br />

nur rudimentär oder gar nicht enthalten waren. Die Schilderung der Tathandlung fehlte vollständig.<br />

Nach Änderungen <strong>und</strong> Ergänzungen, die er nach Ablauf der Urteilsabsetzungsfrist vorgenommen hatte, verfügte der<br />

Angeklagte am 13. Dezember 2006 die Zustellung des vervollständigten Urteils. Das Oberlandesgericht hob das<br />

Urteil mit den Feststellungen auf <strong>und</strong> verwies die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung an eine andere<br />

kleine Strafkammer des Landgerichts zurück.<br />

c) In der Strafsache wurde die Berufung des S. B. nach dreitägiger Hauptverhandlung am 21. August 2006 mit der<br />

Maßgabe der Herabsetzung der Freiheitsstrafe verworfen. Der Berufungsführer legte Revision ein. Am 22. September<br />

2006, drei Tage vor Ablauf der fünfwöchigen Urteilsabsetzungsfrist, leitete der Angeklagte der zuständigen Geschäftsstellenmitarbeiterin<br />

ein Urteil zu, das lediglich das Rubrum, den Tenor, die Prozessgeschichte, die Feststellungen<br />

zur Person <strong>und</strong> die Kostenentscheidung vollständig enthielt, <strong>und</strong> ließ den Eingangsvermerk anbringen. Die<br />

Sachverhaltsschilderung bestand zu diesem Zeitpunkt aus einem unvollständigen Halbsatz mit unzutreffender Tatzeitangabe,<br />

die Beweiswürdigung aus drei floskelhaften Sätzen. Der Angeklagte ergänzte das Urteil nach Ablauf der<br />

Urteilsabsetzungsfrist um die fehlenden Bestandteile. Die Zustellung des vervollständigten Urteils verfügte er am 3.<br />

August 2007. Das Oberlandesgericht verwarf die Revision am 1. April 2008.<br />

d) In der Strafsache wurde die Berufung des M. W. nach zweitägiger Hauptverhandlung am 10. Oktober 2006 verworfen.<br />

Der Berufungsführer legte Revision ein. Am 14. November 2006, dem Tag des Ablaufs der fünfwöchigen<br />

Urteilsabsetzungsfrist, wies der Angeklagte die zuständige Geschäftsstellenmitarbeiterin an, den Eingang des Urteils<br />

- 110 -


zu vermerken <strong>und</strong> ihm die Akten wieder vorzulegen. Das Urteil enthielt zu diesem Zeitpunkt das Rubrum, den Tenor,<br />

die Prozessgeschichte <strong>und</strong> unvollständige Feststellungen zur Person. Die ebenfalls enthaltenen Feststellungen<br />

zur Sache, die Beweiswürdigung <strong>und</strong> die Strafzumessung standen in keinem Zusammenhang mit der abgeurteilten<br />

Straftat des Fahrens ohne Fahrerlaubnis am 19. Februar 2005, sondern bezogen sich auf zwei im Jahr 2001 begangene<br />

Betrugshandlungen. Nach Ersetzung der unzutreffenden Ausführungen nach Ablauf der Urteilsabsetzungsfrist<br />

verfügte der Angeklagte am 3. August 2007 die Urteilszustellung. Das Oberlandesgericht änderte das Urteil im<br />

Schuld- <strong>und</strong> Strafausspruch, hob die Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung mit den zugehörigen<br />

Feststellungen auf <strong>und</strong> wies in diesem Umfang die Sache unter Verwerfung der weitergehenden Revision am 21.<br />

November 2007 an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts zurück.<br />

e) In der Strafsache wurde die Berufung des St. D. nach zweitägiger Hauptverhandlung am 19. September 2006<br />

verworfen. Der Berufungsführer legte Revision ein. Der Angeklagte ließ am 23. Oktober 2006, einen Tag vor Ablauf<br />

der fünfwöchigen Urteilsabsetzungsfrist, von der zuständigen Geschäftsstellenmitarbeiterin den Eingangsvermerk<br />

auf dem Urteil anbringen, das zu diesem Zeitpunkt lediglich das Rubrum, den Tenor, die Prozessgeschichte <strong>und</strong><br />

unvollständige Feststellungen zur Person enthielt. Die Feststellungen zur Sache, die Beweiswürdigung <strong>und</strong> die Strafzumessung<br />

betrafen nicht die ausgeurteilten Straftaten vom 10. September 2004, sondern eine Sachbeschädigung aus<br />

dem Jahr 2002. Nach Ablauf der Urteilsabsetzungsfrist ersetzte der Angeklagte die unzutreffenden Textpassagen<br />

durch passende Ausführungen. Die Zustellung des vervollständigten Urteils verfügte er am 3. August 2007. Bereits<br />

zuvor, am 6. November 2006, hatte Herr D. die Revision zurückgenommen. Wann der Angeklagte von der Revisionsrücknahme<br />

erfuhr, konnte nicht geklärt werden. Der Angeklagte machte die nach Ablauf der Urteilsabsetzungsfrist<br />

erfolgten Änderungen nicht aktenk<strong>und</strong>ig <strong>und</strong> ließ sie nicht von der Geschäftsstelle vermerken. Er beließ jeweils<br />

die erste Urteilsseite mit dem Eingangsvermerk <strong>und</strong> tauschte die geänderten Seiten heimlich aus.<br />

3. Nach Auffassung des Landgerichts erfüllen die festgestellten Tathandlungen nicht den Straftatbestand der Rechtsbeugung<br />

nach § 339 StGB. Der Angeklagte habe zwar in erheblicher Weise gegen zwingendes Verfahrensrecht verstoßen.<br />

Die heimliche Nachbearbeitung der Urteilsgründe nach Ablauf der Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO habe<br />

auch in jedem der festgestellten Fälle den Tatbestand der Urk<strong>und</strong>enfälschung gemäß § 267 Abs. 1 StGB erfüllt. Er<br />

habe jedoch nicht gehandelt, um die Revisionsführer zu benachteiligen, sondern um den Anschein eigener Leistungsfähigkeit<br />

aufrechtzuerhalten <strong>und</strong> weiteren Disziplinarmaßnahmen wegen zögerlicher Aktenbearbeitung zu entgehen.<br />

Ein „elementarer Rechtsverstoß“ oder ein „offensichtlicher Willkürakt“ im Sinne der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs<br />

sei darin nicht zu erkennen. Da der Angeklagte die Urk<strong>und</strong>enfälschung „bei der Leitung einer Rechtssache“<br />

im Sinne des § 339 StGB begangen habe, ohne sich zugleich der Rechtsbeugung strafbar gemacht zu haben,<br />

greife zu seinen Gunsten die Sperrwirkung des § 339 StGB.<br />

II. Der Freispruch hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die rechtliche Würdigung des festgestellten<br />

Sachverhalts unterliegt durchgreifenden rechtlichen Bedenken.<br />

1. Der Tatbestand der Rechtsbeugung erfordert, dass sich der Richter bei der Leitung oder Entscheidung einer<br />

Rechtssache bewusst <strong>und</strong> in schwerwiegender Weise von Recht <strong>und</strong> Gesetz entfernt <strong>und</strong> sein Handeln als Organ des<br />

Staates statt an Recht <strong>und</strong> Gesetz an eigenen Maßstäben ausrichtet (st. Rspr., u.a. BGH, Urteil vom 29. Oktober 1992<br />

– 4 StR 353/92, BGHSt 38, 381, 383; Urteil vom 6. Oktober 1994 – 4 StR 23/94, BGHSt 40, 272, 283 f.; Urteil vom<br />

15. September 1995 – 5 StR 713/94, BGHSt 41, 247, 251; Urteil vom 4. September 2001 – 5 StR 92/01, BGHSt 47,<br />

105, 108 f.; Urteil vom 29. Oktober 2009 – 4 StR 97/09 jeweils mwN).<br />

a) Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Angeklagte bei der Leitung oder Entscheidung einer<br />

Rechtssache gehandelt hat. Unter „Rechtssache“ ist das gesamte streitige Verhältnis zu verstehen, über das der Richter<br />

zu „entscheiden“ hat; die „Leitung“ der Rechtssache ist der Inbegriff aller Maßnahmen, die auf die Erledigung<br />

der Sache abzielen. Ob die Leitung der Rechtssache mit dem Erlass einer Entscheidung, also der Anordnung einer<br />

Rechtsfolge (NK-StGB-Kuhlen, 4. Aufl., § 339 Rn. 26), beendet ist, hängt von der Art des Verfahrens <strong>und</strong> dem Gegenstand<br />

der Entscheidung ab. Die Absetzung des schriftlichen Urteils in Strafsachen dient nicht allein der verwaltungsmäßigen<br />

Abwicklung des Strafverfahrens (vgl. BGH, Urteil vom 29. Oktober 1992 – 4 StR 353/92, BGHSt 38,<br />

381, 385), dieses ist mit der mündlichen Urteilsverkündung nicht beendet. Die Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe<br />

ist vielmehr originäre Aufgabe des erkennenden Richters <strong>und</strong> gehört zur Leitung <strong>und</strong> Entscheidung der<br />

Rechtssache. Dies gilt erst recht, wenn – wie hier – gegen die Entscheidung ein Rechtsmittel eingelegt ist. Die Tätigkeit<br />

des Richters kann in diesem Fall die künftige Entscheidung des Rechtsmittelgerichts zugunsten oder zum Nachteil<br />

des Angeklagten beeinflussen, das Verfahren hat mithin auch nach Erlass des mündlichen Urteils weiterhin die<br />

Leitung <strong>und</strong> Entscheidung einer Rechtssache zum Gegenstand.<br />

- 111 -


) Der Angeklagte hat auch in elementarer Weise gegen Recht <strong>und</strong> Gesetz verstoßen. Nicht jede unrichtige Rechtsanwendung<br />

stellt eine Beugung des Rechts dar. Der B<strong>und</strong>esgerichtshof hat wiederholt darauf hingewiesen, dass der<br />

Tatbestand nicht in unangemessener Weise ausgedehnt werden darf. Zweck der Vorschrift ist es, den Rechtsbruch als<br />

elementaren Verstoß gegen die Rechtspflege unter Strafe zu stellen. Die Einordnung der Rechtsbeugung als Verbrechenstatbestand<br />

indiziert die Schwere des Unwerturteils <strong>und</strong> führt in der Regel im Falle der rechtskräftigen Verurteilung<br />

kraft Gesetzes zur Beendigung des Richterverhältnisses (§ 24 Nr. 1 DRiG). Mit dieser gesetzlichen Zweckbestimmung<br />

wäre es nicht zu vereinbaren, jede unrichtige Rechtsanwendung <strong>und</strong> jeden Ermessensfehler in den Schutzbereich<br />

der Norm einzubeziehen. Dies gilt auch bei der Rechtsbeugung durch Beugung des Verfahrensrechts (st.<br />

Rspr., u.a. BGH, Urteil vom 27. Mai 1987 – 3 StR 112/87, NStZ 1988, 218; Urteil vom 29. Oktober 1992 – 4 StR<br />

353/92, BGHSt 38, 381, 383 mwN; Urteil vom 5. Dezember 1996 – 1 StR 376/96, BGHSt 42, 343, 346, 351; Urteil<br />

vom 4. September 2001 – 5 StR 92/01, BGHSt 47, 105, 109 mwN; Beschluss vom 24. Juni 2009 – 1 StR 201/09,<br />

NStZ 2010, 92; Beschluss vom 7. Juli 2010 – 5 StR 555/09 Rn. 29, StV 2011, 463, 466). Eine Verletzung von Verfahrensvorschriften<br />

stellt nur dann einen Rechtsbruch im Sinne des § 339 StGB dar, wenn darin allein oder unter<br />

Berücksichtigung des Motivs des Täters ein elementarer Rechtsverstoß gesehen werden kann. Der Angeklagte hat in<br />

den verfahrensgegenständlichen Fällen gegen die Vorschrift des § 275 Abs. 1 Satz 3 StPO verstoßen. Nach Fertigstellung<br />

ist eine sachliche Änderung oder Ergänzung der Urteilsgründe nur dann zulässig, wenn die Frist nach § 275<br />

Abs. 1 Satz 2 StPO noch nicht abgelaufen ist. War der Eingangsvermerk der Geschäftsstelle nach § 275 Abs. 1 Satz<br />

5 StPO bereits angebracht, so hat die Geschäftsstelle auch den Zeitpunkt der Änderung zu vermerken. Der Angeklagte<br />

hat die Urteile nach Fristablauf geändert <strong>und</strong> ergänzt, ohne dies in den Akten erkennbar zu machen oder der Geschäftsstelle<br />

mitzuteilen. Die Verletzung des § 275 StPO war hier gravierend <strong>und</strong> ist als elementarer Rechtsverstoß<br />

anzusehen. Zum einen hat der Angeklagte in erheblichem Umfang wesentliche Urteilsbestandteile ergänzt. Die vor<br />

Fristablauf zur Geschäftsstelle gelangten Urteile enthielten keine auch nur entfernt ausreichenden Feststellungen zur<br />

Sache <strong>und</strong> keine Beweiswürdigung, vermochten also einem selbst nur mit der allgemeinen Sachrüge ausgeführten<br />

Revisionsangriff nicht standzuhalten. Zum anderen hat der Angeklagte durch sein heimliches Vorgehen den Verfahrensbeteiligten<br />

<strong>und</strong> dem Revisionsgericht eine Aufdeckung der Manipulation unmöglich gemacht. Die Schwere des<br />

Verstoßes zeigt sich insoweit darin, dass sein Verhalten als solches den Tatbestand der Urk<strong>und</strong>enfälschung sogar in<br />

der Alternative des § 267 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 StGB erfüllt hat.<br />

c) Die Tat muss zugunsten oder zum Nachteil einer Partei erfolgen. Zugunsten oder zum Nachteil einer Partei wirkt<br />

sich eine Beugung des Rechts aus, wenn sie die Partei besser oder schlechter stellt, als sie bei richtiger Rechtsanwendung<br />

stünde. Rechtsbeugung kann auch durch die Verletzung von Verfahrens- <strong>und</strong> Zuständigkeitsvorschriften<br />

begangen werden. Erforderlich ist insoweit, dass durch die Verfahrensverletzung die konkrete Gefahr einer falschen<br />

Entscheidung zum Vor- oder Nachteil einer Partei begründet wurde, ohne dass allerdings ein Vor- oder Nachteil<br />

tatsächlich eingetreten sein muss (BGH, Urteil vom 11. April 2013 – 5 StR 261/12 Rn. 39 mwN). Das Verhalten des<br />

Angeklagten war in allen Fällen ohne weiteres geeignet, sich zum Nachteil des jeweiligen Revisionsführers auszuwirken.<br />

Die innerhalb der Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO zu den Akten gelangten Urteile waren unvollständig,<br />

enthielten insbesondere keine Sachverhaltsdarstellung des abgeurteilten Falls <strong>und</strong> keine Beweiswürdigung, so dass<br />

sie bereits auf die allgemeine Sachrüge hin vom Revisionsgericht aufzuheben gewesen wären. Diesen Umstand verschleierte<br />

der Angeklagte. Der dem Angeklagten objektiv anzulastende Rechtsbeugungsverstoß lag in der heimlichen,<br />

aus den Akten nicht erkennbaren Beseitigung eines durchgreifenden Revisionsgr<strong>und</strong>es, welche zu einer Verschlechterung<br />

der Rechtsmittelposition der jeweiligen Revisionsführer führte <strong>und</strong> ohne weiteres eine Benachteiligung<br />

bedeutete (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2009 – 1 StR 201/09 Rn. 7, NStZ 2010, 92; Urteil vom 31. Mai<br />

2012 – 2 StR 610/11 Rn. 19, NStZ 2013, 106, 107). Ob das in der Sache ergangene Urteil der Berufungskammer<br />

materiell richtig war, ist hingegen für diese Beurteilung ebenso wenig von Belang wie die Frage, ob die Entscheidung<br />

des Revisionsgerichts ohne die Manipulation konkret anders ausgefallen wäre. Durch die Manipulationen wurde<br />

die Rechtsstellung der Revisionsführer unmittelbar verletzt, denn die unvollständigen Urteilsgründe wurden nicht<br />

zur Entscheidungsgr<strong>und</strong>lage des Revisionsgerichts.<br />

d) Der Angeklagte hat nach den von der Strafkammer getroffenen Feststellungen auch den subjektiven Tatbestand<br />

des § 339 StGB erfüllt. Insofern genügt bedingter Vorsatz (BGH, Urteil vom 6. Oktober 1994 – 4 StR 23/94, BGHSt<br />

40, 272, 276); der Täter muss für möglich halten, dass seine fehlerhafte Entscheidung zur Bevorzugung oder Benachteiligung<br />

einer Partei führen wird <strong>und</strong> sich damit abfinden (NK-StGB-Kuhlen, aaO, Rn. 78). Das Landgericht hat<br />

festgestellt, dass der Angeklagte sogar in der Absicht handelte, die Prozessbeteiligten <strong>und</strong> das Revisionsgericht darüber<br />

zu täuschen, dass die ihnen vorliegende Urteilsniederschrift inhaltlich nicht derjenigen entsprach, welche zu<br />

- 112 -


dem auf dem Eingangsvermerk bezeichneten Zeitpunkt zur Geschäftsstelle gelangt war (UA S. 20). Ohne Bedeutung<br />

für den bewussten, objektiven Verstoß gegen das Recht ist es entgegen der Ansicht des Landgerichts, dass das Motiv<br />

des Angeklagten war, den Anschein seiner Leistungsfähigkeit aufrechtzuerhalten <strong>und</strong> einer weiteren Disziplinarmaßnahme<br />

zu entgehen, nicht aber, die Revisionsführer gezielt zu benachteiligen. Für den objektiven Tatbestand<br />

reicht der bewusste Rechtsverstoß (der sich bei formell ordnungsgemäßen Handlungen aus dem Motiv des Täters<br />

ergeben kann), eine darüber hinausgehende absichtliche Begünstigung oder Benachteiligung der Prozessparteien ist<br />

nicht erforderlich (LK-StGB/Hilgendorf, 12. Aufl., § 339 Rn. 82, 85). War sich der Angeklagte über die Rechtswidrigkeit<br />

seines Handelns zum Nachteil der Revisionsführer im Klaren, dann hat er auch, <strong>und</strong> zwar mit direktem Vorsatz,<br />

das Recht gebeugt. Die Strafkammer verkennt bei ihrer Bewertung zudem, dass es bei der Benachteiligung bei<br />

einem Verstoß gegen Verfahrensrecht nicht entscheidend auf die materielle Richtigkeit der „Endentscheidung“ oder<br />

des in der Berufungshauptverhandlung verkündeten Urteils ankommt, sondern auch in der Verschlechterung der<br />

prozessualen Situation der Prozessbeteiligten eine Benachteiligung liegt. Dass sich der Angeklagte als erfahrener<br />

Strafrichter der Verschlechterung der prozessualen Situation der Revisionsführer bewusst war, hat das Landgericht<br />

ebenfalls festgestellt (UA S. 23). Auf seine Vorstellung, das von der Berufungskammer gef<strong>und</strong>ene Urteil sei im<br />

Ergebnis richtig, kommt es hingegen nicht an (vgl. BGH, Urteil vom 4. September 2001 – 5 StR 92/01, BGHSt 47,<br />

105, 115).<br />

2. Der Rechtsfehler führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils insgesamt. Im Fall II. 5. der Urteilsgründe liegt<br />

nach den bisherigen Feststellungen ein untauglicher Versuch nahe. Der Senat neigt im Übrigen zu der Auffassung,<br />

dass der Tatbestand der Urk<strong>und</strong>enfälschung bei der vorliegenden Sachverhaltskonstellation nicht von der Sperrwirkung<br />

des § 339 StGB erfasst wäre. Auch wenn die Beweiswürdigung keinen durchgreifenden Rechtsfehler aufweist,<br />

gebietet es der Umstand, dass der freigesprochene Angeklagte gegen die getroffenen Feststellungen kein Rechtsmittel<br />

einlegen konnte, auch diese aufzuheben (BGH, Urteil vom 11. April 2013 – 5 StR 261/12 Rn. 56; vgl. Meyer-<br />

Goßner, StPO, 56. Aufl., § 353 Rn. 15a; LR-StPO/Franke, 26. Aufl., § 354 Rn. 43 mwN).<br />

Nebenstrafrecht<br />

AEUV Art. 82 Abs. 2 Satz 2 a); EMRK Art. 6 Abs. 1; EU-RhÜbk Art. 22;EurRhÜbk CZ-ErgVtr Art.<br />

17 Abs. 2 <strong>und</strong> 5 StPO § 477 Abs. 2 Satz 2<br />

BGH, Beschl. v. 21.11.2012 - 1 StR 310/12 - wistra 2013, 2<br />

LS: 1. Die Verwertbarkeit mittels Rechtshilfe eines ausländischen Staates erlangter Beweise bestimmt<br />

sich nach dem inländischen Recht.<br />

2. Auf diesem Weg gewonnene Beweise unterliegen trotz Nichteinhaltung der maßgeblichen rechtshilferechtlichen<br />

Bestimmungen keinem Beweisverwertungsverbot, wenn die Beweise auch bei Beachtung<br />

des Rechtshilferechts durch den ersuchten <strong>und</strong> den ersuchenden Staat hätten erlangt werden<br />

können.<br />

3. Ist die Rechtshilfe durch einen Mitgliedstaat der Europäischen Union geleistet worden, darf bei<br />

der Beurteilung der Beweisverwertung im Inland nur in eingeschränktem Umfang geprüft werden,<br />

ob die Beweise nach dem innerstaatlichen Recht des ersuchten Mitgliedstaates rechtmäßig gewonnen<br />

wurden. Das gilt jedenfalls dann, wenn die dortige Beweiserhebung nicht auf einem inländischen<br />

Rechtshilfeersuchen beruht.<br />

Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 23. Dezember 2011 werden als<br />

unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigungen keinen Rechtsfehler<br />

zum Nachteil der Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO). Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines<br />

Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

- 113 -


Die Angeklagten, sämtlich tschechische Staatsangehörige, wurden wegen jeweils in mittelbarer Täterschaft begangenen<br />

bandenmäßigen <strong>und</strong> gewerbsmäßigen Schmuggels in zwei Fällen zu mehrjährigen Gesamtfreiheitsstrafen verurteilt.<br />

Sie hatten vereinbart, aus China stammende Zigaretten unversteuert <strong>und</strong> unverzollt in die B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland <strong>und</strong> nach Tschechien zu „schmuggeln“. Hierzu organisierten sie im November 2007 (Tat 1) <strong>und</strong> im<br />

März 2008 (Tat 2) „Schmuggelfahrten“ von Zigaretten: Von ihnen beauftragte Fahrer transportierten jeweils einen<br />

Container mit Zigaretten aus der Hamburger Freihafenzone in das B<strong>und</strong>esgebiet. Die Angeklagten bewirkten, dass<br />

die Fahrer bei Verlassen des Zollfreigebiets unvollständige Zollanmeldungen abgaben, so dass keine Einfuhrabgaben<br />

festgesetzt wurden. Hierdurch verkürzten sie Zoll sowie Tabak- <strong>und</strong> Einfuhrumsatzsteuer in einem Gesamtumfang<br />

von 1.583.173,44 Euro (Tat 1) <strong>und</strong> 1.163.899,56 Euro (Tat 2). Unmittelbar nachdem der LKW die Hamburger Freihafenzone<br />

verlassen hatte (Fall 1) bzw. bevor der LKW in einer Lagerhalle in Berlin vollständig entladen war (Fall<br />

2), stellten die Zollbehörden aufgr<strong>und</strong> von Observationen die Zigaretten sicher <strong>und</strong> verhafteten die Fahrer, die beide<br />

noch im Jahr 2008 wegen Steuerhinterziehung bzw. gewerbsmäßigen Schmuggels zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden.<br />

Die Tatbeteiligung der Angeklagten ist maßgeblich auf Erkenntnisse aus Telefonüberwachungsmaßnahmen<br />

tschechischer Ermittlungsbehörden gestützt. Diese Maßnahmen in Tschechien beruhten nicht auf einem deutschen<br />

Rechtshilfeersuchen. Die auf Verfahrensrügen <strong>und</strong> die ausgeführte Sachrüge gestützten Revisionen der Angeklagten<br />

sind unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO). Näherer Ausführungen bedarf es lediglich insoweit, als die Angeklagten -<br />

inhaltlich im Wesentlichen übereinstimmend - die Verwertung der Erkenntnisse aus den genannten Telefonüberwachungsmaßnahmen<br />

beanstanden (A.), <strong>und</strong> sich der Angeklagte R. gegen die Besetzung des Gerichts mit nur zwei<br />

Berufsrichtern wendet (B.).<br />

A.<br />

I. Den verwerteten Erkenntnissen aus der Telefonüberwachung liegt Folgendes zugr<strong>und</strong>e: In den Jahren 2007 <strong>und</strong><br />

2008 hatten die Bezirksgerichte Prag 4 <strong>und</strong> Prag 10 gemäß § 88 Abs. 1 <strong>und</strong> 2 der tschechischen Strafprozessordnung<br />

in einem dort wegen des Verdachts von Zigarettenschmuggel geführten Ermittlungsverfahren auf Antrag der örtlichen<br />

Staatsanwaltschaft Beschlüsse über die Überwachung der Telekommunikation von näher bezeichneten Telefonanschlüssen<br />

erlassen. Einige dieser Anschlüsse waren den Angeklagten oder von ihnen geführten Unternehmen zuzuordnen.<br />

Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage hatten die tschechischen Ermittlungsbehörden unter anderem von den Angeklagten<br />

(untereinander <strong>und</strong> mit Dritten) geführte Telefonate abgehört <strong>und</strong> verschriftet; später wurde das in Tschechien gegen<br />

die dortigen Beschuldigten geführte Strafverfahren eingestellt, soweit eine Einfuhr von nicht verzollten Zigaretten<br />

auf tschechisches Staatsgebiet nicht festgestellt werden konnte. Im Verlauf des hiesigen Ermittlungsverfahrens wegen<br />

des Verdachts der hier abgeurteilten Taten (u.a.) richtete die Staatsanwaltschaft Hamburg im Mai 2009 ein<br />

Rechtshilfeersuchen an die Kreisstaatsanwaltschaft in Prag. Darin ersuchte sie um Übersendung der dort vorliegenden<br />

Beweismittel, insbesondere von Mitschnitten von Telefonaten, Observationsberichten, Zeugenaussagen <strong>und</strong> von<br />

aussagekräftigen relevanten Unterlagen. Auf dieses Ersuchen übersandte die Kreisstaatsanwaltschaft Prag im September<br />

2009 zunächst verschriftete Aufzeichnungen von Telefongesprächen sowie im weiteren Verlauf Audio-CDs<br />

mit insgesamt r<strong>und</strong> 45.000 abgehörten Telefongesprächen. Gegenstand der Hauptverhandlung waren - gegen den<br />

Widerspruch der Angeklagten - vorgespielte <strong>und</strong> übersetzte Mitschnitte von solchen Telefongesprächen.<br />

II. Die Revisionen halten wegen der Verwertung dieser Telefonmitschnitte insbesondere den Gr<strong>und</strong>satz des fairen<br />

Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 EMRK) für verletzt. Die Voraussetzungen für die Gewährung bilateraler Rechtshilfe bezüglich<br />

der Telekommunikationsüberwachung hätten nicht vorgelegen. Diese ergeben sich aus Art. 17 Abs. 2 <strong>und</strong><br />

Abs. 5 des Vertrages vom 2. Februar 2000 zwischen der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland <strong>und</strong> der Tschechischen Republik<br />

über die Ergänzung des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959<br />

(CZ-ErgV EuRhÜbk); in nationales Recht umgesetzt durch Gesetz vom 13. Juli 2001 (BGBl. II S. 733). Danach<br />

dürfen Rechtshilfeersuchen nur erledigt werden, wenn „eine Überwachungsanordnung eines zuständigen Gerichts<br />

des ersuchenden Vertragsstaates vorgelegt wird oder aus der Erklärung eines solchen Gerichts hervorgeht, dass die<br />

Voraussetzungen der Überwachung vorlägen, wenn eine derartige Maßnahme im Hoheitsgebiet des ersuchenden<br />

Vertragsstaates durchzuführen wäre“ (Art. 17 Abs. 2 Ziff. 1). Außerdem kann „die Überwachung auch nach dem<br />

Recht des ersuchten Vertragsstaates angeordnet werden …, sofern die Strafverfolgung wegen der dem Ersuchen<br />

zugr<strong>und</strong>e liegenden Straftat dort durchgeführt werden würde“ (Art. 17 Abs. 2 Ziff. 2). Zudem gelten die „Absätze 1,<br />

2 (Ziffern 1 <strong>und</strong> 2) <strong>und</strong> 4 … entsprechend für Ersuchen um Herausgabe von Unterlagen, die aus Maßnahmen der<br />

Überwachung der Telekommunikation in einem im Hoheitsgebiet des ersuchten Vertragsstaates geführten Strafverfahren<br />

herrühren“ (Art. 17 Abs. 5). Die Revisionen beanstanden im Einzelnen:<br />

- 114 -


1. Die nach Art. 17 Abs. 2 Ziffer 1 CZ-ErgV EuRhÜbk erforderliche Erklärung eines deutschen Gerichts über das<br />

Vorliegen der Voraussetzungen der Telekommunikationsüberwachung für den Fall der Durchführung der entsprechenden<br />

Maßnahme im Inland habe gefehlt.<br />

2. Zudem habe es jedenfalls für die aufgr<strong>und</strong> des Beschlusses des Bezirksgerichts Prag 4 vom 13. November 2007<br />

durchgeführten Telekommunikationsüberwachung an der vom Übereinkommen geforderten Möglichkeit gemangelt,<br />

dass eine solche Überwachung auch nach b<strong>und</strong>esdeutschem Recht hätte angeordnet werden können. Die verfahrensgegenständlichen<br />

Straftaten seien nämlich am Tage des Erlasses dieses Beschlusses noch keine Katalogtaten des §<br />

100a Abs. 1 StPO gewesen, sondern erst mit Wirkung zum 1. Januar 2008 dort eingestellt worden.<br />

3. Die Anordnungsbeschlüsse der Bezirksgerichte Prag 4 <strong>und</strong> Prag 10 - auch derjenige des Bezirksgerichts Prag 4<br />

vom 13. November 2007 - seien unzureichend begründet gewesen. Den insoweit sowohl nach tschechischem als<br />

auch deutschem Recht bestehenden Begründungsanforderungen (eine wenigstens knappe Darstellung der den Tatverdacht<br />

begründenden Tatsachen <strong>und</strong> der Beweislage) habe keiner der Beschlüsse entsprochen.<br />

III. Es kann dahinstehen, ob die Verfahrensrügen der drei Angeklagten zulässig ausgeführt sind. Sie sind jedenfalls<br />

unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO). Die Inhalte der durch die tschechischen Strafverfolgungsbehörden abgehörten <strong>und</strong><br />

aufgezeichneten Telefongespräche durfte das Landgericht verwerten. Das Fehlen der nach Art. 17 Abs. 5 i.V.m. Abs.<br />

2 Ziffer 1 CZ-ErgV EuRhÜbk für die Herausgabe von Unterlagen aus der Telekommunikationsüberwachung an sich<br />

erforderlichen Erklärung eines Gerichts des ersuchenden Staates über das Vorliegen der Voraussetzungen der begehrten<br />

Maßnahme auch in diesem Staat steht der Verwertung nicht entgegen. Es besteht weder ein aus völkerrechtlichen<br />

Vorschriften noch aus dem deutschen Recht resultierendes Beweisverwertungsverbot.<br />

1. Die Verwertbarkeit mittels Rechtshilfe eines ausländischen Staates gewonnener Beweise richtet sich nach der<br />

Rechtsordnung des um diese Rechtshilfe ersuchenden Staates (Ambos, Beweisverwertungsverbote, 2010, S. 81;<br />

Böse ZStW 114 [2002], S. 148, 149, 152 <strong>und</strong> 180; Gleß JR 2008, S. 317, 321; Jahn, Gutachten für den 67. Deutschen<br />

Juristentag, 2008, C 117; vgl. auch Schuster, Verwertbarkeit im Ausland gewonnener Beweismittel im deutschen<br />

Strafprozess, 2006, S. 264 ff.; teilw. aA Perron ZStW 112 [2000], S. 202, 219 hinsichtlich der Verwertung der Ergebnisse<br />

im Ausland durchgeführter Telekommunikationsüberwachung). Von diesem Gr<strong>und</strong>satz geht auch die<br />

Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs aus (implizit jeweils BGH, Beschluss vom 4. März 1992 - 3 StR 460/91,<br />

NStZ 1992, 394; BGH, Urteil vom 10. August 1994 - 3 StR 53/94, NStZ 1994, 595, 596; BGH, Beschluss vom 14.<br />

Februar 2001 - 3 StR 438/00, NStZ-RR 2002, 67; siehe auch BGH, Urteil vom 1. April 1992 - 5 StR 457/91, BGHSt<br />

38, 263, 265 f.). Welche Gründe zu einer Unverwertbarkeit derart gewonnener Beweise im inländischen Strafverfahren<br />

führen können, ist nicht in allen Einzelheiten geklärt. Es besteht jedoch weitgehend Einigkeit darüber, dass sich<br />

Beweisverwertungsverbote im Zusammenhang mit Beweisrechtshilfe entweder aus der inländischen Rechtsordnung<br />

des ersuchenden Staates oder aus völkerrechtlichen Gr<strong>und</strong>sätzen ergeben können (Ambos, aaO, S. 81; vgl. auch<br />

Gleß, Beweisrechtsgr<strong>und</strong>sätze einer grenzüberschreitenden Strafverfolgung, 2006, S. 141 ff.; dies., JR 2008, 317,<br />

323 ff.). Der B<strong>und</strong>esgerichtshof hat im Kontext der Beweisrechtshilfe ein aus der Verletzung des Völkerrechts abgeleitetes<br />

inländisches Verwertungsverbot bislang bei unzulässigen Eingriffen in das Souveränitätsrecht eines anderen<br />

Staates angenommen (siehe BGH, Urteil vom 8. April 1987 - 3 StR 11/87, BGHSt 34, 334, 343 f.). Protokolle einer<br />

im Ausland erfolgten Zeugenvernehmung, die die deutschen Strafverfolgungsbehörden von einer ausländischen<br />

Behörde unter Umgehung des Rechtshilfewegs unmittelbar erhalten haben, sind dementsprechend für unverwertbar<br />

gehalten worden, wenn die zuständige ausländische Behörde der Verwertung widersprochen hat (BGH, aaO, BGHSt<br />

34, 334, 342-345). Eine Unverwertbarkeit von im Rahmen der Rechtshilfe gewonnenen Beweisen kann sich im<br />

Gr<strong>und</strong>satz zudem aus der Verletzung rechtshilferechtlicher Bestimmungen selbst ergeben. So hat der B<strong>und</strong>esgerichtshof<br />

die Verletzung von multilateralen rechtshilferechtlichen Bestimmungen durch den ersuchten ausländischen<br />

Staat als Gr<strong>und</strong> für die Unverwertbarkeit eines Beweises herangezogen (BGH, Beschluss vom 15. März 2007 - 5 StR<br />

53/07, NStZ 2007, 417 bzgl. Art. 4 Abs. 1 EU-RhÜbk). Dem lag zugr<strong>und</strong>e, dass entgegen dem nach Art. 4 Abs. 1<br />

EU-RhÜbk für das konkrete Rechtshilfeersuchen maßgeblichen Recht des ersuchenden Staates Deutschland in<br />

Frankreich eine richterliche Vernehmung ohne die gemäß § 168c StPO erforderliche Benachrichtigung des Verteidigers<br />

erfolgt war. Die über diese Vernehmung gefertigte Niederschrift war wegen des Verstoßes gegen die rechtshilferechtlich<br />

gebotene Einhaltung des Rechts des ersuchenden Staates unverwertbar (BGH aaO). Allerdings ergab sich<br />

der zum Verwertungsverbot führende Gr<strong>und</strong> letztlich aus der Verletzung der inländischen Benachrichtigungspflicht<br />

des § 168c StPO. Lediglich die Pflicht zu dessen Beachtung durch die französischen Behörden resultierte aus der<br />

rechtshilferechtlichen Bestimmung des Art. 4 Abs. 1 EU-RhÜbk. Ist der ersuchte ausländische Staat rechtshilferechtlich<br />

zur Vornahme der erbetenen Beweiserhebung nach dem Recht des ersuchenden Staates verpflichtet, wird sich<br />

- 115 -


ein inländisches Beweisverwertungsverbot gr<strong>und</strong>sätzlich aus der Verletzung der maßgeblichen inländischen Beweiserhebungsregeln<br />

ergeben (siehe bereits Senat, Urteil vom 19. März 1996 - 1 StR 497/95, NJW 1996, 2239, 2240<br />

bzgl. § 168c Abs. 5 StPO).<br />

2. Unter keinem der vorstehenden rechtlichen Gesichtspunkte besteht bezüglich der Telefonmitschnitte ein Verwertungsverbot.<br />

a) Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob der hier vorliegende Verstoß gegen die in Art. 17 Abs. 5 i.V.m.<br />

Abs. 2 CZ-ErgV EuRhÜbk für die Gewährung von Rechtshilfe durch Herausgabe von Unterlagen aus Maßnahmen<br />

der Telekommunikationsüberwachung geforderten rechtshilferechtlichen Voraussetzungen überhaupt zu einem inländischen<br />

Beweisverwertungsverbot führen kann. Der Senat neigt insoweit der Auffassung zu, dass ein aus der<br />

Nichteinhaltung rechtshilferechtlicher Bestimmungen abgeleitetes Verwertungsverbot lediglich dann in Betracht zu<br />

ziehen ist, wenn den entsprechenden Regelungen (auch) ein individualschützender Charakter - wenigstens im Sinne<br />

eines Schutzreflexes (so bereits BGH, Urteil vom 8. April 1987 - 3 StR 11/87, BGHSt 34, 334, 343 f.) - zukommt.<br />

Vorliegend deuten die in Art. 17 des Übereinkommens festgelegten, von den Art. 17-20 EU-RhÜbk abweichenden<br />

<strong>und</strong> diesen vorgehenden (Art. 22 EU-RhÜbk) Bedingungen der Rechtshilfe in Telekommunikationsangelegenheiten<br />

darauf hin, dass diesen trotz des völkerrechtlichen Charakters eine individualschützende Komponente zukommt.<br />

Eine solche ist rechthilferechtlichen Übereinkommen auch außerhalb des EU-RhÜbk bereits in früheren Entscheidungen<br />

jedenfalls im Sinne eines völkerrechtlichen Reflexes zu Gunsten des Angeklagten im Fall einer Souveränitätsverletzung<br />

durch den ersuchenden Staat zugemessen worden (BGH, aaO, BGHSt 34, 334, 344). Es entspricht<br />

ohnehin dem mittlerweile ganz überwiegenden völkerrechtlichen Verständnis, den Einzelnen als Subjekt des Völkerrechts<br />

anzuerkennen <strong>und</strong> seine Interessen im Rahmen des Rechtshilferechts zu berücksichtigen (Ambos, aaO, S. 92<br />

mwN; vgl. auch BGH, Beschluss vom 9. Februar 2012 - 1 StR 148/11, BGHSt 57, 138, 147 Rn. 36). Auf eine auch<br />

individuelle Rechte der angehörten Personen schützende Komponente deutet zudem hin, dass die Erledigung des<br />

Rechtshilfeersuchens in Art. 17 Abs. 2 <strong>und</strong> Abs. 5 CZ-ErgV EuRhÜbk von dem Vorliegen der jeweiligen vom nationalen<br />

Recht für die Überwachung der Telekommunikation verlangten Voraussetzungen abhängig gemacht wird.<br />

Der im deutschen Strafverfahrensrecht für die Telekommunikationsüberwachung gr<strong>und</strong>sätzlich bestehende Richtervorbehalt<br />

(§ 100b Abs. 1 Satz 1 StPO) bezweckt den Schutz der Gr<strong>und</strong>rechte der einzelnen Betroffenen. Denn der<br />

Richtervorbehalt zielt auf eine vorbeugende rechtliche Kontrolle der konkreten, mit einem Gr<strong>und</strong>rechtseingriff verb<strong>und</strong>enen<br />

strafprozessualen Maßnahme durch eine neutrale Instanz (BVerfGE 96, 44, 51 ff.; BVerfGE 103, 142,<br />

151).<br />

b) Selbst bei Annahme einer individualschützenden Komponente der hier einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens<br />

resultiert aus dem Fehlen einer gerichtlichen Bestätigung eines deutschen Gerichts über das Vorliegen der<br />

Voraussetzungen i.S.v. Art. 17 Abs. 2 Ziffer 1 i.V.m. Abs. 5 CZ-ErgV EuRhÜbk im Zeitpunkt des Rechtshilfeersuchens<br />

der Staatsanwaltschaft Hamburg kein Beweisverwertungsverbot.<br />

aa) Das Übereinkommen selbst ordnet kein Verwertungsverbot für den Fall der Verletzung der in ihm enthaltenen<br />

rechtshilferechtlichen Bestimmungen an. Die Formulierung in Art. 17 Abs. 2 CZ-ErgV EuRhÜbk „Ersuchen …<br />

werden nur erledigt, wenn …“ betrifft nach Wortlaut <strong>und</strong> Regelungszweck lediglich das Verhältnis der Vertragsstaaten<br />

untereinander. Es wird dem ersuchten Staat das Recht eingeräumt, dem Rechtshilfeersuchen nicht zu folgen,<br />

wenn die vertraglich vereinbarten Voraussetzungen nicht vorliegen. Eine Pflicht des ersuchten Staates, die Erfüllung<br />

des Ersuchens bei deren Fehlen abzulehnen, ist damit nicht verb<strong>und</strong>en. Die vertragliche Vereinbarung von formellen<br />

<strong>und</strong> materiellen Voraussetzungen der Rechtshilfe sichert die Souveränität des Vertragsstaates dergestalt, dem Ersuchen<br />

lediglich unter den Bedingungen Folge leisten zu müssen, die die Vertragsstaaten zuvor vereinbart haben. Wie<br />

der Generalb<strong>und</strong>esanwalt in seiner Antragsschrift zu Recht aufgezeigt hat, bleibt der ersuchte Staat völkerrechtlich<br />

aber berechtigt, Rechtshilfe zu leisten, ohne dazu völker-vertragsrechtlich oder sonst verpflichtet zu sein (Schuster,<br />

aaO, S. 118). Auch das ist Ausdruck seiner Souveränität. Ein eigener Rekurs der deutschen Gerichte auf tschechisches<br />

Recht ist damit unzulässig (vgl. zur Spezialitätsbindung auch BGH, Beschluss vom 11. November 2004 - 5<br />

StR 299/03, wistra 2005, 58, 60). Das nach dem deutsch-tschechischen Übereinkommen nicht geschuldete Leisten<br />

von Rechtshilfe durch die Kreisstaatsanwaltschaft Prag als solches kann daher auch kein Verwertungsverbot im<br />

ersuchenden Staat zur Folge haben.<br />

bb) Verwertungsbeschränkungen oder -verbote aus dem das bilaterale Rechtshilferecht zwischen der Tschechischen<br />

Republik <strong>und</strong> der B<strong>und</strong>esrepublik ergänzenden Europäischen Rechtshilferecht, etwa Art. 13 Abs. 10 EU-RhÜbk,<br />

liegen ebenfalls nicht vor. Das Europäische Rechtshilfeübereinkommen enthält ohnehin keine Regelungen über die<br />

Verwertbarkeit von im Rahmen der auf die Telekommunikationsüberwachung bezogenen Beweisrechtshilfe gewon-<br />

- 116 -


nenen Beweise (Gleß/Schomburg, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe, 5. Aufl., Art.<br />

18 EU-RhÜbk Rn. 24). Das Verwertungsverbot aus Art. 39 Abs. 2 SDÜ greift ebenfalls nicht ein.<br />

cc) Ein auf die Nichteinhaltung der rechtshilferechtlichen Bestimmungen gestütztes Verwertungsverbot ergibt sich<br />

vorliegend auch nicht aus allgemeinen völkerrechtlichen Gr<strong>und</strong>sätzen wie dem allgemeinen Fairnessgebot des Art. 6<br />

Abs. 1 EMRK. Ein Beweisverwertungsverbot käme aufgr<strong>und</strong> von Verstößen gegen rechtshilferechtliche Bestimmungen<br />

als solche allenfalls in Betracht, wenn sich das gegen den Angeklagten geführte Strafverfahren insgesamt als<br />

unfair erweisen würde. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ist anerkannt,<br />

dass aus der Verletzung von Vorschriften des nationalen Rechts über die Beweiserhebung nicht zwingend ein<br />

Beweisverwertungsverbot resultiert, wenn das entsprechende Verfahren trotz des Verstoßes insgesamt als fair anzusehen<br />

ist (etwa EGMR, Urteil vom 25. März 1999, 25444/94 [Pélissier u. Sassi ./. Frankreich], Rn. 45 f., NJW 1999,<br />

3545 f.; siehe auch Jahn, aaO, C 121 mwN in Fn. 560). Bei Verletzung von rechtshilferechtlichen Bestimmungen<br />

über die Beweiserhebung im Ausland kann insoweit nichts anderes gelten. Es kommt nach dem Maßstab der Verfahrensfairness<br />

für im Wege der Rechtshilfe gewonnene Beweise mithin darauf an, ob unter der Geltung der inländischen<br />

Rechtsordnung eine zuverlässige Beweisführung in einem fairen Verfahren möglich ist (vgl. Gleß, aaO, S. 141<br />

ff.; dies., JR 2008, S. 317, 321). Daran gemessen zieht die unter beiderseitiger Nichteinhaltung von Art. 17 Abs. 5<br />

i.V.m. Abs. 2 CZ-ErgV EuRhÜbk erfolgte Überlassung der Telefonmitschnitte durch die zuständige tschechische<br />

Staatsanwaltschaft kein Verwertungsverbot nach sich. Die Aufzeichnungen der abgehörten Telefonate wären der<br />

Staatsanwaltschaft Hamburg auch bei Beachtung der maßgeblichen rechtshilferechtlichen Bestimmungen zur Verfügung<br />

gestellt worden. Die bilateral festgelegten Voraussetzungen für die Herausgabe von aus der Überwachung der<br />

Telekommunikation stammenden Unterlagen durch die Tschechische Republik waren zum Zeitpunkt des Rechtshilfeersuchens<br />

der Staatsanwaltschaft Hamburg gegeben (Gedanke des hypothetischen Ersatzeingriffs). Art. 17 Abs. 5<br />

CZ-ErgV EuRhÜbk erklärt auf ein Herausgabeverlangen die Abs. 1 <strong>und</strong> 2 (Ziffern 1 <strong>und</strong> 2) sowie Abs. 4 für entsprechend<br />

anwendbar. Art. 17 Abs. 2 Ziffer 1 CZ-ErgV EuRhÜbk erfordert die Vorlage einer Überwachungsanordnung<br />

eines zuständigen Gerichts des ersuchenden Staates oder die Bestätigung eines solchen Gerichts über das (hypothetische)<br />

Vorliegen der Voraussetzungen einer Telekommunikationsüberwachung, wenn die Maßnahme auf dem<br />

Gebiet des ersuchenden Staates durchgeführt werden würde. Abs. 2 Ziffer 2 verlangt bei dem Ersuchen auf Durchführung<br />

der Maßnahme durch den ersuchten Staat, dass auch nach dessen Rechtsordnung die rechtlichen Voraussetzungen<br />

der Telekommunikationsüberwachung vorliegen, wenn (hypothetisch) die Strafverfolgung dort erfolgen<br />

würde.<br />

(1) Im hier gegebenen Anwendungsbereich von Art. 17 Abs. 5 CZ-ErgV EuRhÜbk ist letzteres Erfordernis vorliegend<br />

erfüllt, weil das auf diese Vorschrift gestützte Rechtshilfeersuchen sich auf die Herausgabe von Erkenntnissen<br />

bezieht, die aus einem in der Tschechischen Republik ohnehin bereits geführten <strong>und</strong> nicht auf deutsches Ersuchen<br />

hin eingeleiteten Strafverfahren gewonnen wurden. Die von der Kreisstaatsanwaltschaft Prag übersandten Telefonmitschnitte<br />

sind aus Überwachungsmaßnahmen hervorgegangen, die jeweils durch die Bezirksgerichte Prag 4 <strong>und</strong><br />

Prag 10 in Beschlussform auf der Gr<strong>und</strong>lage von § 88 Abs. 1 <strong>und</strong> 2 der tschechischen Strafprozessordnung angeordnet<br />

worden waren. Wie sich aus den vorgenannten gerichtlichen Anordnungsbeschlüssen ergibt, hatten die Verfahren<br />

jeweils materiell-strafrechtliche Vorwürfe zum Gegenstand, wegen derer nach dem maßgeblichen Strafverfahrensrecht<br />

der Tschechischen Republik die Überwachung der Telekommunikation angeordnet werden darf.<br />

(a) Das Vorhandensein dieser gerichtlichen Anordnungsentscheidungen reicht als Gr<strong>und</strong>lage für die Verwertung der<br />

im Wege der Rechtshilfe erlangten Telefonmitschnitte im hiesigen Strafverfahren aus. Jedenfalls für die hier vorliegende<br />

Konstellation der Beweisverwertung von Erkenntnissen, die aus einer durch den ersuchten ausländischen Staat<br />

originär durchgeführten, nicht durch ein deutsches Rechtshilfeersuchen veranlassten Telekommunikationsüberwachung<br />

stammen, ist den inländischen Strafgerichten die von der Revision angemahnte umfassende Rechtmäßigkeitsprüfung<br />

der ausländischen Anordnungsbeschlüsse am Maßstab des ausländischen Rechts aus völker- <strong>und</strong> unionsrechtlichen<br />

Gründen verwehrt. Der Senat teilt nicht die in der Strafrechtswissenschaft vertretene Auffassung, hinsichtlich<br />

der Überwachung von Telekommunikation bei Verwertung im Ausland gewonnener Informationen dürfe<br />

das inländische Strafgericht nicht ungeprüft von der Rechtmäßigkeit der Anordnungsentscheidung ausgehen, sondern<br />

müssen die Einhaltung der ausländischen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen „zusätzlich kontrollieren“ (Perron ZStW<br />

112 [2000], S. 202, 219; vgl. auch Schuster, aaO, S. 111 ff., 245 f., ders., NStZ 2006, 657, 661; Pitsch, Strafprozessuale<br />

Beweisverbote, 2009, S. 148 ff.). Auch wenn die Beurteilung der Verwertbarkeit eines im Ausland erhobenen<br />

Beweises sich nach der inländischen Rechtsordnung bestimmt, würde eine mit der Rechtswidrigkeit der ausländischen<br />

Beweiserhebung begründete Unverwertbarkeit des erhobenen Beweises unter den hier vorliegenden tatsäch-<br />

- 117 -


lichen Gegebenheiten mit einem Eingriff in die Souveränität des ausländischen Staates einhergehen. Die Revision<br />

will die Unverwertbarkeit der Telefonmitschnitte nämlich insoweit auf die Erwägung stützten, die Anordnungsbeschlüsse<br />

der Bezirksgerichte für Prag 4 <strong>und</strong> Prag 10 entsprächen nicht dem tschechischen Verfassungsrecht <strong>und</strong> dem<br />

dortigen einfachgesetzlichen Strafverfahrensrecht. Würden die inländischen Strafgerichte - ggf. unter Einholung<br />

eines Sachverständigengutachtens - die Rechtmäßigkeit der weiterhin bestehenden tschechischen Gerichtsentscheidungen<br />

am Maßstab des tschechischen Rechts prüfen, maßten sie sich Kompetenzen an, die ihnen nach Völkerrecht<br />

<strong>und</strong> Unionsrecht im Verhältnis zu einem anderen Mitgliedstaat nicht zustehen (vgl. auch BGH, Beschluss vom 11.<br />

November 2004 - 5 StR 299/03, wistra 2005, 58, 60). Ungeachtet des bestehenden bilateralen Rechtshilfeübereinkommens<br />

zwischen der Tschechischen Republik <strong>und</strong> der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland wird die die Rechtshilfe umfassende<br />

justizielle Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union nach Art. 82 Abs. 1<br />

AEUV durch den Gr<strong>und</strong>satz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile <strong>und</strong> Entscheidungen bestimmt.<br />

Art. 82 Abs. 2 AEUV begründet zwar die Kompetenz der Europäischen Union, per Richtlinie Mindestvorschriften<br />

zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile <strong>und</strong> Entscheidungen in Strafsachen zu erlassen.<br />

Diese Mindestvorschriften können auch die Zulässigkeit von Beweismitteln auf gegenseitiger Basis zwischen<br />

den Mitgliedstaaten betreffen (Art. 82 Abs. 2 Satz 3 Buchstabe a AEUV). Aber selbst außerhalb einer entsprechenden<br />

Richtlinie wäre es mit dem hinter dem Gr<strong>und</strong>satz der gegenseitigen Anerkennung stehenden Gedanken des gegenseitigen<br />

Vertrauens der Mitgliedstaaten nicht zu vereinbaren, eine in einem Mitgliedstaat ergangene, dort nicht<br />

aufgehobene gerichtliche Entscheidung in einem anderen Mitgliedstaat mit der Begründung als rechtswidrig zu bewerten,<br />

die Gerichte des Entscheidungsstaates hätten ihre eigene nationale Rechtsordnung nicht eingehalten.<br />

(b) Der Senat verkennt nicht, dass aufgr<strong>und</strong> der Besonderheiten der Beweisrechtshilfe <strong>und</strong> des diese umgebenden<br />

unionsrechtlichen Rechtsrahmens die Maßstäbe für die Verwertbarkeit von Erkenntnissen, die aus einer inländischen<br />

Telekommunikationsüberwachung einerseits <strong>und</strong> einer ausländischen andererseits stammen, jedenfalls dann nicht<br />

völlig identisch sind, wenn es um die Verwertung von bereits außerhalb der Rechtshilfe vorhandenen ausländischen<br />

Überwachungsergebnissen geht. Für die Verwertbarkeit im Inland durch die Überwachung der Telekommunikation<br />

gewonnener Informationen verlangt der B<strong>und</strong>esgerichtshof - wenn wie hier ein Widerspruch erfolgt - eine umfassende<br />

Prüfung der Anordnungsvoraussetzungen durch das erkennende Gericht (siehe BGH, Beschluss vom 7. März<br />

2006 - 1 StR 316/05, BGHSt 51, 1; BGH, Beschluss vom 7. März 2006 - 1 StR 534/05, StV 2008, 63, 65; vgl. auch<br />

BGH, Beschluss vom 1. August 2002 - 3 StR 122/02, BGHSt 47, 362, 365-368). Dafür kann das Tatgericht gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

auf den die Überwachung anordnenden ermittlungsrichterlichen Beschluss zugreifen. Diese Gr<strong>und</strong>sätze<br />

lassen sich aber aus den genannten Gründen auf in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage dortigen Rechts gewonnene Erkenntnisse aus einer Telekommunikationsüberwachung nicht ohne weiteres<br />

übertragen. Das gilt zumindest dann, wenn die entsprechenden Informationen im Rahmen eines dort bereits betriebenen<br />

Strafverfahrens gewonnen <strong>und</strong> nicht aufgr<strong>und</strong> eines Rechtshilfeersuchens erhoben wurden.<br />

(c) Ob für den Fall eines zum Zwecke der Umgehung strengerer inländischer Anordnungsvoraussetzungen gestellten<br />

Rechtshilfeersuchens eine andere Bewertung vorzunehmen wäre, bedarf keiner Entscheidung. Eine solche Konstellation<br />

liegt nicht vor.<br />

(d) Die Beschränkung der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der durch die Bezirksgerichte Prag 4 <strong>und</strong> Prag 10 getroffenen<br />

Anordnungsentscheidungen im Rahmen der Beurteilung der Verwertung der gewonnenen Informationen<br />

im hiesigen Strafverfahren hindert nicht, die ausländische Entscheidung überhaupt als Anknüpfung im Rahmen der<br />

Beweisverwertung im Inland heranzuziehen. Die Unverwertbarkeit im Ausland erhobener Beweise kann sich ergeben,<br />

wenn die Beweiserhebung unter Verletzung völkerrechtlich verbindlicher <strong>und</strong> dem Individualrechtsgüterschutz<br />

dienender Garantien, wie etwa Art. 3 EMRK, oder unter Verstoß gegen die allgemeinen rechtsstaatlichen Gr<strong>und</strong>sätze<br />

im Sinne des ordre public (vgl. § 73 IRG) erfolgt ist (siehe Ambos, aaO, S. 83; Gleß JR 2008, S. 317, 321 ff.; Schuster,<br />

aaO, S. 122 ff. <strong>und</strong> 133 f.; ders., NStZ 2006, S. 657, 662).<br />

(e) Bei Anwendung dieses (eingeschränkten) Prüfungsmaßstabs ergibt sich aus den die Telekommunikationsüberwachung<br />

anordnenden Beschlüssen der Bezirksgerichte Prag 4 <strong>und</strong> Prag 10 kein Gr<strong>und</strong> für eine Unverwertbarkeit der<br />

Telefonmitschnitte. Die Entscheidungen sind sämtlich in Beschlussform durch einen Richter ergangen. Sie finden in<br />

§ 88 Abs. 1 <strong>und</strong> 2 der tschechischen Strafprozessordnung eine einfachgesetzliche Gr<strong>und</strong>lage. Den Anordnungsbeschlüssen<br />

lag jeweils der Verdacht der Begehung von Straftaten zugr<strong>und</strong>e, die die Überwachung der Telekommunikation<br />

nach tschechischem Recht gr<strong>und</strong>sätzlich zuließen. Ob jeder der fraglichen Beschlüsse den sich aus dem Verfassungsrecht<br />

der Tschechischen Republik ergebenden Begründungsanforderungen an solche Anordnungsentscheidungen<br />

entsprach, steht aus den genannten Gründen außerhalb der Prüfungskompetenz der deutschen Gerichte.<br />

- 118 -


Selbst wenn einzelne Beschlüsse nur formelhafte Begründungen in Bezug auf die konkrete Beweis- <strong>und</strong> Verdachtslage<br />

im Zeitpunkt der Anordnungsbeschlüsse enthalten, folgt daraus kein Verstoß gegen allgemeine rechtsstaatliche<br />

Gr<strong>und</strong>sätze (ordre public). Eine den inländischen Vorgaben entsprechende detaillierte Darstellung der Beweis- <strong>und</strong><br />

Verdachtslage kann angesichts der nach wie vor beträchtlichen Unterschiede der Anordnungsvoraussetzungen der<br />

Telekommunikation in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (knapper Überblick bei<br />

Perron ZStW 112 [2000] S. 202, 219) nicht erwartet werden. Die Beschlüsse genügen allgemeinen rechtsstaatlichen<br />

Gr<strong>und</strong>sätzen. Sie wurden - § 88 Abs. 1 <strong>und</strong> 2 der tschechischen Strafprozessordnung insoweit entsprechend - auf<br />

Antrag der Staatsanwaltschaft durch einen Richter erlassen. Aus den Begründungen ergibt sich das Vorliegen des<br />

Verdachts von die Überwachung gestattenden Straftaten sowie, wenn auch in der überwiegenden Zahl der Beschlüsse<br />

unter formelhaftem Verweis auf den Akteninhalt, die begründete Annahme, die zu überwachende Telekommunikation<br />

werde für das Strafverfahren bedeutsame Tatsachen enthalten.<br />

(f) Die vom Senat angenommene lediglich begrenzte Überprüfbarkeit von durch Gerichte eines anderen Mitgliedstaates<br />

angeordneten strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen steht nicht in Widerspruch zu der Rechtsprechung<br />

anderer Senate des B<strong>und</strong>esgerichtshofs. Soweit der 5. Strafsenat in seinem Beschluss vom 10. Januar 2007 (5 StR<br />

305/06) eine durch das Schweizerische B<strong>und</strong>esamt für Justiz ausgesprochene Beschränkung der Verwendung von im<br />

Rahmen der Rechtshilfe übersandten Unterlagen am Maßstab des Schweizer Rechts überprüft hat (insoweit in<br />

BGHSt 51, 202, 210 f. Rn. 31 f. nur teilweise abgedruckt), sind die dortigen Erwägungen nicht tragend. Auf die<br />

nachträglich durch die Schweiz erklärte Beschränkung kam es nicht mehr an, weil die verwendeten Unterlagen sich<br />

lediglich auf solchen Verfahrensstoff bezogen, in Bezug auf den bereits vor der entsprechenden Erklärung Teilrechtskraft<br />

eingetreten war (BGH, aaO, BGHSt 51, 202, 204 f. Rn. 9-12). Aus den von den Revisionsführern behaupteten<br />

Mängeln der Anordnungsbeschlüsse der Bezirksgerichte Prag 4 <strong>und</strong> Prag 10 kann demnach ein Verwertungsverbot<br />

nicht abgeleitet werden.<br />

(2) Im Zeitpunkt des Rechtshilfeersuchens der Staatsanwaltschaft Hamburg im Mai 2009 hätten auch die Voraussetzungen<br />

des Art. 17 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 Ziffer 1 CZ-ErgV EuRhÜbk für eine „Bestätigung“ eines zuständigen deutschen<br />

Gerichts bestanden. Die in Art. 17 Abs. 5 des Übereinkommens verwendete Formulierung, die Absätze 1, 2<br />

(…) <strong>und</strong> 4 „gelten entsprechend“ ist nach ihrem Wortlaut im Hinblick auf das mit der entsprechenden Geltung Gemeinte<br />

zwar nicht völlig eindeutig. Die fragliche „Bestätigung“ eines zuständigen Gerichts des ersuchenden Staates<br />

könnte bei entsprechender Anwendung von Abs. 2 Ziffer 1 des Übereinkommens eine Prüfung zur Gr<strong>und</strong>lage haben,<br />

ob hinsichtlich der bereits überwachten Telekommunikation im ersuchten Staat (hypothetisch) im Zeitpunkt des<br />

Rechtshilfeersuchens im ersuchenden Staat eine Überwachung angeordnet werden könnte. Möglich ist aber auch die<br />

Auslegung der Vertragsklausel, dass nach dem inländischen Recht des das Ersuchen stellenden Staates (hypothetisch)<br />

die Voraussetzungen vorlägen, unter denen auf bereits vorhandene, aus Maßnahmen der Telekommunikation<br />

herrührende „Unterlagen“ (Art. 17 Abs. 5 CZ-ErgV EuRhÜbk) für die Zwecke der Verfolgung - wie hier - in dem<br />

nunmehr geführten Strafverfahren zugegriffen werden darf. Sinn <strong>und</strong> Zweck der Regelung in Art. 17 Abs. 5 i.V.m.<br />

Abs. 2 Ziffer 1 CZ-ErgV EuRhÜbk, die letztlich den rechtshilferechtlichen Umgang mit Zufallsf<strong>und</strong>en betrifft, sprechen<br />

für die zweite Auslegungsmöglichkeit. Denn aus dem Gesamtzusammenhang von Art. 17 des Übereinkommens<br />

ergibt sich, dass bei den besonders eingriffsintensiven Maßnahmen der Überwachung der Telekommunikation<br />

Rechtshilfe lediglich dann gewährt werden muss, wenn - auf der Gr<strong>und</strong>lage der Hypothese eines reinen Inlandssachverhalts<br />

- die rechtshilferechtlich begehrte Maßnahmen nach dem Recht beider beteiligter Staaten rechtmäßig vorgenommen<br />

werden könnte. Art. 17 Abs. 5 CZ-ErgV EuRhÜbk regelt eine Konstellation, in der bereits in einem früheren<br />

Strafverfahren des ersuchten Staates gewonnene, aus Maßnahmen der Telekommunikation stammende Informationen<br />

in einem (anderen) Strafverfahren des ersuchenden Staates verwendet <strong>und</strong> ggf. zum Zwecke des Beweises<br />

verwertet werden sollen. Angesichts dessen ist bei der Auslegung des Übereinkommens für den Gegenstand der<br />

„gerichtlichen Bestätigung“ nach Art. 17 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 Ziffer 1 CZ-ErgV EuRhÜbk darauf abzustellen, ob bei<br />

einem hypothetischen Inlandssachverhalt („wenn eine Maßnahme … durchzuführen wäre“) eine Verwendung der in<br />

einem inländischen Strafverfahren gewonnenen Erkenntnisse in einem anderen, ebenfalls inländischen Strafverfahren<br />

hätte erfolgen dürfen. Nach dem vorgenannten Maßstab hätte sich die das Rechtshilfeersuchen begleitende gerichtliche<br />

Bestätigung inhaltlich darauf zu beziehen gehabt, ob nach deutschem Strafverfahrensrecht die Voraussetzungen<br />

von § 477 Abs. 2 Satz 2 StPO vorgelegen hätten. Diese auf dem Gedanken des sog. hypothetischen Ersatzeingriffs<br />

(vgl. BT-Drucks. 16/5846 S. 66 rechte Spalte i.V.m. S. 64 rechte Spalte) beruhende Vorschrift regelt die<br />

Verwendung von in einem Katalogtaten betreffenden Strafverfahren rechtmäßig erhobenen personenbezogenen Daten,<br />

zu denen der Inhalt von Telekommunikation gehört (vgl. BGH, Urteil vom 27. November 2008 - 3 StR 342/08,<br />

- 119 -


BGHSt 53, 64, 67 Rn. 11), in einem anderen Strafverfahren. Hinsichtlich des Strafverfahrens, in dem die Verwertung<br />

der Daten erfolgen soll, handelt es sich damit um Zufallsf<strong>und</strong>e (BGH, aaO, BGHSt 53, 64, 67 Rn. 11). Da § 17 Abs.<br />

5 CZ-ErgV EuRhÜbk gleichfalls rechtshilferechtliche Konstellationen von aus Telekommunikationsüberwachung<br />

gewonnenen Zufallsf<strong>und</strong>en betrifft, sind die inländischen Voraussetzungen („gerichtliche Bestätigung“) auf Herausgabe<br />

von entsprechenden Unterlagen daher anhand von § 477 Abs. 2 Satz 2 StPO zu beurteilen. Im Rahmen des hier<br />

fraglichen Rechtshilfeersuchens wäre von dem zuständigen Ermittlungsrichter zu prüfen gewesen, ob bei einem<br />

Inlandssachverhalt eine Verwendung bereits gewonnener Informationen aus einer Telekommunikationsüberwachung<br />

gemäß § 477 Abs. 2 Satz 2 StPO zulässig gewesen wäre. Das ist zu bejahen. Im relevanten Zeitpunkt des Rechtshilfeersuchens<br />

hatte das gegen die Angeklagten geführte inländische Strafverfahren den Verdacht der Begehung banden-<br />

<strong>und</strong> gewerbsmäßigen Schmuggels (§ 373 AO) eine Katalogtat gemäß § 100a Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe<br />

b) StPO zum Gegenstand. Dagegen kommt es nicht darauf an, ob bereits die Überwachung der Telekommunikation<br />

im Jahre 2007 nach deutschem Strafverfahrensrecht hätte angeordnet werden können. Nach ständiger Rechtsprechung<br />

ist bei sich im Verlaufe eines anhängigen Strafverfahrens ändernden strafprozessualen Vorschriften die<br />

neue Rechtslage maßgebend (BGH, Beschluss vom 19. Februar 1969 - 4 StR 357/68, BGHSt 22, 321, 325; BGH,<br />

Urteil vom 15. März 2001 - 5 StR 454/00, BGHSt 46, 310, 317 ff.; BGH, Urteil vom 27. November 2008 - 3 StR<br />

342/08, BGHSt, 53, 64, 67 Rn. 13 mwN). Das gilt auch bei der Verwendung von aus einer früheren Telekommunikationsüberwachung<br />

gewonnenen, personenbezogenen Daten im Rahmen von § 477 Abs. 2 Satz 2 StPO (BGH, Urteil<br />

vom 27. November 2008 - 3 StR 342/08, BGHSt 53, 64, 67 f. Rn. 13 mwN). In der Verwendung der aus einem anderen<br />

Strafprozess stammenden personenbezogenen Daten in dem anhängigen Verfahren <strong>und</strong> in deren Verwertung in<br />

der dieses abschließenden gerichtlichen Entscheidung liegt ein eigenständiger Eingriff in das Fernmeldegeheimnis<br />

(vgl. BVerfGE 100, 313, 391 f.; BVerfGE 109, 279, 375 f.; BGH, aaO, BGHSt 53, 64, 67 f. Rn. 13). Ob eine gesetzliche<br />

Gr<strong>und</strong>lage für den in der Verwendung <strong>und</strong> Verwertung liegenden Eingriff besteht, kann lediglich nach der für<br />

den Verwendungs- bzw. Verwertungszeitpunkt geltenden Rechtslage beurteilt werden. In der hier vorliegenden<br />

Konstellation der rechthilferechtlichen Bestätigung nach Art. 17 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 Ziffer 1 CZ-ErgV EuRhÜbk ist<br />

damit auf den Zeitpunkt des Rechtshilfeersuchens abzustellen. Im Mai 2009 war - wie dargelegt - § 373 AO bereits<br />

eine Katalogtat gemäß § 100a Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe b) StPO. Die Revisionen dringen daher mit<br />

ihrem Vorbringen, der Verwertbarkeit jedenfalls der aufgr<strong>und</strong> des Anordnungsbeschlusses des Bezirksgerichts Prag<br />

4 vom 13. November 2007 gewonnenen Telefonmitschnitte stehe entgegen, dass es sich zum Zeitpunkt der Anordnung<br />

bei dem banden- <strong>und</strong> gewerbsmäßigen Schmuggel (noch) nicht um eine Katalogtat nach § 100a StPO gehandelt<br />

habe, nicht durch. Der Senat kann offen lassen, ob es der in § 477 Abs. 2 Satz 2 StPO enthaltene Gr<strong>und</strong>gedanke des<br />

(rechtsmäßigen) hypothetischen Ersatzeingriffs gebietet, die sonstigen, über das Vorliegen einer Katalogtat hinausgehenden<br />

Anordnungsvoraussetzungen der einschlägigen Ermittlungsmaßnahme hypothetisch für das anhängige<br />

Verfahren <strong>und</strong> bezogen auf den Erkenntnisstand bei Verwendung bzw. Verwertung der bereits vorhandenen personenbezogenen<br />

Daten zu prüfen. Im maßgeblichen Zeitpunkt lagen diese ohnehin vor. Gegen die Angeklagten bestand<br />

bereits der Verdacht strafbarer Beteiligung an den Taten vom 16. November 2007 <strong>und</strong> 20. bzw. 25. März 2008.<br />

Bei dem Verdacht muss es sich weder um einen hinreichenden noch um einen dringenden Tatverdacht handeln<br />

(Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 100a Rn. 9 mwN). Angesichts des durch die vorherige Aufdeckung der Taten als<br />

solche bekannten Umfangs der Hinterziehung von Einfuhrabgaben waren diese auch im konkreten Fall als schwerwiegende<br />

Katalogtaten einzuordnen. Die Subsidiaritätsklausel wäre ebenfalls gewahrt gewesen. Die Ermittlung der<br />

konkreten Art der Beteiligung der Angeklagten an den beiden Schmuggeltaten wäre ohne die Erkenntnisse einer<br />

Telekommunikationsüberwachung wesentlich erschwert gewesen. Lediglich aufgr<strong>und</strong> des Inhalts der in den Tatzeiträumen<br />

zwischen den drei Angeklagten <strong>und</strong> weiteren tatbeteiligten Personen geführten Telekommunikation war zu<br />

ermitteln, dass die Organisation der Transporte der unverzollten Zigaretten zumindest seit deren Eintreffen im Hamburger<br />

Freihafen maßgeblich durch die Angeklagten erfolgte. Gleiches gilt für die Aufklärung der Verteilung <strong>und</strong><br />

Erledigung der Aufgaben im Verhältnis der Angeklagten untereinander.<br />

B. Die Verfahrensrüge des Angeklagten R., mit der er die Verletzung von § 76 Abs. 2 GVG i.V.m. § 338 Ziffer 1<br />

StPO rügt, bleibt ebenfalls ohne Erfolg. Die Revision ist mit dieser Rüge bereits ausgeschlossen. Wird die Besetzung<br />

des erkennenden Gerichts gerügt, müssen gemäß § 222b Abs. 1 Satz 2 StPO die die vorschriftswidrige Besetzung<br />

begründenden Tatsachen angegeben werden. Zudem muss dargelegt werden, unter welchem rechtlichen Aspekt die<br />

Besetzung gerügt wird (BGH, Urteil vom 25. Oktober 2006 - 2 StR 104/06, StraFo 2007, 59 f.). Dem genügte der<br />

erhobene Besetzungseinwand ersichtlich nicht. Im Übrigen wäre die Rüge auch unbegründet. Die Strafkammer hat<br />

den ihr durch § 76 Abs. 2 Satz 1 GVG aF, die aufgr<strong>und</strong> der in § 41 Abs. 1 EGGVG getroffenen Regelung maßgeb-<br />

- 120 -


lich ist, eröffneten Beurteilungsspielraum über die Mitwirkung eines dritten Richters nicht überschritten. Wie der<br />

Generalb<strong>und</strong>esanwalt zutreffend ausgeführt hat, war die Sache in tatsächlicher Hinsicht bei lediglich zwei Einzeltaten,<br />

die drei Angeklagten zur Last gelegt wurden sowie einem Umfang von 15 Bänden Sachakten <strong>und</strong> Beiakten von<br />

knapp 1.800 Seiten nicht besonders umfänglich. Das beiden Taten zugr<strong>und</strong>e liegende tatsächliche Geschehen des<br />

Einschmuggelns von unverzollten Zigaretten in Containern war gerade nicht komplex, sondern einfach gelagert. Die<br />

tatsächliche Verhandlungsdauer von 21 Tagen war im Zeitpunkt des Eröffnungsbeschlusses nicht absehbar. Die<br />

ursprünglich von der Strafkammer zugr<strong>und</strong>e gelegte Dauer von fünf Verhandlungstagen war trotz der die Tatvorwürfe<br />

bestreitenden Angeklagten angesichts der sonstigen Beweislage mit den deutschen <strong>und</strong> tschechischen Ermittlungsbeamten<br />

sowie den vorhandenen Telefonmitschnitten nicht geeignet, den Verzicht auf die Mitwirkung eines<br />

dritten Richters als objektiv willkürlich erscheinen zu lassen. Die mittlerweile durch den Gesetzgeber in § 76 Abs. 3<br />

GVG in der seit 1. Januar 2012 geltenden Fassung vorgenommenen Wertungen über die Gründe für die Mitwirkung<br />

eines dritten Richters gelten für die hier maßgebliche frühere Rechtslage nicht. Die Notwendigkeit, die Verwertbarkeit<br />

der von den tschechischen Strafverfolgungsbehörden gewonnenen Telefonmitschnitte vor dem Hintergr<strong>und</strong> des<br />

Widerspruchs der Angeklagten gegen die Heranziehung beurteilen zu müssen, begründet keinen so hohen Grad an<br />

Komplexität der Strafsache in rechtlicher Hinsicht, der die Mitwirkung eines dritten Berufsrichters erforderlich gemacht<br />

hätte. Der Senat kann dabei offen lassen, ob <strong>und</strong> unter welchen Voraussetzungen die Komplexität von Rechtsfragen<br />

nach § 76 Abs. 2 GVG die Mitwirkung eines dritten Richters notwendig erscheinen lassen kann. Jedenfalls<br />

vorliegend bedurfte es angesichts der allein auf die Beurteilung der Verwertbarkeit eines bestimmten Typus von<br />

Beweismitteln, der Telefonmitschnitte der tschechischen Strafverfolgungsbehörden, begrenzten Rechtsfrage einer<br />

solchen Mitwirkung nicht. Das gilt erst recht, weil die Verwertbarkeit der entsprechenden Beweismittel im Rahmen<br />

der zahlreichen Haftentscheidungen bereits umfangreich durch die Strafkammer <strong>und</strong> das Hanseatische Oberlandesgericht<br />

Hamburg geprüft worden war.<br />

AMG § 096 Nr. 5, § 96 Nr. 13; StGB § 263 "Münchener Apotheker-Fall" - Inverkehrbringen nicht<br />

zugelassener Fertigarzneimittel<br />

BGH, Urt. v. 04.09.2012 - 1 StR 534/11 - NJW 2012, 3665<br />

LS: Ein in Deutschland nicht zugelassenes Fertigarzneimittel wird durch Hinzugabe von Kochsalzlösung,<br />

um eine Injektion vornehmen zu können, nicht zu einem zulassungsfreien Rezepturarzneimittel.<br />

Der 1. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat in der Sitzung vom 4. September 2012 für Recht erkannt:<br />

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts München II vom 15. Juli 2011 mit den<br />

Feststellungen aufgehoben.<br />

2. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine<br />

andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten freigesprochen <strong>und</strong> ausgesprochen, dass er wegen der Durchsuchungen vom<br />

14. Januar 2009 aus der Staatskasse zu entschädigen ist. Die hiergegen gerichtete, auf die näher ausgeführte Sachrüge<br />

gestützte Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.<br />

I. Dem Angeklagten lag zur Last, unerlaubt Fertigarzneimittel, die nicht über eine nach dem Arzneimittelgesetz<br />

(AMG) für Deutschland erforderliche Zulassung verfügten, zur Versorgung krebskranker Patienten in den Verkehr<br />

gebracht zu haben (§ 96 Nr. 5 AMG). Weiter wurde ihm vorgeworfen, die wahre Herkunft der Arzneimittel <strong>und</strong> den<br />

tatsächlich erbrachten Einkaufspreis nicht offengelegt <strong>und</strong> dadurch - soweit privat versichert - die Patienten, im Übrigen<br />

die gesetzlichen Krankenkassen betrogen zu haben (§ 263 StGB). Er habe statt des in Deutschland zugelassenen<br />

- ohne weiteres erhältlichen - Medikaments eine nur für einige ausländische Staaten zugelassene - deutlich preisgünstigere<br />

- stoffgleiche Herstellung erworben, aber diese - ohne es kenntlich zu machen - zum vollen Preis abgerechnet,<br />

um sich entsprechend zu bereichern. Das Landgericht hat die Eröffnung des Hauptverfahrens aus Rechtsgründen<br />

abgelehnt. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat das Oberlandesgericht die Anklage<br />

zugelassen <strong>und</strong> das Hauptverfahren eröffnet. Es ist der Rechtsansicht, dass der Angeklagte nicht nur gegen § 96 Nr. 5<br />

- 121 -


AMG, sondern auch gegen § 96 Nr. 13 AMG verstoßen habe. Danach macht sich strafbar, wer Arzneimittel ohne<br />

entsprechende Verschreibung abgibt. Hinsichtlich des Betrugsschadens hat das Oberlandesgericht darauf hingewiesen,<br />

dass dieser in voller Höhe des erlangten Betrages <strong>und</strong> nicht nur - wie in der Anklageschrift angenommen - in der<br />

„Differenz zum Einkaufspreis“ zu sehen sei.<br />

1. Die Anklage ging von folgendem Sachverhalt aus: Der Angeklagte betrieb in den Jahren 2006 <strong>und</strong> 2007 die A.<br />

Apotheke (vormals: ) in O.. In deren Labor, das der Angeklagte als „A. -GmbH“ gesondert führte, stellten unter<br />

seiner Aufsicht hierzu ausgebildete Mitarbeiter unter besonderen technischen Sicherheitsvorkehrungen Injektionslösungen<br />

zur Behandlung krebskranker Patienten her. Die Zubereitung dieser Lösungen erfolgte auf der Basis des<br />

Zytostatikums „Gemzar“, das auf dem Markt als Pulver zur Herstellung einer Injektionslösung angeboten wird. Die<br />

Zubereitung erfolgte jeweils auf Rezept. Die Ärzte verordneten entweder „Gemzar“ oder dessen Wirkstoff „Gemcitabine“<br />

sowie eine patientenindividuelle Konzentrationsvorgabe für die zu dem Pulver hinzuzugebende Kochsalzlösung.<br />

Der Angeklagte gab die nach diesen Vorgaben zubereitete Lösung zur baldigen Verabreichung an die Patienten<br />

ab. Für die Zubereitung erwarb der Angeklagte jeweils vorab in unterschiedlichen Chargen „Gemzar“ aus Herstellungen<br />

der in Frankreich ansässigen Firma „L. “. Diese stellt „Gemzar“ sowohl für den deutschen Markt als auch für<br />

andere Märkte her. Der Angeklagte orderte jedoch nicht die für den deutschen Markt produzierten <strong>und</strong> zugelassenen,<br />

sondern andere, im Einkaufspreis günstigere Herstellungen, die u.a. für Tschechien, Ungarn, Ägypten, Kenia <strong>und</strong><br />

Bangladesh vorgesehen waren <strong>und</strong> über keine in Deutschland gültige Arzneimittelzulassung verfügten. Die verschiedenen<br />

Herstellungen waren in ihrer inhaltlichen Zusammensetzung identisch, unterschieden sich jedoch durch die<br />

äußere Gestaltung, Etikettierung <strong>und</strong> Beschriftung der Verpackung. Der Erwerb von in Deutschland zugelassenem<br />

„Gemzar“ wäre dem Angeklagten jederzeit möglich gewesen. Sein handlungsleitendes Motiv bestand darin, durch<br />

die Verwendung der in Deutschland nicht zugelassenen, preisgünstigeren Herstellung Einkaufsvorteile zu erwerben<br />

<strong>und</strong> dadurch seine Gewinnspanne zu vergrößern. Im Jahr 2006 erwarb der Angeklagte auf die beschriebene Weise<br />

26mal „Gemzar“, insgesamt 545 Packungen, zum Gesamtpreis von 106.273,50 Euro <strong>und</strong> ersparte hierbei gegenüber<br />

dem Einkauf des in Deutschland zugelassenen Arzneimittels Aufwendungen in Höhe von 37.485,85 Euro. Im Jahr<br />

2007 nahm er 18 Bestellungen mit insgesamt 385 Packungen „Gemzar“ zum Preis von 81.182,50 Euro vor <strong>und</strong> ersparte<br />

sich Aufwendungen von insgesamt 21.274 Euro. Für die gesetzlich versicherten Patienten rechnete der Angeklagte<br />

monatlich mit deren Krankenversicherungen ab, wobei er auf den eingereichten Rechnungen die als Kürzel<br />

für in Apotheken hergestellte Zytostatika-Lösungen gebräuchliche Pharmazentralnummer (PZN) 9999092 angab.<br />

Gegenüber den privat versicherten Patienten erfolgte jeweils ein direkter Verkauf. Stets legte der Angeklagte dabei<br />

die handelsüblichen Preise nach der sogenannten Hilfstaxe zur Lauer-Taxe zugr<strong>und</strong>e, die als Datenbank für die Abrechnung<br />

branchenüblich herangezogen wird. Dass er für die Zubereitung jeweils das wesentlich günstigere, in<br />

Deutschland nicht zugelassene „Gemzar“ verwendet hatte, legte er dabei weder gegenüber den privat Versicherten<br />

noch den gesetzlichen Krankenkassen offen. Bei insgesamt 272 Abrechnungen in 2006 <strong>und</strong> 258 in 2007 gegenüber<br />

den gesetzlichen Krankenkassen oder privat versicherten Patienten verursachte er Schäden in Höhe von 163.423,04<br />

Euro bzw. 169.895,12 Euro. Bei den Krankenkassen bzw. den von ihnen mit der Abrechnung betrauten Rechenzentren<br />

wurden die Abrechnungen nur stichprobenartig geprüft <strong>und</strong> mangels Auffälligkeit nicht beanstandet.<br />

2. Das Landgericht hat „den angeklagten Sachverhalt in tatsächlicher Hinsicht weitgehend“ (UA S. 7) festgestellt<br />

<strong>und</strong> ist nach der durchgeführten Beweisaufnahme - entgegen der Einlassung des Angeklagten, er habe mit den Vorgängen<br />

selbst nichts zu tun gehabt - von seiner Verantwortlichkeit für die Bestellungen <strong>und</strong> Lieferungen (UA S. 11,<br />

14) überzeugt. Es hat den Angeklagten jedoch „primär aus Rechtsgründen“ (UA S. 3) freigesprochen. Den Vorwurf<br />

des Inverkehrbringens von Fertigarzneimitteln ohne Zulassung (§ 96 Nr. 5 AMG) hat es mit der Begründung abgelehnt,<br />

der Angeklagte habe schon keine Fertigarzneimittel in den Verkehr gebracht. Vielmehr habe er aus dem erworbenen<br />

„Gemzar“ - das allerdings ein Fertigarzneimittel darstelle - in seiner Apotheke durch die Hinzugabe der<br />

jeweils patientenindividuell dosierten Kochsalzlösung ein Rezepturarzneimittel hergestellt. Rezepturarzneimittel<br />

bedürften jedoch keiner Arzneimittelzulassung. Auch den Tatbestand der Abgabe verschreibungspflichtiger Medikamente<br />

ohne Verschreibung (§ 96 Nr. 13 AMG) sieht das Landgericht nicht als erfüllt an. Die in § 48 AMG näher<br />

geregelte Verschreibungspflicht knüpfe nicht an die Zulassung oder Verkehrsbezeichnung des Medikaments an,<br />

sondern, wie sich aus der Anlage zur Arzneimittelverschreibungsverordnung ergebe, an die in den Arzneimitteln<br />

enthaltenen Wirkstoffe. Der Angeklagte habe, soweit „Gemzar“ verordnet worden sei, genau dieses, <strong>und</strong>, soweit der<br />

Wirkstoff „Gemcitabine“ verordnet worden sei, „Gemzar“ als ein „Gemcitabine“ enthaltendes Arzneimittel abgegeben.<br />

Es sei kein Fertigarzneimittel, sondern eine in der Apotheke herzustellende Zubereitung verschrieben worden.<br />

Die Verschreibungspflicht diene nicht der Durchsetzung von Zulassungsvorschriften. Hinsichtlich des verbleibenden<br />

- 122 -


Betrugsvorwurfs (§ 263 StGB) sieht die Strafkammer bereits keine Täuschung: Weder mangele es der vom Angeklagten<br />

abgerechneten Lösung an der Verkehrsfähigkeit, noch habe der Angeklagte über preisbildende Umstände<br />

getäuscht. Seine tatsächlichen Einkaufspreise habe er nicht offenlegen müssen, weil sich eine entsprechende Verpflichtung<br />

weder aus dem Gesetz noch aus den vertraglichen Preisbildungsregelungen zwischen Apotheker- <strong>und</strong><br />

Krankenkassenverbänden ergäbe. Wegen der bei ihm durchgeführten Durchsuchung hat das Landgericht dem Angeklagten<br />

einen Anspruch auf Entschädigung für zu Unrecht erlittene Strafverfolgungsmaßnahmen (§ 2 StrEG) dem<br />

Gr<strong>und</strong>e nach zuerkannt. Mit den Ersatzkrankenkassen hat der Angeklagte einen Vergleich geschlossen, nach dem er<br />

- ohne Anerkennung einer Rechtspflicht - zur Abgeltung der aus dem Sachverhalt des Ermittlungsverfahrens geltend<br />

gemachten Forderungen einen Betrag von 65.000 Euro bezahlt hat. Die AOKs <strong>und</strong> die Betriebskrankenkassen haben<br />

bis jetzt keine Forderungen gegen den Angeklagten erhoben.<br />

II. Der Freispruch hält sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.<br />

1. Die Auffassung des Landgerichts, der Angeklagte habe den Tatbestand des unerlaubten Inverkehrbringens nicht<br />

zugelassener Fertigarzneimittel nicht verwirklicht (§ 96 Nr. 5 AMG), ist rechtsfehlerhaft. Die von der Strafkammer<br />

hierzu gef<strong>und</strong>ene Begründung, der Angeklagte habe keine Fertigarzneimittel an seine Patienten abgegeben, sondern<br />

aus „Gemzar“ in seiner Apotheke ein neues, zulassungsfreies Rezepturarzneimittel hergestellt, ist nicht tragfähig. Im<br />

Ansatz zutreffend ist die Strafkammer allerdings davon ausgegangen, dass „Gemzar“ ein Fertigarzneimittel i.S.v. § 4<br />

Abs. 1 AMG darstellt, das der arzneimittelrechtlichen Zulassung nach § 21 Abs. 1 Satz 1 AMG bedarf. Denn „Gemzar“<br />

weist bereits alle Eigenschaften eines Arzneimittels - <strong>und</strong> nicht nur eines Ausgangsstoffs - auf (zur Abgrenzung<br />

vgl. Müller in Kügel/Müller/ Hofmann, AMG-OK, 1. Aufl., § 2 Rn. 63 mwN; Rehmann, AMG, 3. Aufl., § 2 Rn. 7<br />

mwN) <strong>und</strong> ist einerseits mittels eines industriellen Verfahrens, andererseits im Voraus, also vor dem Vorliegen einer<br />

konkreten ärztlichen Verordnung, hergestellt worden. Fehlerhaft ist indes die Wertung, der Angeklagte habe durch<br />

die Zubereitung der Injektionslösung ein Rezepturarzneimittel hergestellt, das keiner Zulassung bedürfe. Es fehlt<br />

bereits gr<strong>und</strong>sätzlich an der Herstellung eines neuen Arzneimittels.<br />

a) Nicht jeder denkbare Herstellungsschritt innerhalb eines mehrstufigen Herstellungsprozesses führt zur Entstehung<br />

eines neuen Arzneimittels. Der Begriff des „Herstellens“ eines Arzneimittels ist in § 4 Abs. 14 AMG definiert. Danach<br />

ist Herstellen das Gewinnen, das Anfertigen, das Zubereiten, das Be- oder Verarbeiten, das Umfüllen einschließlich<br />

Abfüllen, das Abpacken, das Kennzeichnen <strong>und</strong> die Freigabe des Arzneimittels (im Einzelnen dazu Krüger<br />

in Kügel/Müller/Hofmann, AMG-OK, 1. Aufl., § 4 Rn. 99 ff.). Der Herstellungsbegriff ist bewusst weit gefasst<br />

(Spickhoff, Medizinrecht, 1. Aufl., AMG § 4 Rn. 13); es soll sichergestellt werden, dass die nach dem AMG vorgesehenen<br />

Sicherungsmaßnahmen, insbesondere die Überwachung der an der Arzneimittelherstellung beteiligten Personen<br />

(§ 13 AMG), lückenlos bleiben. Bei natürlicher Betrachtung stellt sich ein Arzneimittel als das Ergebnis mehrerer<br />

aufeinanderfolgender Herstellungstätigkeiten i.S.v. § 4 Abs. 14 AMG dar. Wann - erstmalig oder aus einem<br />

bereits bestehenden Arzneimittel (vgl. etwa § 11 Abs. 3 Apothekenbetriebsordnung - ApBetrO; zur Arzneimittelherstellung<br />

aus ihrerseits als Arzneimitteln zu bewertenden Zwischenprodukten vgl. auch BGH, Beschluss vom 6. November<br />

2007 - 1 StR 302/07, NStZ 2008, 530 f.) - ein eigenständiges Arzneimittel entsteht, ist eine Frage des Einzelfalls.<br />

Aus einem pulverförmigen Fertigarzneimittel - hier: „Gemzar“ - zubereitete Zytostatika-Lösungen sind im<br />

Verhältnis zu diesem keine neuen, eigenständigen Arzneimittel, wenn lediglich Kochsalzlösung beigefügt wird. Dem<br />

steht nicht entgegen, dass die Zubereitung bereits nach der Freigabe des ursprünglichen „Gemzar“ zum Inverkehrbringen<br />

direkt in der Apotheke <strong>und</strong> unmittelbar vor der Anwendung erfolgt. Auch nach der Freigabe eines Medikaments<br />

liegende Arbeitsschritte können im Hinblick auf den umfassenden Schutzgedanken des weiten Herstellungsbegriffs<br />

des § 4 Abs. 14 AMG noch Teil der Herstellung sein. Das gilt insbesondere für die Rekonstitution (§ 4 Abs.<br />

31 AMG; vgl. hierzu die amtl. Begründung der 9. AMG-Novelle, BT-Drucks. 16/12256, S. 42 zu Art. 1 Nr. 4g, s. a.<br />

LG Hamburg, Urteil vom 22. Juni 2007 - 406 O 8/07, PharmR 2007, 466 f.). Es kommt auch nicht entscheidend<br />

darauf an, dass durch die Zubereitung chemisch-pharmazeutisch auf das Arzneimittel eingewirkt wird oder dass, wie<br />

die Strafkammer (UA S. 17 f.) ausführt, ein weiterer Inhaltsstoff hinzutritt <strong>und</strong> sowohl Aggregatzustand als auch<br />

Haltbarkeitsdauer sich verändern. Die chemische Einwirkung auf das Arzneimittel bildet allenfalls ein Indiz für das<br />

Entstehen eines neuen Arzneimittels, da durch sie die arzneiliche Wirkung verändert werden kann. Erschöpft sich die<br />

Einwirkung aber in der Verbringung des ursprünglichen Arzneimittels in seine zur Anwendung am Patienten geeignete<br />

Darreichungsform, stellt das dadurch entstandene Erzeugnis auch dann gegenüber dem Ausgangsarzneimittel<br />

kein neues Arzneimittel dar, wenn es - was bei einem derartigen Arbeitsschritt regelmäßig der Fall sein wird - einen<br />

anderen Aggregatzustand, zusätzliche Inhaltsstoffe <strong>und</strong> gegebenenfalls weitere abweichende Eigenschaften, etwa<br />

eine kürzere Haltbarkeitsdauer, aufweist. Denn die Darreichungsform stellt lediglich die Verbindung der Form, in<br />

- 123 -


der das Arzneimittel vom Hersteller aufgemacht wird, mit der Form, in der es eingenommen wird, einschließlich der<br />

physikalischen Form, dar (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 29. April 2004 - C-106/01 , EuZW 2004, 408,<br />

410, Nr. 37; Kortland in Kügel/Müller/Hofmann, AMG-OK, 1. Aufl., § 24b Rn. 68). Sie verändert die arzneiliche<br />

Wirkung nicht, sondern bewirkt, dass diese überhaupt erst an den Patienten herangetragen werden kann.<br />

b) Handelt es sich bei dem vom Angeklagten in Verkehr gebrachten Arzneimittel danach um „Gemzar“, so entfällt<br />

auch dessen Zulassungspflicht gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 AMG nicht, nur weil ein Teil der Herstellung - die Zubereitung<br />

der Lösung - durch den Angeklagten in der Apotheke erfolgt ist. Zur Einordnung eines Arzneimittels als Fertigarzneimittel<br />

oder Rezepturarzneimittel sind bei arbeitsteiligen Herstellungsverfahren, die zum Teil industriell oder<br />

im Voraus, zum Teil gewerblich in der Apotheke erfolgen, die unterschiedlichen Arbeitsschritte im Rahmen einer<br />

wertenden Gesamtbetrachtung gegeneinander zu gewichten. Je nach dem Schwerpunkt handelt es sich um ein zulassungspflichtiges<br />

Fertigarzneimittel oder um ein zulassungsfreies Rezepturarzneimittel. Die Vornahme einzelner<br />

Arbeitsschritte in der Apotheke macht ein Arzneimittel nicht ohne weiteres zu einem Rezepturarzneimittel. Das<br />

ergibt sich aus Folgendem: Der Gesetzgeber stellt die Gewährleistung der Verbraucherges<strong>und</strong>heit bei der Arzneimittelherstellung<br />

je nach der Art der Herstellung auf unterschiedliche Weise sicher. Bei der Herstellung von Arzneimitteln<br />

in Apotheken gelten nach der Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO) strenge Prüfungs- <strong>und</strong> Dokumentationspflichten<br />

hinsichtlich der Identität <strong>und</strong> Qualität der dazu verwendeten Stoffe <strong>und</strong> der Vorgehensweise im Herstellungsprozess<br />

(§§ 6 ff. ApBetrO). Bei der industriellen Arzneimittelherstellung liegt die Verantwortung für die Arzneimittelsicherheit<br />

demgegenüber beim pharmazeutischen Unternehmer (Brock/ Stoll in Kügel/Müller/Hofmann,<br />

AMG-OK, 1. Aufl., § 84 Rn. 18), der das Arzneimittel in den Verkehr bringt (§ 84 AMG), <strong>und</strong> beim Hersteller<br />

(Rehmann, Arzneimittelgesetz, 3. Aufl., § 84 Rn. 2). Zum einen ist eine behördliche Zulassung für das Arzneimittel<br />

(§ 21 Abs. 1 AMG) einzuholen, zum anderen ist der konkrete Herstellungsprozess qualitativ abzusichern (zur Herstellerhaftung<br />

im Einzelnen vgl. Spindler in Bamberger/Roth, BGB-OK, Ed. 23, § 823 Rn. 525 ff.). Dem belieferten<br />

Apotheker kommt Verantwortung nur noch insoweit zu, als er im Zeitpunkt der Abgabe des Arzneimittels an den<br />

Patienten die (fortbestehende) Qualität des Arzneimittels sicherstellen muss (Cyran/Rotta, ApBetrO, 12. Lieferung, §<br />

12 Rn. 3). Seine Prüfungspflicht beschränkt sich in diesem Fall gemäß § 11 Abs. 3, § 12 AMG auf eine Sinnesprüfung<br />

(Senge in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 188. Lieferung, § 12 ApBetrO Rn. 1); unbeschadet<br />

seiner zusätzlichen, besonderen Beratungsleistung unterscheidet sich diese Prüfungspflicht kaum von vergleichbaren<br />

Pflichten anderer Berufe, die fertig gelieferte Waren verkaufen. Das Gesetz trifft keine gesonderte Regelung darüber,<br />

wem die Verantwortlichkeit für die Arzneimittelsicherheit bei komplexen, arbeitsteiligen Herstellungsverfahren<br />

zuwächst. Ein gr<strong>und</strong>sätzlicher Vorrang der Apothekenherstellung, der dazu führen würde, dass die Vornahme einzelner<br />

Herstellungsschritte in der Apotheke (nurmehr) die umfassenden Prüfungspflichten des Apothekers nach der<br />

ApBetrO auslöst, ist dem Gesetz nicht zu entnehmen. Nach dem Sinn <strong>und</strong> Zweck der jeweiligen Regelungen <strong>und</strong><br />

dem sie überspannenden Schutzzweck der Arzneimittelsicherheit darf eine arbeitsteilige Herstellung jedenfalls nicht<br />

dazu führen, dass die für die arzneiliche Wirksamkeit des Arzneimittels bestimmenden Herstellungsschritte keiner<br />

Qualitätskontrolle mehr unterliegen, weil der Verantwortliche diese Kontrolle (so) nicht (mehr) leisten kann. Der<br />

Begriff des „Herstellens“ in § 4 Abs. 1 AMG ist deshalb so auszulegen, dass bei arbeitsteiligen Produktionsprozessen<br />

das Arzneimittel dort „hergestellt“ ist, wo der Schwerpunkt der Herstellungstätigkeiten liegt. Nur so wird dem<br />

überragenden Schutzzweck der Arzneimittelsicherheit hinreichend Rechnung getragen. Würde durch die Verlagerung<br />

einfachster Herstellungstätigkeiten in die Apotheke der für die industrielle Herstellung vorgesehene Schutzmechanismus<br />

obsolet, entstünde eine erhebliche Schutzlücke. Es wäre möglich, nicht zugelassene Arzneimittel oder<br />

sogar solche, deren Zulassung aufgr<strong>und</strong> schädlicher Wirkungen widerrufen wurde, durch bloßes Umfüllen oder Abpacken<br />

zur zulassungsfreien Apothekenrezeptur umzudeklarieren. Dies würde eine erhebliche Gefährdung der Arzneimittelsicherheit<br />

<strong>und</strong> der Ges<strong>und</strong>heit der Patienten bewirken. Dem steht nicht entgegen, dass § 21 Abs. 2 Nr. 1<br />

AMG, der die Zulassungsfreiheit sogenannter Defekturarzneimittel regelt, im Gegensatz zu § 4 Abs. 1 AMG eine<br />

ausdrückliche Beschränkung auf Arzneimittel enthält, die „in den wesentlichen Schritten in der Apotheke“ erfolgt<br />

ist. Aus der Formulierung in § 21 Abs. 2 Nr. 1 AMG lässt sich nicht - auch nicht im Umkehrschluss - ableiten, dass<br />

eine gewichtende Begrenzung für die Abgrenzung zwischen Fertigarzneimitteln <strong>und</strong> Rezepturarzneimitteln nicht in<br />

Betracht kommt. Defekturarzneimittel sind im Voraus hergestellte Fertigarzneimittel (Rehmann, AMG, 3. Aufl., § 21<br />

Rn. 4). Auch für sie kommt es bei arbeitsteiligen Herstellungsverfahren bereits gr<strong>und</strong>sätzlich für die Beurteilung, ob<br />

das Arzneimittel in der Apotheke „hergestellt“ ist, auf eine wertende Gesamtbetrachtung des gesamten Herstellungsverlaufs<br />

an. Dementsprechend war bereits vor der Einfügung der Formulierung „in den wesentlichen Schritten“<br />

durch das 4. Gesetz zur Änderung des AMG vom 11. April 1990 (BGBl I, S. 717) anerkannt, dass § 21 Abs. 2 Nr. 1<br />

- 124 -


AMG nicht zur Zulassungsfreiheit eines Fertigarzneimittels führt, wenn lediglich untergeordnete Herstellungsschritte<br />

in der Apotheke erfolgt waren (so bereits OLG Köln, Urteil vom 2. März 1990 - 6 U 161/89, GRUR 1990, 691).<br />

Dass der Gesetzesänderung über die Klarstellung dieser Beschränkung hinaus Bedeutung zukommen sollte, ist weder<br />

der amtlichen Begründung (BT-Drucks. 11/5373, S. 13 zu § 21 AMG) noch sonstigen Umständen zu entnehmen (so<br />

bereits OLG Stuttgart, Urteil vom 28. Juni 1991 – 2 U 18/91, bei Sander,<br />

Entscheidungssammlung zum Arzneimittelrecht, § 21 AMG Nr. 14; vgl. auch BGH, Urteil vom 23. Juni 2005 - I<br />

ZR 194/02, BGHZ 163, 265 ff.). Bei einer wertenden Gesamtbetrachtung kann die in der Apotheke durchgeführte<br />

Zubereitung einer Injektionslösung das im Voraus industriell hergestellte Pulver nicht zu einem Rezepturarzneimittel<br />

umwidmen. Die Zubereitung bildet im Vergleich zum vorab erfolgten industriellen Herstellungsteil einen klar untergeordneten<br />

Arbeitsschritt. Die die arzneiliche Wirkung bestimmenden Herstellungstätigkeiten, etwa die pharmazeutische<br />

Verarbeitung des Wirkstoffs zu einer handelbaren, haltbaren Substanz, sind zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen.<br />

Für die Beurteilung, ob ein wesentlicher Herstellungsschritt vorliegt, kommt es zwar nicht entscheidend<br />

darauf an, ob auf das Arzneimittel chemisch eingewirkt wird. Allerdings sind Tätigkeiten ohne jede Einwirkung auf<br />

das Medikament, etwa das Abpacken oder das Umfüllen, schon aus diesem Gr<strong>und</strong>e keine wesentlichen Herstellungsschritte<br />

(so auch OLG Stuttgart, Urteil vom 28. Juni 1991 - 2 U 18/91, bei Sander, Entscheidungssammlung zum<br />

Arzneimittelrecht, § 21 AMG Nr. 14). Ebenso stellt sich eine Zubereitung, die das Arzneimittel lediglich in eine<br />

anwendbare Darreichungsform versetzt, gegenüber dem vorausgegangenen Prozess nicht mehr als wesentlich dar.<br />

Das zeigt sich bereits daran, dass im Zulassungsverfahren für Fertigarzneimittel die spätere Darreichungsform bereits<br />

Gegenstand der Zulassungsprüfung ist (vgl. § 22 Abs. 1 Nr. 4 AMG). Schon aus diesem Gr<strong>und</strong>e ist für die Bewertung<br />

des Landgerichts, der Zubereitungsprozess sei zulassungsfreie Apothekenrezeptur, kein Raum. Auch der vom<br />

Landgericht betonten Gefährlichkeit des Umgangs mit „Gemzar“ <strong>und</strong> dem daraus resultierenden Sicherheitsaufwand<br />

kommt für die Zuordnung keine entscheidende Bedeutung zu. Nach den Feststellungen der Strafkammer handelt es<br />

sich um Eigenschaften, die das pulverisierte „Gemzar“ generell in sich trägt. Anhaltspunkte dafür, dass gerade der<br />

Zubereitungsprozess eine im Vergleich zu den übrigen Herstellungsschritten besondere Vorsicht <strong>und</strong> - daher - einen<br />

besonderen Sicherheitsaufwand erfordert, liegen nicht vor. Auch der Gesetzgeber hat bis zuletzt deutlich gemacht,<br />

dass der Zubereitung von Zytostatika-Lösungen gegenüber dem vorausgehenden industriellen Herstellungsprozess<br />

des Zytostatikums keine wesentliche Bedeutung für die Arzneimittelsicherheit zukommt. So hat er noch im Jahr<br />

2009 klargestellt, dass es sich bei der Zubereitung um eine nicht zulassungspflichtige Tätigkeit handelt, während das<br />

zugr<strong>und</strong>e liegende Zytostatikum jedoch uneingeschränkt der Zulassung bedarf (§ 21 Abs. 2 Nr. 1b Buchst. a AMG<br />

nF; vgl. BGBl. 2009/I, S. 1990 ff., Art. 1 Nr. 22 b, bb).<br />

c) Der Tatbestand des § 96 Nr. 5 AMG entfällt schließlich auch nicht dadurch, dass das vom Angeklagten verwendete<br />

„Gemzar“ mit einem für Deutschland zugelassenen Alternativmedikament inhaltlich identisch ist. Die Gefahr des<br />

Fehlgebrauchs kann auch bei der Verwendung eines inhaltsgleichen Medikaments nicht ausgeschlossen werden.<br />

Selbst dann können sich insbesondere aus unterschiedlichen Herstellungsbedingungen <strong>und</strong> anderer Lagerung der<br />

Medikamente Qualitätsunterschiede ergeben. Den Besonderheiten des Parallelimports wird bereits durch das Zulassungsverfahren<br />

selbst Rechnung getragen. Die behördliche Prüfung erfolgt zwar nicht umfassend, sondern in einem<br />

vereinfachten Verfahren, aber hierdurch soll gerade auch sichergestellt werden, dass es sich tatsächlich um identische<br />

Arzneimittel handelt. Auf diese Identitätsfeststellung kann nicht verzichtet werden. Beim Arzneimittelimport ist<br />

der Empfängerstaat zu beschränkenden Maßnahmen im Interesse des Ges<strong>und</strong>heitsschutzes der Verbraucher nicht nur<br />

befugt; er ist, worauf der Generalb<strong>und</strong>esanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend hingewiesen hat, sogar gehalten,<br />

zur Gewährleistung des ges<strong>und</strong>heitlichen Verbraucherschutzes wenigstens ein solches, vereinfachtes Zulassungsverfahren<br />

durchzuführen (EuGH, Urteile vom 12. November 1996 - C-201/94, PharmR 1997, 92 ff.; vom 16. Dezember<br />

1999 - C-94/98, GRUR Int. 2000, 349 ff.; Heinemann, PharmR 2001, 180, 180 f.). Die in § 96 Nr. 5 AMG enthaltene<br />

formale Anknüpfung der Strafbarkeit an das Fehlen einer behördlichen Zulassung begegnet auch keinen Bedenken<br />

(vgl. zur Verwaltungsakzessorietät strafrechtlicher Normen BVerfG, Beschlüsse vom 15. Juni 1989 - 2 BvL 4/87, 2.<br />

Der Frage, ob - was nach den Umständen naheliegt - auch der Tatbestand des § 96 Nr. 13 AMG verwirklicht ist,<br />

braucht der Senat nicht abschließend nachzugehen. § 96 Nr. 13 AMG wird jedenfalls im vorliegenden Fall durch §<br />

96 Nr. 5 AMG konsumiert, denn die Verletzung der Verschreibungspflicht beruht hier allein auf der Missachtung<br />

von Zulassungsvorschriften. Dass die Verschreibungspflicht zwar ihren Gr<strong>und</strong> in dem jeweils enthaltenen Wirkstoff<br />

findet, sich aber nominell auf ein Arzneimittel, nicht auf den Wirkstoff selbst bezieht, ergibt sich bereits aus dem<br />

Wortlaut des § 48 Abs. 1 AMG. Dafür, dass der ärztliche Verordnungswille sich regelmäßig nur auf die Verabreichung<br />

zugelassener Medikamente erstreckt, sprechen schon die Risiken, denen sich der Arzt im Fall eines Fehlge-<br />

- 125 -


auchs aussetzt, etwa das Risiko des Verlusts der Approbation gemäß § 5 Abs. 2, § 3 Abs. 1 Nr. 2 BÄO (vgl. etwa<br />

OVG Saarlouis, Beschluss vom 29. Oktober 2004 - 1 Q 9/04, ArztR 2005, 162 ff.; Schelling in Spickhoff, Medizinrecht,<br />

1. Aufl., BÄO § 5 Rn. 39 mwN).<br />

3. Auch die Ablehnung des Betrugsvorwurfs hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Weil die Strafkammer bereits<br />

keinen Verstoß gegen Zulassungspflichten gesehen hat (s. o. II. 1.), hat sie zu Unrecht angenommen, dass das Arzneimittel<br />

verkehrsfähig <strong>und</strong> damit erstattungsfähig sei. Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit <strong>und</strong> Wirtschaftlichkeit<br />

(§ 2 Abs. 1, § 12 Abs. 1 SGB V) nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen nach §<br />

27 Abs. 1, § 31 Abs. 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche (§ 21 Abs. 1 AMG) arzneimittelrechtliche Zulassung<br />

fehlt (BSG, Urteile vom 4. April 2006 - B 1 KR 7/05 R, BSGE 96, 170 ff., vom 18. Mai 2004 - B 1 KR<br />

21/02 R, BSGE 93, 1 mwN; <strong>und</strong> vom 23. Juli 1998 - B 1 KR 19/96 R, BSGE 82, 233; zusammenfassend Wagner in<br />

Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, OK, SGB V § 31 Rn. 11 mwN). Mit der Übersendung der Rechnung an<br />

die gesetzlichen Krankenkassen oder deren Rechenzentren hat der Angeklagte einen sozialrechtlichen Erstattungsanspruch<br />

konkludent behauptet (zur parallelen Situation beim Arztabrechnungsbetrug vgl. BGH, Urteil vom 10. März<br />

1993 - 3 StR 461/92, NStZ 1993, 388) bzw. durch den Verkauf an die privat versicherten Patienten einen entsprechenden,<br />

tatsächlich nicht existenten Kaufpreisanspruchs geltend gemacht (vgl. zuletzt BGH,<br />

Beschluss vom 25. Januar 2012 – 1 StR 45/11 mwN). Auf die vom Landgericht erörterte Frage, ob der Angeklagte<br />

zugleich über die Umstände seiner Preisbildung getäuscht hat, kommt es danach nicht mehr an.<br />

III. Durch die Aufhebung des Urteils wird die Entscheidung über die Entschädigungspflicht für die erlittene Durchsuchungsmaßnahme<br />

gegenstandslos (vgl. BGH, Urteile vom 11. April 2002 - 4 StR 585/01; vom 22. März 2002 - 2<br />

StR 569/01; vom 17. August 2000 - 4 StR 245/00 mwN).<br />

IV. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:<br />

1. Ergeben sich konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die im Einzelfall abgegebenen Arzneimittel aus größeren, im<br />

Voraus beschafften Arzneimittelvorräten stammen, die zudem zum Zwecke des Verkaufs vorrätig gehalten wurden,<br />

können die einzelnen Abgabehandlungen eine Bewertungseinheit mit der Folge bilden, dass jeweils nur ein einheitlicher<br />

Fall des unerlaubten Inverkehrbringens von Fertigarzneimitteln ohne Zulassung vorliegt (§ 4 Abs. 17 AMG;<br />

vgl. auch BGH, Urteil vom 8. Dezember 2009 - 1 StR 277/09, BGHSt 54, 243 ff.).<br />

2. Die neue Strafkammer wird im Hinblick auf die Feststellung eines infolge der Täuschung ausgelösten Irrtums bei<br />

den mit der Abrechnungsprüfung befassten Krankenkassen bzw. Rechnungszentren Gelegenheit haben, detaillierte<br />

Feststellungen dazu zu treffen, inwieweit die Mitarbeiter konkret Kenntnis davon hatten, dass der Angeklagte<br />

<strong>und</strong>/oder andere Apotheker Zubereitungen aus nicht zugelassenen Importmedikamenten nach Listenpreis abrechneten<br />

(zur Möglichkeit eines Irrtums bei Zweifeln des Opfers vgl. BGH, Urteil vom 5. Dezember 2002 - 3 StR 161/02,<br />

NJW 2003, 1198 ff.; Fischer, StGB, 59. Aufl., § 263 Rn. 55 mwN).<br />

3. Bei der betrügerischen Erschleichung nicht erstattungsfähiger Leistungen entfällt der Leistungsanspruch insgesamt;<br />

für die Bemessung des Schadens ist auf den gesamten zu Unrecht erlangten Betrag abzustellen (BGH, Beschlüsse<br />

vom 25. Januar 2012 - 1 StR 45/11, <strong>und</strong> vom 28. September 1994 - 4 StR 280/94, NStZ 1995, 85 ff. jew.<br />

mwN). Gleiches gilt hinsichtlich der privat versicherten Patienten: In dem Umfang, in dem die Rechtsordnung einer<br />

Leistung die Abrechenbarkeit versagt, weil etwa die für die Abrechenbarkeit vorgesehenen Qualifikations- <strong>und</strong> Leistungsmerkmale<br />

nicht eingehalten sind, kann ihr kein für den tatbestandlichen Schaden i.S.v. § 263 StGB maßgeblicher<br />

wirtschaftlicher Wert zugesprochen werden (vgl. zuletzt BGH, Beschluss vom 25. Januar<br />

2012 - 1 StR 45/11; auch Beckemper/Wegner, NStZ 2003, 315, 316). Führt die erbrachte Leistung mangels Abrechenbarkeit<br />

nicht zum Entstehen eines Zahlungsanspruchs, findet eine saldierende Kompensation nicht statt. Zahlt<br />

der in Anspruch Genommene irrtumsbedingt ein nicht geschuldetes Honorar, ist er in Höhe des zu Unrecht Gezahlten<br />

geschädigt (BGH aaO).<br />

4. Bei einem monatlichen Abrechnungsrhythmus gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen wird zu prüfen sein, ob<br />

im Einzelnen festgestellte Ausführungshandlungen teilidentisch sind (§ 52 StGB).<br />

5. Eine im Einzelfall festzustellende erhebliche Reduzierung oder gar der Ausschluss einer tatsächlichen Gefährdung<br />

der Patienten durch die Verwendung nicht zugelassenen „Gemzar“ kann im Bereich der Strafbemessung Berücksichtigung<br />

finden (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 30. Juni 2011 - 3 StR 117/11).<br />

- 126 -


AO § 370 Abs. 1 <strong>und</strong> 4; GG Art. 103 Abs. 2 – Bezifferung von unberechtigter Steuervorteilen<br />

BGH, Beschl. v. 22.11.2012 – 1 StR 537/12- wistra 2013, 199= NStZ 2013, 412<br />

LS: Zur Bezifferung aufgr<strong>und</strong> unrichtiger Feststellungsbescheide nach § 182 Abs. 1 Satz 1 AO erlangter<br />

nicht gerechtfertigter Steuervorteile im Sinne von § 370 Abs. 1 AO.<br />

Der 1. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat am 22. November 2012 beschlossen: Die Revisionen der Angeklagten<br />

gegen das Urteil des Landgerichts Hof vom 23. Mai 2012 werden als unbegründet verworfen (§ 349 Abs. 2 StPO).<br />

Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

I. Das Landgericht hat den Angeklagten M. wegen Steuerhinterziehung in insgesamt 20 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe<br />

von fünf Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten sowie den Angeklagten Dr. G. unter Freispruch im Übrigen wegen elf<br />

Fällen der Beihilfe zur Steuerhinterziehung unter Einbeziehung der Einzelstrafen einer früheren Verurteilung zu<br />

einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt. Den Verurteilungen liegt eine Vielzahl von<br />

unrichtigen Angaben zugr<strong>und</strong>e, die die Angeklagten zum Zwecke der Verkürzung verschiedener Steuerarten sowie<br />

der Erlangung von nicht gerechtfertigten Steuervorteilen zugunsten von rechtlich unterschiedlich organisierten Unternehmen<br />

gemacht haben bzw. durch Dritte haben machen lassen. An den Unternehmen waren sie jeweils entweder<br />

maßgeblich wirtschaftlich beteiligt oder übten faktisch bestimmenden Einfluss auf die Unternehmenstätigkeit aus.<br />

Die jeweils auf die Sachrüge beschränkten Revisionen bleiben ohne Erfolg.<br />

II.<br />

1. Die Revision des Angeklagten M. beanstandet, das Landgericht habe in Bezug auf drei der begünstigten Unternehmen<br />

(C. AG; H. GmbH; MB. GmbH) für einige Steuerarten in mehreren Veranlagungszeiträumen den tatbestandlichen<br />

Erfolg des § 370 Abs. 1 AO in "nicht gerechtfertigten Steuervorteilen" als verwirklicht angenommen, ohne die<br />

weiteren steuerlichen Auswirkungen dieser Vorteile in Gestalt der zukünftigen Verkürzung der Steuern näher zu<br />

prüfen <strong>und</strong> zu beziffern. Entsprechendes wendet sie auch ein, soweit in Bezug auf die Ma. KG lediglich die Höhe der<br />

erfolgten Gewinnfeststellung angegeben ist, deren Wirkungen zum Vorteil der Kommanditistin, der H. GmbH, aber<br />

nicht beziffert wurden. Damit werde das Tatgericht den in der jüngeren Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />

(BVerfGE 126, 170, 194 ff.; BVerfG, NJW 2012, 907, 915 ff.; BVerfG StraFo 2012, 496 ff.) zur Untreue (§<br />

266 StGB) gestellten Anforderungen des Bestimmtheitsgr<strong>und</strong>satzes (Art. 103 Abs. 2 GG), die auf die Steuerhinterziehung<br />

übertragbar seien, nicht gerecht. Es fehle an der nach dem genannten Maßstab gebotenen Bestimmung der<br />

Höhe der Beeinträchtigung des staatlichen Steueranspruchs. Durch diesen Verzicht gebe das Tatgericht die strafbarkeitsbegrenzende<br />

Funktion des Merkmals "Steuervorteil" auf, indem es bereits potentielle Besserstellungen des<br />

Vermögens des betroffenen Steuerpflichtigen als tatbestandsmäßigen Steuervorteil i.S.v. § 370 Abs. 1 AO ausreichen<br />

lasse. Dieser Mangel des Urteils wirke sich auch auf die Strafzumessung aus, weil die Höhe der verkürzten Steuern<br />

ein bestimmender Strafzumessungsfaktor sei.<br />

2. Mit diesen Erwägungen dringt die Revision nicht durch. Das den Angeklagten M. betreffende Urteil weist weder<br />

zum Schuld- noch zum Strafausspruch Rechtsfehler zu dessen Lasten auf.<br />

a) Wie die Revision an sich nicht verkennt, hat der Senat bereits entschieden, dass ein mittels tatbestandsmäßiger<br />

Verhaltensweisen gemäß § 370 Abs. 1 AO erwirkter unrichtiger Feststellungsbescheid im Hinblick auf dessen aus §<br />

182 Abs. 1 Satz 1 AO resultierender Bindungswirkung einen "nicht gerechtfertigten Steuervorteil" <strong>und</strong> damit eine<br />

vollendete Tat darstellt (BGH, Beschluss vom 10. Dezember 2008 - 1 StR 322/08, BGHSt 53, 99, 104-107 Rn. 21-<br />

23; Meyberg PStR 2011, 31 f.; siehe auch Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 21. Aufl., § 23 Rn. 36 mit Fn. 3). Die<br />

Bindungswirkung erfasst sowohl die zu niedrige Feststellung von Gewinnen als auch unberechtigte Verlustvorträge<br />

<strong>und</strong> unberechtigt nicht verbrauchte Verlustvorträge. In Anwendung dieser Rechtsprechung hat das Tatgericht - bezogen<br />

auf unterschiedliche Veranlagungszeiträume <strong>und</strong> verschiedene steuerpflichtige Unternehmen - zutreffend derartige<br />

Steuervorteile festgestellt. Das trägt den Schuldspruch wegen vollendeter Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 1<br />

AO.<br />

b) Die neuere Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die<br />

strafrechtliche Untreue (§ 266 StGB) <strong>und</strong> den Betrug (§ 263 StGB), insbesondere hinsichtlich der Merkmale "Vermögensnachteil"<br />

bzw. "Vermögensschaden" (BVerfGE 126, 170, 194 ff.; BVerfG NJW 2012, 907, 915 f.; BVerfG<br />

- 127 -


StraFo 2012, 496, 497 f.), gibt keinen Anlass, von dem bisherigen Verständnis des "nicht gerechtfertigten Steuervorteils"<br />

nach § 370 Abs. 1 AO sowie den zu dessen Vorliegen erforderlichen Feststellungen abzugehen.<br />

aa) Das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht leitet aus Art. 103 Abs. 2 GG für die Auslegung von Strafnormen u.a. ein Verschleifungsverbot<br />

ab (vgl. BVerfGE 92, 1, 16 f.; BVerfGE 126, 170, 198; BVerfG StraFo 2012, 496, 497). Danach<br />

darf die Auslegung derjenigen Begriffe, mit denen der Gesetzgeber das unter Strafe gestellte Verhalten beschreibt,<br />

nicht zu einer Aufgabe der durch die Tatbestandsmerkmale bewirkten Eingrenzung der Strafbarkeit führen. Merkmale<br />

des Straftatbestandes dürfen daher selbst innerhalb der durch den Wortsinn gebildeten äußersten Auslegungsgrenze<br />

nicht so ausgelegt werden, dass sie vollständig in anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen (BVerfGE 126, 170,<br />

198; BVerfG StraFo 2012, 496, 497). Dem trägt die Annahme eines "nicht gerechtfertigten Steuervorteils" i.S.v. §<br />

370 Abs. 1 AO bereits bei Erwirken eines (bindenden) Feststellungsbescheides in Bezug auf zu niedrige Gewinnfeststellungen,<br />

nicht gerechtfertigte Verlustvorträge oder ungerechtfertigt nicht verbrauchte Verlustvorträge Rechnung.<br />

Das Erlangen (vgl. § 370 Abs. 4 Satz 2 AO) eines nicht gerechtfertigten Steuervorteils stellt einen von den Tathandlungen<br />

der § 370 Abs. 1 Nrn. 1-3 AO klar abgrenzbaren tatbestandsmäßigen Erfolg der Steuerhinterziehung (BGH,<br />

aaO, BGHSt 53, 99, 106 Rn. 22) dar. Aus der Vornahme der Tathandlung folgt nicht per se das Vorliegen eines<br />

solchen Steuervorteils. Vielmehr ist es in Fällen der vorliegenden Art erforderlich, dass - durch die Tathandlung<br />

mitverursacht - die Finanzbehörde einen mit der Bindungswirkung des § 182 Abs. 1 Satz 1 AO versehenen Feststellungsbescheid<br />

erlässt, der die Besteuerungsgr<strong>und</strong>lagen unrichtig feststellt. Welchen Inhalt dieser Bescheid hat, welcher<br />

Vorteil zu Unrecht festgestellt worden ist <strong>und</strong> welche Höhe der Steuervorteil (etwa der unberechtigte Verlustvortrag)<br />

hat, ist von den Strafgerichten zu ermitteln <strong>und</strong> im Urteil darzulegen. Eine verfassungsrechtlich unzulässige<br />

Verschleifung von Tatbestandsmerkmalen des § 370 Abs. 1 AO ist daher mit der vom Senat vorgenommenen Auslegung<br />

des Begriffs "nicht gerechtfertigter Steuervorteil" nicht verb<strong>und</strong>en. Das Tatgericht hat auf dieser Gr<strong>und</strong>lage<br />

rechtsfehlerfrei in zahlreichen Konstellationen die Erlangung nicht gerechtfertigter Steuervorteile zugunsten der von<br />

den Angeklagten beherrschten Unternehmen festgestellt. Die Strafkammer hat diese Vorteile sowohl der Art als auch<br />

der Höhe nach ausgewiesen <strong>und</strong> das Vorliegen der Steuervorteile auf entsprechende Feststellungsbescheide der jeweils<br />

zuständigen Finanzbehörden gestützt.<br />

bb) Art. 103 Abs. 2 GG erfordert auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />

(BVerfG jeweils aaO) bei der Auslegung von § 370 Abs. 1 AO in der Variante des in einem "nicht gerechtfertigten<br />

Steuervorteil" liegenden tatbestandsmäßigen Erfolgs nicht, die Vollendung der Tat davon abhängig zu machen, auf<br />

der Gr<strong>und</strong>lage des bezifferten Steuervorteils die (zukünftigen) Auswirkungen auf den Steueranspruch des Staates zu<br />

berechnen (anders etwa Wittig ZIS 2011, 660, 668). Das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht hält es am Maßstab des Bestimmtheitsgr<strong>und</strong>satzes<br />

gemessen im Gr<strong>und</strong>satz für verfassungsrechtlich unbedenklich, bei § 263 StGB <strong>und</strong> § 266<br />

StGB die Vollendung des jeweiligen Straftatbestandes bereits dann anzunehmen, wenn lediglich die konkrete Gefahr<br />

eines gegenwärtigen Vermögensschadens bzw. Vermögensnachteils besteht (BVerfGE 126, 170, 223 ff., 226 ff.<br />

bzgl. § 266 StGB; BVerfG NJW 2012, 907, 916 bzgl. § 263 StGB für den sog. Eingehungsbetrug). Um eine mit Art.<br />

103 Abs. 2 GG unvereinbare Überdehnung der Straftatmerkmale "Vermögensschaden/Vermögensnachteil" auszuschließen,<br />

dürfen aber an die konkrete Gefahr des Vermögensverlustes nicht so geringe Wahrscheinlichkeitsanforderungen<br />

gestellt werden, dass dessen realer Eintritt ungewiss bleibt (BVerfG jeweils aaO). Als weitere Sicherung<br />

gegen eine Tatbestandsüberdehnung bei schadensgleicher Vermögensgefährdung bzw. Gefährdungsschaden verlangt<br />

das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht von den Strafgerichten - von Ausnahmen bei einfach gelagerten Fällen abgesehen -<br />

eine Bezifferung der Höhe des Vermögensschadens, deren Gr<strong>und</strong>lagen in wirtschaftlich nachvollziehbarer Weise im<br />

Urteil auszuführen sind. Die Schätzung von Mindestschäden auf tragfähiger Gr<strong>und</strong>lage ist zulässig (BVerfG jeweils<br />

aaO). Die auf die Rechtsgutsverletzungsdelikte § 263 StGB <strong>und</strong> § 266 StGB bezogenen Vorgaben sind auf den<br />

"nicht gerechtfertigten Steuervorteil" als tatbestandsmäßiger Erfolg nach § 370 Abs. 1 AO nicht übertragbar. Der<br />

Straftatbestand der Steuerhinterziehung ist weder in seinen tatbestandlichen Strukturen noch in dem von ihm geschützten<br />

Rechtsgut <strong>und</strong> seinem Deliktscharakter dem Betrugs- <strong>und</strong> dem Untreuestraftatbestand so ähnlich, dass eine<br />

Änderung der Voraussetzungen der Vollendung in der genannten Tatbestandsvariante veranlasst oder gar geboten<br />

wäre. Sowohl § 263 StGB als auch § 266 StGB verlangen als tatbestandlichen Erfolg eine durch die jeweilige tatbestandsmäßige<br />

Handlung verursachte Beeinträchtigung des strafrechtlich geschützten Vermögens einer anderen Person<br />

als dem Täter. Einen anderen, alternativ möglichen tatbestandlichen Erfolg, von dessen Eintritt die Tatvollendung<br />

abhängt, weisen sie nicht auf. Anders verhält es sich bei § 370 Abs. 1 AO. Die Steuerhinterziehung statuiert mit<br />

der Steuerverkürzung <strong>und</strong> den "nicht gerechtfertigten Steuervorteilen" alternativ zwei tatbestandsmäßige Erfolge.<br />

Wie sich auch aus § 370 Abs. 4 Satz 1 <strong>und</strong> Satz 2 AO ableiten lässt, geht das Gesetz von einer inhaltlichen Unter-<br />

- 128 -


scheidung zwischen diesen beiden Tatvarianten aus. Dass die Differenzierung zwischen den Taterfolgen nicht in<br />

allen Einzelheiten geklärt ist (Joecks in Franzen/Gast/ Joecks, Steuerstrafrecht, 7. Aufl., AO § 370 Rn. 83) ändert<br />

daran nichts. Die Steuerverkürzung einerseits <strong>und</strong> der "nicht gerechtfertigte Steuervorteil" andererseits beschreiben<br />

nicht lediglich einen identischen Taterfolg des § 370 Abs. 1 AO, die Gefährdung des staatlichen Steueranspruchs,<br />

aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln (so aber Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 21. Aufl., § 23 Rn. 35). Mit einer<br />

solchen Betrachtung wäre das Aufgreifen der in § 370 Abs. 1 AO getroffenen Unterscheidung zwischen den Taterfolgen<br />

bei den Begriffsbestimmungen in § 370 Abs. 4 Satz 1 <strong>und</strong> 2 AO nicht zu vereinbaren (Rolletschke, Steuerstrafrecht,<br />

4. Aufl., Rn. 87). Das Gesetz beschreibt hier - wenn auch nicht vollumfänglich im Sinne einer Legaldefinition<br />

- verschiedene Voraussetzungen für das Verkürzen von Steuern auf der einen Seite <strong>und</strong> die Erlangung von<br />

"nicht gerechtfertigten Steuervorteilen" andererseits. Der Steuerstraftatbestand trägt damit (auch) dem Steuerrecht<br />

Rechnung, das für das Besteuerungsverfahren in gesetzlich geregelten Fällen eine von der Steuerfestsetzung getrennte<br />

Feststellung der Besteuerungsgr<strong>und</strong>lagen zulässt (§ 157 Abs. 2, § 179 Abs. 1, § 180 AO). Diese Differenzierung<br />

aufnehmend kann innerhalb des § 370 Abs. 1 AO dem Erfolg in Gestalt der Erlangung eines "nicht gerechtfertigten<br />

Steuervorteils" bereits im Feststellungsverfahren ein weiterer Taterfolg, nämlich die Steuerverkürzung, im Festsetzungsverfahren<br />

nachfolgen (BGH, aaO, BGHSt 53, 99, 107 Rn. 23 mwN; vgl. auch Seer aaO § 23 Rn. 36 mit Fn. 3).<br />

Diese Besonderheiten der Steuerhinterziehung gegenüber den allgemeinen Vermögensdelikten §§ 263, 266 StGB<br />

legen eine Übertragung der diese betreffenden verfassungsgerichtlichen Vorgaben auf die Voraussetzungen der Tatvollendung<br />

bei § 370 Abs. 1 AO nicht nahe. Erst recht stehen einer solchen aber die aus dem jeweiligen Schutzzweck<br />

resultierenden Unterschiede im Deliktscharakter entgegen. Betrug (§ 263 StGB) <strong>und</strong> Untreue (§ 266 StGB)<br />

schützen das Vermögen verstanden als die Summe aller geldwerten Güter, die einer Person nach der Gesamtrechtsordnung<br />

zugewiesen sind (BGH, Beschluss vom 18. Juli 1961 - 1 StR 606/60, BGHSt 16, 220, 221; Fischer, StGB,<br />

60. Aufl., § 263 Rn. 3). Im Hinblick auf die Tatbestandsmerkmale "Vermögensschaden" bzw. "Vermögensnachteil"<br />

handelt es sich jeweils um Rechtsgutsverletzungsdelikte. Die Tatvollendung verlangt gr<strong>und</strong>sätzlich jeweils eine<br />

eingetretene Minderung des geschützten Vermögens dergestalt, dass sich bei einem Vergleich des Vermögenswertes<br />

vor <strong>und</strong> nach der tatbestandsmäßigen Handlung ein negativer Saldo ergeben muss (vgl. BVerfGE 126, 170, 213 f.;<br />

BVerfG NJW 2012, 907, 915 f.). Die Annahme von Tatvollendung bei einem sich als konkrete Gefahr eines gegenwärtigen<br />

Vermögensschadens bzw. Vermögensnachteils darstellenden Taterfolg ist wegen Art. 103 Abs. 2 GG lediglich<br />

in den vom B<strong>und</strong>esverfassungsgericht gezogenen engen Grenzen (BVerfGE 126, 170, 223 ff., 226 ff.; BVerfG<br />

NJW 2012, 907, 916 f.) gestattet.<br />

Abweichend davon stellt sich § 370 AO nicht notwendig als Rechtsgutsverletzungsdelikt dar (BGH, Beschluss vom<br />

10. Dezember 2008 - 1 StR 322/08, BGHSt 53, 99, 106 Rn. 22; Ransiek in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO<br />

Rn. 57). § 370 Abs. 4 Satz 1 AO lässt im Hinblick auf den Taterfolg der Steuerverkürzung deutlich erkennen, dass<br />

die Vollendung der Tat gerade keine tatsächlich eingetretene Beeinträchtigung des tatbestandlich geschützten<br />

Rechtsguts, dem öffentlichen Interesse am vollständigen <strong>und</strong> rechtzeitigen Aufkommen jeder einzelnen Steuerart<br />

(BGH, Beschluss vom 23. März 1994 - 5 StR 91/94, BGHSt 40, 109, 111; BGH, Urteil vom 1. August 2000 - 5 StR<br />

624/99, BGHSt 46, 107, 120; BGH, Urteil vom 2. Dezember 2008 - 1 StR 416/08, BGHSt 53, 71, 80 Rn. 21 mwN;<br />

Jäger in Klein, AO, 11. Aufl., § 370 Rn. 2), verlangt (BGH, Beschluss vom 10. Dezember 2008 - 1 StR 322/08,<br />

BGHSt 53, 99, 106 Rn. 22). Es genügt bereits die zu niedrige Festsetzung der Steuer als solche (BGH aaO). Eine<br />

andere Betrachtung wäre mit dem Wortlaut von § 370 Abs. 4 Satz 1 AO nicht zu vereinbaren. In Bezug auf den<br />

Taterfolg der Steuerverkürzung (§ 370 Abs. 1 Variante 1 AO) erfordert die Steuerhinterziehung damit keine Verletzung<br />

des geschützten Rechtsguts (vgl. BGH aaO; Ransiek aaO, § 370 AO Rn. 57 <strong>und</strong> 59). Dementsprechend ist es<br />

für den Eintritt der Vollendung des Delikts auch nicht von Bedeutung, ob der Steuerschuldner über ausreichende<br />

finanzielle Mittel zur Begleichung der Steuerschuld verfügt. Im Gegensatz dazu kann es für die Annahme der Vollendung<br />

einer Betrugstat durchaus auf die Liquidität des Täters ankommen. So ist etwa für eine täuschungsbedingt<br />

erlangte St<strong>und</strong>ung einer Forderung anerkannt, dass es an einem Schaden <strong>und</strong> damit einem vollendeten Delikt fehlt,<br />

wenn im Zeitpunkt der Vermögensverfügung, also der Gewährung der St<strong>und</strong>ung, kein (pfändbares) Vermögen bei<br />

dem Schuldner vorhanden war (BGH, Beschluss vom 30. Januar 2003 - 3 StR 437/02, NStZ 2003, 546, 548; Fischer<br />

aaO § 263 Rn. 134). Für den Taterfolg "nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt" gilt Entsprechendes (BGH, Beschluss<br />

vom 10. Dezember 2008 - 1 StR 322/08, BGHSt 53, 99, 106 Rn. 22). § 370 Abs. 4 Satz 2 AO stellt insoweit<br />

klar, dass ein Steuervorteil bereits mit dessen unberechtigter Gewährung erlangt ist. Wie sich etwa in der Konstellation<br />

des mit Bindungswirkung versehenen Feststellungsbescheides (§ 182 Abs. 1 Satz 1 AO) zeigt, kann eine solche<br />

Erlangung aufgr<strong>und</strong> der Gestaltung des Besteuerungsverfahrens bereits eingetreten sein, ohne dass damit wegen der<br />

- 129 -


in diesem Zeitpunkt noch nicht im Einzelnen absehbaren Auswirkungen auf die Steuerfestsetzung eine Minderung<br />

des staatlichen Steueraufkommens einhergeht. Die zum Ergehen eines Feststellungsbescheides über einen hinreichend<br />

bestimmten Steuervorteil führende Tathandlung nach § 370 Abs. 1 Nrn. 1-3 AO bewirkt aber gerade wegen<br />

der Bindungswirkung hinsichtlich der unrichtig festgestellten Besteuerungsgr<strong>und</strong>lagen eine Gefährdung des Steueraufkommens.<br />

Erweist sich damit die Steuerhinterziehung in beiden Taterfolgsvarianten nicht als Rechtsgutsverletzungsdelikt,<br />

lassen sich die für die §§ 263, 266 StGB, bei denen es sich um einen solchen Deliktstypus handelt, geltenden<br />

verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Tatvollendung nicht auf § 370 AO übertragen. Das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht<br />

leitet aus dem Bestimmtheitsgr<strong>und</strong>satz (Art. 103 Abs. 2 GG) Grenzen für die Ausdehnung eines<br />

Rechtsgutsverletzungserfolges ("Vermögensschaden" bzw. "Vermögensnachteil") auf Konstellationen einer als Gefährdungsschaden<br />

erfassbaren hinreichend konkreten Gefährdung des geschützten Vermögens ab. Darum geht es bei<br />

§ 370 AO nicht.<br />

c) Entgegen der von der Revision des Angeklagten M. vertretenen Auffassung gebieten weder das Verfassungsgebot<br />

schuldangemessenen Strafens noch Art. 103 Abs. 2 GG die Bezifferung der sich aus Steuervorteilen in unrichtigen<br />

Feststellungsbescheiden ergebenden Auswirkungen auf die Besteuerung der begünstigten Steuerpflichtigen als<br />

Gr<strong>und</strong>lage der Strafzumessung.<br />

aa) Wie die Revision an sich nicht verkennt, handelt es sich bei der Höhe der hinterzogenen Steuern um einen bestimmenden<br />

Strafzumessungsfaktor (BGH, Urteil vom 2. Dezember 2008 - 1 StR 416/08, BGHSt 53, 71, 80 Rn. 21<br />

mwN). Diese Bedeutung des Hinterziehungsbetrages ergibt sich daraus, dass dieser das Ausmaß der Rechtsgutsbeeinträchtigung<br />

entscheidend mitbestimmt <strong>und</strong> dieses wiederum eine wesentliche Anknüpfung für den Grad des vom<br />

Täter verschuldeten Unrechts bildet. Nach der Rechtsprechung des Senats erfolgt jedoch die Strafzumessung bei der<br />

Steuerhinterziehung ungeachtet dieser Bedeutung des Hinterziehungsbetrages nicht allein "tarifmäßig" (BGH aaO,<br />

BGHSt 53, 71, 81 Rn. 24). Den Anforderungen des verfassungsrechtlichen Schuldgr<strong>und</strong>satzes <strong>und</strong> dessen einfachgesetzlicher<br />

Ausgestaltung entsprechend richtet sich die Strafzumessung einzelfallbezogen nach den in § 46 StGB<br />

genannten Kriterien.<br />

bb) Diese Kriterien gelten auch für die Strafzumessung der durch Erlangung eines "nicht gerechtfertigten Steuervorteils"<br />

verwirklichten Steuerhinterziehung. Die Dimension der Gefährdung des geschützten Rechtsguts lässt sich<br />

jedenfalls für die hier vorliegenden Steuervorteile in Gestalt von zu niedrigen Gewinnfeststellungen, unberechtigten<br />

Verlustvorträgen <strong>und</strong> unberechtigt nicht verbrauchten Verlustvorträgen anhand der Höhe des im Feststellungsbescheid<br />

ausgewiesenen Steuervorteils erkennen. Angesichts der Natur des § 370 AO genügt die Berücksichtigung der<br />

Höhe des Steuervorteils ungeachtet der noch nicht bezifferten Auswirkungen auf die Steuerlast als Gr<strong>und</strong>lage für die<br />

Strafzumessung. In den hier allein verfahrensgegenständlichen Fallgestaltungen von Steuervorteilen in mit Bindungswirkung<br />

versehenen Feststellungsbescheiden bleibt für den Täter auch nicht unklar, was für eine Art von Steuervorteil<br />

in welcher Höhe von ihm erlangt worden ist.<br />

cc) Der Feststellung <strong>und</strong> Bezifferung der Auswirkungen eines Steuervorteils in den vorliegenden Konstellationen<br />

bedarf es auch im Hinblick auf die Anwendung des Regelbeispiels aus § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO nicht. Wie sich<br />

aus dessen Wortlaut ergibt, geht das Gesetz davon aus, dass das Regelbeispiel sowohl bei der Steuerhinterziehung<br />

durch Steuerverkürzung als auch bei der Erlangung von nicht gerechtfertigten Steuervorteilen verwirklicht sein kann.<br />

Ab welcher Wertgrenze ein "großes Ausmaß" gemäß § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO bei erlangten Steuervorteilen<br />

anzunehmen ist, hat die Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs bisher nicht zu entscheiden gehabt. Dies bedarf<br />

auch vorliegend keiner Entscheidung. Das Landgericht hat das Regelbeispiel nicht auf das Erlangen von Steuervorteilen<br />

zugunsten der verschiedenen begünstigten Gesellschaften angewendet. Da die erlangten Steuervorteile der hier<br />

fraglichen Art aber ohnehin für die Beurteilung des Vollendungseintritts nach Art <strong>und</strong> Höhe festzustellen sind,<br />

kommt eine Anwendung des Regelbeispiels anhand von Wertgrenzen, wie sie der Senat bislang nach Fallkonstellationen<br />

differenzierend angenommen hat (siehe BGH aaO, BGHSt 53, 71, 85 Rn. 38 f.), gr<strong>und</strong>sätzlich in Betracht.<br />

d) Das gegen den Angeklagten M. ergangene Urteil weist damit weder im Schuld- noch im Strafausspruch Rechtsfehler<br />

zu dessen Nachteil auf.<br />

3. Die Revision des Angeklagten Dr. G. bleibt ebenfalls ohne Erfolg. Ein von diesem geltend gemachtes Verfahrenshindernis<br />

besteht nicht. Wie von der Revision selbst vorgetragen wird, ist eine Einstellung gemäß § 154 Abs. 1<br />

StPO, die ohnehin nicht zu einem Verfahrenshindernis führen würde (Beulke in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., §<br />

154 Rn. 51; Radtke in Radtke/Hohmann, StPO, § 154 Rn. 43), nicht erfolgt.<br />

- 130 -


AO § 370 Abs. 1, § 39 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2, § 41 Abs. 1 Satz 1 - Zurechnung Geschäftsanteile bei unwirksamer<br />

Treuhand<br />

BGH, Beschl. v. 06.09.2012 - 1 StR 140/12 - NJW 2012, 3455 = NZWiSt 2013, 77<br />

LS: Zur Zurechnung erworbener Geschäftsanteile bei formunwirksamer Treuhandvereinbarung.<br />

Der 1. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat am 6. September 2012 gemäß § 154a Abs. 2, § 349 Abs. 2 <strong>und</strong> Abs. 4<br />

StPO beschlossen:<br />

1. Auf die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts München II vom 6. Oktober 2011 wird<br />

a) der Vorwurf der Umsatzsteuerhinterziehung für die Jahre 2005 <strong>und</strong> 2007 gemäß § 154a Abs. 2 StPO von der Verfolgung<br />

ausgenommen,<br />

b) das vorbezeichnete Urteil im Schuldspruch dahin geändert, dass schuldig sind<br />

- der Angeklagte L. der Steuerhinterziehung in sechs Fällen,<br />

- der Angeklagte W. der Steuerhinterziehung in drei Fällen <strong>und</strong> der Beihilfe zur Steuerhinterziehung in drei Fällen,<br />

c) das vorbezeichnete Urteil aufgehoben<br />

- in den Einzelstrafaussprüchen, soweit die Angeklagten wegen tateinheitlich begangener Hinterziehung von Körperschaft-,<br />

Gewerbe- <strong>und</strong> Umsatzsteuer betreffend das Jahr 2007 verurteilt sind,<br />

- in den Gesamtstrafaussprüchen.<br />

2. Die weitergehenden Revisionen der Angeklagten werden verworfen.<br />

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der<br />

Rechtmittel, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten L. wegen Steuerhinterziehung in sechs tatmehrheitlichen Fällen, in drei Fällen<br />

jeweils begangen in drei tateinheitlichen Fällen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren, den Angeklagten<br />

W. wegen Steuerhinterziehung in drei tatmehrheitlichen Fällen, jeweils begangen in drei tateinheitlichen Fällen, <strong>und</strong><br />

wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die<br />

hiergegen gerichteten, auf die Verletzung formellen <strong>und</strong> materiellen Rechts gestützten Revisionen der Angeklagten<br />

haben den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO). Im Übrigen hat die Überprüfung<br />

des Urteils keinen dessen Bestand gefährdenden Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2<br />

StPO). Näherer Erörterung bedarf lediglich die ausgeführte Sachrüge.<br />

I. Der Verurteilung liegt im Wesentlichen zugr<strong>und</strong>e, dass die Angeklagten als Geschäftsführer der M. C. GmbH,<br />

deren Geschäftsanteile für den Angeklagten L. treuhänderisch gehalten wurden, in den für diese Gesellschaft abgegebenen<br />

Körperschaftsteuer-, Gewerbesteuer- <strong>und</strong> Umsatzsteuerjahreserklärungen betreffend die Jahre 2004, 2005<br />

<strong>und</strong> 2007 Zahlungen für oder an den Angeklagten L. , die als verdeckte Gewinnausschüttung zu werten sind, gewinnmindernd<br />

berücksichtigten. Der Angeklagte L. erklärte darüber hinaus - wozu der Angeklagte W. Beihilfe leistete<br />

- in seinen persönlichen Einkommensteuererklärungen der entsprechenden Veranlagungszeiträume seine hiermit<br />

korrespondierenden weiteren Einkünfte nicht. Die Angeklagten bewirkten hierdurch - wie von ihnen beabsichtigt -<br />

jeweils zu niedrige Steuerfestsetzungen. Das Landgericht hat hierzu Folgendes festgestellt:<br />

1. Der Angeklagte L. betätigte sich im Handel mit Oldtimern. Er hatte im Jahr 1985 die M. GmbH mit Sitz in Hamburg<br />

einschließlich aller Rechte an dem Namen " M. " erworben. Um das Geschäft unberührt von einem seit dem<br />

Jahr 1995 anhängigen Ehescheidungsverfahren fortführen zu können <strong>und</strong> um auszuschließen, dass seine Ehefrau<br />

oder deren Vater Zugriff auf die neue Gesellschaft <strong>und</strong> die hieraus erzielten Gewinne erhielt, verabredete er unmittelbar<br />

vor dem 24. Mai 1995 - mündlich - mit dem Angeklagten W. , dass dieser für ihn eine Gesellschaft in Süddeutschland<br />

gründen solle, die ihm eine wirtschaftliche Betätigung unter dem Namen "M. " ermöglichte, ohne dass<br />

er offiziell nach außen für diese Gesellschaft auftrat. Das Geld für die Gründung brachte allein der Angeklagte L.<br />

auf. Ihm sollten - von einem angemessenen Geschäftsführergehalt für den Angeklagten W. abgesehen - auch alle<br />

Gewinne zufließen <strong>und</strong> er "sollte jederzeit Zugriff auf die Geschäftsanteile behalten <strong>und</strong> eine Übertragung an sich<br />

selbst erreichen können" (UA S. 8/9). Mit notariellem Vertrag vom 24. Mai 1995 erwarben in Vollziehung dieses<br />

Plans die (später umbenannte <strong>und</strong> wegen Vermögenslosigkeit gelöschte) M. GmbH Anteile im Nennwert von 1.000<br />

DM <strong>und</strong> eine hierzu für den Angeklagten W. agierende Treuhandgesellschaft Anteile im Nennwert von 49.000 DM<br />

an einer von einem Steuerberater gegründeten Vorratsgesellschaft ohne Geschäftstätigkeit, deren Sitz sogleich nach<br />

- 131 -


R. , Landkreis Rosenheim, verlegt <strong>und</strong> die in " M. Rosenheim-Hamburg GmbH", später dann in " M. C. GmbH" (im<br />

Folgenden: MC GmbH) umbenannt wurde. Die hierzu vom Angeklagten L. dem Angeklagten W. übertragenen<br />

Rechte am Namen " M. " - der für das Oldtimergeschäft erheblichen wirtschaftlichen Wert hat - wurden am 29. November<br />

2002 zurückübertragen; dem Angeklagten W. wurde ein jederzeit widerrufliches Nutzungsrecht eingeräumt.<br />

Im April 1996 löste der Angeklagte W. den Angeklagten L. als eingetragenen Geschäftsführer der MC GmbH ab, der<br />

jedoch weiterhin faktischer Geschäftsführer blieb. Dieser traf sämtliche wichtigen unternehmerischen Entscheidungen<br />

selbst, machte dem Angeklagten W. Vorgaben in wesentlichen Angelegenheiten, unterhielt ein eigenes Büro in<br />

den Geschäftsräumen der MC GmbH <strong>und</strong> hatte auf deren EDV Zugriffsrechte als "Geschäftsleitung". Der Angeklagte<br />

L. war über alle Konten der MC GmbH verfügungsbefugt, wovon er auch Gebrauch machte. Er entschied über<br />

Einstellung <strong>und</strong> Entlassung von Mitarbeitern <strong>und</strong> führte eigenverantwortlich Vertragsverhandlungen mit Verkäufern<br />

<strong>und</strong> Käufern hochwertiger Oldtimer; Geschäfte mit prominenten K<strong>und</strong>en wickelte er allein ab. Nach außen (Prospekte,<br />

Visitenkarten, Presseveröffentlichungen) trat der Angeklagte L. als "Inhaber" auf <strong>und</strong> bezeichnete sich als "Geschäftsleitung"<br />

sowohl der MC GmbH als auch einer M. Hanse GmbH mit Sitz in Hamburg, die er im Januar 2000<br />

gegründet hatte <strong>und</strong> deren Geschäftsführer <strong>und</strong> alleiniger Gesellschafter er war; der Angeklagte W. wurde als "Prokurist"<br />

bezeichnet. Die Tätigkeit des Angeklagten L. für die MC GmbH wurde über die M. Hanse GmbH (ab deren<br />

Gründung) abgerechnet, indem - nach Umsetzung einer Rahmenvereinbarung im Einzelfall - von erzielten "Provisionen"<br />

aus Kommissionsverkäufen zwei Drittel bei der Firma verbleiben sollten, die den Verlauf vermittelt hat, ein<br />

Drittel bei der Firma, die den Auftrag in Kommission genommen hat.<br />

2. Für den Veranlagungszeitraum 2004 gaben die Angeklagten Körperschaftsteuer- <strong>und</strong> Gewerbesteuererklärungen<br />

für die MC GmbH ab, die am 1. Juni 2006 beim Finanzamt eingingen. Darin waren folgende Geschäftsvorfälle, von<br />

denen beide Angeklagten Kenntnis hatten <strong>und</strong> die das Landgericht als verdeckte Gewinnausschüttungen gewertet<br />

hat, nicht erfasst, wodurch Körperschaftsteuer einschließlich Solidaritätszuschlag in Höhe von 71.066 € sowie Gewerbesteuer<br />

in Höhe von 40.422 € verkürzt wurde:<br />

a) Der Angeklagte L. nahm für die MC GmbH einen Auftrag zur Vermittlung eines Oldtimers (Horch 854 Roadster)<br />

vom Zeugen La. an, der sich einen Verkaufserlös von 1,5 Mio. € erhoffte ("Mindestgebot"). Ein diesen übersteigender<br />

Verkaufserlös sollte der MC GmbH als Provision aus dem Vermittlungsauftrag zustehen. In der Vereinbarung<br />

fixierten der Angeklagte L. <strong>und</strong> La. indes ein "Mindestgebot" von 1,8 Mio. €. Ein hierin enthaltener Betrag in Höhe<br />

von 300.000 € sollte auf private Schulden des Angeklagten L. beim Zeugen La. angerechnet werden. Aus dem dann<br />

tatsächlich erzielten Verkaufserlös von 1,9 Mio. € wurde demzufolge lediglich eine Provisionseinnahme in Höhe von<br />

100.000 € - statt von 400.000 € - für die MC GmbH der Besteuerung zugr<strong>und</strong>e gelegt.<br />

b) Die MC GmbH hatte zunächst eine - zu einem späteren Zeitpunkt vom Angeklagten L. erworbene - Immobilie in<br />

B. zu einem Gesamtmietpreis von monatlich 6.500 DM angemietet. Im Dezember 1997 trat der Angeklagte L. in<br />

diesen Mietvertrag ein <strong>und</strong> vermietete einen Teil der Immobilie (ohne 1. <strong>und</strong> 2. Obergeschoss) an die MC GmbH.<br />

Der feste monatliche Mietzins (kalt) betrug für die MC GmbH zunächst 9.800 DM. Der Betrag wurde später erhöht.<br />

Zusätzlich war als Mietzins jährlich ein Anteil von 5 % vom Nettoumsatz der MC GmbH, höchstens aber eine Summe<br />

von 200.000 DM zu zahlen. Diese Umsatzbeteiligung wurde jeweils bilanzwirksam als Verbindlichkeit der MC<br />

GmbH gebucht <strong>und</strong> - je nach Gewinnsituation der MC GmbH - ganz oder teilweise an den Angeklagten L. ausbezahlt.<br />

Für das Jahr 2004 wurden 35.000 € an den Angeklagten L. ausbezahlt <strong>und</strong> Rückstellungen in Höhe von 51.246<br />

€ gebildet.<br />

3. In den für den Veranlagungszeitraum 2005 abgegebenen <strong>und</strong> am 6. März 2007 beim Finanzamt eingegangenen<br />

Körperschaftsteuer- <strong>und</strong> Gewerbesteuererklärungen erklärten die Angeklagten - neben Mietsonderzahlungen für die<br />

Immobilie in B. (s.o.) in Höhe von 88.568 € <strong>und</strong> Rückstellungen hierfür in Höhe von 76.256 € - bewusst nachfolgende,<br />

beiden Angeklagten bekannte Geschäftsvorfälle nicht bzw. unvollständig. Dies führte - zusammen mit einer bei<br />

der MC GmbH zu Unrecht gewinnmindernd berücksichtigten Zahlung an einen vom Angeklagten L. privat eingesetzten<br />

Makler - dazu, dass Körperschaftsteuer einschließlich Solidaritätszuschlag in Höhe von 2.278.999 € sowie<br />

Gewerbesteuer in Höhe von 1.296.104 € verkürzt wurden.<br />

a) Die MC GmbH veräußerte am 25. Februar 2005 eine Sammlung von 21 Fahrzeugen des Typs Mercedes 770 K<br />

zum Preis von 45 Mio. €, die sie zuvor von einer Firma V. Inc. mit Sitz in den USA erworben hatte. Der Vertrag mit<br />

dieser Firma lautete ebenfalls auf 45 Mio. €. Tatsächlich war aber vereinbart, dass die MC GmbH lediglich einen<br />

Betrag von ca. 36 Mio. € aufzuwenden hat <strong>und</strong> ein Betrag von ca. 9 Mio. € an den Angeklagten L. ausbezahlt wird.<br />

Dementsprechend überwies die V. Inc. im Februar <strong>und</strong> im November 2005 in zwei Tranchen insgesamt 8.977.535 €<br />

- 132 -


auf ein Privatkonto des Angeklagten L. bei einer Schweizer Bank. Das Geschäft wurde weder in der Buchhaltung<br />

noch in der Gewinn- <strong>und</strong> Verlustrechnung der MC GmbH erfasst.<br />

b) Dem Angeklagten L. war im April 2005 vom Zeugen von F. ein BMW 328 Mille Miglia angeboten worden, den<br />

er im Juli 2005 mit Telefax der MC GmbH einem Käufer für 5,3 Mio. € offerierte. Mit Verträgen vom 18. Juli 2005<br />

erwarb die MC GmbH das Fahrzeug dann von einem Zeugen van V. für 4,8 Mio. € <strong>und</strong> verkaufte es für 5,36 Mio. €<br />

weiter. Van V. hatte seinerseits - mit Vertrag vom 19. Juli 2005 - das Fahrzeug vom Zeugen von F. für 2,5 Mio. €<br />

erworben. Die Einschaltung des Zeugen van V. erfolgte allein zu dem Zweck, einen höheren Einkaufspreis zu dokumentieren.<br />

Tatsächlich zahlte der Zeuge van V. aus der von der MC GmbH erhaltenen Summe vereinbarungsgemäß<br />

einen Betrag von 1 Mio. € auf ein Privatkonto des Angeklagten L. bei einer Schweizer Bank. Bei der MC GmbH<br />

wurde die Veräußerung mit einem Erlös von 500.000 € in der Buchhaltung erfasst.<br />

4. In den für den Veranlagungszeitraum 2007 abgegebenen <strong>und</strong> am 31. März 2009 beim Finanzamt eingegangenen<br />

Körperschaftsteuer- <strong>und</strong> Gewerbesteuererklärungen ließen die Angeklagten bewusst folgende, von der Strafkammer<br />

wiederum als verdeckte Gewinnausschüttungen der MC GmbH gewerteten Geschäftsvorfälle unberücksichtigt: Im<br />

März 2006 wurde die Global AG gegründet, eine Domizilgesellschaft ("Briefkastenfirma") mit Sitz in der Schweiz<br />

ohne eigene wirtschaftliche Aktivitäten. Alleiniger wirtschaftlich Berechtigter der Global AG war seit deren Gründung<br />

der Angeklagte L.; er hatte auf die Geschäftsführung maßgeblichen Einfluss. Im Jahr 2007 wurden "durch die<br />

Global AG durch Vermittlung" der MC GmbH zwei Oldtimer veräußert, die "jeweils in den Geschäftsräumen" der<br />

MC GmbH "zum Verkauf angeboten worden waren" (UA S. 14). Zum einen handelt es sich um einen Duesenberg,<br />

der mit Vertrag vom 18. Oktober 2007 für 575.000 € erworben <strong>und</strong> mit Vertrag vom 19./21. Oktober 2007 für 1 Mio.<br />

€ weiterverkauft wurde. Zum anderen veräußerte die Global AG mit Vertrag vom 12./19. Juni 2007 einen Mercedes<br />

Benz Castagna zum Preis von 3,25 Mio. €, den sie zuvor (Vertrag vom 13. Juni 2007) zu einem Preis von 2,25 Mio.<br />

€ von einem in England geschäftsansässigen K<strong>und</strong>en erworben hatte <strong>und</strong> der vom Angeklagten W. mit einem Transporter<br />

der MC GmbH dort abgeholt worden war. Käufer war jeweils - wie auch bei den Fahrzeuggeschäften der<br />

Vorjahre - die G. GmbH & Co. KG, die nach den Angaben des Angeklagten L. bei einem Geschäft aus den Vorjahren<br />

"nur von einer deutschen Gesellschaft habe kaufen wollen" (UA S. 44). In der Buchhaltung der MC GmbH waren<br />

die Erlöse aus diesen Geschäften nicht erfasst, ebenso wenig in den für die MC GmbH abgegebenen Steuererklärungen,<br />

in denen auch die Mietzahlungsrückstellungen (s.o., für 2007 in Höhe von 102.258 €) <strong>und</strong> eine Rückstellung<br />

für eine angebliche, tatsächlich aber nicht bestehende Schadensersatzforderung in Höhe von 2 Mio. € gewinnmindernd<br />

berücksichtigt wurden. Hierdurch wurden Körperschaftsteuer einschließlich Solidaritätszuschlag in Höhe von<br />

654.575 € sowie Gewerbesteuer in Höhe von 417.880 € verkürzt.<br />

5. In den jeweils taggleich mit den Körperschaft- <strong>und</strong> Gewerbesteuererklärungen beim Finanzamt eingegangenen<br />

Umsatzsteuerjahreserklärungen für die MC GmbH betreffend die Jahre 2004, 2005 <strong>und</strong> 2007 hatten die Angeklagten<br />

die geschilderten Geschäftsvorfälle ebenfalls nicht erfasst. Nach Auffassung des Landgerichts hätten die Angeklagten<br />

für das Jahr 2004 einen um 300.000 € höheren Provisionserlös anmelden müssen <strong>und</strong> deshalb für die MC GmbH<br />

Umsatzsteuer in Höhe von 41.379 € hinterzogen. Für das Jahr 2005 <strong>und</strong> 2007 hätten ebenfalls die "Provisionen" aus<br />

den Fahrzeuggeschäften angemeldet werden müssen; insgesamt sei für diese Jahre die Umsatzsteuer um 141.291 €<br />

(2005) <strong>und</strong> 227.521 € (2007) verkürzt worden.<br />

6. Der Angeklagte L. gab für sich bei einem nicht für seinen tatsächlichen Wohnsitz zuständigen Finanzamt Einkommensteuererklärungen<br />

ab, die dort für den Veranlagungszeitraum 2004 am 20. Juni 2006, für den Veranlagungszeitraum<br />

2005 am 20. März 2007 <strong>und</strong> für den Veranlagungszeitraum 2007 am 30. September 2009 eingingen. Die<br />

aus den oben dargestellten Geschäftsvorfällen resultierenden Zuflüsse erklärte der Angeklagte L. darin nicht. Das<br />

Landgericht hat diese Zuflüsse als verdeckte Gewinnausschüttungen <strong>und</strong> damit als sonstige Bezüge i.S.v. § 20 Abs. 1<br />

Nr. 1 Satz 2 EStG gewertet. Durch die insofern unrichtigen Erklärungen sei Einkommensteuer <strong>und</strong> Solidaritätszuschlag<br />

in Höhe von 69.526 € (2004), 2.192.001 € (2005) <strong>und</strong> 411.706 € (2007) hinterzogen worden.<br />

II. Soweit den Angeklagten zur Last liegt, in den jeweils zusammen mit den Körperschaftsteuer- <strong>und</strong> Gewerbesteuererklärungen<br />

eingereichten Umsatzsteuerjahreserklärungen für die Jahre 2005 <strong>und</strong> 2007 die aus den Fahrzeuggeschäften<br />

erzielten "Provisionen" verschwiegen <strong>und</strong> dadurch Umsatzsteuer hinterzogen zu haben, nimmt der Senat diesen<br />

Vorwurf mit Zustimmung des Generalb<strong>und</strong>esanwalts aus prozessökonomischen Gründen gemäß § 154a Abs. 2 StPO<br />

von der Verfolgung aus. Im Gegensatz zum Jahr 2004, für das sich aus den Urteilsgründen eindeutig entnehmen<br />

lässt, dass Provisionen der MC GmbH aus einem Vermittlungsvertrag in Höhe von insgesamt 400.000 € in voller<br />

Höhe der Umsatzsteuer unterlegen hatten, wurden die anderen Fahrzeuggeschäfte gleichermaßen als An- <strong>und</strong> Verkaufsgeschäfte,<br />

als Vermittlungsgeschäfte, aber auch als Kommissionsgeschäfte bezeichnet. So bleibt letztlich un-<br />

- 133 -


klar, worin die Strafkammer jeweils eine umsatzsteuerpflichtige Leistung <strong>und</strong> den dazugehörenden in- oder ausländischen<br />

Leistungsort erblickt, zumal das angefochtene Urteil auch den Inhalt der abgegebenen Umsatzsteuerjahreserklärungen<br />

nicht mitteilt. Die Verfolgungsbeschränkung bedingt auch eine Anpassung des Schuldspruchs. Dabei sieht<br />

der Senat allerdings davon ab, die gleichartige Tateinheit (jeweils "Steuerhinterziehung", vgl. BGH, Beschluss vom<br />

19. Januar 2011 - 1 StR 640/10) im Tenor zum Ausdruck zu bringen (vgl. auch BGH, Beschluss vom 13. September<br />

2010 - 1 StR 220/09, wistra 2010, 484, 493).<br />

III. Der Schuldspruch hält in dem nach der Strafverfolgungsbeschränkung verbleibenden Umfang rechtlicher Nachprüfung<br />

stand. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen die Verurteilung wegen jeweils in Tateinheit<br />

begangener Hinterziehung von Körperschaftsteuer- <strong>und</strong> Gewerbesteuer in drei Fällen (in einem Fall davon - für den<br />

Veranlagungszeitraum 2004 [s.o. II.] - auch wegen tateinheitlich begangener Umsatzsteuerhinterziehung). Sie tragen<br />

auch die Verurteilung des Angeklagten L. wegen dreier Fälle der Einkommensteuerhinterziehung <strong>und</strong> des Angeklagten<br />

W. wegen Beihilfe hierzu.<br />

1. Zutreffend hat das Landgericht die festgestellten Geschäftsvorfälle als verdeckte Gewinnausschüttungen gewertet,<br />

die den Gewinn der MC GmbH - entgegen den Angaben in den für diese Gesellschaft abgegebenen Körperschaftsteuer-<br />

<strong>und</strong> Gewerbesteuererklärungen - nicht minderten. Durch die unzutreffende Berücksichtigung der Geschäftsvorfälle<br />

in den Körperschaftsteuer- <strong>und</strong> Gewerbesteuererklärungen <strong>und</strong> das Verschweigen der sonstigen Bezüge in<br />

den Einkommensteuererklärungen wurde jeweils eine zu niedrige Steuerfestsetzung in den entsprechenden Bescheiden<br />

<strong>und</strong> damit eine Steuerverkürzung bewirkt.<br />

a) Verdeckte Gewinnausschüttungen im Sinne des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG sind bei einer Kapitalgesellschaft eingetretene<br />

Vermögensminderungen oder verhinderte Vermögensmehrungen, die durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst<br />

sind, sich auf die Höhe des Unterschiedsbetrages gem. § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG i.V.m. § 8 Abs. 1 KStG auswirken<br />

<strong>und</strong> in keinem Zusammenhang mit einer offenen Ausschüttung stehen; sie haben hier auch beim Gesellschafter<br />

einen sonstigen Bezug i.S.v. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG ausgelöst (zum Begriff der verdeckten Gewinnausschüttung<br />

vgl. BGH, Beschluss vom 17. April 2008 - 5 StR 547/07, wistra 2008, 310; Urteil vom 24. Mai 2007 - 5<br />

StR 72/07, DStRE 2008, 169, 170 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esfinanzhofs; Rengers in Blümich,<br />

KStG, 114. Aufl., § 8 Rn. 230 ff.).<br />

b) Der Angeklagte L. war beherrschender Gesellschafter der MC GmbH. Das Landgericht hat sich im Ergebnis<br />

rechtsfehlerfrei davon überzeugt, dass die Geschäftsanteile in seinem wirtschaftlichen Eigentum standen, er somit die<br />

Stellung eines Gesellschafters der MC GmbH innehatte. Es bedarf dabei keiner abschließenden Entscheidung, ob die<br />

nach den Feststellungen getroffene Treuhandabrede zwischen den Angeklagten tatsächlich - wie das Landgericht<br />

annimmt - auch mündlich wirksam geschlossen werden konnte oder ob nicht vielmehr auch eine auf den Erwerb von<br />

Anteilen an einer bis dahin funktionslosen, aber jedenfalls existierenden GmbH gerichtete Treuhandvereinbarung zu<br />

ihrer zivilrechtlichen Wirksamkeit zu beurk<strong>und</strong>en gewesen wäre (§ 15 Abs. 4 GmbHG; vgl. Reichert/Weller in<br />

MünchKomm-BGB, GmbHG, § 15 Rn. 214 mwN aus der Rspr.), sodass die mündliche Abrede (zivilrechtlich)<br />

formunwirksam war. Die Feststellungen belegen jedenfalls, wie der Generalb<strong>und</strong>esanwalt in seinen durch die Gegenerklärungen<br />

der Revisionsführer nicht entkräfteten Antragsschriften zutreffend dargelegt hat, dass die Beteiligten<br />

unbeschadet einer etwaigen Formunwirksamkeit der Treuhandabrede deren wirtschaftliches Ergebnis gleichwohl<br />

eintreten <strong>und</strong> bestehen ließen, sodass deren zivilrechtliche Unwirksamkeit unbeachtlich wäre (§ 41 Abs. 1 Satz 1<br />

AO).<br />

aa) Nach § 39 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 AO werden Wirtschaftsgüter nicht dem Eigentümer, sondern im Falle von Treuhandverhältnissen<br />

dem Treugeber zugerechnet. Vorausgesetzt wird dabei die Wirksamkeit der Treuhandvereinbarung.<br />

Ein zivilrechtlich unwirksames Treuhandverhältnis soll nicht zur Zurechnung von Geschäftsanteilen unmittelbar<br />

aus dieser Vorschrift führen (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Juni 2004 - 5 StR 579/03 mwN auch aus der Rechtsprechung<br />

des B<strong>und</strong>esfinanzhofs; vgl. auch Hessisches Finanzgericht vom 3. April 1985 - 7 K 4/83, EFG 1985, 557).<br />

bb) Daneben kommt aber eine von § 39 Abs. 1 AO abweichende Zurechnung von Wirtschaftsgütern auch nach § 41<br />

Abs. 1 Satz 1 AO in Betracht (so schon BGH, Beschluss vom 11. Oktober 2005 - 5 StR 65/05, NJW 2005, 3584;<br />

BGH, Urteil vom 11. November 2004 - 1 StR 299/03, BGHSt 49, 317). Diese Norm ist - ebenso wie § 39 Abs. 2 Nr.<br />

1 AO - Ausdruck der das Steuerrecht beherrschenden wirtschaftlichen Betrachtungsweise (BFH, Urteil vom 4. Dezember<br />

2007 - VIII R 14/05, DStRE 2008, 1028). Sie bringt zum Ausdruck, dass es für Zwecke der Besteuerung<br />

soweit <strong>und</strong> solange auf den tatsächlich verwirklichten Sachverhalt <strong>und</strong> nicht auf die zivilrechtliche Wirksamkeit der<br />

zugr<strong>und</strong>e liegenden Vereinbarung ankommt, wie die Beteiligten aus der anfänglichen oder späteren Unwirksamkeit<br />

keine Folgerungen ziehen. Sind schuldrechtliche Vereinbarungen Gr<strong>und</strong>lage für die Annahme, dass auf einen Erwer-<br />

- 134 -


er das wirtschaftliche Eigentum an einem Gegenstand übergegangen ist, dann sind diese Vereinbarungen ungeachtet<br />

ihrer zivilrechtlichen Unwirksamkeit solange steuerlich als wirksam anzusehen, wie die Beteiligten sie gleichwohl<br />

vollziehen oder im Falle der nachträglichen Unwirksamkeit ihre Vollziehung nicht rückgängig machen. Sie<br />

bilden bis dahin die Gr<strong>und</strong>lage für die Annahme wirtschaftlichen Eigentums i.S.v. § 39 Abs. 2 Nr. 1 AO (BFH, Urteil<br />

vom 17. Februar 2004 - VIII R 28/02, BFHE 205, 426 mwN). Es ist kein sachlicher Gr<strong>und</strong> ersichtlich, diese<br />

Gr<strong>und</strong>sätze nicht in gleicher Weise im Fall formunwirksamer Treuhandvereinbarungen anzuwenden (vgl. BFH,<br />

Urteil vom 4. Dezember 2007 - VIII R 14/05, DStRE 2008, 1028). Solche formunwirksamen Vereinbarungen können<br />

unter den Voraussetzungen des § 41 Abs. 1 Satz 1 AO für die Besteuerung maßgebend sein (vgl. z.B. BFH,<br />

Urteil vom 6. Oktober 2009 - IX R 14/08, BFHE 228, 10; Drüen in Tipke/Kruse, AO, 129. Lfg., § 39 Rn. 34 mwN;<br />

Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 39 Rn. 188; Sommer/Menzel, GmbHR 2003, 917, 922, 923; Heidner,<br />

DStR 1989, 305, 306). Da es für die Besteuerung nicht auf die äußere Rechtsform, sondern auf die tatsächlichen<br />

Verhältnisse ankommt, sind auch bei der Bestimmung des wirtschaftlichen Eigentums nicht das formal Erklärte oder<br />

formal-rechtlich Vereinbarte, sondern das wirtschaftlich Gewollte <strong>und</strong> das tatsächlich Bewirkte ausschlaggebend<br />

(BFH, Urteil vom 22. Juli 2008 - IX R 61/05, BFH/NV 2008, 2004 mwN). Der in § 41 Abs. 1 Satz 1 AO angeordneten<br />

Maßgeblichkeit des tatsächlichen Vollzugs eines formunwirksamen Vertrags ist deshalb auch bei der Konkretisierung<br />

des § 39 AO Rechnung zu tragen (vgl. BFH, Urteil vom 17. Februar 2004 - VIII R 26/01, DStRE 2004, 744).<br />

Maßgeblich ist stets der tatsächlich verwirklichte Sachverhalt (Ratschow in Klein, AO, 11. Aufl., § 39 Rn. 64; vgl.<br />

auch BFH, Urteil vom 22. Juli 2008 - IX R 61/05, BFH/NV 2008, 2004). Deshalb kommt es selbst bei ausdrücklich<br />

als "Treuhandvertrag" bezeichneten <strong>und</strong> zudem formwirksam geschlossenen Treuhandvereinbarungen für die von §<br />

39 Abs. 1 AO abweichende Zuordnung maßgeblich auf den tatsächlichen Vollzug der getroffenen Vereinbarung an<br />

(vgl. BFH, Urteil vom 28. Februar 2001 - I R 12/00, BFHE 194, 320; BFH, Urteil vom 15. Juli 1997 - VIII R 56/93,<br />

DStRE 1997, 759; BFH, Urteil vom 12. September 1991 - III R 233/90, BFHE 166, 49). Wurde ein formwirksamer<br />

Treuhandvertrag geschlossen, kann es für eine materiell-rechtlich zutreffende Besteuerung nicht darauf ankommen,<br />

ob dieser den Finanzbehörden vorliegt oder nicht (weil etwa der dem Steuerpflichtigen nun ungünstig erscheinende<br />

Vertrag nicht vorgelegt wird oder er nicht aufgef<strong>und</strong>en werden konnte). Wurde - umgekehrt - ein formunwirksamer<br />

Treuhandvertrag geschlossen <strong>und</strong> dabei die Formunwirksamkeit bewusst in Kauf genommen, wäre der Erwerb der<br />

Geschäftsanteile durch den Treuhänder letztlich nichts anderes als ein nach § 41 Abs. 2 AO unbeachtliches Scheingeschäft,<br />

durch das die Gesellschafterstellung des Treugebers lediglich verdeckt werden sollte (vgl. hierzu schon<br />

BGH, Urteil vom 17. April 2008 - 5 StR 547/07, wistra 2008, 310; zur "Strohmanngründung" auch BFH, Urteil vom<br />

12. Juli 1991 - III R 47/88, BFHE 165, 498). Ein (verdecktes) Treuhandverhältnis kann allerdings gr<strong>und</strong>sätzlich nur<br />

dann zu einer von § 39 Abs. 1 AO abweichenden Zurechnung führen, wenn es eindeutig vereinbart <strong>und</strong> nachweisbar<br />

ist (vgl. BFH, Urteil vom 28. Februar 2001 - I R 12/00, BFHE 194, 320 mwN). Zu fordern ist eine konsequente<br />

Durchführung der Treuhandabrede (vgl. BFH, Beschluss vom 14. April 2011 - VII B 130/10 mwN). Es muss zweifelsfrei<br />

erkennbar sein, dass der Treuhänder in dieser Eigenschaft - <strong>und</strong> nicht für eigene Rechnung - tätig geworden<br />

ist (vgl. BFH, Urteil vom 28. Februar 2001 - I R 12/00, BFHE 194, 320), der Treugeber muss das Treuhandverhältnis<br />

beherrschen (vgl. BFH, Urteil vom 24. November 2009 - I R 12/09, BFHE 228, 195 mwN). Die mit der formellen<br />

Eigentümerstellung verb<strong>und</strong>ene Verfügungsmacht im Innenverhältnis muss in tatsächlicher Hinsicht so eingeschränkt<br />

sein, dass das rechtliche Eigentum eine "leere Hülle" bleibt (vgl. BFH, Urteil vom 20. Januar 1999 - I R<br />

69/97; Drüen in Tipke/Kruse, AO, 129. Lfg., § 39 Rn. 33). Damit steht die Formunwirksamkeit einer Treuhandabrede<br />

nach § 41 Abs. 1 Satz 1 AO einer Zurechnung i.S.d. § 39 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 AO jedenfalls dann nicht entgegen,<br />

wenn nach dem Inhalt der formunwirksamen Abreden der Treugeber einerseits alle mit der Beteiligung verb<strong>und</strong>enen<br />

wesentlichen Rechte (Vermögensrechte <strong>und</strong> Verwaltungsrechte) ausüben <strong>und</strong> im Konfliktfall effektiv durchsetzen<br />

kann <strong>und</strong> andererseits die Vertragsparteien die in dem formunwirksamen Vertrag getroffenen Vereinbarungen nachweislich<br />

in vollem Umfang tatsächlich durchgeführt haben (BFH, Urteil vom 6. Oktober 2009 - IX R 14/08, BFHE<br />

228, 10 für einen möglicherweise nach GmbHG formbedürftigen Treuhandvertrag). Der von den Beschwerdeführern<br />

erhobene Einwand, ein unwirksames Treuhandverhältnis könne steuerrechtlich nur beachtlich sein, wenn der Formmangel<br />

später geheilt worden sei, kann jedenfalls hier nicht verfangen. Zum einen stellt auch nach der von der Verteidigung<br />

zum Beleg hierfür angeführten Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esfinanzhofs der tatsächliche spätere Vollzug<br />

eines formunwirksamen Vertrages lediglich ein - wenn auch gewichtiges - Indiz dar, dass sich die Vertragspartner<br />

bis dahin bereits geb<strong>und</strong>en fühlten (also die Berufung auf die Unwirksamkeit des Vertrages höchst unwahrscheinlich<br />

ist; vgl. BFH, Urteil vom 17. Februar 2004 - VIII R 26/01, DStRE 2004, 744). Zum anderen betrifft diese Entscheidung<br />

(ebenso BFH, Urteil vom 12. Oktober 2004 - X R 4/93) Fälle, in denen ein Steuerpflichtiger ein ihm günstiges<br />

- 135 -


Treuhandverhältnis geltend macht. Hier aber geht es um die Frage, ob der Steuerpflichtige ein verdecktes Rechtsgeschäft<br />

als tatsächlich gewolltes <strong>und</strong> vollzogenes gegen sich gelten lassen muss. In solchen Fällen lässt sich aufgr<strong>und</strong><br />

des Eingreifens der Ermittlungsbehörden aber regelmäßig nicht feststellen, ob die Treuhandvereinbarung noch notariell<br />

beurk<strong>und</strong>et oder aber die Geschäftsanteile (in Vollziehung der Vereinbarung) auf den Treugeber übertragen<br />

worden wären. Das Tätigwerden der Finanz- oder Ermittlungsbehörden kann aber für die Frage der Zuordnung von<br />

Wirtschaftsgütern ebenso wenig maßgeblich sein, wie eine vom Steuerpflichtigen nach der Einleitung von Ermittlungen<br />

vorgenommene oder bewusst nicht vorgenommene Heilung der Formunwirksamkeit einer bis dahin gemessen<br />

an § 41 Abs. 1 Satz 1 AO tatsächlich vollzogenen, nun aber dem Steuerpflichtigen ungünstigen Treuhandvereinbarung.<br />

cc) Hiervon ausgehend ist auf der Gr<strong>und</strong>lage der rechtsfehlerfrei getroffenen Urteilsfeststellungen gegen die Wertung<br />

der Strafkammer, dass die Geschäftsanteile an der MC GmbH allein dem Angeklagten L. zuzurechnen sind,<br />

auch bei Anlegen eines strengen Maßstabes (vgl. BFH, Urteil vom 6. Oktober 2009 - IX R 14/08, BFHE 228, 10;<br />

Ratschow in Klein, AO, 11. Aufl., § 39 Rn. 65 mwN) revisionsrechtlich nichts zu erinnern. Aus der festgestellten<br />

wirtschaftlichen Ausgestaltung der MC GmbH <strong>und</strong> auch nach der Außendarstellung (z.B. die den Angeklagten L. als<br />

Inhaber, den Angeklagten W. als Prokuristen ausweisenden Prospekte, Visitenkarten <strong>und</strong> Presseveröffentlichungen)<br />

hat die Strafkammer rechtsfehlerfrei den Schluss gezogen, dass der Angeklagte W. allein im Interesse des Angeklagten<br />

L. <strong>und</strong> für dessen Rechnung handelte. Die Strafkammer durfte sich dabei auch auf die Angaben eines Zeugen<br />

stützen, gegenüber dem der Angeklagte W. bek<strong>und</strong>ete, die Geschäftsanteile an der MC GmbH treuhänderisch für den<br />

Angeklagten L. zu halten. Auch der weitergehende Schluss der Strafkammer, dass der Angeklagte W. gegenüber<br />

dem Angeklagten L. weisungsgeb<strong>und</strong>en war <strong>und</strong> dieser aufgr<strong>und</strong> der Möglichkeit, der Gesellschaft alle wesentlichen<br />

Produktionsmittel entziehen zu können (z.B. waren die für den Geschäftsbetrieb wesentlichen Rechte zur Nutzung<br />

des Namens " M. " jederzeit widerruflich), faktisch die jederzeitige Übertragung der Geschäftsanteile an sich erreichen<br />

konnte (UA S. 53), ist rechtsfehlerfrei getroffen. Dieser Schluss ist nicht nur möglich, sondern hier sogar naheliegend.<br />

Damit lag ein entscheidendes Merkmal für eine von der Zivilrechtslage abweichende Zurechnung eines<br />

Wirtschaftsguts vor, nämlich die Weisungsbefugnis des Treugebers gegenüber dem Treuhänder <strong>und</strong> damit korrespondierend<br />

die Weisungsgeb<strong>und</strong>enheit des Treuhänders gegenüber dem Treugeber <strong>und</strong> - im Gr<strong>und</strong>satz - dessen Verpflichtung<br />

zur jederzeitigen Rückgabe des Treugutes (vgl. BFH, Urteil vom 24. November 2009 - I R 12/09, BFHE<br />

228, 195 mwN; BFH, Urteil vom 20. Januar 1999 - I R 69/97, BFHE 188, 254 mwN; BFH, Urteil vom 15. Juli 1997<br />

- VIII R 56/93, DStRE 1997, 759). Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer kommt es dabei nicht auf einen<br />

auch rechtlich durchsetzbaren Übertragungsanspruch an. Dies stünde im Widerspruch zur aufgezeigten Maßgeblichkeit<br />

der wirtschaftlichen Betrachtungsweise auch im Rahmen hier zu überprüfender Treuhandverhältnisse. Es entspräche<br />

zudem nicht der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esfinanzhofs, wonach in Fällen, in denen eine ursprünglich gegebene<br />

Formunwirksamkeit später geheilt wird, wirtschaftliches Eigentum nach § 39 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 AO schon mit<br />

dem Abschluss der formunwirksamen Verträge übergehen kann (vgl. BFH, Urteil vom 17. Februar 2004 - VIII R<br />

26/01, DStRE 2004, 744), also zu einem Zeitpunkt, zu dem gerade noch kein zivilrechtlich wirksamer Herausgabeoder<br />

Übertragungsanspruch begründet worden war (die Heilung wirkt ex nunc <strong>und</strong> nicht auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses<br />

zurück, vgl. BGH, Urteil vom 15. Mai 1970 - V ZR 20/68, BGHZ 54, 56, 63; Wendtland in BeckOK-<br />

BGB, § 125 Rn. 23).<br />

c) Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Urteilsfeststellungen wurde das Vermögen der MC GmbH teils durch mittelbare<br />

Leistungen an den Angeklagten L. gemindert (Vermögensminderung), teils wurden der MC GmbH zuzurechnende<br />

Gewinnchancen zugunsten des Angeklagten L. entzogen (verhinderte Vermögensmehrung).<br />

aa) Sowohl durch die Zahlung von 45 Mio. € an die V. Inc. (USA) als auch durch die Zahlung von 4,8 Mio. € an den<br />

Zeugen van V. hat die MC GmbH einen Aufwand getätigt, dem zumindest in Höhe des an den Angeklagten L. weitergegebenen<br />

Betrages ("Kick-Back-Zahlungen") in Höhe von 9 Mio. € bzw. 1 Mio. € eine angemessene Gegenleistung<br />

nicht gegenübersteht. Hierdurch wurde das Vermögen der MC GmbH gemindert (zum Begriff der Vermögensminderung<br />

vgl. BFH, Urteil vom 23. Juni 1993 - I R 72/92, BStBl II 93, 801; Gosch in Gosch, KStG, 2. Aufl., § 8<br />

Rn. 245 ff.). Eine Vorteilszuwendung i.S.v. § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG kann auch mittelbar erfolgen, indem die Kapitalgesellschaft<br />

einem Dritten einen Vorteil zuwendet, der diesen dem Gesellschafter (oder einer diesem nahe stehenden<br />

Person) zukommen lässt (Rengers in Blümich, KStG, 115. Aufl., § 8 Rn. 281 mN). Auf den vollen Betrag lautende<br />

Rechnungen oder entsprechende Verträge sollten hier - ohne dass dies bei der gegebenen Fallkonstellation näherer<br />

Erörterung bedurfte - das tatsächlich Gewollte, soweit Kick-Back-Zahlungen an den Gesellschafter vereinbart waren,<br />

verschleiern <strong>und</strong> waren in diesem Umfang fraglos nicht ernsthaft gewollt (§ 41 Abs. 2 Satz 1 AO, § 117 BGB); in-<br />

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soweit lag den Zahlungen also auch keine wirksame Leistungsvereinbarung mit der MC GmbH zu Gr<strong>und</strong>e (vgl. dazu<br />

BGH, Beschluss vom 24. Mai 2007 - 5 StR 72/07, NStZ 2008, 412; auch BVerfG, Beschluss vom 26. Juni 2008 - 2<br />

BvR 2067/07, NJW 2008, 3346). Ob darüber hinaus als Entlohnung für die Verdeckung des Zahlungsflusses an die<br />

V. Inc. (USA) oder an den Zeugen van V. gezahlte Beträge ebenfalls - was naheliegt - zu einer Vermögensminderung<br />

i.S.d. § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG geführt haben (zur ähnlichen Thematik bei "Provisionen" für Scheinrechnungen<br />

vgl. BGH, Beschluss vom 2. November 2010 - 1 StR 544/09), bedarf keiner abschließenden Klärung, denn das<br />

Landgericht hat diese Beträge zur Bestimmung des Hinterziehungsumfangs außer Betracht gelassen, sodass die Angeklagten<br />

insoweit nicht beschwert sein können.<br />

bb) Soweit der Zeuge La. einen über das "Mindestgebot" hinausgehenden Betrag in Höhe von 300.000 € mit einer<br />

Forderung gegenüber dem Angeklagten L. verrechnet hat, wurde eine Vermögensmehrung der MC GmbH verhindert.<br />

Die Feststellungen belegen darüber hinaus ohne Rechtsfehler, dass auch durch die Einschaltung der dem Angeklagten<br />

L. wirtschaftlich zuzurechnenden Schweizer Domizilgesellschaft (Global AG) eine konkrete Gewinnchance<br />

entzogen wurde, was Gr<strong>und</strong>lage für die Annahme einer verdeckten Gewinnausschüttung i.S.v. § 8 Abs. 3 Satz 2<br />

KStG sein kann.<br />

(1) Es ist anerkannt, dass eine verdeckte Gewinnausschüttung gem. § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG auch in einer verhinderten<br />

Vermögensmehrung liegen kann. Allerdings dient § 8 Abs. 3 Satz 2 AO nur der Gewinnkorrektur <strong>und</strong> ist keine<br />

Einkünfte-Zurechnungsnorm; sie ist demzufolge keine Rechtsgr<strong>und</strong>lage, um jedes Tätigwerden des Gesellschafters<br />

auf eigene Rechnung im Geschäftsbereich seiner Kapitalgesellschaft dieser zuzurechnen. Es kommt auch nicht maßgeblich<br />

auf das Fehlen einer im Vorhinein getroffenen klaren <strong>und</strong> eindeutigen Aufgabenabgrenzung an oder einer<br />

Befreiung von einem (zivilrechtlich zu beurteilenden <strong>und</strong> hier nicht anzunehmenden) Wettbewerbsverbot (vgl. BFH,<br />

Urteil vom 13. November 1996 - I R 149/94, NJW 1997, 1806; BFH, Urteil vom 12. Oktober 1995 - I R 127/94,<br />

NJW 1996, 1559; BFH, Urteil vom 30. August 1995 - I R 155/94, NJW 1996, 950 unter ausdrücklicher Aufgabe<br />

früherer Rechtsprechung).<br />

(2) Eine verdeckte Gewinnausschüttung kommt demzufolge namentlich dann in Betracht, wenn die Gesellschaft auf<br />

eine zivilrechtliche Forderung verzichtet, mag man dies als Vermögensminderung oder verhinderte Vermögensmehrung<br />

sehen. So verhält es sich hier bezüglich des Zeugen La. , mit dem nach den Urteilsfeststellungen - entgegen<br />

dem Schein der schriftlichen Verträge - tatsächlich <strong>und</strong> insofern maßgeblich (§ 41 Abs. 2 Satz 1 AO) vereinbart war,<br />

dass der gesamte 1,5 Mio. € übersteigende Betrag als Vermittlungsprovision der MC GmbH zustehen solle.<br />

(3) Aber auch bei Fehlen eines zivilrechtlichen Anspruchs auf Vorteilsherausgabe <strong>und</strong>/oder Schadensersatz kann<br />

eine verdeckte Gewinnausschüttung anzunehmen sein, wenn ein Gesellschafter-Geschäftsführer Geschäftschancen,<br />

die der Kapitalgesellschaft zustehen, als Eigengeschäft wahrnimmt oder Kenntnisse der Gesellschaft über geschäftliche<br />

Möglichkeiten tatsächlicher oder rechtsgeschäftlicher Art an sich zieht <strong>und</strong> für eigene Rechnung nutzt (vgl. BFH,<br />

Beschluss vom 9. Juli 2003 - I B 194/02, GmbHR 2003, 1019 mit zahlreichen weiteren Nachweisen; BFH, Urteil<br />

vom 16. Dezember 1998 - I R 96/95, NJW 1999, 3070). Verfügt die Gesellschaft bei Wahrnehmung der Chance<br />

durch den Gesellschafter-Geschäftsführer gegen diesen nicht über einen zivilrechtlichen Ausgleichsanspruch, kann<br />

dennoch eine nach § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG zu korrigierende Gewinnverlagerung anzunehmen sein, wenn jedenfalls<br />

ein fremder Dritter für die Überlassung der Geschäftschance ein Entgelt gezahlt hätte (BFH, Urteil vom 16. Dezember<br />

1998 - I R 96/95, NJW 1999, 3070 mwN; zur sog. Geschäftschancenlehre vgl. zusammenfassend Frotscher in<br />

Frotscher/ Maas, KStG, Anhang zu § 8 KStG, Stand: 13. Oktober 2010, Rn. 87 ff.). Ob dies der Fall ist, bestimmt<br />

sich anhand der Umstände des Einzelfalls <strong>und</strong> obliegt tatrichterlicher Würdigung. Hiervon ausgehend begegnet die<br />

Zuordnung der "formell" über die Global AG abgewickelten Geschäfte zur MC GmbH durch die Strafkammer nach<br />

dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe keinen revisionsrechtlichen Bedenken. Sämtliche Fahrzeuge wurden<br />

durch Vermittlung der MC GmbH veräußert, sie wurden jeweils in den Geschäftsräumen der MC GmbH zum Verkauf<br />

angeboten (UA S. 14), in einem Fall wurde das Fahrzeug darüber hinaus vom ursprünglichen Eigentümer auch<br />

mit einem Firmenfahrzeug der MC GmbH abgeholt (UA S. 25). Die Strafkammer durfte auch dem Umstand Bedeutung<br />

beimessen, dass für die Oldtimergeschäfte einerseits der Name "M. " maßgeblich war (UA S. 8, 35), andererseits<br />

die vertraglich eingeb<strong>und</strong>ene Gesellschaft eine funktionslose Domizilgesellschaft des beherrschenden Gesellschafters<br />

der MC GmbH war. Vor Einschaltung dieser Gesellschaft waren - was sich auch aus der festgestellten<br />

Funktionslosigkeit der Schweizer Gesellschaft ergibt - sämtliche Fahrzeugverkäufe vom Angeklagten L. verhandelt<br />

"<strong>und</strong> über die M. -C. abgewickelt" worden (UA S. 55). Dies trägt den Schluss, dass die MC GmbH schon vor Einschaltung<br />

der Global AG eine gesicherte Gewinnerwartung aufgr<strong>und</strong> einer Geschäftschance - vergleichbar einem<br />

Mandat (vgl. hierzu BFH, Beschluss vom 9. Juli 2003 - I B 194/02, GmbHR 2003, 1019 zur unentgeltlichen Über-<br />

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lassung von Mandantenverträgen durch eine Steuerberatungs-GmbH an ihren Gesellschafter) - hatte, derer sie sich<br />

unter Verzicht auf ein Entgelt begeben hat. Zwar konnte der Angeklagte L. als Alleingesellschafter einen solchen<br />

Entgeltverzicht zivilrechtlich wirksam erklären, dies schließt indes steuerrechtlich die Rechtsfolge des § 8 Abs. 3<br />

Satz 2 AO nicht aus (vgl. BFH, Urteil vom 13. November 1996 - I R 149/94, NJW 1997, 1806). § 8 Abs. 3 Satz 2<br />

KStG findet auch bei ausländischen "Vorteilsempfängern" (dann neben dem AStG, vgl. § 1 Abs. 1 Satz 3 AStG)<br />

Anwendung. Betriebliche Gründe für einen Entgeltverzicht <strong>und</strong> die darin liegende Vermögensminderung hat die<br />

Strafkammer ausgeschlossen. Soweit vom Angeklagten L. nunmehr vorgetragen wird, die Einschaltung einer<br />

Schweizer Gesellschaft sei bewusst mit Blick auf die geschichtliche Belastung der veräußerten bzw. vermittelten<br />

Fahrzeuge erfolgt, ist dies - unbeschadet der Frage der steuerrechtlichen Relevanz diesen Vorbringens - urteilsfremd,<br />

eine dahingehende Aufklärungsrüge nicht erhoben.<br />

d) Die Geschäftsvorfälle führten in den Fällen der Vermögensminderung wie auch in denjenigen verhinderter Vermögensmehrung<br />

beim Gesellschafter, dem Angeklagten L. , jeweils zu sonstigen Bezügen i.S.v. § 20 Abs. 1 Nr. 1<br />

Satz 2 EStG. Dies gilt gleichermaßen für die dem Angeklagten unmittelbar zugeflossenen Beträge wie auch für den<br />

Forderungsverzicht gegenüber dem Zeugen La. , durch den eine Schuld des Angeklagten L. diesem gegenüber getilgt<br />

wurde, wie auch für Zahlungen an die Global AG (Schweiz). Denn ein Zufluss beim Gesellschafter kann auch dann<br />

vorliegen, wenn er selbst (noch) keine Zahlung erhalten hat. Für die Annahme eines Vermögenszuflusses genügt es,<br />

wenn der Vorteil dem Gesellschafter mittelbar in der Weise zugewendet wird, dass eine ihm nahe stehende Person<br />

aus der Vermögensverlagerung Nutzen zieht. Wenn die Zuwendung allein auf dem Näheverhältnis des Empfängers<br />

zum Gesellschafter beruht, ist sie so zu behandeln, als hätte der Gesellschafter selbst den Vorteil erhalten <strong>und</strong> diesen<br />

(als steuerlich unbeachtliche Einkommensverwendung) an die nahestehende Person weitergegeben (BFH, Urteil vom<br />

22. Februar 2005 - VIII R 24/03 mwN). "Nahe stehend" sind dabei nicht nur Angehörige i.S.v. § 15 AO; eine Beziehung,<br />

die auf die außerbetriebliche Zuwendung schließen lässt, kann auch gesellschaftsrechtlicher, schuldrechtlicher<br />

oder rein tatsächlicher Art sein (BGH, Urteil vom 2. November 2011 - 1 StR 544/09, NZWiSt 2012, 75 mwN). Der<br />

Umstand, dass das Landgericht den Begriff der Betriebsaufspaltung mit einem anderen Bedeutungsgehalt als die<br />

Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esfinanzhofs verwendet hat, beschwert die Angeklagten im Ergebnis nicht.<br />

e) Die Zuwendung von Vermögensvorteilen an den Angeklagten L. war - was durch die Urteilsgründe hinreichend<br />

belegt wird - jeweils allein durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst. Hier steht schon außer Zweifel, dass die<br />

dem Angeklagten L. gewährten Vorteile bei Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen <strong>und</strong> gewissenhaften Geschäftsleiters<br />

einem Nichtgesellschafter nicht gewährt, für vorgenommene Zahlungen zumindest Rückzahlungsansprüche<br />

verbucht worden wären (zum Fremdvergleich vgl. BGH, Urteil vom 24. Mai 2007 - 5 StR 72/07, NStZ<br />

2008, 412; vgl. BFH, Urteil vom 22. Dezember 2010 - I R 47/10; Gosch in Gosch, KStG, 2. Aufl., § 8 Rn. 340). Im<br />

Hinblick auf den Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe gilt dies auch für die das Vermögen der MC GmbH mindernden<br />

Miet- <strong>und</strong> die Mietsonderzahlungen an den Angeklagten L. für die Vermietung der zunächst von diesem<br />

angemieteten <strong>und</strong> sodann erworbenen Immobilie. Auf die zutreffenden Ausführungen des Generalb<strong>und</strong>esanwalts in<br />

seiner Antragsschrift nimmt der Senat Bezug. Da das Landgericht lediglich die über einen festen Mietzins von mindestens<br />

9.800 DM hinausgehenden Mietsonderzahlungen bzw. hierfür gebildete Rückstellungen als verdeckte Gewinnausschüttungen<br />

gewertet hat (anderes lässt sich dem Urteil nicht entnehmen), bedarf es keiner Erörterung, ob<br />

nicht auch einem Teil des vereinbarten festen Mietzinses keine angemessene Gegenleistung gegenübersteht, so dass<br />

auch insoweit die Miete von einem gewissenhaften Geschäftsleiter nicht in voller Höhe bezahlt worden wäre. Der<br />

Angeklagte ist hierdurch jedenfalls nicht beschwert.<br />

f) Entgegen den abgegebenen Körperschaftsteuer- <strong>und</strong> Gewerbesteuererklärungen hätten die vorliegenden Vermögensminderungen<br />

den Unterschiedsbetrag gem. § 4 Abs. 1 EStG i.V.m. § 8 Abs. 1 KStG nicht mindern dürfen, in<br />

Höhe der vorenthaltenen Einnahmen wäre dieser Unterschiedsbetrag zu mehren gewesen (zur Methodik vgl. Gosch<br />

in Gosch, KStG, 2. Aufl., § 8 Rn. 247 ff.). Durch die unrichtigen Angaben wurde so eine zu niedrige Steuerfestsetzung<br />

bewirkt. Soweit die Strafkammer bei der Bestimmung der Beträge hinterzogener Steuern jeweils die Vermögensvorteile<br />

des Angeklagten L. bei der MC GmbH in voller Höhe als "Einnahmenmehrung" zugr<strong>und</strong>e gelegt hat,<br />

lässt dies auf der Gr<strong>und</strong>lage der getroffenen Feststellungen Rechtsfehler nicht erkennen. Zwar ist in Fällen verhinderter<br />

Vermögensmehrung auf den Betrag abzustellen, der nach objektiven Maßstäben dem Wert der - regelmäßig in<br />

einem einmaligen Akt - entzogenen Gewinnchance entspricht. Waren aber zum Zeitpunkt der Vertragsgestaltung mit<br />

der Schweizer Domizilgesellschaft die Gewinnerwartungen - wie hier - bereits konkret gefasst <strong>und</strong> stand die Gewinnerzielung<br />

unmittelbar bevor, begegnet es keinen Bedenken, den gesamten Erlös aus dem dann abgewickelten<br />

Geschäft als den Vermögensvorteil anzusehen, den zu erlangen die Kapitalgesellschaft unterlassen hat (vgl. BFH,<br />

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Urteil vom 15. Dezember 2004 - I R 6/04, DStR 2005, 691). Die Strafkammer war auch nicht gehalten, im Wege<br />

einer hypothetischen Betrachtung zugunsten der Angeklagten davon auszugehen, bei Einbindung jeweils nur der MC<br />

GmbH wären zwei Drittel der erzielten Einnahmen an die M. Hanse GmbH gezahlt worden. Die Anwendung der<br />

eine solche Gewinnverteilung regelnden Rahmenvereinbarung (UA S. 11) hätte erst einer Umsetzung im Einzelfall<br />

bedurft (UA S. 36). Dementsprechend bestand eine aktivierbare Forderung seitens der M. Hanse GmbH nicht; eine<br />

solche wurde dort auch nicht aktiviert. Darauf entfallende Steuern wurden ebenfalls nicht entrichtet.<br />

2. Bestand hat auch die Verurteilung wegen Umsatzsteuerhinterziehung für das Jahr 2004 (die umsatzsteuerpflichtige<br />

Provision beträgt 400.000 € statt der angemeldeten 100.000 €, s.o.). Die Annahme von Tateinheit mit Körperschaftsteuer-<br />

<strong>und</strong> Gewerbesteuerhinterziehung wegen taggleich beim Finanzamt eingegangener Steuererklärungen - Voraussetzung<br />

wäre eine zeitgleiche Abgabe gleichermaßen unrichtiger Steuererklärungen (vgl. BGH, Beschluss vom<br />

2. April 2008 - 5 StR 62/08, wistra 2008, 266) - beschwert die Angeklagten hier nicht, zumal die Betragsgrenze zum<br />

großen Ausmaß i.S.v. § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO (aF) jeweils auch bei mindestens einer der verwirklichten Steuerhinterziehungen<br />

überschritten worden war.<br />

3. Ebenso hat auch die Verurteilung des Angeklagten L. wegen Einkommensteuerhinterziehung Bestand. Die diesem<br />

Angeklagten zugeflossenen, aber nicht erklärten Einnahmen aus den Geschäftsvorfällen waren als verdeckte Gewinnausschüttungen<br />

Teil der steuerpflichtigen Einkünfte (§ 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG). Die Strafkammer hat die<br />

für die steuerliche Erfassung der verdeckten Gewinnausschüttung auf der Ebene des Gesellschafters maßgeblichen<br />

Zeitpunkte, in denen die Vermögensvorteile nach § 11 Abs. 1 Satz 1 EStG zugeflossen waren (vgl. BGH, Beschluss<br />

vom 2. November 2010 - 1 StR 544/09; BGH, Beschluss vom 17. April 2008 - 5 StR 547/07 mwN), für die jeweiligen<br />

Veranlagungszeiträume rechtsfehlerfrei festgestellt. Die von den Beschwerdeführern geltend gemachten Fehler<br />

bei der Berechnung des Betrages hinterzogener Einkommensteuer berühren den Schuldspruch nicht, denn sie führen<br />

- auch nach dem Revisionsvorbringen - nicht dazu, dass insoweit der von § 370 Abs. 1 AO geforderte Taterfolg<br />

gänzlich entfiele.<br />

4. Die Urteilsfeststellungen tragen insgesamt die Annahme vorsätzlichen Handelns der Angeklagten. Auch soweit<br />

sich die Revision des Angeklagten L. gegen die Annahme vorsätzlichen Handelns mit dem Vorbringen wendet, die<br />

Strafkammer beziehe die Kenntnis der Angeklagten vom Steueranspruch auf eine unzutreffende Anwendung des §<br />

39 AO, zeigt sie keinen Rechtsfehler auf. Nach den Urteilsfeststellungen wussten die Angeklagten, dass - wie auch<br />

die Visitenkarten auswiesen - der Angeklagte L. "Inhaber" war <strong>und</strong> der Angeklagte W. nur "Prokurist" der MC<br />

GmbH. Sie kannten alle maßgeblichen Tatsachen <strong>und</strong> nahmen auf der Gr<strong>und</strong>lage ihres Verständnishorizonts als<br />

Normadressaten (vgl. dazu Jäger in Klein, AO, 11. Aufl., § 370 AO Rn. 171) auch eine zutreffende Zuordnung der<br />

Geschäftsanteile an der MC GmbH vor. Sie unterlagen somit keinem rechtlich bedeutsamen Irrtum, sodass es auf die<br />

von der Verteidigung angesprochenen Bedenken gegen die sog. Steueranspruchstheorie (vgl. dazu BGH, Urteil vom<br />

8. September 2011 - 1 StR 38/11, wistra 2011, 465 <strong>und</strong> die weiteren Nachweise zum Streitstand in der Literatur bei<br />

Jäger aaO Rn. 172 – 174) nicht ankommt. Auch die Beweiswürdigung zur Frage des Tatvorsatzes bei dem Angeklagten<br />

L. , dem "umfangreiche steuerliche Beratung zuteil" geworden war (UA S. 47), begegnet keinen rechtlichen<br />

Bedenken; die Schlüsse des Landgerichts sind möglich, angesichts des Gesamtverhaltens des Angeklagten L. sogar<br />

naheliegend, zwingend müssen sie nicht sein. Urteilsfremdes Vorbringen ist revisionsrechtlich unbeachtlich. Soweit<br />

sich der Angeklagte W. - im Wesentlichen auf der Basis einer im Revisionsverfahren unbeachtlichen eigenen Beweiswürdigung<br />

- gegen die Annahme eines Tatvorsatzes wendet, muss ihm aus den vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt zutreffend<br />

dargelegten Gründen ebenfalls der Erfolg versagt bleiben.<br />

IV. Der Strafausspruch hat überwiegend Bestand.<br />

1. Allerdings bedingt die Verfolgungsbeschränkung (s.o. II.) die Aufhebung der Einzelstrafaussprüche, soweit die<br />

Angeklagten wegen gewerblicher Steuern betreffend das Jahr 2007 verurteilt wurden, <strong>und</strong> in dessen Folge auch die<br />

Aufhebung des jeweiligen Gesamtstrafausspruchs. Insoweit vermag der Senat nicht mit der erforderlichen Sicherheit<br />

auszuschließen, dass das Landgericht auf mildere Strafen erkannt hätte, wenn es die Verfahrensbeschränkung selbst<br />

vorgenommen hätte. Im Umfang der Aufhebung ist die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung an das Landgericht<br />

zurückzuverweisen. Die nicht von der Verfolgungsbeschränkung betroffenen Feststellungen sind rechtsfehlerfrei<br />

getroffen <strong>und</strong> können daher Bestand haben. Ergänzende, zu den bisherigen nicht in Widerspruch stehende<br />

Feststellungen können getroffen werden.<br />

2. Die weiteren Einzelstrafen haben Bestand. Zwar reduziert sich hinsichtlich der Verurteilung wegen Hinterziehung<br />

gewerblicher Steuern betreffend das Jahr 2005 ebenfalls der Schuldumfang um den Betrag hinterzogener Umsatzsteuer.<br />

Dieser ist aber gemessen an der Gesamtverkürzung im diesem Fall so geringfügig, dass der Senat ausschlie-<br />

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ßen kann, das Landgericht hätte in diesem Fall geringere Einzelstrafen verhängt (§ 354 Abs. 1 StPO). Gleiches gilt,<br />

soweit die Beschwerdeführer darüber hinaus zutreffend Rechtsfehler bei der Bestimmung der strafrechtlich relevanten<br />

Höhe hinterzogener Einkommensteuer beanstanden (Berücksichtigung einer Einkunftsquelle, obgleich diese nach<br />

§ 154a StPO von der Verfolgung ausgenommen worden war; Nichtberücksichtigung eines Verlustrücktrages). Auch<br />

insoweit kann der Senat aus den vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt in seiner Antragsschrift dargelegten Gründen jedenfalls<br />

ausschließen, dass die Strafkammer bei fehlerfreier Verkürzungsberechnung mildere Einzelstrafen verhängt hätte (§<br />

354 Abs. 1 StPO). Dies gilt sogar dann, wenn man die von den Beschwerdeführern erfolglos (s.o.) beanstandete<br />

Berücksichtigung der Mietsonderzahlungen als verdeckte Gewinnausschüttungen aus dem Schuldumfang ausnehmen<br />

würde.<br />

AufenthG § 96 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3; StGB § 22, § 30 Abs. 1 - Einschleusen<br />

BGH, Beschl. v. 06.06.2012 - 4 StR 144/12 - NJW 2012, 2821<br />

LS: 1. Die Strafbarkeit wegen Versuchs des Einschleusens von Ausländern gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 1,<br />

Abs. 3; § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG bestimmt sich nach den §§ 22 ff. StGB.<br />

2. Für die Prüfung des unmittelbaren Ansetzens kann die Rechtsprechung zur versuchten Anstiftung<br />

nach § 30 Abs. 1 StGB herangezogen werden.<br />

3. Darauf, ob auch zur unerlaubten Einreise selbst unmittelbar angesetzt worden ist, kommt es<br />

nicht an.<br />

1. Die Revision des Angeklagten K. M. gegen das Urteil des Landgerichts Detmold vom 12. Dezember 2011 wird als<br />

unbegründet verworfen.<br />

2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Einschleusens von Ausländern in sieben Fällen zu einer<br />

Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren <strong>und</strong> drei Monaten verurteilt. Mit seiner hiergegen eingelegten Revision rügt<br />

der Angeklagte die Verletzung materiellen Rechts. Sein Rechtsmittel hat keinen Erfolg. Die Verurteilung wegen<br />

versuchten Einschleusens von Ausländern gemäß den § 96 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3, § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG wird in<br />

allen sieben Fällen von den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen getragen.<br />

1. Durch § 96 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG in der Tatbestandsalternative des Hilfeleistens werden sonst nur nach den allgemeinen<br />

Regeln (§ 27 StGB) strafbare Beihilfehandlungen zu Taten nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 oder Abs. 2 Nr. 1 AufenthG<br />

zu selbstständigen, in Täterschaft (§ 25 StGB) begangenen Straftaten heraufgestuft, wenn der Gehilfe zugleich<br />

eines der in § 96 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG unter den Buchstaben a) oder b) genannten Schleusermerkmale erfüllt (vgl.<br />

BGH, Urteil vom 15. November 2006 – 2 StR 157/06, NStZ 2007, 289, 290; Urteil vom 11. Juli 2003 – 2 StR 31/03,<br />

NStZ 2004, 45; Urteil vom 25. März 1999 – 1 StR 344/98, NStZ 1999, 409; GK-AufenthG/Mosbacher, § 96 Rn. 1;<br />

Schott, Einschleusen von Ausländern, S. 175 f., 209). Als ein (täterschaftliches) Hilfeleisten im Sinne dieser Vorschrift<br />

kommen deshalb gr<strong>und</strong>sätzlich alle Handlungen in Betracht, die nach § 27 StGB <strong>und</strong> den zu dieser Vorschrift<br />

entwickelten Gr<strong>und</strong>sätzen als Beihilfe zu der jeweiligen Bezugstat erfasst werden (BGH, Urteil vom 27. April 2005<br />

– 2 StR 457/04, NJW 2005, 2095, 2099; BayObLG, Beschluss vom 20. Dezember 2004 – 4 St RR 184/04,<br />

BayObLGSt 2004, 154, 158; GK-AufenthG/Mosbacher, § 96 Rn. 5; MüKoStGB/Gericke, § 96 AufenthG Rn. 10;<br />

Renner, AuslR, 9. Aufl., § 96 AufenthG Rn. 6). Geht es – wie hier – um die Unterstützung der unerlaubten Einreise<br />

eines oder mehrerer Ausländer gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG, fällt damit jede Handlung unter den Tatbestand<br />

des § 96 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, die den unerlaubten Grenzübertritt eines Ausländers in irgendeiner Weise objektiv<br />

fördert (BGH, Urteil vom 27. April 2005 – 2 StR 457/04, NJW 2005, 2095, 2099; Urteil vom 26. Mai 1999 – 3 StR<br />

570/98, BGHSt 45, 103, 105; Steiner in Minthe, Illegale Migration <strong>und</strong> Schleusungskriminalität, S. 141, 144 ff.;<br />

Schott, Einschleusen von Ausländern, S. 174 ff. jeweils mit vielen Beispielen). Dabei muss die Hilfeleistung nicht<br />

unmittelbar zum Grenzübertritt geleistet werden. Schon eine Unterstützung im Vorfeld der Einreise (z. B. Beschaffung<br />

<strong>und</strong> Weiterleitung von Informationen zum Grenzübertritt, Organisation von Reisemöglichkeiten, Beschaffung<br />

von gefälschten Reisedokumenten, Anwerbung von Transithelfern) ist ausreichend, wenn sie den Grenzübertritt<br />

ermöglicht oder erleichtert (BGH, Urteil vom 27. April 2005 – 2 StR 457/04, NJW 2005, 2095, 2099 mwN). Nach<br />

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den Gr<strong>und</strong>sätzen zur sog. Kettenbeihilfe (vgl. BGH, Urteil vom 8. März 2001 – 4 StR 453/00, NJW 2001, 2409,<br />

2410; Heine in Schönke/Schröder, 28. Aufl., § 28 Rn. 18 mwN), die an dieser Stelle ebenfalls Anwendung finden<br />

(vgl. BGH, Urteil vom 25. März 1999 – 1 StR 344/98, NStZ 1999, 409, 410), kann ein täterschaftliches Hilfeleisten<br />

im Sinne des § 96 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG auch dann gegeben sein, wenn sich die Unterstützungshandlung auf die<br />

Förderung der Hilfeleistung eines anderen Schleusers (§ 96 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) oder Gehilfen (§ 95 Abs. 1 Nr. 3<br />

AufenthG, § 27 StGB) beschränkt. Findet die unerlaubte Einreise nicht statt oder wird sie nur versucht, kommt beim<br />

mit Schleusermerkmalen handelnden Unterstützer eine Strafbarkeit wegen versuchten Hilfeleistens nach § 96 Abs. 1<br />

Nr. 1, Abs. 3 AufenthG in Betracht (BGH, Beschluss vom 12. September 2002 – 4 StR 163/02, NJW 2002, 3642,<br />

3643). Dabei gelten die allgemein zur Versuchsstrafbarkeit entwickelten Gr<strong>und</strong>sätze (§§ 22 ff. StGB). Für die Prüfung<br />

des unmittelbaren Ansetzens kann ergänzend die Rechtsprechung zur versuchten Anstiftung nach § 30 Abs. 1<br />

StGB herangezogen werden (vgl. BGH, Urteil vom 25. März 1999 – 1 StR 344/98, NStZ 1999, 409 f.; Schott, Einschleusen<br />

von Ausländern, S. 229; MüKoStGB/Gericke, § 96 AufenthG Rn. 39). Daher beginnt die Strafbarkeit<br />

wegen versuchten Hilfeleistens nach § 96 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 AufenthG, wenn der Täter eine Handlung vornimmt,<br />

mit der er nach seiner Vorstellung von der Tat unmittelbar zu einer Förderung der präsumtiven Bezugstat – hier der<br />

unerlaubten Einreise nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG – ansetzt. Angesichts der Vielzahl denkbarer Sachverhaltsgestaltungen,<br />

die dem Begriff des Hilfeleistens unterfallen, bedarf das Kriterium der Unmittelbarkeit dabei regelmäßig<br />

einer wertenden Konkretisierung im Einzelfall (vgl. BGH, Urteil vom 9. März 2006 – 3 StR 28/06, NStZ 2006, 331<br />

f.). Maßgebend ist, wie der B<strong>und</strong>esgerichtshof zur versuchten Gefangenenbefreiung in der hier vergleichbaren Alternative<br />

des Förderns gemäß § 120 Abs. 1 Alt. 3, Abs. 3 StGB entschieden hat, wie weit sich der Täter bereits dem von<br />

ihm anvisierten Unterstützungserfolg angenähert <strong>und</strong> durch sein Handeln eine Gefahr für das betroffene Rechtsgut<br />

begründet hat (vgl. BGH, Urteil vom 25. Oktober 1955 – 2 StR 282/55, BGHSt 9, 62, 64; MüKoStGB/Bosch, 2.<br />

Aufl., § 120 Rn. 37; LK/Rosenau, 12. Aufl., § 120 Rn. 68). Darauf, ob auch die Bezugstat in das Versuchsstadium<br />

eingetreten ist, kommt es dagegen nicht an (BGH, Beschluss vom 26. März 2012 – 5 StR 86/12 mwN).<br />

2. Diese Voraussetzungen sind in allen abgeurteilten Fällen erfüllt. Im Fall II. 1. der Urteilsgründe hat der Angeklagte<br />

dem syrischen Staatsangehörigen B. dessen Schleusung über Griechenland nach Deutschland zugesagt. Nach<br />

Zahlung eines Vorschusses nahm er mit einem türkischen Mittelsmann Kontakt auf <strong>und</strong> versorgte B. mehrfach mit<br />

benötigten Informationen. Alle diese Handlungen haben unmittelbar dazu gedient, die beabsichtigte, aber nicht sicher<br />

festgestellte unerlaubte Einreise des B. zu fördern. Nach den Feststellungen zu Fall II. 2. der Urteilsgründe<br />

leistete der Angeklagte dadurch Hilfe, dass er nach dem Erhalt von 750 Euro zur Vorbereitung der geplanten unerlaubten<br />

Einreise des syrischen Staatsangehörigen D. gefälschte Einreisestempel in dessen Pass anbringen ließ, ihm<br />

dies über einen Gewährsmann mitteilte <strong>und</strong> ihn dazu aufforderte, sich bereitzuhalten. Wie sich aus den Feststellungen<br />

zu Fall II. 3. der Urteilsgründe <strong>und</strong> der zugehörigen Beweiswürdigung ergibt, hat es der Angeklagte gegenüber<br />

dem um die Organisation der unerlaubten Einreise von drei Syrerinnen bemühten A. G. übernommen, die benötigten<br />

Flugtickets zu buchen. Dabei forderte er A. G. auf, ihm die notwendigen Daten zu übermitteln. Bei der anstehenden<br />

Einreise der drei Frauen, die in China von anderen Schleusern zurückgelassen worden waren, sollten Gewährsleute<br />

des Angeklagten Hilfe leisten. Dies ist nach den Gr<strong>und</strong>sätzen über die Kettenbeihilfe als Hilfeleistung zu der geplanten<br />

unerlaubten Einreise der drei Syrerinnen zu werten. Dabei ist das Versuchsstadium bereits erreicht, weil der Angeklagte<br />

unmittelbar mit der Förderung des Unterstützungsvorhabens des Helfers A. G. begonnen hat. In den übrigen<br />

Fällen hat der Angeklagte unmittelbar wirksame Unterstützungshandlungen vorgenommen, indem er Transportfahrer<br />

organisiert (II. 4., 5., 6. <strong>und</strong> 7.), die Transitrouten festgelegt <strong>und</strong> gefälschte Einreisepapiere besorgt hat (II. 4., 6. <strong>und</strong><br />

7.). Die Tatsache, dass die Feststellungen des Landgerichts in den Fällen II. 3. <strong>und</strong> 5. nur eine Gewinnerwartung <strong>und</strong><br />

damit keinen Fall des § 96 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG belegen, beschwert den Angeklagten nicht, weil die Schleusermerkmale<br />

des § 96 Abs. 1 Nr. 1b AufenthG (wiederholt <strong>und</strong> zugunsten mehrerer Ausländer) vorliegen.<br />

AufenthG § 96 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 Nr. 2<br />

BGH, Beschluss vom 30. Mai 2013 – 5 StR 130/13 - NJW-Spezial 2013, 472-473<br />

LS: Der Anwendung des § 96 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (§ 92a Abs. 1 Nr. 1 AuslG 1990) steht es nicht<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich entgegen, dass derjenige, der durch sein Handeln zugleich Falschangaben eines ande-<br />

- 141 -


en unterstützt, bei isolierter Betrachtung als Täter einer Straftat nach § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG<br />

(§ 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG 1990) anzusehen wäre.<br />

Der 5. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat am 30. Mai 2013<br />

beschlossen:<br />

Die Revision der Angeklagten W. gegen das Urteil des Landgerichts Dresden vom 7. Juni 2012 wird nach § 349<br />

Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen, jedoch mit der Maßgabe (§ 349 Abs. 4 StPO), dass in den Fällen 1 hh <strong>und</strong> 1<br />

ii der Urteilsgründe die Verurteilung wegen tateinheitlich verwirklichter Bestechlichkeit entfällt.<br />

Die Beschwerdeführerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat die Angeklagte W. wegen gewerbs- <strong>und</strong> ban-denmäßigen Einschleusens von Ausländern in 48<br />

Fällen, in 14 Fällen in Tat-einheit mit Bestechlichkeit, <strong>und</strong> wegen Geheimnisverrats zu einer Gesamt-freiheitsstrafe<br />

von drei Jahren verurteilt. Gegen die nicht revidierenden Mit-angeklagten T. <strong>und</strong> L. hat es wegen des Tatkomplexes<br />

Gesamt-freiheitsstrafen von sechs Jahren bzw. vier Jahren <strong>und</strong> vier Monaten ver-hängt. Die mit der Sachbeschwerde<br />

geführte Revision der Angeklagten W. erzielt lediglich in einem geringen Umfang Erfolg.<br />

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts bildeten die Angeklagten spätestens seit 2000 eine Bande, die sich auf<br />

die Einschleusung von vietna-mesischen Staatsangehörigen <strong>und</strong> die missbräuchliche Verschaffung von Aufenthaltstiteln<br />

für diese spezialisiert hatte. Die Angeklagten L. (bis 2007) <strong>und</strong> W. (bis 2010) waren im Tatzeitraum Sachbearbeiter<br />

bei der Aus-länderbehörde Dresden, die Angeklagte T. dolmetschte für die Behörde. Vietnamesische Staatsangehörige<br />

wurden mit Unterstützung von Mittels-männern der Angeklagten T. in Vietnam mit durch Falschangaben<br />

erschli-chenen Visa nach Deutschland verbracht <strong>und</strong> dann gegebenenfalls bis zur Erteilung einer kollusiv beschafften<br />

Niederlassungserlaubnis betreut. Von den „Leistungen“ der Angeklagten umfasst waren unter anderem die Organisation<br />

von Scheinehen <strong>und</strong> deren jeweils zwei bis drei Jahre später erfolgter Scheidung sowie die Organisation von<br />

missbräuchlichen (Schein-) Vater-schaftsanerkennungen. Bei Bedarf wurden weitere Maßnahmen getroffen, um die<br />

Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels zu schaffen, etwa Bescheinigungen über Mietverträge oder<br />

fingierte Lohnabrechnungen besorgt. Je nach Aufwand forderte die Angeklagte T. von den Geschleus-ten Beträge<br />

von 7.000 bis 22.000 €.<br />

Der Angeklagte L. , der als versierter Fachmann im Ausländer-recht als Ideengeber für das Vorgehen im Einzelnen<br />

fungierte, wurde für sei-ne Beiträge mit Geldgeschenken, der Finanzierung von Urlaubsreisen <strong>und</strong> in Form sexueller<br />

Dienstleistungen entlohnt. Die Angeklagte W. erhielt Bar-geldbeträge bis zu 700 €, Kleidungsstücke <strong>und</strong> andere<br />

Geschenke sowie Vergünstigungen beim Besuch des von der Angeklagten T. betriebenen Nagelstudios.<br />

2. Die Revision der Angeklagten W. ist im Wesentlichen unbegrün-det nach § 349 Abs. 2 StPO. Der Erörterung<br />

bedarf nur Folgendes:<br />

a) In den Fällen 1 hh <strong>und</strong> 1 ii der Urteilsgründe ist die Verfolgung der jeweils tateinheitlich mit dem Verbrechen des<br />

gewerbs- <strong>und</strong> bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern ausgeurteilten Bestechlichkeit verjährt. Ent-sprechend<br />

der Antragsschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwalts hat die Angeklagte die beiden Schleusungstaten am 22. März 2005<br />

begangen, wohingegen der verjährungsunterbrechende Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts Dresden erst am<br />

26. März 2010 <strong>und</strong> damit nach Ablauf der für § 332 StGB maßgebenden Verjährungsfrist von fünf Jahren erging (§<br />

78 Abs. 3 Nr. 4 StGB). Nach Durchführung der genannten pflichtwidrigen Diensthandlungen gemäß zuvor getroffener<br />

Unrechtsvereinbarung <strong>und</strong> nicht ausschließbar zu-vor erfolgter Entlohnung war der Angriff auf das Schutzgut<br />

des § 332 StGB abgeschlossen <strong>und</strong> demnach Beendigung eingetreten (vgl. dazu BGH, Urtei-le vom 19. Juni 2008 –<br />

3 StR 90/08, BGHSt 52, 300, 303 ff., <strong>und</strong> vom 6. Sep-tember 2011 – 1 StR 633/10, NStZ 2012, 511, 513). Auf die<br />

Geltungsdauer der erteilten Aufenthaltstitel, die allenfalls für das Schutzgut aufenthaltsrecht-licher Strafvorschriften<br />

relevant sein könnte, kann es insoweit nicht ankom-men.<br />

Der Senat hat den Schuldspruch analog § 354 Abs. 1 StPO berichtigt. Der Wegfall des Vorwurfs der Bestechlichkeit<br />

lässt die betroffenen Einzel-strafaussprüche <strong>und</strong> die Gesamtstrafe unberührt. Das gilt schon deswegen, weil die vom<br />

Landgericht verhängten Einzelstrafen nicht danach unterschei-den, ob die Angeklagte in unverjährter Zeit zusätzlich<br />

ein Amtsdelikt verwirk-licht hat.<br />

b) Der Schuldspruch wegen (gewerbs- <strong>und</strong> bandenmäßigen) Ein-schleusens von Ausländern in Form entgeltlicher<br />

Unterstützung von Falsch-angaben im aufenthaltsrechtlichen Verfahren (§ 96 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 Nr. 2,<br />

§ 97 Abs. 2 AufenthG bzw. § 92a Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 92 Abs. 2 Nr. 2, § 92b Abs. 1 AuslG 1990) hat in den Fällen<br />

Bestand, in denen die An-geklagte ausschließlich (Fälle 2 aa, 11 bb, 13 bb, 16 cc <strong>und</strong> 29) oder inner-halb einer<br />

- 142 -


Handlungseinheit neben der Erteilung von Aufenthaltstiteln (Fäl-le 3 bb, 4 bb, 6 cc, 7 bb, 8 cc, 8 dd, 9 cc, 10 cc, 11<br />

aa, 13 aa, 19 bb, 19 cc, 21 aa, 22 <strong>und</strong> 30) selbst falsche Angaben gemacht hat. Betroffen sind ganz überwiegend<br />

wahrheitswidrige Bestätigungen, dass Scheinehepartner die erforderlichen Erklärungen vorrangig zum Bestand der<br />

ehelichen Lebensge-meinschaft persönlich vor ihr abgegeben hätten (Fälle 3 bb, 4 bb, 6 cc, 7 bb, 8 cc, 8 dd, 9 cc, 10<br />

cc, 11 aa, 13 aa, 13 bb, 16 cc, 19 bb, 19 cc, 21 aa, 22 <strong>und</strong> 30). Teils bestätigte die Angeklagte (zusätzlich) wahrheitswidrig,<br />

dass kein Sozialleistungsbezug vorliege (8 dd), dass deutsche Sprachkenntnisse genügend (Fälle 11 bb,<br />

13 bb) oder die Vermögensverhältnisse hinreichend seien (Fall 30).<br />

aa) Die Frage, ob der Täter einer Straftat nach § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (§ 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG 1990), der<br />

durch eigene Falschangaben zugleich solche des den Aufenthaltstitel erstrebenden Ausländers oder eines anderen<br />

fördert, bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen des § 96 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (§ 92a Abs. 1 AuslG 1990)<br />

wegen Einschleusens von Ausländern verurteilt werden kann, wird nicht einheitlich beurteilt (vgl., wohl befürwortend,<br />

Cannawurf, Die Beteiligung im Ausländerstrafrecht, 2007, S. 145, eher ablehnend Mosbacher in GK AufenthG,<br />

Stand Juli 2008, § 95 Rn. 260 f.; offen gelassen von OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2004, 376, 378). Der Senat bejaht sie<br />

jedenfalls für die vorliegenden Fallkonstellationen.<br />

Zwar wird derjenige, der fremdnützig (Erschleichen eines Aufenthalts-titels „für einen anderen“) Falschangaben<br />

macht, wegen dieser Tat gr<strong>und</strong>-sätzlich nicht auch der Beihilfe zur Straftat eines anderen nach § 95 Abs. 2 Nr. 2<br />

AufenthG (§ 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG 1990) schuldig zu sprechen sein (vgl. Mosbacher aaO). Indessen sieht der Gesetzgeber<br />

den Kern des Schleusungsunrechts in entgeltlichen oder wiederholten Beihilfe- <strong>und</strong> Anstiftungshandlungen.<br />

Er hat deswegen in § 96 Abs. 1 AufenthG (§ 92a Abs. 1 AuslG 1990) in selbständigen Tatbeständen<br />

die Beteiligung zur Täterschaft erhoben (vgl. BGH, Urteile vom 25. März 1999 – 1 StR 344/98, NStZ 1999, 409;<br />

vom 11. Juli 2003 – 2 StR 31/03, NStZ 2004, 45). Nach dem eindeuti-gen Gesetzeswortlaut kommt es dabei darauf<br />

an, ob der Täter des § 96 Abs. 1 AufenthG (§ 92a Abs. 1 AuslG 1990) durch seinen Beitrag (gegebe-nenfalls auch)<br />

zu den dort in Bezug genommenen Straftaten Hilfe geleistet oder zu ihnen angestiftet hat. Das hat die Angeklagte in<br />

Bezug auf § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (§ 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG 1990) getan, indem sie den Erklärungen der im<br />

aufenthaltsrechtlichen Verfahren aufgetretenen Scheinehepartner zum Bestand der ehelichen Lebensgemeinschaft<br />

durch Bestäti-gung deren persönlicher Anwesenheit <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>ene Vorspiegelung selbst vorgenommener<br />

amtlicher Prüfung höheres Gewicht verliehen hat. Entsprechendes gilt für die anderen Verlautbarungen. Demgegenüber<br />

kann im Hinblick auf die Verselbständigung der Schleusungstatbestände nicht ausschlaggebend sein, ob der<br />

Betroffene, wenn er nur nach § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (§ 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG 1990) verurteilt würde, als Teilneh-mer<br />

oder (auch) als Täter zu bestrafen wäre (vgl. auch BGH, Beschluss vom 23. Februar 2005 – 1 StR 501/04).<br />

Dass der Gesetzgeber solche „doppelge-sichtigen“ Handlungen durch eine enge Anknüpfung an die Entscheidung für<br />

oder gegen eine Täterschaft hinsichtlich des isoliert betrachteten § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (§ 92 Abs. 2 Nr. 2<br />

AuslG 1990) aus den Schleusungsdelikten ausgrenzen wollte, liegt gänzlich fern. Eine Interpretation in diesem Sinn<br />

wä-re geeignet, nicht auflösbare Wertungswidersprüche hervorzurufen (insoweit auch OLG Karlsruhe, aaO; Mosbacher,<br />

aaO, Rn. 262 sowie § 96 Rn. 2).<br />

bb) Das Urteil des Senats vom 4. Dezember 2007 (5 StR 324/07, StV 2008, 182) betrifft einen anders gelagerten<br />

Sachverhalt <strong>und</strong> steht der Entscheidung schon deswegen nicht entgegen. Zu prüfen war dort, ob bei gemeinsamer<br />

illegaler Einreise von zwei Ausländern jeder der beiden Aus-länder neben seiner Strafbarkeit als Täter einer illegalen<br />

Einreise nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG ohne Weiteres zugleich Gehilfe in Bezug auf die ille-gale Einreise des<br />

anderen ist, mit der Folge, dass bei darüber hinaus ver-wirklichter Beihilfe zur illegalen Einreise eines weiteren Ausländers<br />

durch Übernahme von Verpflegungs- <strong>und</strong> Unterbringungskosten der Schleu-sungstatbestand nach § 96 Abs.<br />

1 Nr. 2 AufenthG in der Fassung des Ge-setzes vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) – Handeln zugunsten mehrerer<br />

Ausländer – verwirklicht wird (BGH, aaO, Rn. 14, 30; abweichend Mosba-cher, aaO, § 96 Rn. 2; vgl. auch BGH,<br />

Beschluss vom 30. Oktober 1990 – 1 StR 500/90). Das hat der Senat verneint.<br />

c) Die Verurteilung wegen Einschleusens von Ausländern wird auch in den Fällen von den Feststellungen getragen,<br />

in denen sich der Beitrag der Angeklagten auf die Erteilung von Aufenthaltstiteln, das Aufbringen eines Klebers auf<br />

Ausweispapieren oder die Zustimmung zu durch Falschangaben erschlichenen Visa (vorgebliche Studienaufenthalte,<br />

vorgetäuschte Tätigkeit als Au-Pair-Kraft) beschränkte.<br />

Das (abstrakte) Gefährdungsdelikt nach § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (§ 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG 1990) ist in seiner<br />

ersten Fallvariante vollendet, so-bald die Falschangaben gemacht sind. Beendigung tritt hingegen frühestens mit der<br />

Erteilung des erschlichenen Aufenthaltstitels ein, weil erst ab diesem Zeitpunkt der Angriff auf das von der Vorschrift<br />

geschützte Rechtsgut abge-schlossen sein kann (vgl. zur gleichgelagerten Frage beim Subventionsbe-trug<br />

- 143 -


etwa BGH, Beschluss vom 1. Februar 2007 – 5 StR 467/06, NStZ 2007, 578, 579 mwN). Bis zur Beendigung ist<br />

nach ständiger Rechtsprechung Bei-hilfe möglich. Dass die Handlungsakte der Angeklagten die Haupttaten gefördert<br />

haben <strong>und</strong> fördern sollten, steht außer Zweifel (vgl. zum Subventions-betrug auch Tiedemann in LK StGB,<br />

12. Aufl., § 264 Rn. 37 f.; Schön-ke/Schröder/Perron, StGB, 28. Aufl., § 264 Rn. 49, jeweils mwN). Ob die Angeklagte<br />

im Hinblick auf das kollusive Zusammenwirken der Beteiligten den Straftatbestand des § 95 Abs. 2 Nr. 2<br />

AufenthG (§ 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG 1990) täterschaftlich verwirklicht hat, ist aus den bereits dargelegten Gründen<br />

nicht entscheidend.<br />

d) Der im Fall 18 bb erteilten Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis gingen ausweislich der Urteilsgründe (UA S.<br />

58) falsche Mitteilungen zu ei-nem gesicherten Lebensunterhalt sowie – anspruchsbegründend – zur Aus-übung der<br />

gemeinsamen Personensorge für das Kind mit dem Scheinvater <strong>und</strong> damit für das aufenthaltsrechtliche Verfahren<br />

allgemein bedeutsame An-gaben (BGH, Beschluss vom 2. September 2009 – 5 StR 266/09, BGHSt 54, 140, 146)<br />

voraus (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 1, § 27 Abs. 1, § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Satz 4 AufenthG; siehe auch OVG Magdeburg,<br />

Beschluss vom 25. Au-gust 2006 – 2 M 228/06). Ähnliches gilt für Fall 24 bb (UA S. 71). In beiden Fällen muss<br />

deshalb nicht entschieden werden, ob – für sich genommen – die Geltendmachung einer allein zur Erlangung eines<br />

Aufenthaltstitels erfolgten <strong>und</strong> damit missbräuchlichen Vaterschaftsanerkennung den Tatbestand des § 95 Abs. 2 Nr.<br />

2 AufenthG (§ 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG 1990) erfüllen wür-de (vgl. dazu OVG Münster, InfAuslR 2013, 23; OLG<br />

<strong>Hamm</strong>, NJW 2008, 1240; Gericke in MünchKomm-StGB, § 95 AufenthG Rn. 101 mwN).<br />

e) Entgegen der Auffassung der Revision ist die Annahme gewerbs- <strong>und</strong> bandenmäßigen Handelns der Angeklagten<br />

W. rechtlich nicht zu bean-standen.<br />

aa) Dem Zusammenhang der von den Angeklagten verwirklichten Vielzahl von Taten ist ein arbeitsteiliges <strong>und</strong> von<br />

hoher Professionalität ge-prägtes deliktisches Verhalten im Rahmen internationaler organisierter Schleuserkriminalität<br />

zu entnehmen. Das Ausscheiden des Bandenmitglieds L. aus der Ausländerbehörde im Jahre 2007 hat dabei nur<br />

dazu ge-führt, dass die Angeklagte W. zum Teil in dessen Stellung eingerückt ist, wobei aber L. nach den Feststellungen<br />

weiterhin im Hintergr<strong>und</strong> wirk-te.<br />

bb) Das Merkmal der Gewerbsmäßigkeit hat das Landgericht aus der Feststellung abgeleitet, dass das Bandenmitglied<br />

T. neben weiterer – für einen längeren Zeitraum, wenngleich in eher gering gewichtigem Umfang von der Angeklagten<br />

W. eingeräumter – Vorteilsgewährung dieser im Jahr 2010 mehrfach Geldbeträge bis zu 700 € gezahlt hat.<br />

Wenn es hieraus <strong>und</strong> namentlich auch mit Blick auf die mit den Taten für die Angeklagte W. verb<strong>und</strong>enen hohen<br />

persönlichen Risiken den Schluss zieht, dass diese im gesamten Tatzeitraum gegen tatbestandsrelevante Entlohnung<br />

gehandelt hat, so hält sich dies im Rahmen zulässiger richterlicher Überzeugungsbil-dung.<br />

3. Der Generalb<strong>und</strong>esanwalt weist mit Recht darauf hin, dass das Landgericht über den Fall 25 der Anklage nicht<br />

entschieden hat, weswegen dieser Fall nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 11.<br />

November 1993 – 4 StR 629/93 – <strong>und</strong> vom 23. März 2001 – 2 StR 7/01).<br />

4. Die Vorschriftenliste ist um das Vergehen des Geheimnisverrats (§ 353b StGB) zu ergänzen.<br />

BDSG§ 44 Abs. 1, § 43 Abs. 2 Nr. 1, § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TKG § 148<br />

Abs. 1 Nr. 2a, § 90 Abs. 1 Richtlinie 95/46/EG (Datenschutzrichtlinie) Art. 7 lit. f)<br />

BGH, Urt. v. 04.06.2013, Az.: 1 StR 32/13 - JurionRS 2013, 40975<br />

LS: 1. Zum Vorliegen nicht allgemein zugänglicher personenbezogener Daten bei der Erstellung<br />

von sog. Bewegungsprofilen bei Überwachung von Zielpersonen durch Anbringung von GPS-<br />

Empfängern an den von diesen genutzten Kraftfahrzeugen durch eine Detektei.<br />

2. Zu den Voraussetzungen einer datenschutzrechtlichen Befugnis zum Erstellen von Bewegungsprofilen<br />

mittels GPS-Empfängern in engen Ausnahmefällen.<br />

Der 1. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat in der Sitzung vom 4. Juni 2013, an der teilgenommen haben: Richter<br />

am B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr. Wahl als Vorsitzender <strong>und</strong> der Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Dr. Graf, die Richterin am<br />

B<strong>und</strong>esgerichtshof Cirener, die Richter am B<strong>und</strong>esgerichtshof Prof. Dr. Radtke, Zeng, Richter als Vertreter der B<strong>und</strong>esanwaltschaft,<br />

Rechtsanwältin als Verteidigerin für den Angeklagten H. , der Angeklagte H. persönlich, Rechts-<br />

- 144 -


anwältin als Verteidigerin für den Angeklagten K. , der Angeklagte K. persönlich, Justizangestellte als Urk<strong>und</strong>sbeamtin<br />

der Geschäftsstelle, für Recht erkannt:<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten H. wird das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 18. Oktober 2012, soweit<br />

es ihn betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben:<br />

a) in den Fällen 13 bis 17, 19, 23 bis 27 <strong>und</strong> 29 der Urteilsgründe<br />

b) im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe.<br />

2. Auf die Revision des Angeklagten K. wird das vorbezeichnete Urteil, soweit es ihn betrifft, mit den Feststellungen<br />

aufgehoben:<br />

a) in den Fällen 13 bis 17, 23, 24, 26 <strong>und</strong> 27 der Urteilsgründe<br />

b) im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe.<br />

3. Die weitergehenden Revisionen werden verworfen.<br />

4. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der<br />

Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe<br />

1 Das Landgericht hat den Angeklagten H. wegen vorsätzlichen unbefugten Erhebens von Daten gegen Entgelt in<br />

29 Fällen sowie wegen vorsätzlichen Missbrauchs von Sendeanlagen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr<br />

<strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt. Den Angeklagten K. hat es wegen vorsätzlichen unbefugten Erhebens von Daten gegen<br />

Entgelt in 25 Fällen unter Einbeziehung einer Geldstrafe aus einem Strafbefehl des Amtsgerichts Stuttgart vom<br />

27. September 2011 zu einer (nachträglichen) Gesamtfreiheitsstrafe in Höhe von acht Monaten verurteilt. Die Vollstreckung<br />

beider Gesamtfreiheitsstrafen hat es zur Bewährung ausgesetzt.<br />

2 Hiergegen richten sich die auf näher ausgeführte Sachrügen gestützten Revisionen der Angeklagten. Die Rechtsmittel<br />

haben den aus dem Tenor ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen sind sie unbegründet.<br />

A.<br />

3 Das Landgericht hat folgende Feststellungen <strong>und</strong> Wertungen getroffen:<br />

I.<br />

4 Fälle 1 bis 29 der Urteilsgründe:<br />

5 1. Der Angeklagte H. betrieb eine Detektei, der Angeklagte K. war - ebenso wie der gesondert Verfolgte Kn. - als<br />

Detektiv bei ihm angestellt. Die Detektei wurde häufig von Privatpersonen beauftragt, andere Personen (Zielpersonen)<br />

zu überwachen. Eine der praktizierten Observationsmaßnahmen bestand in der Erstellung von Bewegungsprofilen<br />

der Zielpersonen. Dabei ging die Detektei wie folgt vor: Durch vorangegangene persönliche Observation <strong>und</strong><br />

Halterabfragen wurde das von den Zielpersonen regelmäßig genutzte Fahrzeug <strong>und</strong> dessen regelmäßiger Standort<br />

ermittelt. Sodann brachte - jeweils auf Anweisung des Angeklagten H. - überwiegend (jedoch nicht in den Fällen 19,<br />

21 <strong>und</strong> 25 sowie 29 der Urteilsgründe) der Angeklagte K. , teilweise gemeinsam mit dem Mitarbeiter Kn. , einen<br />

GPS-Empfänger (basierend auf Global-Positioning-System = GPS) an diesen Fahrzeugen an. Soweit die Angeklagten<br />

für möglich hielten, dass die Zielpersonen mehrere Fahrzeuge benutzten, etwa Fahrzeuge von Personen aus dem<br />

familiären Umfeld der Zielpersonen, wurde an jedem dieser Fahrzeuge ein GPS-Empfänger angebracht. Dass die<br />

Angeklagten durch ihr Verhalten in die Rechte dieser "unbeteiligten" Familienangehörigen eingriffen, die die Fahrzeuge<br />

ebenfalls nutzten, war ihnen bewusst. Die Urteilsgründe enthalten keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Angeklagten<br />

jemals einen GPS-Empfänger an einem Fahrzeug angebracht hätten, das von mehr als weiteren zwei, in einem<br />

Fall von mehr als drei Personen neben der Zielperson benutzt wurde.<br />

6 Zur Anbringung des GPS-Empfängers betrat der Angeklagte K. wiederholt im Bewusstsein, hierzu nicht berechtigt<br />

zu sein, Tiefgaragen, die teilweise durch Rolltore oder Gitter gesichert oder nur durch Berechtigte mit einer Karte zu<br />

betreten waren.<br />

7 Die GPS-Empfänger zeichneten im Durchschnitt alle zwei Minuten, teils sogar minütlich, das Datum, die Uhrzeit,<br />

die geographischen Breiten- <strong>und</strong> Längenkoordinaten sowie die jeweilige Momentangeschwindigkeit des Fahrzeugs<br />

auf. Diese Daten wurden über Mobiltelefone der Angeklagten auf deren Notebooks übertragen <strong>und</strong> dort mittels eines<br />

speziellen Softwareprogramms automatisch zu Bewegungsprotokollen <strong>und</strong> Kartendarstellungen verarbeitet, wobei<br />

auch "Fahrweg <strong>und</strong> Aufenthaltsort der Zielpersonen" dokumentiert wurden. Diese Arbeiten nahmen im Wesentlichen<br />

der Angeklagte K. <strong>und</strong> der weitere Mitarbeiter Kn. vor. Die so gewonnenen Daten überließ der Angeklagte H. - teils<br />

in Form von Protokollen <strong>und</strong> Kartendarstellungen, teils in Form von Observationsberichten - den jeweiligen Auftraggebern<br />

in Papierform.<br />

8 2. Die Motive der Auftraggeber für die Überwachung der Zielpersonen waren unterschiedlich:<br />

- 145 -


9 a) Fälle 1 bis 12 der Urteilsgründe:<br />

10 Auftraggeber der Observationen waren Geschäftsführer der im Bereich von Labormedizin tätigen L. GmbH. Gegen<br />

einen der Geschäftsführer hatte die Kassenärztliche Vereinigung Nordbaden Maßnahmen im Rahmen ihrer Aufgaben<br />

ergriffen. Dieser Geschäftsführer wollte kompromittierendes Material aus dem Berufs- <strong>und</strong> Privatleben von näher<br />

bezeichneten Personen, die der Kassenärztlichen Vereinigung Nordbaden angehörten bzw. für diese tätig waren,<br />

gewinnen. Dieses Material wollte er dazu einsetzen, um die Zielpersonen in seinem Sinne beeinflussen zu können.<br />

Ein weiterer Observationsauftrag betraf mit gleicher Zielrichtung einen Rechtsanwalt, den Insolvenzverwalter über<br />

das Vermögen dieses Geschäftsführers. Sowohl an den Fahrzeugen der betroffenen Angehörigen der Kassenärztlichen<br />

Vereinigung Nordbaden sowie bei diesem Rechtsanwalt wurden GPS-Empfänger angebracht.<br />

11 Weitere Observationsaufträge betrafen Angehörige der Staatsanwaltschaft Mannheim, die gegen den Geschäftsführer<br />

wegen Abrechnungsbetruges ermittelten, sowie Angehörige konkurrierender Labore. Damit im Zusammenhang<br />

stehende Vorgänge sind Gegenstand eines gesonderten Verfahrens.<br />

12 b) Fälle 18, 20 bis 22, 28 der Urteilsgründe:<br />

13 Hier wollten die Auftraggeber durch eine Überwachung ihrer Ehegatten (Fälle 18 <strong>und</strong> 22 der Urteilsgründe) oder der<br />

Schwiegertochter (Fälle 20 <strong>und</strong> 21 der Urteilsgründe) deren Untreue belegen. In einem Fall (Fall 28 der Urteilsgründe<br />

erstrebte der Auftraggeber Klärung darüber, ob seine Lebensgefährtin, gegen die wegen dieses Verdachts später<br />

auch ermittelt wurde, Beischlaf mit Verwandten gehabt hatte.<br />

14 c) Fälle 13 bis 17, 19, 23 bis 27 sowie 29 der Urteilsgründe:<br />

15 Eine Observation richtete sich gegen einen Mitarbeiter/Berater eines Unternehmens, der bei dem Auftraggeber (Fälle<br />

15 <strong>und</strong> 16 der Urteilsgründe) in Verdacht stand, hohe Geldbeträge veruntreut <strong>und</strong> Maschinen unterschlagen zu haben.<br />

In zwei weiteren Fällen stand ein Mitarbeiter eines Unternehmens im Verdacht, im Krankenstand "schwarz"<br />

einer Nebentätigkeit nachgegangen zu sein (Fälle 23 <strong>und</strong> 24 der Urteilsgründe) bzw. gegen ein Wettbewerbsverbot<br />

verstoßen zu haben (Fall 25 der Urteilsgründe). Hier konnte der Betroffene der "Spionage" zugunsten einer Konkurrenzfirma<br />

überführt werden; die Observation diente der Vorbereitung einer Strafanzeige. In den Fällen 26 <strong>und</strong> 27 der<br />

Urteilsgründe hatte der Auftraggeber seine Ehefrau in Verdacht, als Mitarbeiterin eines gemeinsamen Unternehmens<br />

Gelder veruntreut zu haben. Eine Auftraggeberin (Fälle 13 <strong>und</strong> 14 der Urteilsgründe) befürchtete, ihr Ehemann habe<br />

im Rahmen einer vermögensrechtlichen Auseinandersetzung ihr zustehende Vermögenswerte beiseite geschafft. Im<br />

Fall 17 der Urteilsgründe wollte der Auftraggeber im Interesse zukünftiger Zwangsvollstreckungsmaßnahmen den<br />

aktuellen Arbeitsplatz einer ehemaligen Mitarbeiterin, die noch erhebliche Schulden bei ihm hatte, herausfinden. Ein<br />

weiterer Auftraggeber versuchte, über die Überwachung zu belegen, dass seine getrennt lebende Ehefrau eine andere<br />

Beziehung habe <strong>und</strong> ihm "das Haus wegnehmen" wolle (Fall 29 der Urteilsgründe); der GPS-Empfänger wurde hier<br />

an einem im Eigentum des Auftraggebers stehenden Fahrzeug angebracht. Der Auftraggeber im Fall 19 der Urteilsgründe<br />

ließ seine Ehefrau im Rahmen einer Scheidungsauseinandersetzung überwachen.<br />

16 3. Das Landgericht hat in sämtlichen Fällen (bei dem Angeklagten K. nur in den Fällen, an denen er beteiligt war)<br />

vorsätzliches unbefugtes Erheben von Daten gegen Entgelt (§ 44 Abs. 1, § 43 Abs. 2 Nr. 1 BDSG) bejaht.<br />

17 Näher hat es ausgeführt:<br />

18 Die GPS-Daten seien personenbezogene Daten (§ 3 Abs. 1 BDSG). Das zunächst fahrzeugbezogene Bewegungsprofil<br />

sei entsprechend dem Zweck der Maßnahme den Zielpersonen ohne Weiteres zuzuordnen gewesen.<br />

19 Diese Daten seien nicht allgemein zugänglich gewesen. Durch bloßes Beobachten <strong>und</strong>/oder "Hinterher-Fahren" wäre<br />

schon wegen der Verkehrsdichte <strong>und</strong> des erhöhten Entdeckungsrisikos die Erstellung eines ebenso vollständigen<br />

Bewegungsprofils nicht oder allenfalls theoretisch unter unverhältnismäßigem Aufwand möglich gewesen. Die Datenerhebung<br />

bzw. -verarbeitung seien unbefugt gewesen. Namentlich könnten sich die Angeklagten nicht auf Erlaubnissätze,<br />

insbesondere nicht auf § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BDSG berufen.<br />

20 In diesem Zusammenhang sei abzuwägen zwischen einerseits dem Interesse der Detektei an der Auftragserfüllung<br />

<strong>und</strong> den dahinter stehenden Interessen der Auftraggeber andererseits dem verfassungsrechtlich garantierten Recht der<br />

Zielpersonen auf informationelle Selbstbestimmung.<br />

21 Da der GPS-Einsatz bereits für sich genommen widerrechtlich gewesen sei, seien die Interessen der Angeklagten<br />

bzw. der Auftraggeber nicht billigenswert. Hierbei sei auch zu berücksichtigen, dass bei keinem der Fälle eine Straftat<br />

von erheblicher Bedeutung im Sinne von § 100h StPO vorgelegen habe. Selbst Ermittlungsbehörden wären daher<br />

nicht befugt gewesen, sich eines GPS-Geräts, das als technisches Mittel im Sinne dieser Vorschrift gelte, zu bedienen.<br />

Den Angeklagten, die ohnehin nur über "Jedermanns-Rechte" verfügten, habe dann erst recht keine Befugnis<br />

zugestanden.<br />

- 146 -


II.<br />

22 Fall 30 der Urteilsgründe:<br />

23 1. Der Angeklagte H. verkaufte <strong>und</strong> übergab einer Auftraggeberin, die die privaten Telefonate ihres Ehemannes<br />

abhören wollte, einen Telefonhörer, einen Recorder, einen Funkscanner <strong>und</strong> ein Kabel <strong>und</strong> erklärte ihr, wie sie diese<br />

Gerätschaften in das gemeinsam von ihr <strong>und</strong> ihrem Ehemann genutzte drahtgeb<strong>und</strong>ene Telefon einbauen könne.<br />

Dementsprechend konnten die über dieses Telefon geführten Gespräche - für den Ehemann nicht erkennbar - empfangen,<br />

aufgenommen <strong>und</strong> wiedergegeben werden.<br />

24 2. Deswegen wurde er wegen vorsätzlichen Missbrauchs von Sendeanlagen im Sinne von § 148 Abs. 1 Nr. 2a i.V.m.<br />

§ 90 Abs. 1 Satz 1 TKG verurteilt.<br />

III.<br />

25 Gegen das Urteil richten sich die auf näher ausgeführte Sachrügen gestützten Revisionen der Angeklagten.<br />

B.<br />

26 Soweit die Revision des Angeklagten H. sich gegen die Verurteilung wegen vorsätzlichen Missbrauchs von Sendeanlagen<br />

(§ 148 Abs. 1 Nr. 2a i.V.m. § 90 Abs. 1 Satz 1 TKG; Fall 30 der Urteilsgründe) wendet, bleibt diese erfolglos,<br />

ohne dass dies näherer Ausführung bedürfte.<br />

C.<br />

27 Soweit die Angeklagten wegen vorsätzlichen unbefugten Erhebens von Daten gegen Entgelt (§ 44 Abs. 1, § 43<br />

Abs. 2 Nr. 1 BDSG) verurteilt worden sind, besteht kein Verfahrenshindernis; insbesondere liegen in Bezug auf<br />

sämtliche verfahrensgegenständlichen Taten die erforderlichen wirksamen Strafanträge (§ 44 Abs. 2 Satz 1 BDSG)<br />

vor.<br />

28 Antragsbefugt ist gemäß § 44 Abs. 2 Satz 2 BDSG neben dem Betroffenen, der verantwortlichen Stelle <strong>und</strong> dem<br />

B<strong>und</strong>esbeauftragten für den Datenschutz <strong>und</strong> die Informationsfreiheit auch die Aufsichtsbehörde im Sinne von §<br />

38 BDSG. Die zuständigen Aufsichtsbehörden können per Gesetz von der Landesregierung oder von einer durch<br />

diese ermächtigten Stelle bestimmt werden, § 38 Abs. 6 BDSG.<br />

29 Vorliegend hatte, neben einzelnen Geschädigten, am 14. Juli 2010 der Leiter der Aufsichtsbehörde für den Datenschutz<br />

im nichtöffentlichen Bereich (Innenministerium Baden-Württemberg) in sämtlichen verfahrensgegenständlichen<br />

Fällen Strafanträge gestellt.<br />

30 Diese Aufsichtsbehörde war in Baden-Württemberg zu dem Zeitpunkt der Antragstellung bei dem Innenministerium<br />

angesiedelt (vgl. Ambs in Erbs-Kohlhaas, 183. Lfg., § 38 BDSG Rn. 1). Erst aufgr<strong>und</strong> Gesetzes zur Änderung des<br />

Landesdatenschutzgesetzes <strong>und</strong> anderer Rechtsvorschriften vom 7. Februar 2011, das am 1. April 2011 in Kraft trat<br />

(GBl. BW Nr. 2, S. 43), wurde die Aufsicht über die nicht-öffentlichen Stellen dem Landesbeauftragten für den Datenschutz<br />

übertragen (vgl. § 31 Abs. 1 DSG BW nF; Bergmann/Möhrle/Herb, LDSG BW, 43. Lfg., § 31 Anm. 3.1).<br />

31 Die Antragstellung erfolgte damit durch die zuständige Aufsichtsbehörde <strong>und</strong> ist, weil wenige Tage nach Kenntnisnahme<br />

des Sachverhalts gestellt, innerhalb der drei Monate betragenden Antragsfrist, deren Lauf mit Kenntniserlangung<br />

von der Tat <strong>und</strong> der Person des Täters (§ 77b StGB) beginnt, erfolgt.<br />

D.<br />

32 Soweit die Angeklagten wegen Taten nach § 44 Abs. 1 i.V.m. § 43 Abs. 2 Nr. 1 BDSG verurteilt wurden, haben die<br />

Revisionen in den aus dem Urteilstenor ersichtlichen Einzelfällen Erfolg, was zugleich zur Aufhebung der Gesamtstrafe<br />

führt. Im Übrigen bleiben sie erfolglos. Die für die Entscheidung über die Revisionen beider Angeklagter<br />

maßgeblichen Gründe sind weitgehend identisch. Lediglich hinsichtlich des Merkmals der Entgeltlichkeit (§ 44<br />

Abs. 1 BDSG) ist eine differenzierte Betrachtung geboten (unten D.I.3.).<br />

I.<br />

33 Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen haben die Angeklagten zwar jeweils vorsätzlich handelnd gegen<br />

Entgelt gemeinschaftlich personenbezogene Daten, die nicht allgemein zugänglich sind, erhoben <strong>und</strong> verarbeitet.<br />

Allerdings hat das Tatgericht bei der Beurteilung des Merkmals "unbefugt" einen nicht in jeder Hinsicht rechtsfehlerfreien<br />

Maßstab herangezogen. Aufgr<strong>und</strong> dessen tragen die bislang getroffenen Feststellungen in den Fällen 13 bis 17,<br />

19, 23 bis 27 sowie 29 der Urteilsgründe die Annahme einer fehlenden Befugnis zur Datenerhebung <strong>und</strong> -<br />

verarbeitung nicht. Dies betrifft mit Ausnahme der Fälle 19, 25 <strong>und</strong> 29 der Urteilsgründe - hieran hatte der Angeklagte<br />

K. nicht mitgewirkt - beide Angeklagte.<br />

34 In den Fällen 1 bis 12 der Urteilsgründe sowie in den Fällen 18, 20 bis 22 <strong>und</strong> 28 der Urteilsgründe ist das Tatgericht<br />

im Ergebnis zutreffend von einem unbefugten Handeln ausgegangen; dies betrifft mit Ausnahme des Falls 21 der<br />

Urteilsgründe beide Angeklagten.<br />

- 147 -


35 1. Das Landgericht hat die durch die GPS-Empfänger gewonnenen "Bewegungsdaten" zu Recht als personenbezogene<br />

Daten, also als Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren<br />

natürlichen Person (Legaldefinition des § 3 Abs. 1 BDSG), bewertet.<br />

36 a) Der Begriff der "Angabe" umfasst jede Information. Eine Information ist geistiger Natur (Dammann in Simitis,<br />

BDSG, 7. Aufl., § 3 Rn. 5 mwN). Reale Vorgänge <strong>und</strong> Zustände sind daher für sich genommen keine derartigen<br />

Angaben; sie können aber etwa durch Aufzeichnen oder Messen Ausgangspunkt für das Herstellen solcher Einzelangaben<br />

sein (Dammann aaO).<br />

37 Auf persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person beziehen sich<br />

Einzelangaben dann, wenn sie über die Bezugsperson selbst etwas aussagen oder mit der Bezugsperson in Verbindung<br />

zu bringen sind, weil sie einen auf sie beziehbaren Sachverhalt enthalten (Gola/Schomerus, BDSG, 11. Aufl., §<br />

3 Rn. 5 <strong>und</strong> 7). Daher zählen nicht nur einer Person als solcher zukommende Eigenschaften <strong>und</strong> Merkmale zu deren<br />

persönlichen <strong>und</strong> sachlichen Verhältnissen, sondern auch ihre Beziehungen zur Umwelt, wie u.a. ihr Aufenthaltsort<br />

(vgl. Dammann aaO Rn. 11; Gola/Schomerus aaO Rn. 7; Schaffland/Wiltfang, BDSG, Lfg. 4/11, § 3 Rn. 5; Backu,<br />

ITRB 2009, 88, 90).<br />

38 Werden geografische Standort- oder Positionsdaten (hier GPS-Positionsdaten) erhoben, verarbeitet oder genutzt,<br />

vermitteln diese, weil sie sich in erster Linie auf Gegenstände - wie vorliegend den GPS-Empfänger bzw. das Fahrzeug,<br />

an dem der GPS-Empfänger angebracht ist - beziehen, unmittelbar keine Aussage über die persönlichen oder<br />

sachlichen Verhältnisse einer natürlichen Person (vgl. Schrey/Meister, K&R 2002, 177, 180). Durch den Einsatz<br />

satellitengestützter Positionsbestimmungs-Systeme lassen sich mit einer horizontalen <strong>und</strong> vertikalen Genauigkeit von<br />

wenigen Metern (vgl. Jandt/ Schnabel, K&R 2008, 723, 724) Positionsdaten "lediglich" darüber gewinnen, wo sich<br />

ein GPS-Empfänger befindet (zu den technischen Gegebenheiten vgl. Jandt/ Schnabel aaO).<br />

39 Gegenstände, wie die hier verwendeten GPS-Empfänger, können aber einem bestimmten Einfluss durch Personen<br />

unterliegen, so dass etwa aufgr<strong>und</strong> der physischen oder räumlichen Nähe des GPS-Empfängers zu einer Person oder<br />

zu anderen Gegenständen, etwa dem von einer bestimmten/ bestimmbaren Person genutzten Fahrzeug, an dem der<br />

GPS-Empfänger angebracht ist, eine indirekte Beziehung zu einer Person hergestellt werden kann. Fahrzeugortungsdaten<br />

als Sachdaten werden daher als Verhaltensdaten zu personenbezogenen Daten, wenn der Insasse dem Fahrzeug<br />

zugeordnet werden kann (zum Personenbezug von GPS-Standortdaten vgl. Dammann aaO § 3 Rn. 15 <strong>und</strong> 59, 69; zur<br />

Ortung von Arbeitnehmern bei der Anbringung von GPS-Empfängern an Dienst-Fahrzeugen vgl. Meyer, K&R 2009,<br />

14, 19; zur GPS-Ortung im Arbeitsverhältnis vgl. auch Gola, NZA 2007, 1139, 1143).<br />

40 b) Gemessen hieran stellten die durch den Angeklagten H. <strong>und</strong> seine Mitarbeiter gewonnenen GPS-Positionsdaten<br />

der von den Zielpersonen benutzten Fahrzeuge personenbezogene Daten im Sinne des § 3 Abs. 1 BDSG dar. Das gilt<br />

sowohl für Standortdaten solcher Fahrzeuge, die lediglich von einer Person genutzt wurden, als auch solcher mit<br />

Nutzung durch weitere den Angeklagten aufgr<strong>und</strong> der vorausgegangenen Recherchen namentlich bekannte Personen.<br />

41 Bei Nutzung des jeweiligen Fahrzeugs ausschließlich durch die Zielperson war es den Angeklagten ohne weiteres<br />

möglich, die GPS-Daten den entsprechenden Zielpersonen zuzuordnen. Die GPS-Daten enthielten damit eine Information<br />

über den jeweiligen Aufenthaltsort <strong>und</strong> das Fahrverhalten der jeweiligen Zielperson, mithin über eine für die<br />

Angeklagten bestimmbare natürliche Person im Sinne von § 3 Abs. 1 BDSG. Auf die in Einzelheiten kontrovers<br />

beurteilten Maßstäbe der Bestimmbarkeit der Person im Zusammenhang mit der Zuordnung von zunächst Sachdaten<br />

zu einer Person (dazu Forgó/Krügel, MMR 2010, 17, 18 ff. mwN) kommt es vorliegend dabei nicht an.<br />

42 Aber auch soweit eine Nutzung der überwachten Fahrzeuge durch eine oder zwei weitere Personen aus dem Umfeld<br />

der Zielpersonen erfolgte, handelte es sich bei den Standortdaten um personenbezogene Daten. Die Angeklagten<br />

stellten in diesen Fällen personenbezogene Informationen selbst her, indem sie die GPS-Positionsdaten einer bestimmten<br />

Person zuordneten <strong>und</strong> damit Aussagen über deren Aufenthaltsort trafen.<br />

43 Die Angeklagten hatten die GPS-Empfänger nicht wahllos an Fahrzeugen angebracht; vielmehr hatten sie "Vorfeldermittlungen"<br />

angestellt <strong>und</strong> in deren Verlauf die Halterdaten erhoben sowie die Zielpersonen persönlich observiert.<br />

Soweit die Angeklagten zur Beobachtung einer "Zielperson" aufgr<strong>und</strong> ihrer Erkenntnisse an mehreren Fahrzeugen<br />

jeweils einen GPS-Empfänger anbrachten, um Bewegungsprofile der Zielpersonen auch im Falle eines Fahrzeugwechsels<br />

zu erhalten, war es ihnen bewusst, dass auch "Unbeteiligte" mitobserviert wurden (UA S. 7). Teilweise<br />

überwachten sie auch Angehörige der Zielpersonen (UA S. 15). Soweit drei weitere Personen im familiären Umfeld<br />

der Zielpersonen dasselbe Fahrzeug nutzten, war auch dies den Angeklagten bekannt. Verfolgungstechnische "Leerläufe"<br />

konnten die Angeklagten im Übrigen dazu nutzen, ergänzende Erkenntnisse zur betreffenden Zielperson zu<br />

erlangen. Es liegt angesichts dieser begleitenden Ermittlungen der Angeklagten nicht nahe, dass sie nicht in der Lage<br />

- 148 -


gewesen wären, eine zutreffende Zuordnung der GPS-Daten zu dem jeweiligen Fahrzeugführer vorzunehmen. Selbst<br />

wenn sie aber in Einzelfällen die GPS-Daten fehlerhaft zugeordnet haben sollten, ändert dies an der Beurteilung als<br />

personenbezogene Daten nichts.<br />

44 Ein fehlender Wahrheitswert des Datums bzw. der Daten schließt das Vorliegen einer Angabe im Sinne des § 3<br />

Abs. 1 BDSG nämlich nicht aus. Nur dann, wenn aus dem Kontext heraus eindeutig ist, dass die Angaben "reine<br />

Fantasie des Autors" sind, sagen sie über eine Person nichts aus (Dammann aaO § 3 Rn. 6). Dies war hier aber im<br />

Hinblick auf die umfassenden "Vorfeldermittlungen" der Angeklagten gerade nicht der Fall.<br />

45 Eine Aufklärungsrüge wurde insoweit im Übrigen nicht erhoben.<br />

46 2. Das Landgericht ist auch zutreffend davon ausgegangen, dass die Angeklagten, indem sie sich die GPS-Daten<br />

beschafften <strong>und</strong> die so erlangten Daten computergestützt automatisiert zu Bewegungsprotokollen zusammenfügten,<br />

Daten im Sinne von § 3 Abs. 3 BDSG erhoben.<br />

47 a) Unter dem Erheben von Daten im Sinne von § 3 Abs. 3 BDSG ist deren zielgerichtete Beschaffung zu verstehen;<br />

es bedarf daher einer Aktivität, durch die die erhebende Stelle Kenntnis von dem betreffenden Sachverhalt erhält<br />

(Dammann aaO § 3 Rn. 102, Schaffland/Wiltfang, BDSG, Lfg. 1/11, § 3 Rn. 105). Gemäß § 3 Abs. 4 Satz 1 BDSG<br />

unterfällt dem Verarbeiten unter anderem das Speichern von Daten, d.h. das Erfassen, Aufnehmen <strong>und</strong> Aufbewahren<br />

der Daten auf einem Datenträger zum Zweck ihrer weiteren Verarbeitung oder Nutzung (§ 3 Abs. 4 Satz 2<br />

Nr. 1 BDSG). Daneben stellt die Veränderung von Daten, d.h. das inhaltliche Umgestalten gespeicherter Daten (§ 3<br />

Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 BDSG), eine weitere Form der Datenverarbeitung dar.<br />

48 b) Indem die Angeklagten mittels der GPS-Empfänger minütlich oder alle zwei Minuten in geografischen Breiten<strong>und</strong><br />

Längenkoordinaten ausgedrückte Positionsdaten der GPS-Empfänger sammelten, erhoben sie im Sinne des § 3<br />

Abs. 3 BDSG Daten. Durch die Erfassung dieser Positionsdaten über ihre Mobiltelefone auf ihren Notebooks speicherten<br />

sie - im Zuge ihrer Erhebung - diese Daten im Sinne von § 3 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 BDSG. Da diese Daten<br />

computergestützt mittels der von den Angeklagten eingesetzten Software automatisch zu Bewegungsprotokollen <strong>und</strong><br />

Kartendarstellungen einschließlich der Dokumentation von Fahrweg <strong>und</strong> Aufenthaltsort des GPS-Empfänger zusammengefügt<br />

wurden, verarbeiteten die Angeklagten diese Daten zudem im Sinne des § 3 Abs. 4 Satz 2<br />

Nr. 2 BDSG automatisiert weiter. Dass das Landgericht nicht ausdrücklich auch auf die weitere Verarbeitung (vgl. §<br />

3 Abs. 4 BDSG) der erhobenen Daten abgehoben hat, belastet die Angeklagten nicht.<br />

49 3. Dass der Angeklagte H. , der von den Auftraggebern eine monetäre Gegenleistung verlangte, entgeltlich (vgl. § 11<br />

Abs. 1 Nr. 9 StGB) handelte, bedarf keiner Erörterung.<br />

50 Es mag dahinstehen, ob der Hinweis der Revision auf das dem Angeklagten K. ohnehin gewährte Gehalt für diesen<br />

ein entgeltliches Handeln im Sinne von § 44 Abs. 1 BDSG auszuschließen vermag. Die Revision vertritt insoweit die<br />

Auffassung, ein entgeltliches Handeln verlange einen Zusammenhang des Gehalts mit den konkreten Fällen, in denen<br />

er tätig war. Daran fehle es.<br />

51 Selbst wenn dem zu folgen <strong>und</strong> wegen fehlenden Zusammenhangs entgeltliches Handeln zu verneinen wäre, hätte<br />

der Angeklagte K. jedenfalls in der Absicht gehandelt, den Mitangeklagten H. um das von den Auftraggebern bezahlte<br />

Honorar zu bereichern.<br />

52 Dies trägt den Schuldspruch. Die Möglichkeit, dass sich der Angeklagte K. bei entsprechendem Hinweis (§<br />

265 StPO) erfolgversprechender als bislang geschehen hätte verteidigen können, ist auszuschließen.<br />

53 4. Die Wertung des Landgerichts, die erhobenen Daten seien nicht im Sinne von §§ 43, 44 BDSG allgemein<br />

zugänglich gewesen, ist entgegen der Auffassung der Revision ebenfalls nicht zu beanstanden. Die Möglichkeit, dass<br />

ein nicht beschränkter Kreis von Personen die Zielpersonen in der Öffentlichkeit hätte wahrnehmen können, diesen<br />

unter Umständen sogar hätte "nachfahren" können, führt nicht dazu, dass die aufgezeichneten <strong>und</strong> weiterverarbeiteten<br />

(wie dargelegt personenbezogenen) GPS-Positionsdaten allgemein zugänglich waren. Die Erhebung <strong>und</strong> die<br />

Verarbeitung der hier konkret mit Hilfe technischer Mittel erhobenen personenbezogenen Daten waren lediglich<br />

unter Überwindung rechtlicher Zugangshindernisse möglich. Das steht einer allgemeinen Zugänglichkeit entgegen.<br />

Dies ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut als auch <strong>und</strong> vor allem aus der Entstehungsgeschichte der geltenden gesetzlichen<br />

Regelung, die die Wendung "nicht allgemein zugänglich" enthält.<br />

54 a) Allgemein zugänglich sind diejenigen Daten, die von jedermann zur Kenntnis genommen werden können, ohne<br />

dass der Zugang zu den Daten rechtlich beschränkt ist (Gola/Schomerus aaO § 43 Rn. 18). Über die Begrifflichkeit<br />

der "allgemein zugänglichen Daten", die aufgr<strong>und</strong> Gesetzes zur Änderung des B<strong>und</strong>esdatenschutzgesetzes <strong>und</strong> anderer<br />

Gesetze vom 18. Mai 2001 (BGBl. I 2001, S. 904) auch zum Zwecke der Vereinheitlichung des Sprachgebrauchs<br />

(vgl. BT-Drucks. 14/5793 S. 64) an verschiedenen Stellen des BDSG aufgenommen wurde (vgl. § 10 Abs. 5, § 28<br />

- 149 -


Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BDSG) <strong>und</strong> auch im 5. Abschnitt des BDSG insoweit das frühere Merkmal "offenk<strong>und</strong>ig" ersetzte,<br />

soll der Informationsfreiheit desjenigen Rechnung getragen werden, der Daten erhebt <strong>und</strong> verarbeitet. Das Recht<br />

auf informationelle Selbstbestimmung des von dieser Datenerhebung Betroffenen findet damit in dem Recht, sich<br />

aus Quellen, die jedermann offen stehen, zu informieren, seine Grenze (vgl. Gola/Schomerus aaO § 28 Rn. 45; vgl.<br />

auch Forgó/Krügel/Müllenbach, CR 2010, 616, 620 Fn. 39).<br />

55 Rechtliche Schranken jedweder Art des Zugangs zu den Daten, auch wenn die rechtlichen Hürden nicht besonders<br />

hoch sind <strong>und</strong> mittels Falschangaben einfach umgangen werden können, schließen die allgemeine Zugänglichkeit<br />

aus. Auskünfte, die mittels einer einfachen Registerauskunft erteilt werden könnten, sind nicht "allgemein zugänglich",<br />

wenn die Auskunft von rechtlichen Voraussetzungen abhängt. So setzt etwa die Erteilung von Auskünften<br />

nach § 39 Abs. 1 StVG die Geltendmachung eines berechtigten Interesses im Sinne von § 39 Abs. 1 Halbsatz 2 StVG<br />

voraus; dementsprechend sind die im entsprechenden Register enthaltenen Daten nicht "allgemein zugänglich" (vgl.<br />

BGH, Urteil vom 8. Oktober 2002 - 1 StR 150/02, NJW 2003, 226, 227, dort in Bezug auf das insoweit ausdrücklich<br />

gleich behandelte Merkmal der Offenk<strong>und</strong>igkeit im Zusammenhang mit § 203 Abs. 2 Satz 2 StGB; Gola/Schomerus<br />

aaO § 43 Rn. 18; anders OLG Hamburg, NStZ 1998, 358 [ebenfalls zur "Offenk<strong>und</strong>igkeit" im Zusammenhang mit §<br />

203 Abs. 2 Satz 2 StGB]; BayObLG, NJW 1999, 1727; vgl. auch Schaffland/Wiltfang, BDSG, Lfg. 2/11, §<br />

43 Rn. 26). Die Ersetzung des früheren Begriffs "offenk<strong>und</strong>ig" durch die Wendung "nicht allgemein zugänglich" in<br />

§§ 43, 44 BDSG bezweckte gerade auch, Fallgestaltungen, in denen der Zugang zu den Daten rechtlich beschränkt<br />

ist, eindeutig als strafbar zu erfassen (BT-Drucks. 14/4329 [Anl. II; Stellungnahme des B<strong>und</strong>esrates] S. 59 sowie<br />

Beschlussempfehlung <strong>und</strong> Bericht des Innenausschusses, BT-Drucks. 14/5793, S. 67; vgl. auch Krauskopf in NJW-<br />

Sonderheft für Gerhard Schäfer, S. 40 f.; Gola/Schomerus aaO).<br />

56 Eine strafrechtliche Ahndung ist somit nach dem Wortlaut der §§ 43, 44 BDSG (lediglich) in denjenigen Fällen<br />

ausgeschlossen, in denen es sich um Daten handelt, die von jedermann zur Kenntnis genommen werden können,<br />

ohne dass der Zugang aus rechtlichen Gründen beschränkt ist ("Jedermanns-Dateien", vgl. Weichert, NStZ 1999, 490<br />

[OLG Hamburg 22.01.1998 - 2 Ss 105/97]).<br />

57 b) Bei der Bestimmung des Bezugspunkts der allgemeinen Zugänglichkeit personenbezogener Daten ist zu berücksichtigen,<br />

dass Informationen ihrerseits geistiger Natur sind <strong>und</strong> ein finales, auf Vermittlung oder Aufbewahrung<br />

gerichtetes Element in sich tragen (vgl. hierzu Dammann aaO § 3 Rn. 5). Unter Berücksichtigung dessen sind Daten<br />

allgemein zugänglich, die sowohl in ihrer Zielsetzung als auch in ihrer Publikationsform geeignet sind, einem individuell<br />

nicht bestimmbaren Personenkreis Informationen zu vermitteln (Simitis in ders., BDSG, 7. Aufl., § 28 Rn. 151;<br />

vgl. auch BVerfGE 103, 44, 60). Die allgemeine Zugänglichkeit bezieht sich also auf Informationen <strong>und</strong> daher auf<br />

Vorgänge <strong>und</strong> Zustände, die bei einem anderen als demjenigen, auf den sie sich beziehen, schon als Information<br />

vorhanden sind oder zumindest sein könnten. Diese sind dann allgemein zugänglich, wenn "jedermann", ohne rechtlichen<br />

Zugangsbeschränkungen unterworfen zu sein, hierauf zugreifen kann, wie dies z.B. bei Angaben in Massenmedien,<br />

auf Internetseiten oder in Registern der Fall sein kann, die nicht lediglich einem wie auch immer abgegrenzten<br />

Personenkreis zur Verfügung stehen (etwa das Handels- oder das Vereinsregister, vgl. Simitis aaO § 28 Rn. 153<br />

mwN).<br />

58 c) Gemessen an diesen Maßstäben ist die Annahme des Landgerichts, die Angeklagten hätten Daten erhoben, die<br />

nicht allgemein zugänglich waren, im Ergebnis nicht zu beanstanden.<br />

59 Allerdings entfällt die allgemeine Zugänglichkeit entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht allein deswegen,<br />

weil das Erreichen des Aufklärungsziels (Bewegungsprofil im öffentlichen Straßenverkehr), etwa durch bloßes<br />

"Nachfahren", wegen vorhandener Verkehrsdichte etc. allenfalls theoretisch erreichbar gewesen wäre. Maßgebend<br />

für die Beurteilung der "allgemeinen Zugänglichkeit" sind nach dem Vorstehenden rechtliche Zugangsbeschränkungen.<br />

Bereits der Anbringung eines GPS-Empfängers als notwendige technische Voraussetzung für die Gewinnung<br />

der Personenbezug aufweisenden Geodaten an einem fremden Fahrzeug stehen aber gr<strong>und</strong>sätzlich rechtliche Grenzen<br />

entgegen. Dem betroffenen Fahrzeugeigentümer bzw. -besitzer stehen regelmäßig Abwehransprüche (vgl. §§<br />

1004, 859, 862 BGB) gegen die Störung seines Eigentums oder Besitzes zu. Dementsprechend wäre diese Möglichkeit<br />

der Erhebung <strong>und</strong> späteren Verarbeitung von Daten der Allgemeinheit verschlossen.<br />

60 5. Das Landgericht ist jedoch bei der Beurteilung, ob die Handlungen der Angeklagten unbefugt waren, nicht von<br />

einem zutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen. Aufgr<strong>und</strong> dessen hat es nicht in sämtlichen der Verurteilung<br />

gemäß §§ 43, 44 BDSG zugr<strong>und</strong>e liegenden Fällen ein unbefugtes Handeln der Angeklagten rechtsfehlerfrei angenommen.<br />

- 150 -


61 a) Unbefugtes Handeln im Sinne des § 43 Abs. 2 Nr. 1 BDSG liegt vor, wenn nicht Rechtssätze das Verhalten<br />

erlauben (vgl. Ambs in Erbs/Kohlhaas, 164 Lfg., § 43 BDSG Rn. 19; Sokol in Simitis, BDSG, 7. Aufl., § 4 Rn. 3;<br />

Gola/ Schomerus aaO § 43 Rn. 20, 26).<br />

62 Das Datenschutzrecht ist zum Schutze des Rechts des Einzelnen, selbst über die Preisgabe <strong>und</strong> Verwendung seiner<br />

persönlichen Daten zu bestimmen, von dem Gr<strong>und</strong>satz des Verbots mit Erlaubnisvorbehalt geprägt, d.h. die Erhebung,<br />

Speicherung, Verarbeitung <strong>und</strong> Weitergabe personenbezogener Daten ist gr<strong>und</strong>sätzlich verboten (Helfrich in<br />

Hoeren/Sieber, Handbuch Multimedia-Recht, 26. Lfg. Teil 16.1 Rn. 35 mwN). Befugt ist sie nur dann, wenn der<br />

Betroffene wirksam seine Einwilligung erklärt oder wenn das BDSG oder eine andere Rechtsvorschrift eine Erlaubnis<br />

beinhalten oder gar eine Anordnung zur Erhebung, Speicherung, Verarbeitung oder Weitergabe personenbezogener<br />

Daten enthalten. Als Erlaubnissätze kommen neben datenschutzrechtlichen Erlaubnissen auch allgemeine Rechtfertigungsgründe,<br />

wie etwa § 34 StGB, in Betracht.<br />

63 Aufgr<strong>und</strong> seiner Ausgestaltung als gr<strong>und</strong>sätzliches Verbot der Erhebung bzw. Verarbeitung personenbezogener<br />

Daten gehen die im BDSG selbst enthaltenen Erlaubnissätze in der Regel in ihrer Reichweite über diejenigen der<br />

allgemeinen Rechtfertigungsgründe hinaus <strong>und</strong> gewähren damit typischerweise in größerem Umfang die Befugnis, in<br />

das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Betroffenen einzugreifen, als dies nach allgemeinen Rechtfertigungsgründen<br />

der Fall ist.<br />

64 b) Als solche sich aus dem Datenschutzrecht selbst ergebende Erlaubnissätze kamen vorliegend namentlich Rechtfertigungsgründe<br />

nach dem 3. Abschnitt des BDSG in Betracht, der die legislativen Anforderungen an die Verarbeitung<br />

personenbezogener Daten im nichtöffentlichen Bereich konkretisiert (vgl. Simitis aaO § 27 Rn. 1).<br />

65 Dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des den Anwendungsbereich dieses Abschnitts eröffnenden § 27 BDSG<br />

vorlagen, namentlich der Angeklagte H. als Inhaber der Detektei als eine nicht-öffentliche Stelle im Sinne von § 27<br />

Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BDSG handelte <strong>und</strong> die Datenerhebung <strong>und</strong> Verarbeitung nicht im Sinne von § 27 Abs. 1<br />

Satz 2 BDSG ausschließlich für persönliche oder familiäre Tätigkeiten erfolgte, bedarf keiner weiteren Erörterung.<br />

66 c) Als spezifische datenschutzrechtliche Erlaubnisse kommen der vom Tatgericht herangezogene § 28 BDSG oder<br />

aber § 29 BDSG in Betracht. Das Datenschutzrecht grenzt die Anwendungsbereiche der beiden Vorschriften im<br />

rechtlichen Ausgangspunkt danach ab, ob der in Rede stehende Datenumgang zu eigenen Geschäftszwecken (§<br />

28 BDSG) erfolgt oder es sich um eine geschäftsmäßige Datenverarbeitung zur Übermittlung an Dritte (§ 29 BDSG)<br />

handelt. Maßgebend für die Abgrenzung ist dementsprechend die jeweilige Zweckbestimmung. Erweist sich die<br />

Datenverarbeitung für Dritte als Selbstzweck, kann sich eine Erlaubnis zum Umgang mit "fremden" personenbezogenen<br />

Daten aus § 29 BDSG ergeben. Ist die Datenverarbeitung bloßes Hilfsmittel zur Erfüllung anderer Zwecke,<br />

greift dagegen regelmäßig § 28 BDSG als möglicherweise zugunsten der datenverarbeitenden nicht-öffentlichen<br />

Stelle wirkende Befugnisnorm. Diese Gr<strong>und</strong>sätze über das Verhältnis der Anwendungsbereiche von § 28 BDSG<br />

einerseits <strong>und</strong> § 29 BDSG andererseits erlauben allerdings im konkreten Einzelfall nicht ohne weiteres, die als Erlaubnissatz<br />

in Frage kommende datenschutzrechtliche Vorschrift zu bestimmen. Demensprechend wird die Anwendbarkeit<br />

der beiden in Betracht kommenden Vorschriften auf die mit der Erhebung bzw. Verarbeitung personenbezogener<br />

Daten verb<strong>und</strong>ene überwachende Tätigkeit von Detektiven in der datenschutzrechtlichen Literatur auch nicht<br />

einheitlich beurteilt.<br />

67 aa) Wird ein Detektiv damit beauftragt, gegen eine natürliche Person Ermittlungen anzustellen, so sammelt <strong>und</strong><br />

verwendet der Detektiv "gewerblich" personenbezogene Daten der überwachten Personen, um sie seinem Auftraggeber,<br />

also Dritten, gegen Entgelt weiterzugeben (vgl. Kloepfer/Kutzschbach, MMR 1998, 650). Die observierende<br />

Tätigkeit des Detektivs <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>ene Datenumgang stellt sich, obwohl für die Zwecke des Auftraggebers<br />

erfolgend, für den Detektiv wegen des eigenen verfolgten wirtschaftlichen Zwecks der Auftragserfüllung als<br />

Selbstzweck dar. Diese Tätigkeit ist auch auf Wiederholung ausgerichtet.<br />

68 Konkret auftragsbezogene Observationstätigkeit eines Detektivs bzw. der damit einhergehende Umgang mit<br />

personenbezogenen Daten der überwachten Personen könnte sich daher als geschäftsmäßige Datenverarbeitung zur<br />

Übermittlung im Sinne von § 29 BDSG erweisen. Als Erlaubnisvorschrift in Fällen der vorliegenden Art käme dann<br />

§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BDSG in Betracht. Der Angeklagte würde hiernach befugt handeln, wenn für ihn kein<br />

Gr<strong>und</strong> zu der Annahme besteht, dass die überwachte Person ein schutzwürdiges Interesse an dem Ausschluss der<br />

Erhebung, Speicherung oder Veränderung seiner Daten hat.<br />

69 bb) Gegen eine Anwendung des § 29 BDSG wird allerdings vorgebracht, dass konkret auftragsbezogene Ermittlungstätigkeiten<br />

eines Detektivs bei vorausschauender Betrachtungsweise - anders als dies etwa bei eindeutig von §<br />

29 BDSG erfassten Tätigkeiten klassischer Auskunfteien der Fall ist - nicht darauf gerichtet seien, Daten in einer<br />

- 151 -


Vielzahl von Fällen zu übermitteln (vgl. Duhr in Roßnagel, Handbuch Datenschutzrecht, 7.5 Rn. 6; Ehmann in Simitis,<br />

BDSG, 7. Aufl., § 29 Rn. 97; Bergmann/Möhrle/Herb, BDSG, 41. Lfg., § 29 Rn. 38; aA ohne nähere Begründung<br />

Gola/Schomerus aaO § 29 Rn. 8; Fricke, VersR 2010, 308, 313; vgl. auch LG Lüneburg, Beschluss vom 28.<br />

März 2011 - 26 Qs 45/11; Maisch/Seidl, jurisPR-ITR 1/2012 Anm. 2). Bei einem Detektiv wäre die Zulässigkeit der<br />

Verarbeitung personenbezogener Daten der beobachteten Personen stattdessen anhand von § 28 Abs. 1 Satz 1<br />

Nr. 2 BDSG zu prüfen. Dieser Datenumgang wäre ihm auf der Gr<strong>und</strong>lage dieser Vorschrift gestattet, wenn er zur<br />

Wahrung berechtigter Interessen des Detektivs erforderlich wäre <strong>und</strong> kein Gr<strong>und</strong> zur Annahme bestünde, dass das<br />

schutzwürdige Interesse des Betroffenen an dem Ausschluss der Verarbeitung oder Nutzung überwiegt.<br />

70 cc) Der Senat braucht im Ergebnis nicht zu entscheiden, ob die Befugnis zu konkret auftragsbezogener Ermittlungstätigkeit<br />

von Detekteien in Fällen der vorliegenden Art anhand der sich aus § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BDSG oder<br />

anhand der sich aus § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BDSG ergebenden, nach dem Wortlaut der Vorschriften divergierenden<br />

Abwägungsmaßstäbe zu beurteilen ist. Beide gr<strong>und</strong>sätzlich in Betracht kommende Erlaubnissätze müssen im Hinblick<br />

auf die Voraussetzungen einer Befugnis zum Umgang mit "fremden" personenbezogenen Daten anhand der<br />

unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 7 lit. f) der am 13. Dezember 1995 in Kraft getretenen Richtlinie 95/46/EG des<br />

Europäischen Parlaments <strong>und</strong> des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung<br />

personenbezogener Daten <strong>und</strong> zum freien Datenverkehr (ABl. EG 1995 Nr. L 281 S. 31; im Folgenden: Datenschutzrichtlinie)<br />

ausgelegt werden. Um diese Auslegung anhand der Datenschutzrichtlinie vornehmen zu können,<br />

bedarf es keiner Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) bezüglich des Verständnisses von<br />

Art. 7 lit. f) der Richtlinie selbst. Der EuGH hat mit Urteil vom 24. November 2011 (verb<strong>und</strong>ene Rechtssachen C-<br />

468/10, C-469/10, LS veröffentlicht in ABl. EG 2012 Nr. C 25 S. 18, EuZW 2012, 37 [EuGH 24.11.2011 - Rs. C-<br />

468/10; C-469/10]) die Bestimmung der Richtlinie eindeutig ausgelegt. Auf der Gr<strong>und</strong>lage dieser Rechtsprechung,<br />

die sich als gesicherte Rechtsprechung zu der hier relevanten Rechtsfrage der aus dem Unionsrecht resultierenden<br />

Befugnis zur Datenverarbeitung erweist (acte éclairé), vermag der Senat die Auslegung des nationalen Rechts selbst<br />

vorzunehmen.<br />

71 (1) Art. 7 lit. f) der Datenschutzrichtlinie erklärt eine Verarbeitung personenbezogener Daten u.a. für rechtmäßig,<br />

wenn sie erforderlich ist "zur Verwirklichung des berechtigten Interesses, das von dem für die Verarbeitung Verantwortlichen<br />

oder von dem bzw. den Dritten wahrgenommen wird, denen die Daten übermittelt werden, sofern nicht<br />

das Interesse oder die Gr<strong>und</strong>rechte <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>freiheiten der betroffenen Person, die gemäß Art. 1 Abs. 1 (der Datenschutzrichtlinie)<br />

geschützt sind, überwiegen".<br />

72 Abweichend von dem Wortlaut von § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BDSG erfordert Art. 7 lit. f) der Datenschutzrichtlinie,<br />

in die Interessenabwägung nicht lediglich die berechtigten Interessen des Datenverarbeitenden, sondern auch die<br />

Interessen von Dritten, die als Empfänger der Daten in Betracht kommen, einzubeziehen. Zudem schließt Art. 7 lit. f)<br />

der Datenschutzrichtlinie eine Befugnis zur Verarbeitung "fremder" personenbezogener Daten erst dann aus, wenn<br />

die Interessen des davon Betroffenen gegenüber den Interessen desjenigen, der die Daten verarbeitet, überwiegen.<br />

Dagegen führen nach dem Wortlaut von § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BDSG bereits entgegenstehende Interessen des<br />

Betroffenen zu einer Unzulässigkeit der Datenerhebung bzw. -verarbeitung (vgl. hierzu Schaffland/Wiltfang, BDSG,<br />

Lfg. 5/12, § 29 Rn. 8). Diese ist danach bereits dann unzulässig, wenn die Interessen des Betroffenen diejenigen des<br />

Datenverarbeitenden nicht überwiegen.<br />

73 Das nationale Recht darf allerdings jedenfalls im Verhältnis zwischen dem auf der Gr<strong>und</strong>lage von § 44 BDSG<br />

(möglicherweise) strafenden Staat <strong>und</strong> dem von Strafe bedrohten "Datenverarbeiter" nicht hinter den durch Art. 7 lit.<br />

f) der Datenschutzrichtlinie gewährten Befugnissen zur Verarbeitung personenbezogener Daten der Betroffenen<br />

zurückbleiben. Dabei ist es für die Anwendung der Erlaubnissätze des nationalen Datenschutzrechts jedenfalls in<br />

ihrer Bedeutung als strafrechtliche Rechtfertigungsgründe unerheblich, ob in die Interessenabwägung gemäß § 28<br />

Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BDSG die Interessen von Dritten, hier der Auftraggeber des Angeklagten, einbezogen werden<br />

oder auf der Gr<strong>und</strong>lage von § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BDSG, der solche Drittinteressen ohnehin berücksichtigt, die<br />

Interessenabwägung anhand des durch die Datenschutzrichtlinie vorgegebenen Maßstabs ("Überwiegen der Interessen<br />

des Betroffenen") erfolgt. Auf beiderlei Weise trägt das nationale Recht dem insoweit bindenden Unionsrecht<br />

vollumfänglich Rechnung.<br />

74 (2) Nach der Rechtsprechung des EuGH enthält Art. 7 lit. f) der Richtlinie 95/46/EG "inhaltlich unbedingte <strong>und</strong><br />

hinreichend genau(e)" Vorgaben, um selbst im Fall fehlender oder fehlerhafter Vorschriften der Mitgliedstaaten<br />

unmittelbar anwendbar zu sein, so dass sich der Einzelne direkt auf diese Bestimmung der Richtlinie berufen dürfte<br />

(vgl. hierzu EuGH aaO Rn. 51 f.). Nach Maßgabe der verbindlichen Auslegung von Art. 7 lit. f) der Datenschutz-<br />

- 152 -


ichtlinie durch den EuGH (aaO) ergeben sich für Fälle der auftragsbezogenen Detektivarbeit folgende Maßstäbe der<br />

Zulässigkeit (Befugnis) damit einhergehender Verarbeitung personenbezogener Daten:<br />

75 (a) Die Zulässigkeit der Datenverarbeitung erfordert zum einen, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten zur<br />

Verwirklichung des von dem Detektiv oder dessen Auftraggeber wahrgenommenen berechtigten Interesses erforderlich<br />

ist, <strong>und</strong> zum anderen, dass die Gr<strong>und</strong>rechte <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>freiheiten der von der Observation betroffenen Person<br />

nicht überwiegen.<br />

76 (b) Auf Seiten des von der Observation Betroffenen sind sämtliche in Art. 7 <strong>und</strong> Art. 8 der Charta der Gr<strong>und</strong>rechte<br />

der Europäischen Union (nachfolgend: GrCh) gewährleisteten Interessen einzustellen. Erfasst sind damit sowohl das<br />

Recht des Betroffenen auf Schutz der ihn betreffenden personenbezogenen Daten (Art. 8 GrCh) als auch sein Recht<br />

auf Schutz seiner Privatsphäre (Art. 7 GrCh). Auch vor dem Inkrafttreten der Gr<strong>und</strong>rechtecharta wurden diese Rechte<br />

im Kontext des Datenschutzes bereits (zumindest) sek<strong>und</strong>ärrechtlich durch die Datenschutzrichtlinie gewährleistet<br />

(vgl. Art. 1 Abs. 1 der Datenschutzrichtlinie).<br />

77 (c) Stammen die verarbeiteten Daten - wie hier - aus nicht öffentlich zugänglichen Quellen, ist zu berücksichtigen,<br />

dass der Detektiv <strong>und</strong> sein Auftraggeber zwangsläufig Informationen über die Privatsphäre der betroffenen Person<br />

erlangen. Diese schwerwiegendere Beeinträchtigung der verbürgten Rechte der betroffenen Person ist zu berücksichtigen,<br />

indem sie gegen das berechtigte Interesse, das von dem für die Verarbeitung Verantwortlichen oder von dem<br />

bzw. den Dritten wahrgenommen wird, denen die Daten übermittelt werden, im Einzelfall abgewogen wird. Dies<br />

bedeutet, dass sämtliche Rechtspositionen des von der Observation Betroffenen, die der Privatsphäre zuzuordnen<br />

sind, zu gewichten <strong>und</strong> in die Abwägung einzustellen sind.<br />

78 d) Nach diesen Vorgaben ist eine umfassende Abwägung der gegenläufigen Interessen vorzunehmen.<br />

79 Entgegen der von dem Tatgericht vertretenen Rechtsauffassung darf eine Abwägung mit den Interessen des Detektivs<br />

bzw. seines Auftraggebers in Fällen des Einsatzes von Mitteln, die im Anwendungsbereich der Strafprozessordnung<br />

der Vorschrift des § 100h StPO unterfallen, nicht lediglich dann vorgenommen werden, wenn die Voraussetzungen<br />

für einen staatlichen Ermittlungseingriff gemäß § 100h Abs. 1 StPO vorgelegen hätten. Eine solche Beschränkung<br />

der auf der Gr<strong>und</strong>lage von § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BDSG oder § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BDSG vorzunehmenden<br />

Abwägung wird den unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 7 lit. f) der Datenschutzrichtlinie nicht ausreichend<br />

gerecht. Sie ist aber auch im System des nationalen Rechts nicht tragfähig. Sie machte insoweit die Informationsgewinnung<br />

durch Private von tatsächlichen <strong>und</strong> rechtlichen Voraussetzungen abhängig, die lediglich für den Staat<br />

<strong>und</strong> seine Organe, nicht aber für den privaten Bürger gelten.<br />

80 aa) Die Unvereinbarkeit der vom Tatgericht vorgenommenen Auslegung von § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BDSG mit der<br />

Datenschutzrichtlinie ergibt sich bereits daraus, dass die Zulässigkeit der Datenverarbeitung an Kriterien geknüpft<br />

würde, die das Datenschutzrecht der Union nicht vorsieht. Eine Erhöhung der Zulässigkeitsanforderungen im Recht<br />

der Mitgliedstaaten gegenüber der Richtlinie schließt die Rechtsprechung des EuGH aber gerade aus (EuGH aaO<br />

Rn. 45 f.).<br />

81 bb) Auf der Ebene des nationalen Rechts kann das Verhalten Privater nicht an den tatbestandlichen Voraussetzungen<br />

der Beweiserhebungsvorschriften der StPO gemessen werden. Privatpersonen sind gr<strong>und</strong>sätzlich nicht Adressaten<br />

dieser Normen (Eisele, Compliance <strong>und</strong> Datenschutzrecht, S. 56; Weißgerber, NZA 2003, 1005, 1007; siehe auch<br />

Kaspar, GA 2013, 206, 208; Greeve, StraFo 2013, 89). Die StPO beschränkt hoheitliches Handeln (vgl. Kubiciel GA<br />

2013, 226, 228; Fricke, VersR 2010, 308, 309) <strong>und</strong> schützt den Bürger vor staatlicher Willkür. Der Gedanke, dass<br />

staatliche Einrichtungen für ihr Handeln gr<strong>und</strong>sätzlich einer Ermächtigung bedürfen, ist auf Private nicht unmittelbar<br />

übertragbar (vgl. Kaspar, GA 2013, 206, 208 f.; Kubiciel GA 2013, 226, 227 f.).<br />

82 Die berechtigten Interessen des Detektivs bzw. seines Auftraggebers an der Datenverarbeitung müssen daher auch<br />

dann einer Abwägung mit den Interessen des Betroffenen zugänglich sein, wenn es nicht um die Aufklärung von<br />

Straftaten besonderer Bedeutung im Sinne von § 100h Abs. 1 Satz 2 StPO handelt.<br />

83 e) Die Abwägung der gegenläufigen Interessen setzt das tatsächliche Bestehen berechtigter Interessen des Detektivs<br />

bzw. seines Auftraggebers an der Datenverarbeitung - bezogen auf den Zeitpunkt ex-ante bei Vornahme der Datenerhebung<br />

bzw. Datenverarbeitung - voraus.<br />

84 Dient etwa die Datenverarbeitung der Erstellung eines Bewegungsprofils, so müssen daher Anhaltspunkte dafür<br />

bestehen, dass ein berechtigtes Interesse gerade an einem solchen Bewegungsprofil bzw. an seiner Erstellung zur<br />

Durchsetzung berechtigter Interessen besteht. Art. 7 lit. f) der Datenschutzrichtlinie bringt diesen Zusammenhang<br />

mit dem Abstellen auf die Erforderlichkeit der Datenverarbeitung zur Durchsetzung berechtigter Interessen zum<br />

Ausdruck.<br />

- 153 -


85 Beweisführungsinteressen zur Klärung des Vorliegens von zivilrechtlichen Ansprüchen oder zu deren Durchsetzung<br />

(Vollstreckung) können dabei zwar, anders als bloße Neugier oder rein negative Interessen (wie etwa in den Fällen 1<br />

bis 12 der Urteilsgründe), unter bestimmten weiteren Voraussetzungen ein berechtigtes Interesse an der Datenverarbeitung<br />

begründen. Dies gilt aber nur dann, wenn gerade das Bewegungsprofil zur Durchsetzung des Beweisführungsinteresses<br />

benötigt wird. Es bedarf also einer Konnexität zwischen den Interessen des Detektivs bzw. seines<br />

Auftraggebers an dem Bewegungsprofil <strong>und</strong> den Interessen des von der Observation Betroffenen am Schutze seiner<br />

Privatsphäre, weil ansonsten eine Abwägung der einander gegenüberstehenden Interessen nicht stattfinden kann (vgl.<br />

auch BGH, Urteil vom 15. Dezember 1983 - III ZR 207/82, NJW 1984, 1889 ff.; Schaffland/Wiltfang, aaO Lfg.<br />

1/12, § 28 Rn. 89).<br />

86 f) Ob die Interessen des Betroffenen am Schutz seiner Privatsphäre <strong>und</strong> "seiner" (personenbezogenen) Daten<br />

überwiegen, ist eine Frage des Einzelfalls, die durch den Tatrichter zu beantworten ist. Das Revisionsgericht kann in<br />

Fällen, in denen ein unterschiedliches Ergebnis der Würdigung vertretbar wäre, die vom Tatrichter vorgenommene<br />

Würdigung nicht durch eine eigene ersetzen. Es ist vielmehr auf die Prüfung beschränkt, ob der Tatrichter die in die<br />

Abwägung einzubeziehenden Gesichtspunkte gesehen <strong>und</strong> einen rechtlich zutreffenden Abwägungsmaßstab angelegt<br />

hat. Dementsprechend kann das Revisionsgericht im Gr<strong>und</strong>satz auch nicht eine durch den Tatrichter unterbliebene<br />

Abwägung selbst nachholen (BGH, Beschluss vom 17. August 1999 - 1 StR 390/99, NStZ 1999, 607). Etwas anderes<br />

gilt aber dann, wenn auf der Gr<strong>und</strong>lage der getroffenen Feststellungen ohnehin lediglich ein rechtlich vertretbares<br />

Ergebnis möglich ist (vgl. BGH, Urteil vom 14. März 2003 - 2 StR 239/02).<br />

87 Bei dem Einsatz von GPS-Empfängern zu Observationszwecken bedarf es im Hinblick auf die vorgenannten<br />

Maßstäbe regelmäßig der Berücksichtigung der folgenden, teils gegenläufigen Gesichtspunkte:<br />

88 aa) Einerseits sind die Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht des Observierten durch den Einsatz von GPS-Sendern<br />

zunächst weniger schwerwiegend als etwa durch das heimliche Abhören des gesprochenen Wortes (vgl. BVerfG,<br />

Urteil vom 12. April 2005 - 2 BvR 581/01, BVerfGE 112, 304; vgl. auch EGMR, Urteil vom 2. September 2010 -<br />

Beschwerde-Nr. 35623/05, NJW 2011, 1333, 1335 Rn. 52). Dennoch reicht auch hier ein "schlichtes" Beweisführungsinteresse<br />

des Auftraggebers nicht aus, um den Eingriff in die Rechte des vom GPS-Einsatz Betroffenen zu<br />

gestatten.<br />

89 Nach der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts <strong>und</strong> der neueren Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs<br />

genügt in Fällen, in denen das von Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG - u.a. - geschützte Recht am gesprochenen<br />

Wort beeinträchtigt ist, das stets bestehende "schlichte" Interesse, sich ein Beweismittel für zivilrechtliche Ansprüche<br />

zu sichern, nicht, um bei der Güterabwägung trotz Verletzung des Persönlichkeitsrechts der anderen Prozesspartei<br />

zu einer Schutzbedürftigkeit des Beweisführungsinteresses zu gelangen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 9. Oktober<br />

2002 - 1 BvR 1611/96, 805/98, BVerfGE 106, 28 unter C.II.4.a.bb; BGH, Urteile vom 17. Februar 2010 - VIII ZR<br />

70/07, NJW-RR 2010, 1289, 1292; <strong>und</strong> vom 20. Mai 1958 - VI ZR 104/57, BGHZ 27, 284, 290). Die Rechtsprechung<br />

verweist insoweit auf notwehrähnliche Situationen, die für eine beweisbelastete Person im Zivilprozess bestehen<br />

können, wenn die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts aus schwerwiegenden Gründen mangels anderer in<br />

Betracht kommender Beweismittel im Interesse einer wirksamen Rechtspflege erforderlich ist (vgl. BVerfG aaO;<br />

BGH, Urteile vom 18. Februar 2003 - XI ZR 165/02, NJW 2003, 1727 unter II.1. <strong>und</strong> 2. mwN; vom 13. Oktober<br />

1987 - VI ZR 83/87, BGHR BGB § 1004 Abs. 1 Satz 1 Abwehranspruch 2; vom 24. November 1981 - VI ZR<br />

164/79, NJW 1982, 277, 278; vom 20. Mai 1958 - VI ZR 104/57, BGHZ 27, 284, 290; vgl. auch Fischer, StGB, 60.<br />

Aufl., § 201 Rn. 11; kritisch Schünemann in Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl., § 201 Rn. 40; Lenckner/Eisele<br />

in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 201 Rn. 32).<br />

90 Es müssen jedenfalls in diesen Fällen neben dem allgemeinen Beweisführungsinteresse weitere Gesichtspunkte<br />

hinzutreten, die das Interesse an der Beweiserhebung trotz der Verletzung des Persönlichkeitsrechts als schutzbedürftig<br />

erscheinen lassen. So kann etwa die Anfertigung heimlicher Tonbandaufnahmen zur Feststellung der Identität<br />

eines anonymen Anrufers (vgl. BGH, Urteil vom 24. November 1981 - VI ZR 164/79, BGH NJW 1982, 277 ff.) oder<br />

zur Feststellung erpresserischer Drohungen (BGH, Urteil vom 20. Mai 1958 - VI ZR 104/57, BGHZ 27, 284) oder<br />

im Fall eines auf andere Weise nicht abwehrbaren Angriffs auf die berufliche Existenz (vgl. hierzu BGH, Urteil vom<br />

27. Januar 1994 - I ZR 326/91, NJW 1994, 2289, 2292 f.) hinzunehmen sein, wenn nicht durch andere, weniger belastende<br />

Methoden der Sachverhalt anderweit aufgeklärt werden kann.<br />

91 bb) Die von der Rechtsprechung geforderten erhöhten Anforderungen sind jedoch nicht auf Fälle der Beeinträchtigung<br />

des Rechts am gesprochenen Wort beschränkt. Auch bei anderweitigen ähnlich gewichtigen Beeinträchtigungen<br />

des Persönlichkeitsrechts gelten vergleichbare Maßstäbe (vgl. BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2007 - 1 BvR<br />

- 154 -


421/05, BVerfGE 117, 202 Rn. 96 zu heimlichen Vaterschaftstests; vgl. auch die Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esarbeitsgerichts<br />

zur verdeckten Videoüberwachung am Arbeitsplatz: zuletzt BAG, Urteil vom 21. Juni 2012 - 2 AZR<br />

153/11 unter III.1.a. <strong>und</strong> b.; vgl. auch BAG, Beschluss vom 14. Dezember 2004 - 1 ABR 34/03; sowie Landesarbeitsgericht<br />

Düsseldorf, Beschluss vom 7. März 2012 - 4 TaBV 87/11).<br />

92 cc) Werden aus Gründen der Beweisführung Detektive zur Observation eingesetzt, so kann das Beweisführungsinteresse<br />

die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts des Observierten etwa dann zulässig machen, wenn ein konkreter<br />

Verdacht gegen diesen besteht, die detektivische Tätigkeit zur Klärung der Beweisfrage erforderlich ist <strong>und</strong> nicht<br />

andere, mildere Maßnahmen als genügend erscheinen (vgl. OLG Köln, Urteil vom 3. August 2012 - I-20 U 98/12,<br />

20 U 98/12; vgl. auch BGH, Urteil vom 20. Mai 2009 - IV ZR 274/06 mwN; zu den Maßstäben der Pflicht des Observierten<br />

zur Übernahme der Detektivkosten vgl. auch BAG, Urteil vom 28. Oktober 2010 - 8 AZR 547/09 mwN;<br />

OLG Karlsruhe, Urteil vom 23. September 2009 - 6 U 52/09, OLG Düsseldorf, Beschluss vom 24. Februar 2009 - II-<br />

10 WF 34/08; vgl. auch OLG Oldenburg, Beschluss vom 20. Mai 2008 - 13 WF 93/08; Zöller, ZPO, 29. Aufl., §<br />

91 Rn. 13 [Sb. Herget] sowie § 788 Rn. 13 [Sb. Stöber] zum Stichwort Detektivkosten jew. mwN).<br />

93 dd) In den Fällen des Einsatzes von GPS-Empfängern zum Zwecke der Erstellung eines Bewegungsprofils darf<br />

schließlich die Art <strong>und</strong> Weise der Datenerhebung <strong>und</strong> -verarbeitung nicht unberücksichtigt bleiben. Eine qualitativ<br />

schwerwiegende Beeinträchtigung der Privatsphäre des Observierten liegt nämlich vor, wenn mit der Anbringung<br />

eines GPS-Empfängers ein Eindringen in befriedetes Besitztum des zu Observierenden verb<strong>und</strong>en ist (Beispiel: Der<br />

GPS-Empfänger wird am Fahrzeug angebracht, indem sich unberechtigt Zutritt zu Tiefgaragen verschafft wird).<br />

Gleiches gilt, wenn das Observationsmittel an Fahrzeugen angebracht wird, die für den Detektiv bzw. dessen Auftraggeber<br />

eigentumsrechtlich fremd bzw. nicht auf diese zugelassen sind. Es werden dann zwangsläufig auch wesentlich<br />

mehr Vorgänge aufgezeichnet, die in die Privatsphäre des Fahrzeugführers erheblicher eingreifen, als dies etwa<br />

der Fall wäre, wenn beispielsweise der Eigentümer an seinem eigenen Fahrzeug einen GPS-Empfänger anbringen<br />

ließe. In solchen Fällen müssen daher die den Interessen des Observierten gegenüberstehenden Interessen des Detektivs<br />

bzw. seines Auftraggebers umso höher sein, um die Datenverarbeitung rechtfertigen zu können (vgl. EuGH, aaO<br />

Rn. 44 f.). Gleiches gilt, wenn von den Observationsmaßnahmen unbeteiligte Dritte betroffen sind.<br />

94 Im Übrigen ist es eine Frage des Einzelfalls, inwieweit Erkenntnisse darüber, wann <strong>und</strong> wo sich eine Person mit dem<br />

Fahrzeug aufgehalten hat, geeignet sein können, die angestrebte Beweisführung (etwa zu finanziellen Fragen) wesentlich<br />

zu erleichtern.<br />

95 g) Die Strafkammer hat derartige Abwägungen - von ihrem rechtlichen Ausgangspunkt aus konsequent - für keinen<br />

der verfahrensgegenständlichen Fälle vorgenommen. Das erweist sich für die aus dem Tenor ersichtlichen Fälle der<br />

Verurteilung der Angeklagten als rechtsfehlerhaft. In den nicht der Aufhebung im Schuldspruch unterliegenden Fällen<br />

boten die insoweit rechtsfehlerfreien <strong>und</strong> ausreichenden Feststellungen dagegen keine Veranlassung, eine aus den<br />

genannten datenschutzrechtlichen Vorschriften resultierende Befugnis der Angeklagten zur Überwachung der betroffenen<br />

Fahrzeuge <strong>und</strong> der damit einhergehenden Erhebung bzw. Verarbeitung personenbezogener Daten in Erwägung<br />

zu ziehen.<br />

96 Für die einzelnen Fälle der Urteilsgründe ergeben sich folgende Konsequenzen:<br />

97 aa) Fälle 1 bis 12 der Urteilsgründe:<br />

98 Hier ging es den Auftraggebern der Angeklagten um die Verfolgung "illegaler" Zwecke - letztlich um die Ermöglichung<br />

wenigstens von Nötigungshandlungen. Denn das erhoffte "kompromittierende Material" sollte allein dazu<br />

dienen, die Zielpersonen von ihren gesetzlichen bzw. satzungsmäßigen Aufträgen abzuhalten oder ihr berufliches<br />

Verhalten durch Erkenntnisse über ihr berufliches oder ihr Privatleben im Sinne der Auftraggeber des Angeklagten<br />

zu beeinflussen.<br />

99 bb) Fälle 18, 20 bis 22, 28 der Urteilsgründe:<br />

100 Bei den entsprechenden Taten beschränkte sich das Interesse der jeweiligen Auftraggeber, ohne dass bereits<br />

gerichtliche Verfahren, etwa Unterhaltsrechtsstreitigkeiten, im Raume gestanden hätten, auf die Aufklärung über die<br />

Treue des eigenen Ehegatten (Fälle 18 <strong>und</strong> 22), des Lebensgefährten (Fall 28) oder der Schwiegertochter (Fälle 20<br />

<strong>und</strong> 21). In diesen Fällen ist ausgeschlossen, dass die unterbliebene Abwägung dazu geführt hätte, den Einsatz eines<br />

GPS-Empfängers als gerechtfertigt anzusehen.<br />

101 Da auch im Übrigen Rechtsfehler nicht ersichtlich sind, hat der Schuldspruch in diesen Fällen Bestand. Dies wird<br />

durch den von der Revision vorgebrachten urteilsfremden Vortrag zu Lebenssachverhalten, die einzelnen Observationsmaßnahmen<br />

zu Gr<strong>und</strong>e gelegen hätten, nicht in Frage gestellt.<br />

102 cc) Fälle 13 bis 17, 19, 23 bis 27 sowie 29 der Urteilsgründe:<br />

- 155 -


103 In den verbleibenden Fällen ging es den Auftraggebern um die Wahrung finanzieller Interessen. Der Senat, dem<br />

eine eigene Beweiswürdigung verwehrt ist, kann nach den bisherigen Feststellungen nicht ausschließen, dass sich<br />

weitere Erkenntnisse ergeben können, die ein durch die Erstellung von Bewegungsprofilen zu bedienendes Beweisführungsinteresse<br />

<strong>und</strong> daraus resultierend im Rahmen der gebotenen Abwägung eine Befugnis zur Erhebung <strong>und</strong><br />

Verarbeitung der personenbezogenen Daten ergeben können. Um dem Tatrichter zu ermöglichen, in jedem dieser<br />

Fälle einheitliche <strong>und</strong> in sich geschlossene Feststellungen zu treffen, hebt der Senat in diesen Fällen auch die Feststellungen<br />

auf.<br />

104 h) Weitergehende Befugnisse zu der Vornahme der gemäß § 44 Abs. 1 i.V.m. § 43 Abs. 2 Nr. 1 BDSG straftatbestandsmäßigen<br />

Datenerhebung bzw. -verarbeitung als die durch die vorstehend erörterten datenschutzrechtlichen<br />

Erlaubnissätze auf der Gr<strong>und</strong>lage anderer Rechtfertigungsgründe kommen vorliegend nicht in Betracht.<br />

II.<br />

105 Entgegen dem Vorbringen der Revision hatte das Landgericht keinen Anlass, der Möglichkeit einer Strafmilderung<br />

nach §§ 17, 49 Abs. 1 StGB näher zu treten. Nach den Feststellungen rechneten die Angeklagten zumindest damit,<br />

dass die "GPS-Einsätze" ungerechtfertigt gewesen sein könnten. Für die Annahme eines § 17 StGB unterfallenden<br />

sog. Erlaubnisirrtums bezüglich einer sich aus datenschutzrechtlichen oder sonstigen Erlaubnissätzen ergebenden<br />

Befugnis war daher kein Raum.<br />

III.<br />

106 Die Aufhebung des Schuldspruchs in den Fällen 13 bis 17, 19, 23 bis 27 <strong>und</strong> 29 der Urteilsgründe - hiervon ist mit<br />

Ausnahme der Fälle 19, 25 <strong>und</strong> 29 der Urteilsgründe auch der Angeklagte K. betroffen - zieht bei beiden Angeklagten<br />

die Aufhebung des Ausspruchs über die jeweilige Gesamtstrafe nach sich. Anhaltspunkte dafür, dass die Einzelstrafen<br />

in den Fällen, in denen der Schuldspruch Bestand hat, durch die Fälle, in denen der Schuldspruch keinen<br />

Bestand haben kann, zum Nachteil der Angeklagten beeinflusst sind, bestehen nicht. Da die Einzelstrafen auch ansonsten<br />

rechtsfehlerfrei festgesetzt sind, können sie daher Bestand haben.<br />

E.<br />

107 Sollte das neue Tatgericht auf der Gr<strong>und</strong>lage seiner Feststellungen bei Anwendung der vorstehend dargestellten<br />

Gr<strong>und</strong>sätze über eine mögliche Befugnis zu der hier vorliegenden Datenerhebung bzw. -verarbeitung im Einzelfall<br />

von einem erlaubten Vorgehen der Angeklagten ausgehen, wird es auch die Notwendigkeit eines subjektiven Rechtfertigungselements<br />

(häufig sog. Rechtfertigungsvorsatz) in den Blick zu nehmen haben. Bei Heranziehung der einschlägigen<br />

datenschutzrechtlichen Bestimmungen als im Strafrecht wirkende Rechtfertigungsgründe bedarf es eines<br />

solchen Elements stets. Dieses verlangt wenigstens, dass dem Täter die rechtfertigenden Gründe bekannt sein <strong>und</strong><br />

sich im Motiv seines Handelns niedergeschlagen haben müssen (BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2010 - 1 StR<br />

57/10, BGHSt 56, 11, 22 Rn. 32 mwN).<br />

BtMG § 029 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 29a Abs. 1 Nr. 2 Begriff der nicht geringen Menge<br />

BGH, Urt. v. 20.12.2012 – 3 StR 407/12 - NJW 2013, 1318<br />

LS: Bei einem auf spätere Veräußerung zielenden Anbau von Cannabispflanzen ist für die Abgrenzung<br />

des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG) vom Handeltreiben<br />

mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG) die Menge maßgeblich,<br />

die mit der bereits begonnenen Aufzucht der Pflanzen letztlich erzielt <strong>und</strong> gewinnbringend<br />

veräußert werden soll.<br />

1. Auf die Revisionen der Angeklagten <strong>und</strong> der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom<br />

27. Februar 2012 aufgehoben <strong>und</strong> das Verfahren eingestellt, soweit die Angeklagten jeweils hinsichtlich der sichergestellten<br />

letzten Anpflanzungen verurteilt worden sind; insoweit fallen die Kosten des Verfahrens <strong>und</strong> die notwendigen<br />

Auslagen der Angeklagten der Staatskasse zur Last.<br />

2. Soweit die Angeklagten im Übrigen verurteilt worden sind, wird das Urteil mit den zugehörigen Feststellungen<br />

aufgehoben<br />

a) auf die Revision der Staatsanwaltschaft,<br />

b) auf die Revisionen der Angeklagten T. sowie P. insofern, als diese wegen der Taten 3. bis 8. verurteilt worden<br />

sind, <strong>und</strong><br />

- 156 -


c) auf die Revisionen der Angeklagten S. sowie Sch. in dem diese jeweils betreffenden Umfang.<br />

3. Die weitergehenden Revisionen der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> der Angeklagten T. , P. sowie Y. werden verworfen.<br />

4. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der<br />

Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat - nach der Entscheidungsformel seines Urteils -<br />

- die Angeklagten T. <strong>und</strong> P. wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sieben Fällen<br />

<strong>und</strong> Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu Gesamtfreiheitsstrafen von jeweils drei Jahren <strong>und</strong> elf Monaten,<br />

- den Angeklagten S. wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in fünf<br />

Fällen <strong>und</strong> Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren,<br />

- den Angeklagten Y. wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in fünf<br />

Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Monaten <strong>und</strong><br />

- die Angeklagte Sch. wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sechs<br />

Fällen <strong>und</strong> Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten<br />

verurteilt. Die Vollstreckung der gegen die Angeklagten S. , Y. <strong>und</strong> Sch. verhängten Strafen hat es ebenso zur Bewährung<br />

ausgesetzt wie die Vollstreckung der gegen den Angeklagten S. zudem angeordneten Unterbringung in<br />

einer Entziehungsanstalt. Ferner hat es gegen die Angeklagten T. <strong>und</strong> P. gesamtschuldnerisch den Verfall von Wertersatz<br />

in Höhe von 48.600 € angeordnet. Schließlich hat es die Angeklagten von weiteren Tatvorwürfen freigesprochen.<br />

Die Staatsanwaltschaft stützt ihre zuungunsten der Angeklagten eingelegte Revision auf eine Verfahrensrüge<br />

<strong>und</strong> die Sachrüge. Sie wendet sich gegen die Freisprüche <strong>und</strong> beanstandet zudem vor allem, dass die Angeklagten P.<br />

, T. <strong>und</strong> S. nicht wegen bandenmäßiger Begehungsweise verurteilt wurden. Die gegen die Verurteilungen gerichteten<br />

Revisionen der Angeklagten rügen jeweils die Verletzung materiellen Rechts, die Angeklagten P. , T. <strong>und</strong> S. erheben<br />

zudem zwei identische Verfahrensrügen. Die Revisionen der Angeklagten Sch. <strong>und</strong> S. haben insgesamt Erfolg, die<br />

übrigen Revisionen jeweils nur in dem sich aus der Urteilsformel ergebenden Umfang.<br />

A. Das Landgericht hat im Wesentlichen die folgenden Feststellungen <strong>und</strong> Wertungen getroffen: Die Angeklagten T.<br />

<strong>und</strong> P. mieteten unter fremden Namen von der Angeklagten Sch. in H. eine Wohnung (Nr. 106) an, um darin Cannabispflanzen<br />

anzubauen <strong>und</strong> das geerntete Cannabis zur Aufbesserung ihrer finanziellen Lage zu verkaufen. An der<br />

Vermietung war der Angeklagte Y. , der damalige Lebensgefährte der Angeklagten Sch. , beteiligt; er hatte auch<br />

Kenntnis von der geplanten Nutzung der Wohnung. Von Mitte April 2009 bis Anfang Dezember 2009 pflanzten die<br />

Angeklagten T. <strong>und</strong> P. zweimal achtzig Cannabissetzlinge, ernteten zumindest einmal die Pflanzen <strong>und</strong> erzielten<br />

dabei 2 kg Marihuana mit einem Wirkstoffanteil von zehn Prozent Tetrahydrocannabinol (THC), das sie - wie von<br />

Beginn an geplant - verkauften. Die zweite Anpflanzung ging ein <strong>und</strong> erbrachte keinen Ertrag. Der Angeklagte Y.<br />

war an der Pflege der Pflanzen beteiligt. Im Herbst 2009 erfuhr die Angeklagte Sch. , zu welchem Zweck <strong>und</strong> von<br />

wem die Wohnung genutzt wurde, tolerierte jedoch den Anbau, da sie sich auf die Mietzahlungen angewiesen fühlte.<br />

Im November 2009 mieteten die Angeklagten T. <strong>und</strong> P. eine weitere Wohnung (Nr. 127) im selben Haus von der<br />

Angeklagten Sch. , um dort ebenfalls eine Cannabisplantage zu errichten. Etwa Anfang 2010 pflanzten die Angeklagten<br />

P. <strong>und</strong> T. zeitgleich in den beiden Wohnungen Cannabispflanzen an. Während der Angeklagte Y. weiterhin<br />

lediglich die Plantage in der zuerst angemieteten Wohnung mit betreute, half der Angeklagte S. im Jahr 2010 in<br />

beiden Wohnungen. Im April 2010 sowie August 2010 kam es jeweils zu Aberntungen <strong>und</strong> - nach vollständigem<br />

Verkauf - zu Neuanpflanzungen. Als am 19. September 2010 die beiden Plantagen entdeckt <strong>und</strong> die Pflanzen sichergestellt<br />

wurden, waren demnach seit Jahresbeginn in beiden Wohnungen jeweils zwei erfolgreiche Ernten durchgeführt<br />

worden. Der Ertrag betrug stets in der einen Wohnung 2 kg <strong>und</strong> in der anderen Wohnung 2,4 kg cannabishaltigen<br />

Materials mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 10 Prozent THC. Die in beiden Wohnungen sichergestellten<br />

Cannabissetzlinge wiesen eine Wirkstoffmenge von insgesamt 4,3 g THC auf. Das Landgericht ist in den schriftlichen<br />

Urteilsgründen - abweichend von der Urteilsformel - davon ausgegangen, dass sich die Angeklagten P. <strong>und</strong> T.<br />

in den insgesamt fünf Fällen einer erfolgreichen Ernte des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer<br />

Menge <strong>und</strong> in den anderen drei Fällen, also hinsichtlich der im Jahr 2009 verkümmerten sowie der im September<br />

2010 in beiden Wohnungen sichergestellten Pflanzen, des (gewerbsmäßigen) Handeltreibens mit Betäubungsmitteln<br />

schuldig gemacht hätten. Die Beiträge des Angeklagten S. seien (hinsichtlich der erfolgreichen Ernten im Jahr 2010)<br />

als Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen <strong>und</strong> (hinsichtlich der<br />

sichergestellten Pflanzen) als Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen zu werten, die Bei-<br />

- 157 -


träge des Angeklagten Y. entsprechend als Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer<br />

Menge in drei Fällen <strong>und</strong> als Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen. Die Angeklagte Sch.<br />

habe sich wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen <strong>und</strong> Beihilfe<br />

zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in drei Fällen strafbar gemacht. Da sie ab Herbst 2009 von der Anpflanzung<br />

in der zuerst vermieteten Wohnung gewusst habe, habe sie sich insoweit durch Unterlassen strafbar gemacht,<br />

weil sie als "Wohnungsinhaberin" verpflichtet gewesen sei, gegen die zweckentfremdete Nutzung einzuschreiten.<br />

Im Übrigen wurden die Angeklagten freigesprochen, soweit ihnen im Hinblick auf einen zunächst angenommenen<br />

kürzeren Erntezyklus weitere Anpflanzungen in den beiden von der Angeklagten Sch. vermieteten Wohnungen<br />

zur Last gelegt worden waren. Darüber hinaus hat das Landgericht die Angeklagten P. , T. <strong>und</strong> S. von dem<br />

Vorwurf freigesprochen, sie hätten von Oktober 2009 bis September 2010 in einem anderen Haus eine weitere Indoor-Plantage<br />

betrieben <strong>und</strong> dort vier Mal Cannabis geerntet.<br />

B. Revision der Staatsanwaltschaft<br />

I. Das Verfahren ist gemäß § 354 Abs. 1, § 260 Abs. 3 StPO einzustellen, soweit das Landgericht die Angeklagten<br />

wegen der letzten beiden Anpflanzungen, die nicht mehr abgeerntet, sondern sichergestellt wurden, verurteilt hat<br />

(nach den Urteilsgründen die Angeklagten P. <strong>und</strong> T. wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen,<br />

die Angeklagten S. <strong>und</strong> Sch. wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen sowie den<br />

Angeklagten Y. wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln). Insofern besteht ein Verfahrenshindernis, weil die<br />

Taten nicht Gegenstand der Anklage sind <strong>und</strong> eine Nachtragsanklage (§ 266 StPO) nicht erhoben worden ist.<br />

1. Die Urteilsfindung hat die Tat im verfahrensrechtlichen Sinne zum Gegenstand (§ 264 Abs. 1 StPO). Diese bestimmt<br />

sich nach dem von der zugelassenen Anklage umschriebenen geschichtlichen Vorgang, innerhalb dessen der<br />

Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Sie erstreckt sich auf das gesamte Verhalten des Täters,<br />

das nach natürlicher Auffassung ein mit diesem geschichtlichen Vorgang einheitliches Geschehen bildet (vgl. BGH,<br />

Beschluss vom 27. November 2011 - 3 StR 255/11, NStZ 2012, 168, 169). Liegen nach dieser Maßgabe verschiedene<br />

Lebenssachverhalte <strong>und</strong> mithin mehrere selbständige prozessuale Taten vor, so sind diese nur dann vollumfänglich<br />

Gegenstand der Urteilsfindung, wenn sich nach dem aus der Anklageschrift erkennbaren Willen der Staatsanwaltschaft<br />

ergibt, dass sie sämtlich einer Aburteilung zugeführt werden sollen (vgl. BGH, Urteil vom 15. Mai 1997 -<br />

1 StR 233/96, BGHSt 43, 96, 99 ff.).<br />

2. Die insoweit unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklage hat in Bezug auf die beiden Wohnungen,<br />

welche die Angeklagte Sch. vermietete, insgesamt neun Cannabis-Ernten zum Gegenstand, nämlich sechs Ernten in<br />

der ersten <strong>und</strong> drei Ernten in der zweiten Wohnung. Den Angeklagten P. , T. <strong>und</strong> S. ist zur Last gelegt worden, ab<br />

Mitte März 2009 alle drei Monate eine Ernte von mindestens 2,5 kg Marihuana erzielt zu haben, wozu die Angeklagte<br />

Sch. in allen neun Fällen <strong>und</strong> der Angeklagte Y. in sechs Fällen Beihilfe geleistet haben sollen. Die letzten Anpflanzungen<br />

von nicht geernteten <strong>und</strong> später sichergestellten Cannabissetzlingen werden im Anklagesatz nicht aufgeführt.<br />

Lediglich im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen wird zur Erläuterung der erzielten Erntemengen mitgeteilt,<br />

dass sich zum Zeitpunkt der Durchsuchungen eine bestimmte Anzahl von Setzlingen in den Wohnungen bef<strong>und</strong>en<br />

habe. Danach stellt die jeweils letzte Anpflanzung in den beiden Wohnungen weder eine einheitliche prozessuale<br />

Tat mit den vorangegangenen Anpflanzungen dar noch wird deutlich, dass sich der Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft<br />

hierauf erstreckte. Vielmehr richtete er sich lediglich auf diejenigen Anbauvorgänge im Tatzeitraum, die<br />

der letzten, sodann sichergestellten Anpflanzung vorausgingen.<br />

a) Das konkrete Vorkommnis, auf das sich die Urteilsfindung bezieht, ist danach jeweils der Anbau <strong>und</strong> die drei<br />

Monate später durchgeführte Ernte von Cannabispflanzen, die in der einen Wohnung Mitte März 2009 <strong>und</strong> in der<br />

anderen Wohnung im Dezember 2009 begannen. Allein dadurch, dass Anbau <strong>und</strong> Ernte in denselben Wohnungen<br />

mehrfach hintereinander stattgef<strong>und</strong>en haben sollen, ergibt sich noch kein einheitlicher Vorgang. Da die jeweiligen<br />

Anpflanzungen mit der Ernte ihr Ende fanden <strong>und</strong> es danach zu Neuanpflanzungen kam, stellt sich die getrennte<br />

Betrachtung der verschiedenen Anpflanzungen gerade nicht als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs<br />

(vgl. BGH, Urteil vom 24. Juli 1987 - 3 StR 36/87, BGHSt 35, 14, 17), sondern als sachlich naheliegend<br />

dar. Dies entspricht auch der Beurteilung in materiellrechtlicher Hinsicht. So sind gesonderte Anbauvorgänge,<br />

die auf gewinnbringende Veräußerung der dadurch erzeugten Betäubungsmittel abzielen, gr<strong>und</strong>sätzlich als für sich<br />

selbständige, zueinander in Tatmehrheit stehende Taten des Handeltreibens zu bewerten (vgl. BGH, Beschluss vom<br />

28. Juni 2011 - 3 StR 485/10, BGHR BtMG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Konkurrenzen 11 mwN).<br />

b) Daraus, dass die Anklageschrift im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen die Anzahl der in den Wohnungen<br />

aufgef<strong>und</strong>enen Setzlinge mitteilt, ergibt sich noch kein Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft. Da diese letzten<br />

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Anpflanzungen weder in abstrakter noch in konkreter Weise Eingang in den Anklagesatz gef<strong>und</strong>en haben, ist angesichts<br />

der näheren Umstände davon auszugehen, dass sie lediglich zur Schilderung der Tathintergründe in das Ermittlungsergebnis<br />

aufgenommen wurden, ohne dass die Staatsanwaltschaft sie zur Anklage bringen wollte.<br />

3. Das Verfahren ist daher insoweit auf Kosten der Staatskasse (§ 467 Abs. 1 StPO) einzustellen. Die zulasten der<br />

Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft wirkt sich insoweit zu deren Gunsten aus (§ 301 StPO). Die<br />

Einstellung steht einer Anklageerhebung hinsichtlich der bislang nicht angeklagten Taten (<strong>und</strong> einer etwaigen Verbindung<br />

mit dem hiesigen Verfahren) nicht entgegen.<br />

II. Soweit das Landgericht die Angeklagten verurteilt hat <strong>und</strong> das Verfahren nicht eingestellt ist, ist das Urteil bereits<br />

deshalb aufzuheben, weil das Landgericht ein Handeln der Angeklagten als Bandenmitglieder nicht rechtsfehlerfrei<br />

verneint hat (unten zu 1.). Zudem hat es nicht bedacht, dass bei dem auf den späteren Weiterverkauf gerichteten<br />

Cannabisanbau ein Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Umständen bereits vorliegen<br />

kann, bevor die Wirkstoffmenge der aufgezogenen Pflanzen den Grenzwert der nicht geringen Menge erreicht (zu<br />

2.). Ferner tragen die Feststellungen nicht die konkurrenzrechtliche Bewertung, dass die Tatbeiträge der Angeklagten<br />

P. , T. , S. <strong>und</strong> Sch. in Bezug auf jeweils parallele Anbauvorgänge in zwei Wohnungen als Tatmehrheit zu werten<br />

seien (zu 3.). Schließlich sind die die Angeklagte Sch. betreffenden Schuldsprüche auch deshalb nicht hinreichend<br />

belegt, weil - soweit eine Strafbarkeit wegen Unterlassens angenommen wurde - eine Garantenstellung nicht dargetan<br />

ist <strong>und</strong> - soweit ihr Tatbeitrag im Übrigen in der Vermietung einer weiteren Wohnung lag - jeweils einzelne, die<br />

verschiedenen Haupttaten fördernde Handlungen fehlen, die für die Annahme einer tatmehrheitlichen Beihilfe erforderlich<br />

wären (zu 4.).<br />

1. Die Begründung, mit der das Landgericht das Vorliegen einer Bande oder möglicherweise mehrerer Banden abgelehnt<br />

hat, ist nicht tragfähig.<br />

a) Da die Staatsanwaltschaft die Sachrüge ausdrücklich "umfassend erhoben" hat, hat der Senat nicht allein die von<br />

der Revision der Staatsanwaltschaft ausdrücklich erörterte bandenmäßige Begehungsweise durch die Angeklagten T.<br />

, P. <strong>und</strong> S. , sondern auch eine etwaige Bandenmitgliedschaft der weiteren Angeklagten Sch. <strong>und</strong> Y. zu prüfen.<br />

b) Eine Bande im Sinne von § 30 Abs. 1 Nr. 1, § 30a Abs. 1 BtMG setzt den Zusammenschluss von mindestens drei<br />

Personen voraus, die sich mit dem Willen verb<strong>und</strong>en haben, künftig für eine gewisse Dauer mehrere selbständige, im<br />

Einzelnen noch ungewisse der im Gesetz genannten Betäubungsmitteldelikte zu begehen. Dabei kann Mitglied einer<br />

Bande auch derjenige Tatbeteiligte sein, dem nach der Bandenabrede nur Aufgaben zufallen, die sich bei wertender<br />

Betrachtung als Gehilfentätigkeit darstellen (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Januar 2002 - 4 StR 499/01, BGHSt 47,<br />

214; Urteil vom 23. April 2009 - 3 StR 83/09, BGHR BtMG § 30 Abs. 1 Nr. 1 Bande 9). Daher sind die von der<br />

Kammer herangezogenen Umstände, dass die Angeklagten S. <strong>und</strong> Y. lediglich Hilfsarbeiten erbrachten, keinen bestimmenden<br />

Einfluss auf die Aufzucht der Pflanzen sowie den An- <strong>und</strong> Verkauf hatten, sich ihr Interesse allein auf<br />

cannabishaltiges Material zum Eigenkonsum erstreckte <strong>und</strong> sie keinen Gewinnanteil erhielten, für das Vorliegen<br />

einer Bande nicht maßgeblich <strong>und</strong> schließen eine solche nicht aus. Vielmehr kann insbesondere das wiederholte<br />

deliktische Zusammenwirken - wenn auch nicht ohne Weiteres - für eine zumindest stillschweigende Bandenabrede<br />

sprechen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 15. Januar 2002 - 4 StR 499/01, BGHSt 47, 214, 220; vom 10. November 2011<br />

- 3 StR 355/11, NStZ 2012, 518; Urteil vom 23. April 2009 - 3 StR 83/09, BGHR BtMG § 30 Abs. 1 Nr. 1 Bande 9).<br />

Dass sämtliche Angeklagte sich untereinander kennen <strong>und</strong> gemeinsam an der Abrede beteiligt waren, ist dafür nicht<br />

erforderlich (s. BGH, Urteil vom 23. April 2009 - 3 StR 83/09 aaO). Da das Landgericht somit bei der Prüfung der<br />

Bande rechtlich unzutreffende Maßstäbe zugr<strong>und</strong>e gelegt hat <strong>und</strong> nicht auszuschließen ist, dass sich die Voraussetzungen<br />

einer Bande feststellen lassen, ist das Urteil aufzuheben, soweit das Landgericht die Angeklagten verurteilt<br />

hat <strong>und</strong> das Verfahren nicht einzustellen war. Dies betrifft sämtliche Angeklagte, auch die Angeklagte Sch.. Zwar hat<br />

diese nach den bisherigen Feststellungen lediglich einmal die weitere Wohnung zum Cannabisanbau zur Verfügung<br />

gestellt, so dass eine Bandenmitgliedschaft weniger naheliegt als bei den anderen Angeklagten. Indes kann der Senat<br />

nicht mit Sicherheit ausschließen, dass sich eine Bandenmitgliedschaft belegen lassen könnte, wenn das Landgericht<br />

in diesem Zusammenhang von den zutreffenden rechtlichen Maßstäben ausgeht.<br />

2. Ein Rechtsfehler ist ferner darin zu sehen, dass das Landgericht im Falle der Missernte nicht von einem Handeltreiben<br />

mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (oder gegebenenfalls einer Beihilfe dazu) ausgegangen ist.<br />

a) Das Landgericht hat im Ansatz zutreffend gesehen, dass es für ein vollendetes Handeltreiben ausreichen kann,<br />

dass Cannabissetzlinge mit dem Ziel einer späteren Ernte <strong>und</strong> des gewinnbringenden Weiterverkaufs angepflanzt<br />

werden, auch wenn es dazu letztlich nicht mehr kommt. Der Begriff des Handeltreibens ist umfassend dahin zu verstehen,<br />

dass er jede eigennützige auf den Umsatz von Betäubungsmitteln gerichtete Tätigkeit umfasst, soweit es sich<br />

- 159 -


nicht lediglich um typische Vorbereitungen handelt, die weit im Vorfeld des beabsichtigten Güterumsatzes liegen<br />

(BGH, Beschluss vom 26. Oktober 2005 - GSSt 1/05, BGHSt 50, 252, 256, 265 f.). Demgemäß geht der B<strong>und</strong>esgerichtshof<br />

in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass bereits die Aufzucht von Cannabispflanzen den Tatbestand<br />

des Handeltreibens erfüllen kann, wenn der Anbau - wie hier - auf die gewinnbringende Veräußerung der herzustellenden<br />

Betäubungsmittel zielt (vgl. BGH, Beschluss vom 3. August 2011 - 2 StR 228/11, NStZ 2012, 43 mwN; Weber,<br />

BtMG, 3. Aufl., § 29 Rn. 109; Körner/Patzak, BtMG, 7. Aufl., § 29 Rn. 98; MüKoStGB/Rahlf, 1. Aufl., § 29<br />

BtMG Rn. 92).<br />

b) Stellt bereits die Aufzucht ein Handeltreiben dar, kommt es konsequenterweise für die Beurteilung der Handelsmenge<br />

wie auch sonst nicht entscheidend darauf an, welchen Wirkstoffgehalt die angebauten Pflanzen konkret haben,<br />

sondern auf welchen geplanten Umsatz die Aufzucht gerichtet ist.<br />

aa) Der B<strong>und</strong>esgerichtshof hat bereits mehrfach entschieden, dass bei einem auf spätere Veräußerung zielenden<br />

Anbau von Cannabispflanzen bis in das Stadium, in dem sie eine nicht geringe Menge THC enthalten, ein unerlaubtes<br />

Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Betracht kommen kann (vgl. BGH, Urteil vom<br />

27. Juli 2005 - 2 StR 192/05, NStZ 2006, 578, 579; Beschluss vom 12. Januar 2005 - 1 StR 476/04, BGHR BtMG §<br />

29a Abs. 1 Nr. 2 Handeltreiben 4). Auch wenn die dort gewählten Formulierungen sich dahin verstehen lassen können,<br />

Voraussetzung einer solchen Strafbarkeit sei stets, dass die Pflanzen bereits eine nicht geringe Menge THC<br />

aufweisen, verhalten sich die Entscheidungen dazu nicht näher. Diese Frage war für die Entscheidungen unerheblich,<br />

da die Pflanzen dort jeweils einen den Grenzwert der nicht geringen Menge übersteigenden Wirkstoffgehalt enthielten.<br />

Der Senat folgt für die hier in Rede stehende Fallkonstellation seiner in einer früheren Entscheidung (Beschluss<br />

vom 28. Oktober 2008 - 3 StR 409/08, BGHR BtMG § 29a Abs. 1 Nr. 2 Handeltreiben 5) bereits angedeuteten Ansicht,<br />

dass für die Abgrenzung des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln nach § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG vom<br />

Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG) die Menge maßgeblich ist,<br />

die mit der bereits begonnenen Aufzucht der Pflanzen letztlich erzielt <strong>und</strong> gewinnbringend veräußert werden soll.<br />

bb) Für ein solches Ergebnis spricht die Definition des Handeltreibens, nach der es nicht auf ein tatsächlich erfolgreiches<br />

Umsatzgeschäft, sondern auf ein Verhalten ankommt, das auf ein solches gerichtet ist. Dementsprechend ist<br />

anerkannt, dass ein als bindend gewollter Abschluss eines Erwerbsgeschäfts ein vollendetes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln<br />

unabhängig davon darstellt, ob das zu liefernde Rauschgift überhaupt bereitsteht oder vorhanden ist<br />

(vgl. BGH, Urteil vom 14. April 1999 - 3 StR 22/99, NJW 1999, 2683, 2684 mwN; Beschluss vom 21. April 2009 -<br />

3 StR 107/09, StraFo 2009, 344). Ähnlich war nach den Feststellungen auch hier die bereits begonnene Pflanzenaufzucht<br />

darauf gerichtet, letztlich mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel zu treiben.<br />

cc) Durch die begonnene Aufzucht bestand zudem eine spezifische Gefährdungslage für das durch die §§ 29 ff.<br />

BtMG geschützte Rechtsgut (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 18. September 2006 - 2 BvR 2126/05, NJW 2007,<br />

1193, 1194). Bei planmäßigem Verlauf wäre es - anders als in Fällen, in denen überhaupt noch keine Anpflanzung<br />

vorgenommen wurde (dazu etwa BGH, Urteil vom 15. März 2012 - 5 StR 559/11, NStZ 2012, 514 mit abl. Anm.<br />

Patzak) - ohne besondere weitere Zwischenschritte zur Ernte <strong>und</strong> zum Verkauf von Cannabis in nicht geringer Menge<br />

gekommen. Hinge in der vorliegenden Fallkonstellation die Strafbarkeit wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln<br />

in nicht geringer Menge davon ab, dass der Wirkstoffgehalt in den Pflanzen tatsächlich den Grenzwert bereits<br />

übersteigt, würde die besondere Gefährdung, die sich schon durch den auf die Weiterveräußerung nicht geringer<br />

Mengen gerichteten Anbau ergibt, nicht in ihrem ganzen Umfang erfasst.<br />

3. Im Übrigen ergibt die Revision der Staatsanwaltschaft (zugunsten der Angeklagten T., P. , S. <strong>und</strong> Sch. ), dass die<br />

Annahme von jeweils tatmehrheitlichem Handeltreiben hinsichtlich der zeitgleichen Aufzucht in verschiedenen<br />

Wohnungen durch die Feststellungen bislang nicht hinreichend belegt ist. In rechtlicher Hinsicht ist davon auszugehen,<br />

dass gesonderte Anbauvorgänge, die auf die gewinnbringende Veräußerung der erzeugten Betäubungsmittel<br />

abzielen, gr<strong>und</strong>sätzlich als für sich selbständige, zueinander in Tatmehrheit stehende Taten des Handeltreibens zu<br />

bewerten sind. Soweit der Täter allerdings mehrere der durch die einzelnen Anbauvorgänge erzielten Erträge in einem<br />

einheitlichen Umsatzgeschäft veräußert, führt dies zu einer Teilidentität der Ausführungshandlungen <strong>und</strong> verknüpft<br />

die Fälle des Handeltreibens zur Tateinheit (BGH, Beschluss vom 28. Juni 2011 - 3 StR 485/10, BGHR<br />

BtMG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Konkurrenzen 11). Nach den Feststellungen des Landgerichts ist bereits zweifelhaft, ob<br />

überhaupt gesonderte Anbauvorgänge vorliegen, da die Setzlinge in zwei im selben Haus gelegenen Appartements<br />

jeweils zeitgleich angepflanzt wurden. Ein solcher paralleler Anbau in örtlicher Nähe kann - je nach den näheren<br />

Umständen des Einzelfalles - als ein einheitlicher Anbauvorgang zu bewerten sein. Dies gilt insbesondere dann,<br />

wenn die Ausführungshandlungen teilweise identisch sind. So kann beispielsweise auch der einheitliche Einkauf von<br />

- 160 -


Setzlingen oder sonstigem Pflanzmaterial dafür sprechen, die gleichzeitigen Pflanzungen als einheitlichen Vorgang<br />

zu bewerten. Zu diesen nach der Sachlage naheliegenden Möglichkeiten sind bisher indes keine näheren Feststellungen<br />

getroffen. Überdies hat die Kammer nicht in den Blick genommen, ob das gleichzeitig abgeerntete sowie in<br />

größeren Einzelmengen ab etwa 500 Gramm an unbekannt gebliebene Dritte veräußerte Cannabismaterial möglicherweise<br />

für den Verkauf zusammengeführt wurde <strong>und</strong> zumindest unter diesem Gesichtspunkt jeweils ein einziger<br />

Fall des Handeltreibens vorliegt. Somit bedarf die Sache auch insofern neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, als die<br />

Kammer hinsichtlich der jeweils parallelen Anpflanzungen in den beiden im selben Haus gelegenen Wohnungen von<br />

Tatmehrheit ausgegangen ist.<br />

4. Unabhängig davon ist der Schuldspruch zu Lasten der Angeklagten Sch. auch aus anderen Gründen nicht frei von<br />

Rechtsfehlern.<br />

a) Das Landgericht ist davon ausgegangen, die Angeklagte Sch. habe sich hinsichtlich des in der zunächst vermieteten<br />

Wohnung gepflanzten Cannabis wegen Beihilfe durch Unterlassen strafbar gemacht, weil sie nicht gegen die<br />

Nutzung der Wohnung zum Anbau von Cannabispflanzen eingeschritten sei, nachdem sie von dieser erfahren habe.<br />

Jedoch ergibt sich nicht, wieso die Angeklagte zum Einschreiten rechtlich im Sinne des § 13 Abs. 1 StGB verpflichtet<br />

war. Allein aus der Stellung als Wohnungsinhaber oder Vermieter folgt eine solche Pflicht im Allgemeinen nicht<br />

(st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 17. November 2011 - 2 StR 348/11, NStZ-RR 2012, 58 f.; vom 12. Februar<br />

2009 - 3 StR 12/09, NStZ-RR 2009, 184; Fischer, StGB, 60. Aufl., § 13 Rn. 62; Weber, BtMG, 3. Aufl., § 29<br />

Rn. 51 ff., 85 f.). Das angefochtene Urteil legt nicht näher dar, auf welcher rechtlichen Gr<strong>und</strong>lage sich eine solche<br />

Pflicht in dem Fall ergeben soll, dass eine Wohnung "völlig zweckentfremdet" <strong>und</strong> nicht mehr zu Wohnzwecken<br />

genutzt wird. Soweit die Angeklagte nach öffentlichem Recht (etwa § 61 NBauO) für den Zustand der Wohnung<br />

verantwortlich sein könnte, ergibt sich daraus nicht ohne Weiteres, dass sie damit zugleich auch für die Abwendung<br />

des straftatbestandlichen Erfolges des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln einzustehen hat. Soweit eine Strafbarkeit<br />

der Angeklagten Sch. wegen eines Betäubungsmitteldelikts ausscheidet, ist eine etwaige Strafbarkeit wegen<br />

Geldwäsche (§ 261 Abs. 2 StGB) in Bedacht zu nehmen, weil die Angeklagte - so die bisherigen Feststellungen -<br />

nach Kenntnis vom Cannabisanbau weiterhin Miete erhielt (vgl. Fischer, StGB, 60. Aufl., § 261 Rn. 39) <strong>und</strong> das<br />

Geld aus dem Verkaufserlös der ersten Ernte stammen könnte.<br />

b) Da die Angeklagte Sch. die weitere Wohnung in Kenntnis des beabsichtigten Verwendungszwecks vermietete,<br />

kann dies zwar gr<strong>und</strong>sätzlich für eine Strafbarkeit wegen Beihilfe durch aktives Tun ausreichen, ohne dass es auf<br />

eine Garantenpflicht ankommt. Auf Bedenken stößt insofern aber die konkurrenzrechtliche Bewertung. Bei einer<br />

Deliktserie unter Beteiligung mehrerer Personen ist die Frage, ob die einzelnen Taten tateinheitlich oder tatmehrheitlich<br />

zusammentreffen, für jeden einzelnen Beteiligten gesondert zu prüfen <strong>und</strong> dabei auf seinen individuellen Tatbeitrag<br />

abzustellen. Erbringt ein Gehilfe Tatbeiträge, durch die alle oder mehrere Taten der Haupttäter gleichzeitig gefördert<br />

werden, so sind ihm die gleichzeitig geförderten einzelnen Straftaten als tateinheitlich begangen zuzurechnen<br />

(vgl. BGH, Urteil vom 17. Juni 2004 - 3 StR 344/03, NJW 2004, 2840, 2841 mwN). Nach diesen Maßstäben ergeben<br />

die Feststellungen nicht, dass die Angeklagte Sch. im Zusammenhang mit der später vermieteten Wohnung je individuelle,<br />

tatmehrheitliche Unterstützungshandlungen für jede aus dieser Wohnung gewonnene Ernte <strong>und</strong> damit zu den<br />

einzelnen Fällen des Handeltreibens geleistet hätte. Die Angeklagte vermietete lediglich die Wohnung in Kenntnis<br />

der Tatsache, dass diese zur Aufzucht <strong>und</strong> zum dauerhaften Betrieb einer Indoor-Plantage genutzt werden sollte.<br />

Dass sie im Folgenden Tatbeiträge in Bezug auf die verschiedenen einzelnen Anpflanzungen erbrachte, ist nicht<br />

ersichtlich. Es liegt somit nur eine Beihilfehandlung vor (Fischer, StGB, 60. Aufl., § 27 Rn. 31 mwN).<br />

5. Weil das Urteil aus den dargelegten Gründen auf die Revision der Staatsanwaltschaft insgesamt aufzuheben war,<br />

soweit die Angeklagten verurteilt worden sind, bedarf keiner näheren Erörterung, dass die rechtliche Würdigung in<br />

den Gründen des angefochtenen Urteils nicht mit den in der Urteilsformel aufgeführten Schuldsprüchen übereinstimmt.<br />

III. Soweit die Angeklagten hinsichtlich weiterer ihnen zur Last gelegter Anpflanzungen in den beiden von der Angeklagten<br />

Sch. vermieteten Wohnungen freigesprochen worden sind, ist dies rechtsfehlerfrei. Das Landgericht hat<br />

hinreichend dargelegt, aus welchen Gründen es im Tatzeitraum nicht zu über die festgestellte Aufzucht hinausgehenden<br />

Anpflanzungen gekommen <strong>und</strong> eine Beteiligung der Angeklagten S. sowie Sch. an den ersten Taten nicht festzustellen<br />

ist.<br />

IV. Die von der Staatsanwaltschaft erhobenen verfahrensrechtlichen <strong>und</strong> materiellrechtlichen Beanstandungen, mit<br />

denen sie sich gegen den - eine Plantage in einer dritten Wohnung betreffenden - Teilfreispruch der Angeklagten P. ,<br />

T. <strong>und</strong> S. wendet, haben keinen Erfolg.<br />

- 161 -


1. Mit der Verfahrensrüge beanstandet die Revision vergeblich, dass das Landgericht einen Antrag auf Inaugenscheinnahme<br />

überwachter Telefongespräche aus tatsächlichen Gründen als für die Entscheidung bedeutungslos abgelehnt<br />

hat (§ 244 Abs. 3 Satz 2 Var. 2 StPO). Die Rüge ist jedenfalls unbegründet. Der Beschluss, mit dem das Landgericht<br />

die begehrte Inaugenscheinnahme abgelehnt hat, genügt den an diesen zu stellenden Anforderungen: Er führt<br />

die Erwägungen auf, aus denen das Tatgericht den unter Beweis gestellten Gesprächen keine Bedeutung für den<br />

Schuldspruch beimisst, <strong>und</strong> wahrt dabei die zu beachtenden Darlegungserfordernisse, die gr<strong>und</strong>sätzlich denjenigen<br />

bei der Würdigung von durch die Beweisaufnahme gewonnenen Indiztatsachen in den Urteilsgründen entsprechen<br />

(vgl. etwa BGH, Beschluss vom 22. November 2007 - 3 StR 430/07, NStZ 2008, 299 mwN). Das Landgericht hat im<br />

Hinblick auf die weitere Beweislage dargelegt, aus welchen Gründen es von einer Plantage in der in einem anderen<br />

Haus gelegenen dritten Wohnung auch dann nicht überzeugt wäre, wenn sich die Angeklagten P. , S. <strong>und</strong> T. über die<br />

Räumung der Wohnung sowie die Entsorgung von "Kartons mit Töpfen" unterhalten hätten.<br />

2. Der Teilfreispruch hält auch auf die Sachrüge revisionsrechtlicher Überprüfung stand. Die Beweiswürdigung ist<br />

Sache des Tatrichters, dem es obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen <strong>und</strong> zu würdigen. Die revisionsgerichtliche<br />

Überprüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher<br />

Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen<br />

Denk- oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn das Tatgericht zu hohe Anforderungen an die Überzeugungsbildung<br />

stellt. Sind Rechtsfehler nicht gegeben, hat das Revisionsgericht die vom Tatrichter vorgenommene<br />

Würdigung hinzunehmen, auch wenn ein anderes Ergebnis ebenso möglich oder gar näherliegend gewesen wäre (st.<br />

Rspr.; z.B. BGH, Urteil vom 9. Juni 2005 - 3 StR 269/04, NJW 2005, 2322, 2326). So liegt es hier. Das Landgericht<br />

hat sich mit den für <strong>und</strong> gegen einen Cannabisanbau sprechenden Indizien im Einzelnen auseinandergesetzt. Es hat<br />

die von der Revision hervorgehobenen Gesichtspunkte gesehen, ihnen aber insgesamt ein geringeres Gewicht beigemessen.<br />

C. Revisionen der Angeklagten<br />

I. Die Revisionen der Angeklagten T. sowie P. haben mit der Sachrüge teilweise Erfolg <strong>und</strong> führen zur Aufhebung<br />

des Urteils, soweit diese Angeklagten wegen der gleichzeitig in den beiden Wohnungen vorgenommenen Anpflanzungen<br />

verurteilt worden sind (Taten 3. bis 8. unter II. 4. der Urteilsgründe). Im Übrigen ist ihre Revision (hinsichtlich<br />

der verbleibenden Taten 1. <strong>und</strong> 2. unter II. 2.) unbegründet. Insofern liegen weder die von beiden Angeklagten<br />

geltend gemachten Verfahrensfehler noch die Angeklagten beschwerende sachlichrechtliche Mängel vor. Hierzu im<br />

Einzelnen:<br />

1. Die Schuldsprüche zu den letzten sechs Taten, welche die jeweils gleichzeitige Cannabisaufzucht in den beiden<br />

von der Angeklagten Sch. angemieteten Wohnungen betrafen, können aus den bereits dargelegten Gründen nicht<br />

bestehen bleiben: Für die letzten beiden Taten, die der Verurteilung zugr<strong>und</strong>eliegen, fehlt es an einer Anklageerhebung<br />

als erforderliche Verfahrensvoraussetzung. Bei den anderen vier Taten ist die Annahme von Tatmehrheit nicht<br />

rechtsfehlerfrei dargetan, weil es sich bei den gleichzeitigen Anpflanzungen jeweils um eine Tat im materiellrechtlichen<br />

Sinne handeln kann <strong>und</strong> somit lediglich zwei statt vier selbständige Taten vorliegen können.<br />

2. Die Verurteilungen der Angeklagten T. <strong>und</strong> P. wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer<br />

Menge <strong>und</strong> wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln, weil sie im Jahr 2009 in der ersten angemieteten Wohnung<br />

einmal erfolgreich <strong>und</strong> einmal letztlich erfolglos Cannabispflanzen mit dem Ziel des gewinnbringenden Weiterverkaufs<br />

aufzogen, enthalten keine diese beschwerenden Rechtsfehler. Dass das Landgericht - wie bereits dargelegt<br />

- ein bandenmäßiges Handeln <strong>und</strong> bei dem fehlgeschlagenen Anbau ein Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in<br />

nicht geringer Menge nicht rechtsfehlerfrei abgelehnt hat, wirkt sich nicht zulasten der Angeklagten aus. Die beiden<br />

von ihnen in gleicher Weise erhobenen Verfahrensrügen greifen nicht durch.<br />

a) Die Angeklagten beanstanden, dass das mit zwei Berufsrichtern besetzte Landgericht nicht ordnungsgemäß besetzt<br />

gewesen sei, da nach Umfang <strong>und</strong> Schwierigkeit der Sache die Mitwirkung eines dritten Richters notwendig<br />

gewesen sei (§ 338 Nr. 1 StPO, § 76 Abs. 2 Satz 1 GVG aF). Diese Rüge ist zulässig, aber unbegründet.<br />

aa) Beide Angeklagten haben die mit Beschluss vom 7. September 2009 festgelegte Gerichtsbesetzung bereits vor<br />

der Vernehmung des ersten Angeklagten zur Sache beanstandet <strong>und</strong> diese Beanstandung näher ausgeführt (§ 338 Nr.<br />

1 Buchst. b, § 222b Abs. 1 StPO).<br />

bb) Die Rüge, die Gerichtsbesetzung verstoße gegen § 76 Abs. 2 GVG aF, hat keinen Erfolg. Denn dazu wäre erforderlich,<br />

dass die Entscheidung der Strafkammer objektiv willkürlich ist, weil diese den ihr zustehenden Beurteilungsspielraum<br />

in unvertretbarer Weise überschritten hat (BGH, Urteil vom 23. Dezember 1998 - 3 StR 343/98,<br />

BGHSt 44, 328, 333; Beschluss vom 14. August 2003 - 3 StR 199/03, NJW 2003, 3644, 3645). Das ist nicht der Fall.<br />

- 162 -


Wie sich insbesondere aus dem die Besetzungseinwände zurückweisenden Beschluss der Kammer ergibt, ist diese<br />

von den zutreffenden Maßstäben bei der Beantwortung der Frage ausgegangen, ob die Hinzuziehung eines dritten<br />

Richters notwendig erscheint. Dabei hat sie die Anzahl von fünf Angeklagten <strong>und</strong> zehn Verteidigern, der insgesamt<br />

13 Delikte sowie der 22 Zeugen bedacht. Zudem hat sie berücksichtigt, dass die Anklagevorwürfe gegen die Angeklagten<br />

weitgehend gleichgelagert waren, die Hinzuziehung von Dolmetschern entbehrlich war, die Akten vier Bände<br />

nebst einigen Sonderheften umfassten, sich zwei Angeklagte im Ermittlungsverfahren umfangreich eingelassen<br />

hatten <strong>und</strong> zwei gegebenenfalls einzuholende Sachverständigengutachten keinen besonderen Umfang erwarten ließen.<br />

Demnach hat sich die Kammer weder auf sachfremde Erwägungen gestützt noch den ihr eingeräumten Beurteilungsspielraum<br />

in unvertretbarer Weise überschritten. Dass gegebenenfalls auch eine andere Beurteilung möglich<br />

gewesen wäre oder sogar näher gelegen haben könnte <strong>und</strong> die Hauptverhandlung schließlich an 17 Tagen stattfand,<br />

lässt es nicht zu, die ursprüngliche Besetzungsentscheidung als objektiv willkürlich zu bewerten.<br />

b) Ebenso wenig hat die Rüge Erfolg, der Verwertung der aus Wohnungsdurchsuchungen stammenden Erkenntnisse<br />

stehe entgegen, dass der Richtervorbehalt nicht beachtet worden sei (§ 105 Abs. 1 Satz 1 StPO, Art. 13 Abs. 2 GG).<br />

aa) Der Rüge liegt im Wesentlichen der folgende Verfahrensgang zugr<strong>und</strong>e: Am Abend des 19. September 2010,<br />

einem Sonntag, nahmen Polizeibeamte aus einer der beiden zur Cannabisaufzucht genutzten Wohnungen (Nr. 127)<br />

starken Marihuanageruch war. Sie setzten davon einen Staatsanwalt in Kenntnis, der gegen 19.20 Uhr telefonisch die<br />

Durchsuchung der Wohnung anordnete, da ein Ermittlungsrichter erst am nächsten Tag erreichbar gewesen wäre.<br />

Während die Wohnung sodann durchsucht wurde, informierte ein Hausbewohner die Beamten über Hinweise auf<br />

Marihuanageruch auch aus einer anderen Wohnung. Aufgr<strong>und</strong> verschiedener Anhaltspunkte durchsuchten die Beamten<br />

schließlich auch die zweite zur Aufzucht genutzte Wohnung (Nr. 106). Die Verteidigung hat in der Hauptverhandlung<br />

der Verwertung der im Rahmen der Durchsuchungen gewonnenen Beweismittel widersprochen.<br />

bb) Die Rüge hat bereits deshalb keinen Erfolg, weil sie nicht zulässig erhoben ist. Die Revisionsbegründungen geben<br />

die den angeblichen Mangel begründenden Tatsachen nicht hinreichend an (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Nach<br />

gefestigter Rechtsprechung muss der Revisionsführer, der eine Verletzung des Verfahrensrechts geltend machen<br />

will, die den Mangel enthaltenden Tatsachen so vollständig <strong>und</strong> so genau angeben, dass das Revisionsgericht allein<br />

auf Gr<strong>und</strong> der Rechtfertigungsschrift prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorläge, wenn die behaupteten Tatsachen<br />

erwiesen wären (BVerfG, Beschluss vom 25. Januar 2005 - 2 BvR 656/99 u.a., NJW 2005, 1999, 2001 mwN). Dem<br />

genügt das Revisionsvorbringen nicht, da nicht deutlich wird, von welchem tatsächlichen Geschehensablauf der<br />

Durchsuchungen die Revisionen ausgehen. Anstatt die tatsächlichen Umstände der Durchsuchungen selbst geschlossen<br />

mit Bestimmtheit darzulegen, geben die Revisionsbegründungen lediglich den Verfahrensgang in der Hauptverhandlung<br />

wieder, der die Verwertbarkeit der Durchsuchungsergebnisse betrifft. Damit bleibt beispielsweise unklar,<br />

ob die Revisionen davon ausgehen, dass - wie in der Widerspruchsbegründung vom 24. Oktober 2011 vorgetragen -<br />

eine Ermittlungsrichterin bis 19.30 Uhr erreichbar gewesen ist, oder davon, dass - wie die von der Kammer eingeholte<br />

Mitteilung des Präsidenten des Amtsgerichts Hannover nahelegt - der Bereitschaftsdienst um 14.40 Uhr beendet<br />

war <strong>und</strong> danach die Richterin telefonisch nicht mehr zur Verfügung stand.<br />

II. Die Revision des Angeklagten S. hat mit der Sachrüge insgesamt Erfolg. Einer näheren Erörterung der erhobenen<br />

Verfahrensrügen, die den durch die Angeklagten T. <strong>und</strong> P. erhobenen Rügen entsprechen, bedarf es daher nicht. Zum<br />

einen fehlt es hinsichtlich der letzten beiden Taten an einer Anklageerhebung. Zum anderen ist die Wertung des<br />

Landgerichts, auch bei den parallelen Anpflanzungen sei jeweils von einer selbständigen Tat auszugehen, nicht<br />

rechtsfehlerfrei. Wegen der Einzelheiten wird auf die obigen Ausführungen Bezug genommen.<br />

III. Die von der Angeklagten Sch. erhobene Sachrüge ist ebenfalls insgesamt erfolgreich aus den Gründen, die bereits<br />

im Rahmen der Revision der Staatsanwaltschaft erörtert worden sind.<br />

IV. Die Revision des Angeklagten Y. ist lediglich insofern erfolgreich, als die letzte Tat, wegen derer er verurteilt<br />

worden ist, nicht Gegenstand der Anklage war. Ansonsten hat die Nachprüfung des Urteils aufgr<strong>und</strong> seiner Revisionsrechtfertigung<br />

keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil erbracht. Zwar lassen die Urteilsgründe nicht erkennen,<br />

dass das Landgericht auch bedacht hat, ob ein minder schwerer Fall nach § 29a Abs. 2 BtMG dann in Betracht<br />

kommt, wenn in die gebotene Gesamtwürdigung neben den allgemeinen Strafzumessungserwägungen zusätzlich<br />

einer oder beide der hier gegebenen vertypten Strafmilderungsgründe einbezogen wird (vgl. BGH, Beschluss vom<br />

26. Oktober 2011 - 2 StR 218/11, NStZ 2012, 271, 272). Allerdings kann der Senat ausschließen, dass die Strafe<br />

darauf beruht; denn das Landgericht hat in den Fällen des § 29a BtMG letztlich dieselben Strafen verhängt wie in<br />

den Fällen des § 29 BtMG.<br />

- 163 -


D. Der Senat weist für das weitere Verfahren darauf hin, dass die Kammer nunmehr erneut über ihre Besetzung entscheiden<br />

kann (§ 76 GVG).<br />

EGStGB Art. 316f. ; JGG § 105 Abs. 1, § 7 Abs. 2 aF; – Abstandsgebot bei SV<br />

BGH, Urt. v. 12.06.2013 - 1 StR 48/13 - NJW 2013, 2295<br />

LS: Auslegung der Übergangsvorschrift zum Gesetz zur b<strong>und</strong>esrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes<br />

im Recht der Sicherungsverwahrung.<br />

Der 1. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat in der Sitzung vom 12. Juni 2013 für Recht erkannt:<br />

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 25. September 2012 mit<br />

den Feststellungen aufgehoben.<br />

Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere<br />

Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Antrag der Staatsanwaltschaft auf nachträgli-che Anordnung der Sicherungsverwahrung<br />

gegen den Verurteilten H. (im Folgenden H.) zurückgewiesen.<br />

Hiergegen richtet sich die Revision der Staatsanwaltschaft, mit der sie die Verletzung materiellen Rechts rügt.<br />

Das Rechtsmittel, das vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt vertreten wird, hat mit der Sachrüge in vollem Umfang Erfolg.<br />

Eines Eingehens darauf, ob die Staats-anwaltschaft inhaltlich auch eine Verfahrensrüge (§ 275a Abs. 4 Satz 2 StPO)<br />

erhoben hat, bedarf es daher nicht.<br />

Prozessgeschichte:<br />

Das Landgericht Traunstein hatte H. durch Urteil vom 1. Oktober 2004 wegen Mordes in Tateinheit mit Diebstahl<br />

mit Waffen unter Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts Rosenheim vom 15. Dezember 2003 zu einer Jugendstrafe<br />

von neun Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt.<br />

Die hiergegen eingelegte Revision des H. hat der B<strong>und</strong>esgerichtshof durch Beschluss vom 1. März 2005 (1 StR<br />

44/05) gemäß § 349 Abs. 2 StPO verworfen.<br />

H. war in diesem Verfahren am 9. Januar 2004 vorläufig festgenommen worden <strong>und</strong> befand sich zunächst in Untersuchungshaft<br />

<strong>und</strong> dann in Strafhaft.<br />

Als Entlassungstermin nach vollständiger Verbüßung der Jugendstrafe von neun Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten ist der 7.<br />

Juli 2013 vorgemerkt.<br />

Die Staatsanwaltschaft hat mit Antrag vom 5. Juni 2012 die nachträgli-che Unterbringung des H. in der Sicherungsverwahrung<br />

gemäß § 7 Abs. 2 JGG (aF) beantragt. Das Landgericht hat ohne Einholung von Sachverständigengutachten<br />

Hauptverhandlung anberaumt, da es "rechtliche Bedenken hinsichtlich einer wirksamen gesetzlichen Gr<strong>und</strong>lage<br />

für die beantragte nachträgliche An-ordnung der Sicherungsverwahrung habe".<br />

II.<br />

Dem rechtskräftigen Urteil vom 1. Oktober 2004 liegt folgende Anlasstat zugr<strong>und</strong>e: Der zur Tatzeit (7. Januar 2004)<br />

19 Jahre <strong>und</strong> neun Monate alte H. be-schloss mit seiner damaligen Verlobten (im Folgenden V.) nachts in eine Pizzeria<br />

einzubrechen, um dort das Geld aus den beiden vorhandenen Spielautoma-ten zu entwenden. Zur Durchführung<br />

der Tat nahmen sie zwei große Messer, zwei Hämmer <strong>und</strong> eine Stablampe mit. H. kletterte durch ein eingeschlagenes<br />

Fenster in das Lokal <strong>und</strong> bemerkte, dass entgegen ihren Erwartungen die Wir-tin anwesend war <strong>und</strong> auf einer<br />

Eckbank schlief. Er ließ V. ein, wobei die Wirtin erwachte <strong>und</strong> durch das Lokal lief. H. sprang sie von hinten an,<br />

umklammerte sie <strong>und</strong> hielt ihr M<strong>und</strong> <strong>und</strong> Nase zu, um sie am Schreien zu hindern.<br />

Als die Wirtin sich heftig wehrte, stach H. ihr zweimal mit dem Messer seitlich in den Bauch. Ihr gelang es, H. das<br />

Messer aus der Hand zu schlagen. H., der davon ausging von der Wirtin als Stammgast erkannt worden zu sein,<br />

verlangte von V. die Hergabe des zweiten Messers. Dieses rammte er der Wir-tin von unten in Richtung Herzgegend<br />

in den Bauch <strong>und</strong> traf dabei bereits das Herz. Er zog das Messer leicht zurück <strong>und</strong> rammte es nochmal heftig in ihr<br />

Herz. Die Wirtin erlitt tödliche Verletzungen. Als sie am Boden lag, brachte ihr H. noch mindestens drei Schnitte in<br />

der Halsgegend bei. Einer dieser Schnitte war so tief, dass er den gesamten Hals bis zur Wirbelsäule durchtrennte. Er<br />

- 164 -


schnitt ihr darüber hinaus noch beide Pulsadern auf. H. <strong>und</strong> V. nahmen dann Geld aus einem Geldbeutel <strong>und</strong> aus<br />

einem der beiden von H. mit einem Ham-mer aufgeschlagenen Spielautomaten mit.<br />

H. war zur Tatzeit weder aufgr<strong>und</strong> vorhergegangenen Alkoholkonsums noch aufgr<strong>und</strong> einer psychischen Erkrankung<br />

in seiner strafrechtlichen Verant-wortlichkeit beeinträchtigt.<br />

III.<br />

Im jetzigen Verfahren (wegen nachträglicher Anordnung der Unterbrin-gung in der Sicherungsverwahrung) hat das<br />

Landgericht im angefochtenen Ur-teil unter anderem folgende Feststellungen getroffen:<br />

Im Vollzug ist H. disziplinarisch zweimal in Erscheinung getreten. Zum externen Drogenberater nahm er mehrfach<br />

Kontakt auf. In einem Prognosegut-achten von Anfang 2010 für die Strafvollstreckungskammer wird unter Einbeziehung<br />

eines Zusatzgutachtens von 2009 festgestellt, bei H. bestehe die Ge-fahr, dass dessen durch die Anlasstat<br />

zutage getretene Gefährlichkeit fortbe-stehe; die Kombination diverser Stressoren stelle ein erhebliches Rückfallrisiko<br />

dar. Die baldige Aufnahme einer Behandlung im Rahmen einer sozialtherapeu-tischen Abteilung für Gewaltstraftäter<br />

sei notwendig.<br />

Als Diagnose sei zu stellen: Schädlicher Gebrauch von Alkohol nach ICD-10, F. 10.1 sowie Nikotinabhängigkeit<br />

nach ICD-10, F. 17.25. Außerdem seien selbstunsichere, schizoide <strong>und</strong> dissoziale Persönlichkeitszüge vorhan-den,<br />

die aber (noch) nicht das Ausmaß einer (kombinierten) Persönlichkeitsstö-rung erreichten. Bei H. bestehe keine<br />

ausreichende Therapiemotivation für die erforderlichen gruppentherapeutischen Maßnahmen. H. sei auch durch<br />

"über-sexualisiertes Verhalten" aufgefallen. Die Justizvollzugsanstalt könne jedoch eine abschließende Bewertung<br />

der Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 JGG (aF) nicht abgeben.<br />

IV.<br />

Das Landgericht hat den Antrag auf nachträgliche Anordnung der Unter-bringung in der Sicherungsverwahrung<br />

gemäß § 7 Abs. 2 JGG (aF) "aus Rechtsgründen zurückgewiesen, da diese Norm im konkreten Fall nicht als gesetzliche<br />

Gr<strong>und</strong>lage herangezogen werden kann" (UA S. 19). Zur Begründung wird u.a. ausgeführt: Weder zum Zeitpunkt<br />

der Tat noch der Verurteilung sei für einen einem Jugendlichen gleichgestellten Heranwachsenden eine nachträgliche<br />

Anordnung der Sicherungsverwahrung möglich gewesen.<br />

Gemäß Art. 316e Abs. 1 Satz 2 EGStGB sei § 7 Abs. 2 JGG in der Fas-sung vom 8. Juli 2008 nicht anwendbar. Aber<br />

selbst wenn, sei durch die Recht-sprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts (Urteil vom 4. Mai 2011, BVerfGE 128,<br />

326) ein "rechtliches Vakuum" eingetreten, das durch das beabsichtigte Gesetz zur Reform der Sicherungsverwahrung<br />

nicht ausgefüllt würde, da der Entwurf der "Übergangsregelung nicht der Rechtsprechung des BVerfG <strong>und</strong> des<br />

EGMR genügen dürfte <strong>und</strong> daher voraussichtlich nicht endgültige Geset-zeskraft erreichen wird".<br />

V.<br />

Die Urteilsausführungen zur Nichtanwendbarkeit des § 7 Abs. 2 JGG (aF) halten sachlich-rechtlicher Nachprüfung<br />

nicht stand.<br />

1. Das Gesetz zur b<strong>und</strong>esrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung vom 5.<br />

Dezember 2012 (BGBl. I 2425 f.) ist am 1. Juni 2013 in Kraft getreten. Durch Artikel 7 dieses Gesetzes wurde nach<br />

Artikel 316e EGStGB der Artikel 316f als Übergangsvorschrift eingeführt. Aus dessen Absatz 2 Satz 1 ergibt sich<br />

für den vorliegenden Fall, dass die bis zum 31. Mai 2013 geltenden Vorschriften über die Sicherungsverwahrung<br />

nach Maßgabe der Sätze 2 bis 4 anzuwenden sind. Danach ist die Anordnung oder Fortdauer der Sicherungsverwahrung<br />

auf Gr<strong>und</strong> einer gesetzlichen Regelung, die zur Zeit der letzten Anlasstat noch nicht in Kraft getreten war oder<br />

eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung, die nicht die Erledigung einer Unterbringung in einem<br />

psychiatrischen Krankenhaus voraussetzt, oder die Fortdauer einer solchen nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung<br />

nur zulässig, wenn beim Betroffenen eine psychische Störung vorliegt <strong>und</strong> aus konkreten Umständen in<br />

seiner Person oder seinem Verhalten eine hochgradi-ge Gefahr abzuleiten ist, dass er infolge dieser Störung schwerste<br />

Gewalt- oder Sexualstraftaten begehen wird.<br />

Durch die Änderung (auch) des Artikel 316e EGStGB, in dessen Absatz 1 Satz 2 nach den Wörtern "Absätzen 2 <strong>und</strong><br />

3" die Wörter "sowie in Artikel 316f Absatz 2 <strong>und</strong> 3" eingefügt wurden, ist sichergestellt, dass die bis zum 31. Dezember<br />

2010 geltenden Vorschriften über die Sicherungsverwahrung in Fällen rückwirkender Gesetzesanwendung<br />

oder in Fällen der nachträglichen Siche-rungsverwahrung ("Vertrauensschutzfälle") nur unter den vom BVerfG in<br />

sei-nem Urteil vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326) formulierten hohen Vorausset-zungen weiter anwendbar sind<br />

(vgl. auch BT-Drucks. 17/9874 vom 6. Juni 2012 S. 30).<br />

Die Übergangsvorschrift Artikel 316f EGStGB regelt sowohl die dem StGB als auch die dem JGG unterfallenden<br />

Sachverhalte. Absatz 2 Satz 1 be-stimmt, dass auf Altfälle hinsichtlich der Sicherungsverwahrung nach Vorschrif-ten<br />

- 165 -


des JGG das bis zum 31. Mai 2013 geltende Recht anzuwenden ist mit den in den Sätzen 2 bis 4 enthaltenen Gr<strong>und</strong>sätzen<br />

(vgl. auch BT-Drucks. 17/9874 vom 6. Juni 2012 S. 31).<br />

Die vom BVerfG selbst nur für die Übergangszeit bis zu einer Neurege-lung vorgesehene Fortgeltung ist also fortgeschrieben,<br />

wobei sich Artikel 316f Absatz 2 Satz 2 EGStGB mit Blick auf die Anforderungen des Artikel 5 Absatz 1<br />

Satz 2 Buchstabe e EMRK nicht auf die bloße Übernahme der Formulierung des BVerfG beschränkt, sondern darüber<br />

hinaus ein Kausalitätserfordernis zwi-schen psychischer Störung <strong>und</strong> hochgradiger Gefahr statuiert. Der Senat<br />

hält diese (modifizierte) Fortgeltung für verfassungs- <strong>und</strong> kon-ventionsgemäß (vgl. in diesem Sinne auch BVerfG [2.<br />

Kammer des Zweiten Senats] Beschluss vom 11. März 2013 - 2 BvR 2000/12, StraFo 2013, 213, 214; vgl. auch zu §<br />

66 StGB: BGH, Urteile vom 23. April 2013 - 5 StR 610 <strong>und</strong> 617/12 sowie vom 24. April 2013 - 5 StR 593/12).<br />

2. Entgegen der Auffassung des Landgerichts war § 7 Abs. 2 JGG (aF) zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen<br />

Urteils (25. September 2012) daher nach den vom BVerfG durch Urteil vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326)<br />

aufgestellten Gr<strong>und</strong>sätzen anzuwenden.<br />

Dies hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 25. September 2012 (1 StR 160/12) ausdrücklich <strong>und</strong> in einem Verwerfungsbeschluss<br />

gemäß § 349 Abs. 2 StPO vom 5. März 2013 (1 StR 37/13) inzidenter entschieden, wobei die<br />

nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung nach § 7 Abs. 2 JGG (aF) auch in diesen Fällen nicht das Vorliegen<br />

neuer Tatsachen voraussetzt (vgl. BGH, Urteil vom 30. August 2011 - 5 StR 235/11 Rn. 11).<br />

Das angefochtene Urteil war danach aufzuheben, da auch die seit 1. Juni 2013 geltenden Regelungen eine gr<strong>und</strong>sätzliche<br />

Anwendbarkeit des § 7 Abs. 2 JGG aF für Altfälle der vorliegenden Art vorsehen <strong>und</strong> das Urteil auf dem dargelegten<br />

Rechtsfehler beruht.<br />

Die Sache war an das Landgericht zurückzuverweisen. Denn der Senat kann nicht sicher ausschließen, dass Feststellungen<br />

getroffen werden können, die auch die - zu Recht - sehr hohen Anforderungen an die nachträgliche Anordnung<br />

der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 105 Abs. 1, § 7 Abs. 2 JGG aF in der modifizierten<br />

Fortgeltung erfüllen. Eine vom Senat abschließende Entscheidung ist hier schon deshalb nicht möglich, weil das<br />

Landgericht keine - nach der gebotenen Anhörung zweier Sachverständiger - entsprechenden Feststellungen getroffen<br />

hat.<br />

EuAlÜbk Art. 14 Abs. 1 Buchst. b – Kein Verfahrenshindernis wegen Spezialität nach freiwilliger<br />

Rückkehr nach Ausreise nach Auslieferung<br />

BGH, Beschl. v. 19.12.2012 - 1 StR 165/12 - NJW 2013, 1175<br />

LS: Ein wegen eines Verstoßes gegen den Gr<strong>und</strong>satz der Spezialität bestehendes Verfahrenshindernis<br />

entfällt gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchst. b des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom<br />

13. Dezember 1957 (EuAlÜbk) jedenfalls dann, wenn der Ausgelieferte nach Verlassen der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland dorthin zurückkehrt, obwohl er auf die sich aus einer Wiedereinreise ergebenden<br />

Rechtsfolgen dieser Vorschrift hingewiesen worden war (Bestätigung <strong>und</strong> Fortführung von<br />

BGH, Beschluss vom 9. Februar 2012 - 1 StR 148/11, BGHSt 57, 138).<br />

Der 1. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat am 19. Dezember 2012 gemäß § 349 Abs. 2 StPO beschlossen: In Fortsetzung<br />

des mit Senatsbeschluss vom 25. Oktober 2012 vorläufig eingestellten Verfahrens wird die Revision des<br />

Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 30. September 2011 als unbegründet verworfen. Der<br />

Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gewerbs- <strong>und</strong> bandenmäßigen Betruges in Tateinheit mit Steuerhinterziehung<br />

sowie wegen gewerbs- <strong>und</strong> bandenmäßiger Urk<strong>und</strong>enfälschung in Tateinheit mit Steuerhinterziehung zu<br />

einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf eine Verfahrensrüge <strong>und</strong> die<br />

näher ausgeführte Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Sie hat keinen Erfolg (§ 349 Abs. 2 StPO).<br />

I. Ein Verfahrenshindernis besteht nicht.<br />

- 166 -


1. Allerdings hatte zunächst wegen Verstoßes gegen den in Art. 14 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens<br />

vom 13. Dezember 1957 (EuAlÜbk) normierten Gr<strong>und</strong>satz der Spezialität ein von Amts wegen zu berücksichtigendes<br />

Verfolgungsverbot (Verfahrenshindernis) bestanden.<br />

a) Dieses Abkommen findet im Rechtshilfeverkehr mit der Republik Südafrika Anwendung (vgl. dazu auch BGBl. II<br />

2003, 1783). Der von dort ausgelieferte Angeklagte durfte deswegen nur wegen solcher vor der Auslieferung begangener<br />

Taten verfolgt werden, für die die Auslieferung bewilligt worden war (vgl. BGH, Urteile vom 20. Dezember<br />

1968 - 1 StR 508/67, BGHSt 22, 307 <strong>und</strong> vom 11. März 1999 - 4 StR 526/98, NStZ 1999, 363).<br />

b) Da zunächst unklar war, ob sich die Bewilligung der Auslieferung des Angeklagten auch auf die Tatvorwürfe im<br />

vorliegenden Verfahren bezog oder nur auf die Vollstreckung einer Restfreiheitsstrafe aus einem früheren Verfahren,<br />

musste der Senat den Umfang der Auslieferungsbewilligung im Freibeweisverfahren feststellen. Zwar konnte dabei<br />

nicht aufgeklärt werden, welchen Inhalt das letztlich an die Behörden der Republik Südafrika übermittelte Auslieferungsersuchen<br />

im Einzelnen hatte. Denn der Inhalt des Ersuchens war weder dem landgerichtlichen Urteil noch dem<br />

sonstigen Akteninhalt zu entnehmen; auch beim B<strong>und</strong>esamt für Justiz waren keine weiterführenden Erkenntnisse zu<br />

erlangen. Der Senat hat sich aber auf der Gr<strong>und</strong>lage einer klarstellenden Mitteilung des Ministeriums der Justiz der<br />

Republik Südafrika davon überzeugt, dass die Auslieferung allein für die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe erteilt<br />

wurde, weil das Ersuchen um Auslieferung dort nicht in dem Sinn verstanden worden war, dass die Auslieferung<br />

auch für die hier verfahrensgegenständlichen Taten begehrt werde.<br />

c) Damit lag zwar ein Verfahrenshindernis vor. Dieses war aber noch in der Revisionsinstanz behebbar (vgl. BGH,<br />

Beschlüsse vom 9. Februar 2012 - 1 StR 148/11, BGHSt 57, 138, <strong>und</strong> 1 StR 152/11 - <strong>und</strong> vom 25. Oktober 2012 - 1<br />

StR 165/12, jeweils mwN), da ein Nachtragsersuchen um Zustimmung zur Verfolgung der verfahrensgegenständlichen<br />

Taten noch möglich <strong>und</strong> von den südafrikanischen Behörden sogar angeregt worden war. Das bestehende Verfahrenshindernis<br />

hatte auch nicht zur Folge, dass das Strafurteil des Landgerichts nichtig wäre (vgl. BGH aaO). Der<br />

Senat hatte das Verfahren deswegen mit Beschluss vom 25. Oktober 2012 in entsprechender Anwendung des § 205<br />

StPO vorläufig eingestellt (BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2012 - 1 StR 165/12).<br />

2. Das Verfahrenshindernis ist nachträglich weggefallen, da die Spezialitätsbindung aus Art. 14 EuAlÜbk gemäß<br />

Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk wieder entfallen ist. Der Senat kann daher - wie vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt mit<br />

Schreiben vom 26. November 2012 beantragt - in der Sache entscheiden.<br />

a) Nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk darf der Ausgelieferte wegen einer anderen vor der Übergabe begangenen<br />

Handlung als derjenigen, die der Auslieferung zugr<strong>und</strong>e liegt, dann verfolgt, abgeurteilt oder einer Beschränkung<br />

seiner persönlichen Freiheit unterworfen werden, „wenn der Ausgelieferte, obwohl er dazu die Möglichkeit hatte, das<br />

Hoheitsgebiet des Staates, dem er ausgeliefert worden ist, innerhalb von 45 Tagen nach seiner endgültigen Freilassung<br />

nicht verlassen hat oder wenn er nach Verlassen dieses Gebiets dorthin zurückgekehrt ist.“ Wie der Senat in<br />

seinem Beschluss vom 25. Oktober 2012 im vorliegenden Verfahren (dort Rn. 13) klargestellt hat, entfällt die Spezialitätsbindung<br />

aus Art. 14 EuAlÜbk gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk unter den dort genannten Voraussetzungen<br />

jedenfalls dann, wenn der Ausgelieferte auf die Folge eines Verbleibs in dem Staat oder einer Wiedereinreise<br />

hingewiesen worden war (vgl. dazu BGH, Beschlüsse vom 9. Februar 2012 - 1 StR 148/11, BGHSt 57, 138 <strong>und</strong> 1<br />

StR 152/11). Ob - was der Senat für zutreffend hält - diese Rechtsfolge auch ohne vorherigen Hinweis eintritt, wenn<br />

dem Ausgelieferten diese Folge aus anderen Gründen bekannt war, bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung.<br />

b) Die Voraussetzungen für einen Wegfall der Spezialitätsbindung gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk liegen<br />

hier vor. Die Spezialitätsbindung an die Auslieferungsbewilligung ist aufgr<strong>und</strong> der freiwilligen Ausreise des Angeklagten<br />

in die Schweiz am 15. November 2012 <strong>und</strong> seiner anschließenden Wiedereinreise nach Deutschland entfallen.<br />

Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob auch in einem solchen Fall der Wegfall der Spezialitätsbindung<br />

die vorherige „endgültige Freilassung“ des Ausgelieferten voraussetzt. Der Angeklagte war „endgültig freigelassen“<br />

<strong>und</strong> hatte die Möglichkeit, das B<strong>und</strong>esgebiet zu verlassen (nachfolgend aa), er ist nach Verlassen des B<strong>und</strong>esgebietes<br />

wieder dorthin zurückgekehrt (nachfolgend bb), obwohl er auf die sich aus einer Wiedereinreise ergebenden Rechtsfolgen<br />

hingewiesen worden war (nachfolgend cc). Vom Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen des Art. 14<br />

Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk hat sich der Senat im Freibeweisverfahren überzeugt.<br />

aa) Der Angeklagte war „endgültig freigelassen“ i.S.d. Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk. Denn das Landgericht<br />

Berlin hatte den gegen den Angeklagten bestehenden Haftbefehl mit Beschluss vom 26. Oktober 2012 ohne Auflagen<br />

außer Vollzug gesetzt. Der Angeklagte wurde noch am selben Tag aus der Untersuchungshaft entlassen. Dem<br />

Vorliegen einer endgültigen Freilassung steht der Bestand des außer Vollzug gesetzten Haftbefehls nicht entgegen.<br />

Der Angeklagte war nicht durch Weisungen, Auflagen oder andere Pflichten in seiner Bewegungsfreiheit einge-<br />

- 167 -


schränkt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. Februar 2012 - 1 StR 148/11, BGHSt 57, 138 <strong>und</strong> 1 StR 152/11; OLG München,<br />

Beschluss vom 20. Januar 1993 - 1 Ws 8/93, 1 Ws 9/93, NStZ 1993, 392); vielmehr stand es ihm frei - wie er<br />

wusste - das Gebiet der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland zu verlassen. Er hat von dieser Möglichkeit auch Gebrauch<br />

gemacht.<br />

bb) Der Angeklagte verließ nach seiner Freilassung Deutschland zunächst <strong>und</strong> kehrte dann dorthin zurück. Er begab<br />

sich am 15. November 2012 nach Zürich <strong>und</strong> reiste von dort aus wieder nach Deutschland. Hiervon ist der Senat<br />

nach Durchführung des Freibeweisverfahrens aus folgenden Gründen überzeugt:<br />

(1) In einem dem Senat in Kopie übersandten Schreiben an die Staatsanwaltschaft Berlin führte der Angeklagte aus,<br />

„vorgestern, am 15.11.2012 in Zürich gewesen“ zu sein; er erwähnte darin einige Straßen, durch die ihn sein Weg in<br />

Zürich geführt hatte.<br />

(2) Seinen Aufenthalt in Zürich bestätigte er bei seiner erneuten Festnahme in Berlin nach umfassender Belehrung<br />

gegenüber einem Polizeibeamten. Ausweislich des Festnahmeberichts vom 22. November 2012 (dort S. 3) gab er an,<br />

er sei „vor kurzem tatsächlich für einen Tag in der Schweiz bei einer Treuhandgesellschaft gewesen“. Nachdem ihm<br />

im Rahmen des Gesprächs bewusst wurde, dass diese Aus- <strong>und</strong> erneute Einreise der Gr<strong>und</strong> für die Invollzugsetzung<br />

des Haftbefehls war, gab er an: „Dann war ich halt nicht in der Schweiz. Das kann man mir eh nicht nachweisen. An<br />

der Grenze finden ja keine Kontrollen mehr statt.“<br />

(3) Bei der Eröffnung des Beschlusses, mit dem der Haftbefehl wieder in Vollzug gesetzt worden war, gab der Angeklagte<br />

an, er habe „zwar geschrieben, er sei nach seiner Entlassung in der Schweiz gewesen. Tatsächlich sei er<br />

jedoch gar nicht dort gewesen“ (Niederschrift zum Haftbefehlsverkündungstermin vom 22. November 2012).<br />

(4) In einem Schreiben vom 5. Dezember 2012 an das Landgericht Berlin rückte der Angeklagte dann von dieser<br />

Einlassung wieder ab <strong>und</strong> bestätigte, am 15. November 2012 in die Schweiz gereist <strong>und</strong> am selben Tag nach<br />

Deutschland zurückgekehrt zu sein. Dies werde „nicht mehr bestritten“.<br />

(5) Auch die als Zeugin vernommene <strong>und</strong> entsprechend belehrte Tochter des Angeklagten, V., gab am 22. November<br />

2012 an, ihres Wissens sei ihr Vater zwischenzeitlich in der Schweiz gewesen, dies habe er jedenfalls erzählt.<br />

(6) Schließlich belegen die Ermittlungen des Landeskriminalamtes Berlin, dass auf den Namen des Angeklagten in<br />

einem Berliner Reisebüro für den 15. November 2012 ein Flug von Berlin-Tegel nach Zürich <strong>und</strong> zurück gebucht<br />

worden war <strong>und</strong> dass der Flug entsprechend dieser Buchung auch durchgeführt wurde (Vermerke der Staatsanwaltschaft<br />

Berlin vom 26. <strong>und</strong> vom 28. November 2012).<br />

(7) Aufgr<strong>und</strong> einer Gesamtwürdigung dieser Erkenntnisse ist der Senat davon überzeugt, dass der Angeklagte am 15.<br />

November 2012 in die Schweiz ausgereist <strong>und</strong> dann wieder in die B<strong>und</strong>esrepublik zurückgekehrt ist.<br />

cc) Der Senat ist aufgr<strong>und</strong> des durchgeführten Freibeweisverfahrens auch davon überzeugt, dass der Angeklagte über<br />

die sich aus Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk ergebenden rechtlichen Folgen einer Wiedereinreise in die B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland ausreichend belehrt war.<br />

(1) Der Angeklagte behauptet, auf die Folgen einer Wiedereinreise aus dem Ausland nicht hingewiesen worden zu<br />

sein. In ihrer Gegenerklärung auf den Antrag des Generalb<strong>und</strong>esanwalts vom 26. November 2012, die Revision des<br />

Angeklagten gemäß § 349 Abs. 2 StPO zu verwerfen, macht die Verteidigung des Angeklagten am 14. Dezember<br />

2012 ergänzend u.a. Folgendes geltend: Voraussetzung für das Entfallen der Spezialitätsbindung aus Art. 14 Eu-<br />

AlÜbk sei nach dem Senatsbeschluss vom 25. Oktober 2012, dass der Angeklagte über die Voraussetzungen eines<br />

Wegfalls der Spezialitätsbindung „bei seiner Freilassung“ hingewiesen worden sei. Der Angeklagte sei aber bei der<br />

Haftentlassung nicht auf die Folge einer Nichtausreise bzw. Wiedereinreise hingewiesen worden. Der erforderliche<br />

Hinweis könne nicht durch Ausführungen im Senatsbeschluss vom 25. Oktober 2012 ersetzt werden, da dieser Beschluss<br />

dem Angeklagten in der Haft nicht ausgehändigt worden sei. Auch eine spätere Aushändigung sei nicht erfolgt.<br />

(2) Der Senat ist aufgr<strong>und</strong> der Erkenntnisse im Freibeweisverfahren davon überzeugt, dass der Angeklagte ausreichend<br />

auf die rechtliche Folge des Wegfalls der Spezialitätsbindung im Falle einer Ausreise <strong>und</strong> Wiedereinreise<br />

hingewiesen worden war.<br />

(a) Als Hinweis genügen bereits die Ausführungen im Senatsbeschluss vom 25. Oktober 2012 (dort Rn. 13). In diesem<br />

Beschluss hat der Senat - zur Verdeutlichung der zu beachtenden rechtlichen Gr<strong>und</strong>lagen - ausdrücklich auch<br />

die Vorschrift des Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk <strong>und</strong> deren Voraussetzungen sowie die sich daraus ergebende<br />

Rechtsfolge eines nachträglichen Entfallens der Spezialitätsbindung dargelegt.<br />

- 168 -


(b) Der Senat ist aufgr<strong>und</strong> folgender Umstände davon überzeugt, dass der Angeklagte den Senatsbeschluss vom 25.<br />

Oktober 2012 - entgegen seiner gegenteiligen Behauptung - mit dem darin enthaltenen Hinweis erhalten <strong>und</strong> gelesen<br />

hat:<br />

(aa) In einem bereits am 5. November 2012 - also vor seiner Reise nach Zürich - an das Landgericht Berlin gerichteten<br />

„Memorandum“ führte der Angeklagte selbst aus, er habe „sehr aufmerksam den Beschluss des BGH“ (im vorliegenden<br />

Verfahren vom 25. Oktober 2012 betreffend die vorläufige Einstellung des Verfahrens) durchgelesen. Er<br />

machte dabei auch Ausführungen zum Inhalt des Senatsbeschlusses, sprach die dort aufgezeigte Möglichkeit eines<br />

Nachtragsersuchens an die Republik Südafrika an <strong>und</strong> verwies darauf, dass der Senat bisher noch keine Ausführungen<br />

zum Inhalt des von ihm angefochtenen Urteils gemacht habe. Zudem verwies er darauf, dass der Kammerbeschluss<br />

des Landgerichts, mit dem der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt worden war, „sehr von dem des BGH“ abweiche.<br />

(bb) Angesichts dieser Äußerungen ist der Senat davon überzeugt, dass dem Angeklagten nicht nur - wie aber die<br />

Verteidigung geltend macht - von einer der Verteidigerinnen telefonisch der Tenor des Senatsbeschlusses vom 25.<br />

Oktober 2012 vorgelesen worden ist, sondern dass der Angeklagte - jedenfalls vor Abfassung seines Schreibens vom<br />

5. November 2012 - die Möglichkeit hatte, diesen Beschluss zu lesen, ihn auch tatsächlich gelesen <strong>und</strong> sich mit ihm<br />

inhaltlich auseinandergesetzt hat. Der Angeklagte hatte keinen erkennbaren Gr<strong>und</strong>, in seinem Schreiben wahrheitswidrig<br />

zu behaupten, er habe den Senatsbeschluss gelesen, <strong>und</strong> auf angebliche Abweichungen zum Beschluss des<br />

Landgerichts hinzuweisen, zumal dies einen inhaltlichen Vergleich der beiden Beschlüsse voraussetzt. In der nachträglichen<br />

Einlassung des Angeklagten, er habe - ohne Kenntnis der Beschlussgründe des Senatsbeschlusses vom 25.<br />

Oktober 2012 - fälschlicherweise angenommen, das Landgericht Berlin sei von diesem Senatsbeschluss abgewichen,<br />

indem es den Haftbefehl lediglich außer Vollzug gesetzt habe, sieht der Senat eine bloße Schutzbehauptung.<br />

(cc) Der Senat ist auch davon überzeugt, dass das Schreiben vom 5. November 2012 vom Angeklagten selbst<br />

stammt. Zwar macht die Verteidigung geltend, es fehle der Nachweis, dass das als Telefax übersandte Schreiben<br />

vom Angeklagten stamme. Die Zweifel, ob die auf dem Schreiben befindliche Unterschrift tatsächlich von dem Angeklagten<br />

stamme, weil es sich bei dem Fax nur um eine Kopie handele, teilt der Senat jedoch nicht. Es bestehen -<br />

insbesondere angesichts des Inhalts des Schreibens - keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass eine andere Person das<br />

Schreiben erstellt oder verfälscht <strong>und</strong> dabei die Unterschrift des Angeklagten gefälscht haben könnte.<br />

(dd) Damit war der Angeklagte so deutlich über die Rechtsfolgen des Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk unterrichtet,<br />

dass er sie unschwer erfassen konnte. Besondere Anhaltspunkte dafür, der Angeklagte könnte nicht in der Lage gewesen<br />

sein, die aufgezeigten Rechtsfolgen zu verstehen (vgl. zu § 136 StPO: BGH, Urteil vom 16. März 1993 - 1<br />

StR 888/92, NStZ 1993, 395), sind weder dargetan noch sonst ersichtlich. Ob sich der Angeklagte dieser Rechtsfolgen<br />

bei seiner Wiedereinreise oder beim Versenden des diese offenbarenden Schreibens an die Staatsanwaltschaft<br />

bewusst war, ist für die Frage, ob der Angeklagte ausreichend über die Möglichkeiten eines Wegfalls der Spezialitätsbindung<br />

gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk belehrt worden war, ohne Bedeutung.<br />

(c) Entgegen der Annahme der Verteidigung ist der Senatsbeschluss vom 25. Oktober 2012 im vorliegenden Verfahren<br />

auch nicht dahingehend zu verstehen, dass einem Hinweis auf die Vorschrift des Art. 14 Abs. 1 Buchst. b Eu-<br />

AlÜbk dann keine rechtliche Bedeutung zukomme, wenn er nicht unmittelbar bei der Freilassung ergangen ist.<br />

Vielmehr hat der Zeitpunkt des Hinweises (wie sich auch aus den im Senatsbeschluss vom 25. Oktober 2012 in Bezug<br />

genommenen Senatsbeschlüssen vom 9. Februar 2012 - 1 StR 148/11 <strong>und</strong> 1 StR 152/11 ergibt) lediglich für den<br />

Lauf der 45-tägigen Schonfrist bei einer Nichtausreise nach endgültiger Freilassung, nicht aber im Falle einer Wiedereinreise<br />

Bedeutung.<br />

II. Die Nachprüfung des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des<br />

Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO). Ergänzend zu den zutreffenden Ausführungen des Generalb<strong>und</strong>esanwalts<br />

in seiner Antragsschrift vom 19. April 2012 bemerkt der Senat: Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen<br />

insbesondere auch die Verurteilung des Angeklagten wegen gewerbs- <strong>und</strong> bandenmäßigen Betrugs.<br />

1. Das Landgericht hat hierzu festgestellt, dass der Angeklagte spätestens nach einer Haftentlassung im Juni 2001<br />

beschlossen hatte, mit weiteren Mittätern - wie schon zuvor praktiziert - durch den fingierten Handel mit hochwertigen<br />

Computerprozessoren Umsatzsteuer zu hinterziehen, um sich dadurch eine nicht unerhebliche Einnahmequelle<br />

von einiger Dauer zu verschaffen. Für die Umsetzung dieses Plans konnte er zum einen den geschäftsunerfahrenen<br />

Zeugen S. gewinnen, der alle Geschäftsanteile <strong>und</strong> die formelle Geschäftsführerstellung einer N. GmbH übernahm,<br />

während der Angeklagte deren Geschäfte tatsächlich leitete. Zum anderen gewann er den Zeugen H. zur Mitarbeit<br />

bei der N. GmbH. Mit einer vom Angeklagten veranlassten Korrespondenz (lautend auf eine vom Angeklagten er-<br />

- 169 -


dachte Person) wurde der Firma W. KG (im Folgenden W. KG) vorgetäuscht, die Firma e-. (im Folgenden E. ) mit<br />

Sitz in Malaysia wolle von der Firma N. GmbH hochwertige Mikroprozessoren beziehen. Da diese aber nicht selbst<br />

exportieren wolle, sei die Zwischenschaltung einer weiteren Firma erforderlich. Dies wurde als für die zwischengeschaltete<br />

Firma finanziell risikolos dargestellt. Daraufhin willigte die W. KG ein, als dieser Zwischenhändler tätig zu<br />

werden, <strong>und</strong> schloss vermeintlich mit der E. einen entsprechenden Rahmenvertrag betreffend die Lieferung hochwertiger<br />

Mikroprozessoren. Tatsächlich war der Vertragsabschluss durch die Verantwortlichen der E. zur Täuschung der<br />

W. KG vom Angeklagten lediglich fingiert worden. Auch die hochwertigen Mikroprozessoren, die Handelsgegenstand<br />

sein sollten, existierten zu keinem Zeitpunkt <strong>und</strong> wurden daher auch nicht an die E. in Malaysia geliefert. Um<br />

allerdings - auch gegenüber den Verantwortlichen der W. KG - den Schein einer realen Handelstätigkeit mit rechnungsgemäßen<br />

Lieferungen zu wahren, wurden auf Veranlassung des Angeklagten geringwertige Computerbauteile<br />

an eine von der W. KG beauftragte Spedition übergeben <strong>und</strong> von dieser nach Malaysia geschickt. Die einzelnen<br />

Pakete wurden dort von einer Kontaktperson des Angeklagten in Empfang genommen <strong>und</strong> an die N. GmbH oder<br />

andere Firmen aus dem Einflussbereich des Angeklagten zurückgesandt, damit sie für die erneute Versendung nach<br />

Malaysia zur Verfügung standen. Mitarbeiter der W. KG waren nie im Besitz der Lieferungen. Zum Schutz vor Kontrollen<br />

wurde die Ware luftdicht verpackt; es wurde darauf hingewiesen, dass die Verpackungen nur unter absolut<br />

staubfreien Bedingungen geöffnet werden dürften, andernfalls die Gefahr der Beschädigung der Prozessoren bestehe.<br />

Im Zeitraum vom 13. März 2002 bis zum 24. Juli 2002 fanden insgesamt 32 solcher Lieferungen angeblich hochwertiger<br />

Mikroprozessoren der N. GmbH im beschriebenen Lieferweg an die E. statt. Während die von den Zeugen S.<br />

<strong>und</strong> H. für die N. GmbH unterzeichneten Ausgangsrechnungen an die W. KG jeweils einen Nettobetrag von 251.040<br />

€ zuzüglich Umsatzsteuer in Höhe von 40.166,40 € auswiesen, stellte die W. KG der E. für die umsatzsteuerfreie<br />

Ausfuhrlieferung (§ 4 Nr. 1 Buchst. a, § 6 UStG) der Prozessoren jeweils einen Nettobetrag in Höhe von jeweils<br />

258.810 € in Rechnung. Zur Erzielung eines Gewinns war die W. KG deshalb darauf angewiesen, die in den Zahlungen<br />

an die N. GmbH enthaltene Umsatzsteuer im Rahmen ihrer monatlichen Umsatzsteuervoranmeldungen als Vorsteuer<br />

gegenüber dem zuständigen Finanzamt geltend zu machen. Für die Zahlungsabwicklung veranlasste der Angeklagte<br />

jeweils, dass einem Konto der W. KG der gegenüber der E. in Rechnung gestellte Betrag als „Vorkasse“<br />

dieser Firma gutgebracht wurde. Die W. KG erbrachte sodann Zahlungen in Höhe von 291.206,40 € an die N.<br />

GmbH. Hieraus wurde jeweils wieder eine an die W. KG geleistete „Vorauszahlung“ generiert <strong>und</strong> ein weiterer Betrag<br />

von r<strong>und</strong> 32.000 € an den Angeklagten ausgekehrt. In Unkenntnis der wahren Umstände - insbesondere der<br />

Tatsache, dass keine hochwertigen Mikroprozessoren nach Malaysia verschickt worden waren - machten die Verantwortlichen<br />

der W. KG die in den Rechnungen der N. GmbH ausgewiesene <strong>und</strong> an diese bezahlte Umsatzsteuer in<br />

Höhe von insgesamt 1.285.324,80 € in fünf Umsatzsteuervoranmeldungen im Jahr 2002 als Vorsteuer geltend.<br />

Nachdem bekannt wurde, dass den Rechnungen der N. GmbH nicht der dort angegebene Leistungsaustausch zugr<strong>und</strong>e<br />

lag, versagte das zuständige Finanzamt nachträglich den Vorsteuerabzug. Die dagegen erhobene Klage der<br />

W. KG wies das Finanzgericht Berlin-Brandenburg rechtskräftig ab.<br />

2. Das Landgericht hat das Verhalten des Angeklagten u.a. als Betrug zum Nachteil der W. KG in Tateinheit mit<br />

Steuerhinterziehung in mittelbarer Täterschaft gewertet. Die Mitarbeiter der W. KG seien über das Bestehen eines<br />

Vorsteuererstattungsanspruchs getäuscht worden <strong>und</strong> hätten irrtumsbedingt Zahlungen einschließlich der in Rechnung<br />

gestellten Umsatzsteuer an die N. GmbH vorgenommen. Einen der W. KG entstandenen Vermögensschaden<br />

erblickt das Landgericht darin, dass der zwischen erhaltener Vorkasse <strong>und</strong> geleisteter Auszahlung verbliebene Saldo<br />

nicht durch einen Anspruch auf Vorsteuererstattung zugunsten der W. KG kompensiert worden sei.<br />

3. Dies ist ohne Rechtsfehler. Insbesondere belegen hinsichtlich des Betruges die Feststellungen der Strafkammer<br />

(anders als offenbar die der Entscheidung BGH, Beschluss vom 26. November 2009 - 5 StR 91/09, wistra 2010, 146,<br />

zugr<strong>und</strong>eliegenden Feststellungen), dass die W. KG zum Vorsteuerabzug nicht berechtigt war <strong>und</strong> deshalb ein deren<br />

Mehraufwendungen kompensierender Vermögenswert nicht vorhanden war. Denn es fehlt schon an ordnungsgemäßen<br />

Rechnungen der N. GmbH an die W. KG.<br />

a) Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG in der für den Tatzeitraum geltenden Fassung kann ein Unternehmer<br />

die in Rechnungen im Sinne des § 14 UStG (a.F.) gesondert ausgewiesene Steuer für Lieferungen oder sonstige<br />

Leistungen, die von anderen Unternehmern für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, als Vorsteuerbeträge<br />

abziehen. Materiell-rechtliche Voraussetzung für den Vorsteuerabzug ist dabei aber eine Rechnung, die die jeweilige<br />

Lieferung oder sonstige Leistung belegt (vgl. auch EuGH, Urteil vom 21. Juni 2012 - C-80/11 <strong>und</strong> C-142/11, Rn. 52,<br />

DStRE 2012, 1336). Rechnung in diesem Sinn ist nur ein solches Abrechnungspapier, das hinreichende Angaben<br />

tatsächlicher Art enthält, welche die Identifizierung der abgerechneten Leistung ermöglichen; der Aufwand zur Iden-<br />

- 170 -


tifizierung der Leistung muss dahingehend begrenzt sein, dass die Rechnungsangaben eine eindeutige <strong>und</strong> leicht<br />

nachprüfbare Feststellung der Leistung ermöglichen, über die abgerechnet worden ist. Die ausgeführte Leistung oder<br />

der beim Leistungsempfänger eintretende Erfolg der Leistungshandlung muss mit der in der Rechnung bezeichneten<br />

identisch sein (vgl. BFH, Urteile vom 8. Oktober 2008 - V R 59/07, DStRE 2009, 166 mwN <strong>und</strong> vom 24. September<br />

1987 - V R 50/85, BFHE 153, 65; vgl. auch EuGH, Urteile vom 6. September 2012 - C-324/11, Rn. 26 <strong>und</strong> vom 6.<br />

Dezember 2012 - C-285/11, Rn. 29 ff.).<br />

b) Diese Voraussetzungen sind nach den Urteilsfeststellungen hier nicht gegeben. Vielmehr wurden die in Rechnung<br />

gestellten hochwertigen Mikroprozessoren zu keinem Zeitpunkt an die W. KG geliefert. Ein Vorsteuerabzug scheidet<br />

daher von vornherein aus (so in dieser Sache auch FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24. November 2010 - 7 K<br />

2356/06, EFG 2011, 918).<br />

c) Da die in den Rechnungen aufgeführten Lieferungen hochwertiger Mikroprozessoren nicht durchgeführt wurden,<br />

bedarf es keiner Erörterung mehr, dass nach den Feststellungen des Landgerichts (UA S. 19) die Verantwortlichen<br />

der W. KG - ohne dass dadurch ihr Irrtum i.S.d. § 263 StGB entfiele - ihre Einbindung in ein auf Mehrwertsteuerhinterziehung<br />

ausgelegtes Hinterziehungssystem hätten erkennen müssen (zur Versagung des Vorsteuerabzugs, wenn<br />

ein Steuerpflichtiger weiß oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligt, der<br />

in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen ist, vgl. EuGH, Urteile vom 6. Dezember 2012 - C-285/11, Rn. 39,<br />

vom 21. Juni 2012 - C-80/11 <strong>und</strong> C-142/11, Rn. 46, DStRE 2012, 1336 <strong>und</strong> vom 6. Juli 2006, C-439/04 <strong>und</strong> C-<br />

440/04, Kittel <strong>und</strong> Recolta Recycling, Slg. 2006 I-6161, 59, Rn. 56).<br />

4. Auch die Annahme gewerbs- <strong>und</strong> bandenmäßiger Begehungsweise wird von den rechtsfehlerfrei getroffenen Urteilsfeststellungen<br />

getragen. Denn danach wussten die Zeugen S. <strong>und</strong> H. spätestens mit Aufnahme der Lieferungen<br />

von dem vom Angeklagten ersonnenen Betrugs- <strong>und</strong> Steuerhinterziehungssystem <strong>und</strong> kamen mit dem Angeklagten<br />

zumindest stillschweigend überein (vgl. dazu BGH, Urteil vom 23. April 2009 - 3 StR 83/09, Rn. 10; BGH, Beschluss<br />

vom 5. August 2005 - 2 StR 254/05, NStZ 2006, 176), in der beschriebenen Weise eine Vielzahl von Straftaten<br />

zur Sicherung einer fortlaufenden, nicht unerheblichen Einkommensquelle zu begehen. Der Annahme gewerbsmäßigen<br />

Handelns steht nicht entgegen, dass das Landgericht das Gesamtverhalten des Angeklagten - was diesen<br />

nicht beschwert - als uneigentliches Organisationsdelikt gewertet <strong>und</strong> damit zur Tateinheit zusammengefasst hat<br />

(BGH, Urteil vom 17. Juni 2004 - 3 StR 344/03, NStZ-RR 2006, 106).<br />

IRG § 83 Nr. 4 Auslieferung bei zu erwartender lebenslanger Freiheitsstrafe – poln. Gnadenrecht<br />

BGH, Beschl. v. 19.06.2012 - 4 ARs 5/12 - NJW 2012, 2980<br />

LS: Die ergänzende Zulässigkeitsvoraussetzung des § 83 Nr. 4 IRG, wonach bei zu erwartender<br />

lebenslanger Freiheitsstrafe eine Überprüfung der Vollstreckung der verhängten Strafe spätestens<br />

nach 20 Jahren erfolgen muss, ist durch die nach Art. 560 ff. der polnischen Strafprozessordnung<br />

vorgesehene Möglichkeit einer Begnadigung erfüllt.<br />

Der 4. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalb<strong>und</strong>esanwalts <strong>und</strong> des Verfolgten am 19.<br />

Juni 2012 gemäß § 42 IRG beschlossen: Die ergänzende Zulässigkeitsvoraussetzung des § 83 Nr. 4 IRG, wonach bei<br />

zu erwartender lebenslanger Freiheitsstrafe eine Überprüfung der Vollstreckung der verhängten Strafe spätestens<br />

nach 20 Jahren erfolgen muss, ist durch die nach Art. 560 ff. der polnischen Strafprozessordnung vorgesehene Möglichkeit<br />

einer Begnadigung erfüllt.<br />

Gründe:<br />

I.<br />

1. a) Die Strafverfolgungsbehörden der Republik Polen haben auf der Gr<strong>und</strong>lage eines Europäischen Haftbefehls des<br />

Bezirksgerichts in S. vom 11. März 2008 um Auslieferung des am 10. März 2011 in Deutschland festgenommenen<br />

polnischen Staatsangehörigen M. G. zur Strafverfolgung ersucht. Dem Europäischen Haftbefehl liegt der Beschluss<br />

des Amtsgerichts in S. vom 13. November 2007 über die vorläufige Festnahme des Verfolgten zugr<strong>und</strong>e. Dem Verfolgten<br />

werden ein versuchtes Tötungsdelikt gemäß Art. 13 § 1, Art. 148 § 2 des polnischen Strafgesetzbuchs <strong>und</strong><br />

unerlaubter Schusswaffen-besitz gemäß Art. 263 § 2 des polnischen Strafgesetzbuchs zur Last gelegt. Ihm wird vorgeworfen,<br />

am 24. Juni 2007 um ca. 22.30 Uhr in einer Bar in S. mit einer automatischen Pistole, für deren Führen er<br />

- 171 -


nicht die erforderliche Erlaubnis besaß, in Tötungsabsicht mehrere Schüsse auf P. B. abgegeben <strong>und</strong> diesen dadurch<br />

verletzt zu haben. Die Generalstaatsanwaltschaft in Düsseldorf hat beantragt, die Auslieferung des Verfolgten für<br />

zulässig zu erklären. Mit einer vereinfachten Auslieferung hat sich der Verfolgte in diesem Verfahren einverstanden<br />

erklärt; auf die Einhaltung des Gr<strong>und</strong>satzes der Spezialität hat er nicht verzichtet. Nach der zur Zeit des Erlasses<br />

jenes Haftbefehls geltenden Fassung des Art. 148 § 2 Nr. 4 des polnischen Strafgesetzbuchs wurde die Tötung eines<br />

Menschen unter Verwendung einer Schusswaffe mit Freiheitsstrafe nicht unter zwölf Jahren, mit 25 Jahren oder mit<br />

lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. Da in der derzeit geltenden Fassung von Art. 148 des polnischen Strafgesetzbuchs<br />

die Qualifikationsalternative der Verwendung einer Schusswaffe entfallen ist (vgl. Schwierskott-Matheson,<br />

Polnisches Strafgesetzbuch [polnisch-deutsche Ausgabe], 2011, S. 103), würde die Tat bei Anwendung dieser Fassung<br />

des polnischen Strafgesetzbuchs nach Art. 148 § 1 mit Freiheitsstrafe nicht unter acht Jahren, mit 25 Jahren<br />

oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe geahndet. Die Strafe für den Versuch wird dem Strafrahmen für die vollendete<br />

Straftat entnommen (Art. 14 § 1 des polnischen Strafgesetzbuchs). Bei Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe<br />

kann gemäß Art. 78 § 3 2. Alt. des polnischen Strafgesetzbuchs eine vorläufige Entlassung frühestens nach Verbüßung<br />

von 25 Jahren Freiheitsstrafe erfolgen. Für das Waffendelikt sieht das polnische Strafgesetzbuch Freiheitsstrafe<br />

von sechs Monaten bis zu acht Jahren vor.<br />

b) Aufgr<strong>und</strong> eines weiteren Europäischen Haftbefehls des Bezirksgerichts in S. vom 16. September 2008 ist der<br />

Verfolgte inzwischen zur Vollstreckung einer durch rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts in S. vom 10. April 2007<br />

wegen Einbruchsdiebstahls verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren an die Republik Polen ausgeliefert worden.<br />

Auf die Einhaltung des Gr<strong>und</strong>satzes der Spezialität hat er auch in diesem Verfahren nicht verzichtet.<br />

2. Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat mit Beschluss vom 24. März 2011 die Auslieferung des Verfolgten an die<br />

polnische Regierung allein zur Strafvollstreckung, nicht aber zur Strafverfolgung angeordnet. Es beabsichtigt, dem<br />

Antrag der Generalstaatsanwaltschaft in Düsseldorf insofern - also hinsichtlich der Auslieferung auch zur Strafverfolgung<br />

- nicht zu entsprechen. Es ist - in weiten Teilen seiner schon im Beschluss vom 5. Oktober 2009 (Az.: III 4<br />

AuslA 145/09 - 609/09 III) vertretenen Ansicht folgend - der Auffassung, dass die Zulässigkeitsvoraussetzung des §<br />

83 Nr. 4 IRG nicht erfüllt sei, wonach dann, wenn die dem Ersuchen zugr<strong>und</strong>e liegende Tat nach dem Recht des<br />

ersuchenden Mitgliedstaates mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht ist, eine Überprüfung der Vollstreckung der<br />

verhängten Strafe auf Antrag oder von Amts wegen spätestens nach 20 Jahren erfolgen muss. Art. 78 § 3 des polnischen<br />

Strafgesetzbuches sehe eine solche Überprüfung erst nach Ablauf von 25 Jahren vor. Die bereits vorher bestehende<br />

Möglichkeit des Verfolgten, ein Gnadengesuch gemäß Art. 560 ff. der polnischen Strafprozessordnung zu<br />

stellen, sei nicht ausreichend, weil § 83 Nr. 4 IRG eine gerichtliche oder jedenfalls der gerichtlichen Kontrolle zugängliche<br />

Überprüfung verlange. Dies ergebe sich aus der Entstehungsgeschichte der Norm, mit der der Gesetzgeber<br />

Art. 5 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl <strong>und</strong> die Übergabeverfahren<br />

zwischen den Mitgliedstaaten – 2002/584/JI (im Folgenden: RB-EUHb) in nationales Recht umgesetzt<br />

habe. Art. 5 Abs. 2 RB-EUHb differenziere zwischen der "Überprüfung" <strong>und</strong> "Gnaden-akten" <strong>und</strong> stelle es dem<br />

ersuchten Mitgliedstaat frei, eine gerichtliche Überprüfung als Bedingung für die Auslieferung zu fordern oder die<br />

Möglichkeit eines Gnadenaktes ausreichen zu lassen. Der B<strong>und</strong>esgesetzgeber habe sich für das Erfordernis einer<br />

gerichtlichen Überprüfung entschieden, mit der das polnische Gnadenverfahren, das keine gerichtliche Überprüfung<br />

der Entscheidung des Präsidenten der Republik Polen vorsehe, nicht vergleichbar sei.<br />

3. An der beabsichtigten Entscheidung sieht sich das Oberlandesgericht Düsseldorf durch die Entscheidungen des<br />

Oberlandesgerichts Koblenz vom 21. Juni 2007 (1 Ausl-III-41/05) <strong>und</strong> des Oberlandesgerichts Celle vom 19. Oktober<br />

2009 (1 ARs 40/09 Ausl) gehindert. Diese Gerichte vertreten die Auffassung, dass das polnische Gnadenverfahren<br />

eine Überprüfung im Sinne des § 83 Nr. 4 IRG darstelle; ähnlich haben das Oberlandesgericht Köln (Beschluss<br />

vom 27. April 2009 - 6 AuslA 25/08) für eine Auslieferung nach Ungarn <strong>und</strong> das Oberlandesgericht Celle (Beschluss<br />

vom 10. Oktober 2008 - 1 ARs 40/08 Ausl) für eine Auslieferung nach Lettland entschieden. Darüber hinaus sieht<br />

das Oberlandesgericht Düsseldorf in der aufgeworfenen Frage eine solche von gr<strong>und</strong>sätzlicher Bedeutung im Sinne<br />

des § 42 Abs. 1 1. Alt. IRG <strong>und</strong> hat deshalb die Sache dem B<strong>und</strong>esgerichtshof zur Entscheidung über folgende<br />

Rechtsfrage vorgelegt: "Ist die ergänzende Zulässigkeitsvoraussetzung des § 83 Nr. 4 IRG, wo-nach bei lebenslanger<br />

Freiheitsstrafe eine Überprüfung der Vollstreckung der verhängten Strafe spätestens nach 20 Jahren erfolgen muss,<br />

durch die nach Art. 560 ff. der polnischen Strafprozessordnung vorgesehene Möglichkeit einer – gemäß Art. 139 der<br />

polnischen Verfassung dem Präsidenten der Republik vorbehaltenen – Begnadigung erfüllt?"<br />

4. Der Generalb<strong>und</strong>esanwalt hat die Vorlegungsfrage geringfügig abgeändert (Einfügung von "zu erwartender" lebenslanger<br />

Freiheitsstrafe <strong>und</strong> Weglassung des Einschubs „gemäß Art. 139 der polnischen Verfassung dem Präsiden-<br />

- 172 -


ten der Republik vorbehaltenen“) <strong>und</strong> beantragt zu entscheiden: "Die ergänzende Zulässigkeitsvoraussetzung des §<br />

83 Nr. 4 IRG, wonach bei zu erwartender lebenslanger Freiheitsstrafe eine Überprüfung der Vollstreckung der verhängten<br />

Freiheitsstrafe spätestens nach 20 Jahren erfolgen muss, ist durch die nach Art. 560 ff. der polnischen Strafprozessordnung<br />

vorgesehene Möglichkeit einer Begnadigung erfüllt."<br />

5. Der anwaltliche Vertreter des Verfolgten hat beantragt, den Antrag des Generalb<strong>und</strong>esanwalts zurückzuweisen.<br />

Zur Begründung hat er auf die Ausführungen des Oberlandesgerichts Düsseldorf in dem Vorlagebeschluss vom 10.<br />

August 2011 verwiesen <strong>und</strong> ergänzend unter anderem ausgeführt, dass Art. 5 Abs. 2 RB-EUHb einen "Gnadenakt"<br />

erfordere, also eine Gnade gewährende Entscheidung, ein Anspruch allein auf die Durchführung eines Gnadenverfahrens<br />

mithin nicht ausreiche.<br />

II.<br />

1. Die Vorlegungsvoraussetzungen des § 42 Abs. 1 IRG sind erfüllt.<br />

a) Das Oberlandesgericht Düsseldorf kann - wie es zutreffend dargelegt hat - nicht wie beabsichtigt entscheiden,<br />

ohne von der in den Beschlüssen der Oberlandesgerichte Koblenz <strong>und</strong> Celle vertretenen Rechtsansicht abzuweichen<br />

(§ 42 Abs. 1 2. Alt. IRG), zumal sich inzwischen auch das Oberlandesgericht Dresden der von diesen Gerichten<br />

vertretenen Rechtsansicht angeschlossen hat (Beschluss vom 19. Dezember 2011 - OLG Ausl 219/11). Darüber hinaus<br />

ist die aufgeworfene Rechtsfrage von gr<strong>und</strong>sätzlicher Bedeutung (§ 42 Abs. 1 1. Alt. IRG); denn sie kann sich im<br />

deutsch-polnischen Auslieferungsverkehr über den vorgelegten Einzelfall hinaus jederzeit wieder stellen (vgl. Senatsbeschluss<br />

vom 15. April 2008 – 4 ARs 22/07, BGHSt 52, 191, 199 mwN), was dadurch belegt wird, dass das<br />

Oberlandesgericht Dresden eine Entscheidung über einen Auslieferungsantrag nach Polen, in dem sich dieselbe<br />

Problematik wie im vorliegenden Fall stellt, zurückgestellt hat (Beschluss vom 19. Dezember 2011 - OLG Ausl<br />

219/11 [juris - Tz. 10 ff.]).<br />

b) Die Rechtsfrage ist für die Entscheidung auch erheblich. Zwar hat sich der Verfolgte im vorliegenden Verfahren<br />

mit einer vereinfachten Auslieferung einverstanden erklärt. Dies steht aber einer entsprechenden - hier von der Generalstaatsanwaltschaft<br />

allerdings allein auf § 29 Abs. 1 IRG gestützten - Antragstellung nicht entgegen (vgl. § 29 Abs.<br />

2 IRG) <strong>und</strong> verpflichtet das Gericht, da sonstige Zulässigkeitsvoraussetzungen ersichtlich nicht in Frage stehen, über<br />

den Antrag in der Sache zu entscheiden. Hinzu kommt, dass das vorlegende Oberlandesgericht bereits in seinem<br />

Beschluss vom 24. Mai 2011 darauf hingewiesen hat, dass seiner Ansicht nach bei der richterlichen Anhörung des<br />

Verfolgten am 11. März 2011 eine ordnungsgemäße Belehrung nach § 79 Abs. 2 Satz 4 IRG unterblieben ist, was<br />

zur Folge hätte, dass sein dort erklärtes Einverständnis mit der vereinfachten Auslieferung nicht wirksam wäre (vgl.<br />

Hackner in Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl., § 79 Rn. 18).<br />

Zudem hat sich das der Generalstaatsanwaltschaft in § 29 Abs. 2 IRG eingeräumte Ermessen im Hin-blick auf die<br />

gegensätzlichen Entscheidungen der Oberlandesgerichte zur Auslegung von § 83 Nr. 4 IRG ohnehin auf Null reduziert<br />

(vgl. auch Lagodny in Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner aaO § 29 Rn. 7; ferner Oberlandesgericht Köln,<br />

Beschluss vom 27. April 2009 - 6 AuslA 25/08 [juris - Tz. 4, 6]; zum Schutzzweck des § 29 Abs. 2 IRG: Lagodny<br />

aaO § 29 Rn. 5). Die Auslieferung ist auch nicht bereits auf Gr<strong>und</strong>lage des Europäischen Auslieferungsübereinkommens<br />

von 1957 (im Folgenden: EuAlÜbk), des 2. Zusatzprotokolls von 1978 (im Folgenden: 2. ZP EuAlÜbk) oder<br />

des Vertrages zwischen der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland <strong>und</strong> der Republik Polen über die Ergänzung des EuAlÜbk<br />

von 2003 (im Folgenden: PL-ErgV EuAlÜbk) zulässig. Denn diese Regelungen sind nicht mehr anwendbar. Nach §<br />

78 Abs. 2 IRG gehen die Bestimmungen des 8. Teils des IRG den in § 1 Abs. 3 IRG genannten völkerrechtlichen<br />

Vereinbarungen vor, soweit dieser – wie bei dort enthaltenen speziellen Bestimmungen zum Schutz des Verfolgten<br />

(Böse in Grützner/ Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, § 78 IRG Rn. 1), mithin auch im<br />

Falle des § 83 Nr. 4 IRG – abschließende Regelungen enthält. Dies entspricht der Rechtsprechung des Europäischen<br />

Gerichtshofs, nach der zu den nach Art. 31 Abs. 2 RB-EUHb weiterhin anwendbaren bilateralen oder multilateralen<br />

Abkommen nicht die in Art. 31 Abs. 1 RB-EUHb aufgeführten Abkommen – also auch nicht das in Art. 31 Abs. 1 a)<br />

genannte EuAlÜbk <strong>und</strong> das 2. ZP EuAlÜbk – zählen, die durch den Rahmenbeschluss ersetzt wurden (EuGH, Urteil<br />

vom 12. August 2008 [Goicoechea] - C 296/06, NJW 2009, 657, 658; dazu auch Hackner aaO § 78 Rn. 7 f.).<br />

III. Der Senat bejaht die (vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt geringfügig abgeänderte) Vorlegungsfrage.<br />

1. Nach § 83 Nr. 4 IRG ist eine Auslieferung nur dann unzulässig, wenn die dem Ersuchen zugr<strong>und</strong>e liegende Tat<br />

nach dem Recht des ersuchenden Mitgliedstaates mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht ist <strong>und</strong> eine Überprüfung<br />

der Vollstreckung der verhängten Strafe auf Antrag oder von Amts wegen nicht spätestens nach 20 Jahren erfolgt.<br />

Eine Beschränkung auf gerichtliche oder der gerichtlichen Überprüfung unterliegende Entscheidungen lässt sich dem<br />

- 173 -


Wortlaut der Vorschrift nicht entnehmen; ebenso wenig schließt der Wort-laut Gnadenentscheidungen von vorneherein<br />

aus.<br />

2. Nach dem Willen des Gesetzgebers ist ein Gnadenverfahren jeden-falls dann als Überprüfung im Sinne des § 83<br />

Nr. 4 IRG anzusehen, wenn es die Aussetzung der Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe ermöglicht <strong>und</strong><br />

es dem Verfolgten einen Anspruch auf eine sachliche Kriterien berücksichtigende Entscheidung über sein Gnadengesuch<br />

einräumt.<br />

a) Zwar benennen sowohl Art. 5 Abs. 2 RB-EUHb, der durch den am 2. August 2006 in Kraft getretenen § 83 Nr. 4<br />

IRG in nationales Recht umgesetzt wurde, als auch die Gesetzesmaterialien zur ersten, mit Urteil des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />

vom 18. Juli 2005 (2 BvR 2236/04, NJW 2005, 2289) für nichtig erklärten Umsetzung des Rahmenbeschlusses<br />

durch das Europäische Haftbefehlsgesetz vom 21. Juli 2004 (BGBl. I, S. 1748) in § 83b Nr. 4 IRG sowohl<br />

einerseits die "Überprüfung" als auch andererseits "Gnadenakte" bzw. die "Möglichkeit der Begnadigung". Art. 5<br />

Abs. 2 RB-EUHb lautet: "Die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls durch die vollstrecken-de Justizbehörde<br />

kann nach dem Recht dieses Staates an eine der folgenden Bedingungen geknüpft werden:<br />

1. (…)<br />

2. Ist die Straftat, die dem Europäischen Haftbefehl zugr<strong>und</strong>e liegt, mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder einer lebenslangen<br />

freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bedroht, so kann die Vollstreckung des Europäischen<br />

Haftbefehls an die Bedingung geknüpft werden, dass die Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaates eine Überprüfung<br />

der verhängten Strafe – auf Antrag oder spätestens nach 20 Jahren – oder Gnadenakte zulässt, die zur Aussetzung<br />

der Vollstreckung der Strafe oder der Maßregel führen können <strong>und</strong> auf die die betreffende Person nach dem<br />

innerstaatlichen Recht oder der Rechtspraxis des Ausstellungsmitgliedstaates Anspruch hat.<br />

3. (…)"<br />

In der Gesetzesbegründung zum damals fakultativ ausgestalteten Bewilligungshindernis - im hier relevanten Teil mit<br />

der jetzigen Fassung des § 83 Nr. 4 IRG aber textidentischen - § 83b Nr. 4 IRG heißt es: "Eine Auslieferung kann<br />

abgelehnt werden, wenn nicht sichergestellt ist, dass spätestens 20 Jahre nach Beginn der Vollstreckung eine Überprüfung<br />

der weiteren Vollstreckung erfolgt. Ob die Überprüfung auf Antrag des Verfolgten oder von Amts wegen<br />

erfolgt, ist unerheblich. Entscheidend ist, dass ein Rechtsanspruch auf Überprüfung besteht. Die immer bestehende<br />

Möglichkeit einer Begnadigung ist jedoch hierfür nicht ausreichend. Der Rechtsanspruch kann sich aus einer gesetzlichen<br />

Vorschrift des ersuchenden Staates, aus seiner Rechtspraxis oder, im Falle der Zusicherung einer Überprüfung<br />

im Auslieferungsverfahren, aus der allgemeinen Pflicht zur Einhaltung bindender völkerrechtlicher Zusagen ergeben.<br />

Zweifel im Einzelfall, ob diese Zulässigkeitsvoraussetzung vorliegt, können durch Einholung einer Rechtsauskunft<br />

oder einer Zusicherung ausgeräumt werden“ (BT-Drucks. 15/1718, S. 21).<br />

b) Die Gesetzesbegründung zum zweiten Entwurf eines Europäischen Haftbefehlsgesetzes benennt dagegen den<br />

"Gnadenweg" ausdrücklich als Bei-spiel einer "Überprüfung" im Sinne des gegenüber der Erstfassung unveränderten<br />

§ 83b Nr. 4 IRG. Dort ist ausgeführt: "Bei lebenslanger Freiheitsstrafe (…) kann die Auslieferung nach § 83b Nr. 4<br />

verweigert werden, wenn eine Überprüfung der Vollstreckung nicht spätestens nach 20 Jahren erfolgt. Ist die Überprüfung<br />

nicht schon auf Gr<strong>und</strong> des Rechts des ersuchenden Staates gesichert, so kann von diesem Bewilligungshindernis<br />

kein Gebrauch gemacht werden, wenn über eine Bedingung bei der Auslieferung die Einhaltung einer fristgerechten<br />

Überprüfung, beispielsweise im Gnadenweg, sichergestellt <strong>und</strong> auf die Einhaltung der Bedingung vertraut<br />

werden kann“ (BT-Drucks. 16/1024, S. 13; ebenso bereits BT-Drucks. 16/544, S. 10). Von diesen Erwägungen ist<br />

der Gesetzgeber ersichtlich nicht mehr abgerückt. Vielmehr wurde auf Empfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen<br />

B<strong>und</strong>estages lediglich die Ausgestaltung als Bewilligungshindernis zugunsten einer Zulässigkeitsvoraussetzung<br />

in § 83 Nr. 4 IRG abgeändert (BT-Drucks. 16/2015, S. 4, 13). Dies belegt, dass der Gesetzgeber ein Gnadenverfahren,<br />

in dem der Verfolgte einen Anspruch auf Entscheidung über die weitere Vollstreckung einer lebenslangen<br />

Freiheitsstrafe bereits vor Ablauf von 20 Jahren hat, als Überprüfung im Sinne des § 83 Nr. 4 IRG ausreichen lassen<br />

wollte. Nach der Gesetzesbegründung zum ersten Europäischen Haftbefehlsgesetz sollte zwar die „immer bestehende<br />

Möglichkeit der Begnadigung“ nicht genügen, um zur Aus-lieferung zu verpflichten. Indes fordern weder Art. 5 Abs.<br />

2 RB-EUHb noch die Gesetzesbegründung zum ersten Europäischen Haftbefehlsgesetz ein gerichtliches oder der<br />

gerichtlichen Kontrolle unterliegendes Verfahren, sondern stellen maßgeblich auf einen Rechtsanspruch des Verfolgten<br />

auf Überprüfung der weiteren Vollstreckung ab. Dass der Gesetzgeber davon ausgegangen ist, Art. 5 Abs. 2 RB-<br />

EUHb ermögliche es ihm, die Auslieferung entweder an die Bedingung einer gerichtlichen Überprüfungsmöglichkeit<br />

oder an die Bedingung eines möglichen Gnadenaktes zu knüpfen, <strong>und</strong> dass er der Ansicht war, dass ein gesetzlich<br />

geregeltes Gnadenverfahren generell als Bedingung für die Auslieferung nicht ausreiche, lässt sich den Materialien<br />

- 174 -


nicht entnehmen. Die Begründung zum Entwurf des zweiten Europäischen Haftbefehlsgesetzes benennt vielmehr<br />

eine "Überprüfung … im Gnadenweg", auf die der Verfolgte einen An-spruch hat, als ausreichende Bedingung für<br />

die Auslieferung. Zwar bezieht sich dies - der Konzeption des Entwurfs des § 83b Nr. 4 IRG als eines Bewilligungshindernisses<br />

folgend - unmittelbar nur auf eine im Einzelfall aufgestellte Bedingung. Gleichwohl ist diesen Ausführungen<br />

- <strong>und</strong> der Umsetzung der vom Rechtsauschuss empfohlenen Änderung durch den Gesetzgeber - zu entnehmen,<br />

dass ein Gnadenverfahren jedenfalls unter bestimmten Voraussetzungen als ausreichende Überprüfung der<br />

weiteren Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe angesehen werden kann.<br />

3. Jedenfalls zwingt aber eine rahmenbeschlusskonforme Auslegung dazu, in einem Gnadenverfahren, das die Aussetzung<br />

der Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe ermöglicht <strong>und</strong> dem Verfolgten einen Anspruch auf<br />

eine sachliche Kriterien berücksichtigende Entscheidung über sein Gnadengesuch einräumt, die von § 83 Nr. 4 IRG<br />

aufgestellte Voraussetzung einer Überprüfung als erfüllt anzusehen.<br />

a) Dem - auch weiterhin geltenden (vgl. Suhr in Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, 4. Aufl., Art. 67 AEUV Rn. 41) -<br />

Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl kommt zwar der Anwendungsvorrang<br />

des primären <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>ären Gemeinschaftsrechts nicht zu; auch ist seine unmittelbare Anwendbarkeit durch<br />

Art. 34 Abs. 2 Buchst. b Satz 3 EUV a.F. weiterhin ausgeschlossen (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 13. August<br />

2009 - 2 BvR 471/09, BVerfGK 16, 131). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs besteht jedoch<br />

die Pflicht der mitgliedstaatlichen Gerichte zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung des nationalen Rechts, die<br />

sich so weit wie möglich an Wortlaut <strong>und</strong> Zweck des Rahmenbeschlusses auszurichten hat (vgl. Urteil vom 16. Juni<br />

2005 [Pupino] - C 105/03, NJW 2005, 2839, 2841 [Tz. 43]; ferner BVerfG, Beschluss vom 13. August 2009 - 2 BvR<br />

471/09; BGH, Urteil vom 3. Dezember 2009 – 3 StR 277/09, BGHSt 54, 216 [Tz. 28]; Hecker, Europäisches Strafrecht,<br />

3. Aufl., S. 360 f.; Hackner aaO Vor § 78 Rn. 10; Suhr aaO Art. 67 AEUV Rn. 21 ff.).<br />

b) Art. 5 Abs. 2 RB-EUHb beinhaltet - anders als das vorlegende Oberlandesgericht meint - nicht zwei voneinander<br />

unabhängige, sondern nur eine Bedingung, die es dem ersuchten Mitgliedstaat erlaubt, die Auslieferung auf-gr<strong>und</strong><br />

eines Europäischen Haftbefehls bei drohender lebenslanger Freiheitsstrafe zu verweigern, wenn das Recht des Ausstellungsmitgliedstaates<br />

- jeweils unter den im Rahmenbeschluss näher genannten Voraussetzungen - eine Reststrafenaussetzung<br />

weder aufgr<strong>und</strong> einer "Überprüfung" noch aufgr<strong>und</strong> eines "Gnadenaktes" zulässt (so auch Ligeti,<br />

Strafrecht <strong>und</strong> strafrechtliche Zusammenarbeit in der Europäischen Union, S. 132). Das ergibt sich bereits aus der<br />

sprachlichen Fassung des Rahmenbeschlusses. Art. 5 Abs. 2 RB-EUHb spricht von “der Bedingung“ (auch die englische<br />

<strong>und</strong> die französische Fassung verwenden den Singular, „the condition“ bzw. „la condition“), dass die Rechtsordnung<br />

des Ausstellungsmitgliedstaates eine Überprüfung oder Gnadenakte zulässt. Der daran anknüpfende Relativsatz,<br />

„die zur Aussetzung der Vollstreckung der Strafe oder der Maßregel führen können <strong>und</strong> auf die die betroffene<br />

Person nach dem innerstaatlichen Recht oder der Rechtspraxis des Ausstellungsmitgliedstaates Anspruch hat“,<br />

bezieht sich dabei sowohl auf „Überprüfung“ als auch auf „Gnadenakte“. Zwar ist insoweit auch ein Bezug lediglich<br />

auf die „Gnadenakte“ denkbar (ebenso in der französischen <strong>und</strong> der italienischen Fassung, wo sich der Femininum<br />

Plural „auxelles“ bzw. „alle quali“ sowohl allein auf „mesures de clémence“ bzw. „misure di clemenza“ als auch<br />

zusätzlich auf „révision“ bzw. „revisione“ beziehen kann). Verstünde sich der Relativsatz aber so, dass er nur auf<br />

„Gnadenakte“ bezogen wäre, wäre die in Art. 5 Abs. 2 RB-EUHb vorgesehene „Überprüfung“ nicht an die Voraussetzung<br />

geknüpft, dass sie zur Aussetzung der Vollstreckung führen kann <strong>und</strong> der Verfolgte auf eine Entscheidung<br />

hierüber einen Anspruch hat, was nach dem Zweck <strong>und</strong> dem Gesamtzusammenhang der Regelung ersichtlich aber<br />

ebenso wenig gewollt ist, wie der Bezug der Paranthese "auf Antrag oder spätestens nach 20 Jahren" allein auf die<br />

"Überprüfung", nicht aber auf "Gnadenakte" (die Betrachtung der Entstehungsgeschichte des Rahmenbeschlusses ist<br />

in diesem Zusammenhang unergiebig, weil sich die Begründung der Europäischen Kommission zum Entwurf des<br />

Rahmenbeschlusses vom 19. September 2001 - KOM [2001] 522 endgültig [vgl. dort S. 22, 44] - auf einen insofern<br />

vom letztlich verabschiedeten Text abweichenden Entwurf bezieht). Gegen das vom vorlegenden Oberlandesgericht<br />

vorgebrachte Verständnis zweier voneinander unabhängiger Bedingungen spricht weiter, dass es der Intention von<br />

Art. 5 Abs. 2 RB-EUHb offensichtlich widersprechen würde, wenn es dem nationalen Gesetzgeber überlassen wäre,<br />

etwa einzig ein Gnadenverfahren als Voraussetzung für die Auslieferung als ausreichend zu erachten, bei nicht vorgesehenem<br />

Gnadenverfahren aber trotz eines gesetzlich sachgerecht geregelten gerichtlichen Überprüfungsverfahrens<br />

nicht auszuliefern.<br />

c) Dabei fordert Art. 5 Abs. 2 RB-EUHb - entgegen der Ansicht des anwaltlichen Vertreters des Verfolgten - nicht,<br />

dass schon im Zeitpunkt der Entscheidung über die Auslieferung ein Gnadenakt im Sinne einer Gnade gewährenden<br />

- 175 -


Entscheidung vorliegt. Schon nach dem Wortlaut der Regelung ist vielmehr nur geboten, dass "die Rechtsordnung<br />

des Ausstellungsmitgliedstaates [des Europäischen Haftbefehls] … Gnadenakte zulässt".<br />

d) Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union zur Auslegung von Art. 5 Abs. 2 RB-EUHb ist nicht<br />

geboten. Es ist vorrangig Sache des nationalen Gerichts zu prüfen, ob sein Recht in einer rahmenbeschlusskonformen<br />

Weise ausgelegt werden kann (EuGH, Urteil vom 16. Juni 2005 [Pupino] - C 105/03, NJW 2005, 2839, 2841 [Tz.<br />

47]; vgl. ferner BVerfG, Beschluss vom 13. August 2009 - 2 BvR 471/09, BVerfGK 16, 131). Das nationale Gericht<br />

trägt auch die wesentliche Verantwortung für die Einhaltung der Grenzen einer solchen Auslegung (Suhr aaO Art. 67<br />

AEUV Rn. 25; Wegner in Calliess/Ruffert aaO Art. 267 AEUV Rn. 21). Kommt es bei der mithin zunächst ihm<br />

obliegenden Auslegung zu dem Ergebnis, die Voraus-setzungen für die Erholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs<br />

der Europäischen Union (hier: nach Art. 267 Buchst. b AEUV) seien nicht gegeben, weil die richtige Anwendung<br />

des Gemeinschaftsrechts derart offenk<strong>und</strong>ig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum ist ("acte<br />

claire-Doktrin"; vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Juni 2011 - 1 BvR 2109/09; Wegner aaO Art. 267 AEUV Rn. 32<br />

jeweils mwN), so ist es - auch als letztinstanzliches Gericht - zur Erholung dieser Vorabentscheidung nicht verpflichtet.<br />

Dies ist vorliegend der Fall. Der Senat ist - wie sich aus obigen Ausführungen ergibt - auch bei Berücksichtigung<br />

insbesondere der verschiedenen Sprachfassungen <strong>und</strong> der besonderen Begrifflichkeiten des Gemeinschaftsrechts,<br />

seiner Ziele <strong>und</strong> seines Entwicklungsstandes der Überzeugung, dass weder der Gerichtshof der Europäischen Union<br />

noch Gerichte anderer Mitgliedstaaten Art. 5 Abs. 2 RB-EUHb anders auslegen würden, als der Senat dies oben<br />

getan hat.<br />

4. Die auch - unter bestimmten Voraussetzungen - Gnadenverfahren in die "Überprüfung" im Sinne des § 83 Nr. 4<br />

IRG einbeziehende Auslegung führt schließlich dazu, dass Wertungswidersprüche zwischen Fällen der dem IRG<br />

unterfallenden Auslieferung <strong>und</strong> denen der Auslieferung an einen Drittstaat (vgl. dazu unten 6.) weitgehend vermieden<br />

werden.<br />

5. Das polnische Gnadenverfahren erfüllt die Anforderungen des - in obigem Sinne ausgelegten - § 83 Nr. 4 IRG.<br />

a) Gemäß Art. 560 § 1 der polnischen Strafprozessordnung können - abgesehen von Fällen einer Verurteilung durch<br />

den Staatsgerichtshof (Art. 139 der polnischen Verfassung) - der Verurteilte <strong>und</strong> nahe Angehörige ein Gnadengesuch<br />

stellen, das beim Gericht des ersten Rechtszuges anzubringen ist (Art. 561 § 1 der polnischen Strafprozessordnung).<br />

Dieses soll gemäß Art. 561 § 2 der polnischen Strafprozessordnung innerhalb von zwei Monaten entscheiden, wobei<br />

die Entscheidungskriterien – insbesondere das Verhalten des Verurteilten nach der Entscheidung, das Ausmaß der<br />

bereits vollzogenen Strafe, der Ges<strong>und</strong>heitszustand des Verurteilten <strong>und</strong> seine Familienverhältnisse, geleisteter<br />

Schadensersatz für den durch die Straftat verursachten Schaden <strong>und</strong> vor allem nach der Verurteilung eingetretene<br />

Ereignisse – von Art. 563 der polnischen Strafprozessordnung vorgegeben sind. Hat in der Sache nur das Gericht des<br />

ersten Rechtszuges entschieden <strong>und</strong> befürwortet es das Gnadengesuch, so leitet es die Akten dem Generalstaatsanwalt<br />

zu, anderenfalls ist das Gnadenverfahren beendet. Wenn in der Sache ein Rechtsmittelgericht entschieden hat,<br />

leitet das Gericht des ersten Rechtszuges diesem die Akten mit seiner Stellungnahme weiter (Art. 564 § 1 <strong>und</strong> § 2 der<br />

polnischen Strafprozessordnung). Ist die Stellungnahme des Erstgerichts negativ <strong>und</strong> befürwortet auch das Rechtsmittelgericht<br />

das Gnadengesuch nicht, ist das Gnadenverfahren beendet; in allen anderen Fällen leitet das Rechtsmittelgericht<br />

die Akten dem Generalstaatsanwalt zu (Art. 564 § 3 der polnischen Strafprozessordnung). Hat mindestens<br />

ein Gericht das Gnadengesuch positiv bewertet, legt dieser es gemäß Art. 565 § 1 der polnischen Strafprozessordnung<br />

dem Präsidenten der Republik Polen, der nach Art. 139 der polnischen Verfassung das Gnadenrecht ausübt, mit<br />

einer eigenen Stellungnahme vor. Er oder der Generalstaatsanwalt können ein Gnadenverfahren auch von Amts<br />

wegen einleiten (Art. 567 § 1 <strong>und</strong> § 2 der polnischen Strafprozessordnung). Eine Mindestverbüßungsdauer vor der<br />

Einleitung des Gnadenverfahrens sehen die Art. 560 ff. der polnischen Strafprozess-ordnung nicht vor. Dass der<br />

Verurteilte einen gesetzlichen Anspruch auf Verbescheidung seines Gnadengesuchs <strong>und</strong> damit auf Überprüfung der<br />

Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe hat, ergibt sich insbesondere aus Art. 566 der polnischen Strafprozessordnung.<br />

Denn nur wenn vor Ablauf eines Jahres ab der negativen Verbescheidung eines vorherigen ein neues<br />

Gnadengesuch gestellt wird, muss über dieses nicht entschieden werden. Hieraus folgt, dass in allen anderen Fällen<br />

der Verurteilte einen Anspruch auf Durchführung des Gnaden-verfahrens <strong>und</strong> auf Verbescheidung seines Antrags<br />

hat. Dementsprechend hat - ähnlich der Mitteilung des polnischen Justizministeriums an den Generalb<strong>und</strong>esanwalt<br />

(vgl. Seiten 21/22 der Antragsschrift vom 19. Januar 2012; ferner OLG Koblenz, Beschluss vom 21. Juni 2007 - 1<br />

Ausl-III-41/05 [juris - Tz. 36]) - die Kreisstaatsanwaltschaft in B. auf Anfrage des Generalstaatsanwalts in <strong>Hamm</strong> in<br />

anderer Sache (dortiges Az.: 4 AuslA 124/11) mit Schreiben vom 14. Oktober 2011 ausgeführt: "Die einzige Gr<strong>und</strong>lage<br />

für die Ablehnung des Gnadengesuchs aus formellen Gründen ist die Stellung des Gnadengesuchs vor Ablauf<br />

- 176 -


eines Jahres ab der Stellung des vorherigen Gesuchs. In allen sonstigen Fällen muss jederzeit ein Begnadigungsverfahren<br />

eingeleitet <strong>und</strong> die Sache meritorisch entschieden werden."<br />

b) Das polnische Gnadenverfahren erfüllt die Anforderungen des - in obigem Sinne ausgelegten - § 83 Nr. 4 IRG,<br />

obwohl für die abschließende Entscheidung des Staatspräsidenten keine bindenden (materiellen) Kriterien vorgegeben<br />

sind <strong>und</strong> seine Entscheidung keiner gerichtlichen Überprüfung zugänglich ist (vgl. auch OLG Koblenz, Beschluss<br />

vom 21. Juni 2007 - 1 Ausl-III-41/05 [juris - Tz. 35]; a.A. z.B. Hackner aaO § 83 Rn. 16). Ein insgesamt<br />

justizförmiges Verfahren fordern weder - wie dargelegt - § 83 Nr. 4 IRG noch europäisches Recht oder deutsches<br />

Verfassungsrecht (vgl. BVerfG, Be-schluss vom 6. Juli 2005 - 2 BvR 2259/04 [Tz. 38], BVerfGE 113, 154, 167).<br />

Vielmehr genügt jedenfalls, wenn - wie im polnischen Gnadenrecht - für die Gnadenentscheidung keinerlei tatbestandliche<br />

Einschränkungen vorgesehen sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. Juli 2005 - 2 BvR 2259/04 [Tz. 35 ff.],<br />

BVerfGE 113, 154, 166 f.), sondern - sogar durch ein justizförmiges Verfahren - gewährleistet ist, dass sachgerechte<br />

Kriterien bei der Entscheidung berücksichtigt werden können, also hierzu erforderlichenfalls Ermittlungen angestellt<br />

<strong>und</strong> Feststellungen getroffen werden, <strong>und</strong> keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der zur Gnadenentscheidung<br />

Berufene diese bei seiner Entscheidung außer Betracht lässt (vgl. dazu auch OLG Koblenz, Beschluss vom 21. Juni<br />

2007 - 1 Ausl-III-41/05 [juris - Tz. 38]; zum ungarischen Gnadenrecht auch Oberlandesgericht Köln, Beschluss vom<br />

27. April 2009 - 6 AuslA 25/08 [juris - Tz. 24 f.]; zum Gnadenrecht der Vereinigten Staaten von Amerika: OLG<br />

Dresden, Beschluss vom 14. Januar 2011 - OLG Ausl 179/10 [juris - Tz. 33 ff.]; dazu auch VerfG-Sachsen, Beschluss<br />

vom 11. März 2011 - Vf. 25-IV-11 HS, Vf. 26-IV-11 e.A. [juris - Rn. 15 ff.]). Mit der Berücksichtigung des<br />

Verhaltens des Verurteilten nach der Entscheidung, des Ausmaßes der bereits vollzogenen Strafe, des Ges<strong>und</strong>heitszustandes<br />

des Verurteilten <strong>und</strong> seiner Familienverhältnisse, geleisteten Schadensersatzes für den durch die Straftatverursachten<br />

Schaden <strong>und</strong> vor allem nach der Verurteilung eingetretener Ereignisse eröffnet das polnische Gnadenrecht<br />

dem Verurteilten die nicht nur vage Hoffnung auf ein späteres selbstbestimmtes Leben in Freiheit (vgl. zu diesem<br />

Erfordernis auch BVerfG, Beschluss vom 16. Januar 2010 – 2 BvR 2299/09 [Tz. 28 f.], BVerfGK 16, 491, 499).<br />

6. Die Subsumtion des polnischen Gnadenverfahrens unter das Tatbestandsmerkmal der "Überprüfung" in § 83 Nr. 4<br />

IRG verstößt schließlich nicht gegen allgemeine (vgl. BGH, Urteil vom 3. Dezember 2009 – 3 StR 277/09, BGHSt<br />

54, 216 [Tz. 28]), insbesondere nicht gegen verfassungs- oder völkerrechtliche Rechtsgr<strong>und</strong>sätze. Die deutschen<br />

Gerichte sind von Verfassungs wegen gehalten, im Auslieferungsverfahren zu prüfen, ob die Auslieferung mit dem<br />

nach Art. 25 GG in der B<strong>und</strong>esrepublik verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard <strong>und</strong> den unabdingbaren<br />

verfassungsrechtlichen Gr<strong>und</strong>sätzen ihrer öffentlichen Ordnung vereinbar ist, zu denen das Gebot der Verhältnismäßigkeit,<br />

das insbesondere unerträglich harte <strong>und</strong> unter jedem Gesichtspunkt unangemessene Strafen verbietet, <strong>und</strong><br />

das aus Art. 1 Abs. 1 <strong>und</strong> Art. 2 Abs. 1 GG folgende Verbot grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Strafens<br />

zählen (BVerfG, Beschlüsse vom 6. Juli 2005 - 2 BvR 2259/04 [Tz. 22 f.], BVerfGE 113, 154, 162; vom 16.<br />

Januar 2010 – 2 BvR 2299/09 [Tz. 18 f.], BVerfGK 16, 491, 495 f. mwN). Im Zusammenhang mit der (möglichen)<br />

Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe sind diese Mindeststandards im Auslieferungsverfahren in Bezug auf<br />

deren Vollstreckung gewahrt, wenn für den Verfolgten jedenfalls eine praktische Chance auf Wiedererlangung der<br />

Freiheit besteht (BVerfG, Beschluss vom 6. Juli 2005 - 2 BvR 2259/04 [Tz. 31], BVerfGE 113, 154, 164 f.; vgl. auch<br />

BVerfG, Beschluss vom 22. November 2005 - 2 BvR 1090/05, NStZ-RR 2006, 149, 150 f.). Eine solche kann auch<br />

aufgr<strong>und</strong> eines gr<strong>und</strong>sätzlich erfolgversprechenden Gnadenverfahrens bestehen (BVerfG, Beschlüsse vom 6. Juli<br />

2005 - 2 BvR 2259/04 [Tz. 31]; vom 16. Januar 2010 – 2 BvR 2299/09 [Tz. 23], BVerfGK 16, 491, 498). Diese<br />

Mindeststandards sind vorliegend nicht nur durch das mögliche Gnadenverfahren, sondern auch durch die nach Art.<br />

78 § 3 des polnischen Strafgesetzbuches vorgesehene gerichtliche Überprüfung der Reststrafenaussetzung nach 25<br />

Jahren gewahrt (vgl. dazu auch EGMR, Beschluss vom 3. November 2009 - 26958/07 [M. ./. Deutschland], EuGRZ<br />

2010, 283, 284), zumal nach deutschem Recht in Fällen der versuchten vorsätzlichen Tötung eines Menschen ebenfalls<br />

eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt werden kann. Eine lebenslange Freiheitsstrafe stellt selbst ohne die<br />

Möglichkeit einer Strafaussetzung zur Bewährung als solche aber keine unerträglich harte oder unmenschliche Strafe<br />

dar, die der Auslieferung von vorneherein entgegensteht (BVerfG, Beschlüsse vom 6. Juli 2005 - 2 BvR 2259/04<br />

[Tz. 25], BVerfGE 113, 154, 163; vom 16. Januar 2010 – 2 BvR 2299/09 [Tz. 20], BVerfGK 16, 491, 496).<br />

- 177 -


OWiG § 074 Abs. 2 – Verwerfung der Rechtsbeschwerde bei Nichtrerscheinen des Betroffenen<br />

BGH, Beschl. v. 18.07.2012 - 4 StR 603/11 - BGHSt 57, 282 = NJW 2013, 323 = BGHR OWiG § 74 II Einspruchsverwerfung<br />

2<br />

LS: Das Amtsgericht hat den Einspruch des nicht vom persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung<br />

entb<strong>und</strong>enen <strong>und</strong> unentschuldigt ausgebliebenen Betroffenen auch dann nach § 74 Abs. 2<br />

OWiG zu verwerfen, wenn das vorausgegangene Sachurteil vom Rechtsbeschwerdegericht nur im<br />

Rechtsfolgenausspruch aufgehoben <strong>und</strong> die Sache im Umfang der Aufhebung zurückverwiesen<br />

worden war.<br />

Der 4. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat auf Antrag des Generalb<strong>und</strong>esanwalts <strong>und</strong> nach Anhörung des Betroffenen<br />

am 18. Juli 2012 beschlossen: Das Amtsgericht hat den Einspruch des nicht vom persönlichen Erscheinen<br />

in der Hauptverhandlung entb<strong>und</strong>enen <strong>und</strong> unentschuldigt ausgebliebenen Betroffenen auch dann nach § 74 Abs. 2<br />

OWiG zu verwerfen, wenn das vorausgegangene Sachurteil vom Rechtsbeschwerdegericht nur im Rechtsfolgenausspruch<br />

aufgehoben <strong>und</strong> die Sache im Umfang der Aufhebung zurückverwiesen worden war.<br />

Gründe:<br />

I.<br />

1. Das Amtsgericht Hannover hat den Betroffenen durch Urteil vom 9. Dezember 2010 wegen fahrlässigen Überschreitens<br />

der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 160 € verurteilt <strong>und</strong> ein Fahrverbot von<br />

einem Monat festgesetzt. Dieselben Rechtsfolgen enthielt bereits der Bußgeldbescheid der Landeshauptstadt Hannover<br />

vom 19. Mai 2010. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat das Oberlandesgericht Celle durch Beschluss<br />

vom 29. März 2011 das angefochtene Urteil im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben <strong>und</strong> die Sache im Umfang der<br />

Aufhebung zu neuer Entscheidung an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Hannover zurückverwiesen. Die weiter<br />

gehende Rechtsbeschwerde hat das Oberlandesgericht als unbegründet verworfen. Das Amtsgericht Hannover hat<br />

den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid der Landeshauptstadt Hannover vom 19. Mai 2010 durch<br />

Urteil vom 25. August 2011 gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen, weil der Betroffene, der nicht von der Verpflichtung<br />

zum persönlichen Erscheinen entb<strong>und</strong>en war, trotz ordnungsgemäßer Ladung in der Hauptverhandlung unentschuldigt<br />

ausgeblieben ist. Gegen dieses Urteil hat der Betroffene erneut Rechtsbeschwerde eingelegt. Er rügt mit<br />

einer unzulässigen (§ 79 Abs. 3 OWiG, § 344 Abs. 2 StPO) Verfahrensrüge, dass sein Verteidiger fälschlich eine<br />

Abladung zum Hauptverhandlungstermin am 25. August 2011 erhalten habe <strong>und</strong> auch er deshalb nicht zum Termin<br />

erschienen sei. Mit der Sachrüge beanstandet er die Verletzung des rechtlichen Gehörs.<br />

2. Das Oberlandesgericht Celle möchte die Rechtsbeschwerde als unbegründet verwerfen. Es ist der Ansicht, dass<br />

der Einspruch des Betroffenen, der trotz Anordnung seines persönlichen Erscheinens in der Hauptverhandlung ausbleibt,<br />

auch nach vorangegangener Teilaufhebung im Rechtsfolgenausspruch nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen<br />

werden kann. An der beabsichtigten Verwerfung der Rechtsbeschwerde sieht sich das Oberlandesgericht durch den<br />

Beschluss des Oberlandesgerichts <strong>Hamm</strong> vom 2. November 2006 – 4 Ss OWi 742/06 – (VRS 112 [2007], 49) gehindert.<br />

Nach Ansicht des Oberlandesgerichts <strong>Hamm</strong> kommt eine Verwerfung des Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG<br />

nicht in Betracht, wenn durch das Rechtsbeschwerdegericht nur der Rechtsfolgenausspruch eines Urteils mit den<br />

getroffenen Feststellungen aufgehoben worden ist. Der Konflikt zwischen der zwingenden Anordnung des § 74 Abs.<br />

2 OWiG <strong>und</strong> der eingetretenen Teilrechtskraft der vorangegangenen gerichtlichen Entscheidung sei dahin zu lösen,<br />

dass der Teilrechtskraft der Vorrang einzuräumen sei. Es sei auch nicht sachgerecht, eine Einspruchsverwerfung in<br />

solchen Fällen zuzulassen, in denen die rechtskräftigen Feststellungen des amtsgerichtlichen Urteils nicht von dem<br />

Vorwurf des Bußgeldbescheides abwichen, weil die Frage der Zulässigkeit der Einspruchsverwerfung nach § 74<br />

Abs. 2 OWiG nur einheitlich <strong>und</strong> nicht fallbezogen beantwortet werden könne. Die möglichen praktischen Schwierigkeiten,<br />

die sich daraus ergeben könnten, dass ein Betroffener die Durchführung der Hauptverhandlung durch Abwesenheit<br />

unmöglich mache, könnten dadurch gelöst werden, dass im Falle des unerlaubten Fernbleibens in der<br />

Hauptverhandlung ein Verzicht auf die oder eine Verwirkung der Anwesenheitsrüge zu sehen sein könnte. Nach<br />

dieser Rechtsprechung des Oberlandesgerichts <strong>Hamm</strong> wäre im vorliegenden Fall das angefochtene Urteil auf die im<br />

Rahmen der Sachrüge von Amts wegen vorzunehmende Prüfung der Frage, ob das Amtsgericht den Umfang seiner<br />

Prüfungs- <strong>und</strong> Feststellungspflicht verkannt hat, aufzuheben. Das vorlegende Oberlandesgericht Celle teilt diese<br />

Auffassung nicht. Auszugehen sei davon, dass § 74 Abs. 2 OWiG zwingend <strong>und</strong> ohne Ausnahme die Verwerfung<br />

- 178 -


des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid bei unentschuldigter Abwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung<br />

vorschreibe. Mit der Neufassung habe der Gesetzgeber – gerade auch bei Abwesenheit des Betroffenen – eine<br />

Vereinfachung des Verfahrens <strong>und</strong> damit eine Entlastung der Gerichte erreichen wollen, die nach der Zielrichtung<br />

des Gesetzentwurfs dringend geboten erschien. Eine einschränkende Auslegung des § 74 Abs. 2 OWiG würde dieser<br />

Zielrichtung zuwiderlaufen. Die bei vergleichbaren Verfahrenskonstellationen geltenden strafprozessualen Regelungen<br />

geböten keine abweichende Beurteilung. Die Vorschrift des § 74 Abs. 2 OWiG enthalte keine der Bestimmung<br />

in § 329 Abs. 1 Satz 2 StPO vergleichbare Regelung, wonach eine Verwerfung der Berufung nach Zurückverweisung<br />

durch das Revisionsgericht unzulässig ist. Daraus könne der Schluss gezogen werden, dass der Gesetzgeber bei<br />

der Neufassung des § 74 Abs. 2 OWiG unterschiedliche Regelungen treffen wollte. Ferner könne nicht außer Acht<br />

gelassen werden, dass dem Amtsgericht keine Zwangsmittel zur Verfügung stünden, um das Erscheinen des Betroffenen<br />

vor Gericht zu erzwingen. Der Gesetzgeber habe bei der Neufassung des § 74 Abs. 2 OWiG die noch in §<br />

74 Abs. 2 a.F. neben der Verwerfung des Einspruchs vorgesehenen Möglichkeiten, die Vorführung des Betroffenen<br />

anzuordnen oder ohne den Betroffenen die Hauptverhandlung durchzuführen, angesichts der zwingenden Regelung<br />

des § 74 Abs. 2 OWiG ausdrücklich für entbehrlich gehalten. § 230 Abs. 2 StPO, der die Vorführung eines Angeklagten<br />

im Strafverfahren regele, sei nicht anwendbar. Verhaftung <strong>und</strong> vorläufige Festnahme seien nach § 46 Abs. 3<br />

Satz 1 OWiG unzulässig. Das Verfahren in Abwesenheit des Betroffenen setze voraus, dass dieser auf seinen Antrag<br />

gemäß § 73 Abs. 2 OWiG von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entb<strong>und</strong>en worden sei. Ein nicht<br />

mitwirkungsbereiter Betroffener hätte demnach die Möglichkeit, das Verfahren auf unabsehbare Zeit zu verhindern,<br />

ohne dass eine Verjährung der Ordnungswidrigkeit eintreten würde (§ 32 Abs. 2 OWiG). Dies wäre nicht hinnehmbar.<br />

Deshalb werde die Verwerfung des Einspruchs bei unentschuldigtem Ausbleiben des Betroffenen nach Aufhebung<br />

eines Sachurteils durch das Rechtsbeschwerdegericht in vollem Umfang nach allgemeiner Ansicht als zulässig<br />

angesehen. Die vorstehenden Argumente hätten aber gleichermaßen Geltung für Fälle der Aufhebung nur im Rechtsfolgenausspruch.<br />

Die vom Oberlandesgericht <strong>Hamm</strong> aufgezeigte Lösung würde das Verfahren mit neuen, vom Gesetzgeber<br />

mit der Neuregelung gerade nicht intendierten zusätzlichen Rechtsproblemen belasten. Dafür spreche auch,<br />

dass der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 67 Abs. 2 OWiG die Möglichkeit der Beschränkung des Einspruchs<br />

auf bestimmte Beschwerdepunkte geschaffen habe <strong>und</strong> es damit als rechtlich zulässig ansehe, dass ein Gericht die<br />

Rechtsfolgen der Tat auf der Basis eines Schuldspruchs durch Bußgeldbescheid der Verwaltungsbehörde festsetze.<br />

Die Tatsache, dass der Gesetzgeber die zwingende Regelung ohne Einschränkungen eingeführt habe, obwohl ihm<br />

bekannt gewesen sei, dass unter der Geltung des § 74 Abs. 2 OWiG a.F. eine Verwerfung des Einspruchs bei vorangegangener<br />

Teilaufhebung im Rechtsfolgenausspruch von den Oberlandesgerichten als unzulässig angesehen wurde,<br />

rechtfertige den Schluss, dass der Gesetzgeber das mögliche Spannungsverhältnis zwischen einem Schuldspruch<br />

durch Urteil <strong>und</strong> einer Rechtsfolgenentscheidung durch bereits vorher ergangenen Bußgeldbescheid im Interesse der<br />

Entlastung der Gerichte bewusst in Kauf genommen habe. Das Oberlandesgericht hat die Sache gemäß § 121 Abs. 2<br />

GVG dem B<strong>und</strong>esgerichtshof vorgelegt <strong>und</strong> die Rechtsfrage wie folgt formuliert: „Darf das Amtsgericht den Einspruch<br />

eines nicht vom persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung entb<strong>und</strong>enen Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid<br />

der Verwaltungsbehörde auch dann noch gemäß § 74 Abs. 2 Satz 1 OWiG verwerfen, wenn das vorangegangene<br />

Sachurteil vom Rechtsbeschwerdegericht nur im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben <strong>und</strong> die Sache im<br />

Umfang der Aufhebung an das Amtsgericht zurückverwiesen worden war?“<br />

3. Der Generalb<strong>und</strong>esanwalt hat angeregt, die Vorlegungsfrage, die sich an der Entscheidung des 1. Strafsenats vom<br />

10. Dezember 1985 – 1 StR 506/85, BGHSt 33, 394 orientiere, an die aktuelle Gesetzeslage anzupassen, nach der das<br />

Amtsgericht den Einspruch zu verwerfen „hat“. Er beantragt zu entscheiden: „Unter den Voraussetzungen des § 74<br />

Abs. 2 OWiG hat das Amtsgericht den Einspruch eines Betroffenen gegen einen Bußgeldbescheid auch dann zu<br />

verwerfen, wenn das vorangegangene Sachurteil vom Rechtsbeschwerdegericht nur im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben<br />

<strong>und</strong> in diesem Umfang an das Amtsgericht zurückverwiesen wurde.“<br />

II.<br />

1. Die Vorlegungsvoraussetzungen sind erfüllt. Die Vorschrift des § 121 Abs. 2 GVG ist gemäß § 79 Abs. 3 OWiG<br />

für die Rechtsbeschwerde im Sinne des Ordnungswidrigkeitengesetzes entsprechend heranzuziehen (vgl. BGH, Beschluss<br />

vom 20. März 1992 – 2 StR 371/91, BGHSt 38, 251, 254). Das Oberlandesgericht Celle kann nicht seiner<br />

Absicht gemäß entscheiden, ohne von der Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts <strong>Hamm</strong> abzuweichen.<br />

2. In der Vorlegungsfrage teilt der Senat die Auffassung des vorlegenden Gerichts.<br />

a) Der Betroffene ist nach § 73 Abs. 1 OWiG zum Erscheinen in der Hauptverhandlung verpflichtet. Er kann aber<br />

nach § 73 Abs. 2 OWiG auf seinen Antrag von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung entbun-<br />

- 179 -


den werden, wenn er sich geäußert oder erklärt hat, dass er sich in der Hauptverhandlung nicht zur Sache äußern<br />

werde, <strong>und</strong> seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich ist.<br />

Bleibt der Betroffene ohne genügende Entschuldigung aus, obwohl er von der Verpflichtung zum Erscheinen nicht<br />

entb<strong>und</strong>en war, hat das Gericht den Einspruch ohne Verhandlung zur Sache durch Urteil zu verwerfen (§ 74 Abs. 2<br />

OWiG). Dem Ausbleiben des Betroffenen, wenn es nicht aus anderen Gründen genügend entschuldigt ist, ist mangelndes<br />

Interesse an der Wahrnehmung seiner Prozessrolle zu entnehmen; dies rechtfertigt angesichts der geringeren<br />

Bedeutung von Bußgeldverfahren eine Verwerfung des Einspruchs. Die Verwerfung des Einspruchs bei unentschuldigtem<br />

Ausbleiben des Betroffenen ist nach der Neufassung des § 74 Abs. 2 OWiG durch Art. 1 Nr. 13 des Gesetzes<br />

zur Änderung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten <strong>und</strong> anderer Gesetze (OWiGÄndG) vom 26. Januar 1998<br />

(BGBl. I S. 156, 157) zwingend, ein Ermessensspielraum wird dem Gericht anders als nach der früheren Rechtslage<br />

nicht mehr eingeräumt. Durch die Umwandlung der Vorschrift in eine zwingende Regelung wollte der Gesetzgeber<br />

eine Vereinfachung des Verfahrens <strong>und</strong> damit eine „dringend gebotene“ Entlastung der Gerichte erreichen (BT-<br />

Drucks. 13/5418 S. 7, 9). Schon nach der früheren Rechtslage durfte aber das Amtsgericht den Einspruch des trotz<br />

Anordnung des persönlichen Erscheinens in der Hauptverhandlung unentschuldigt ausgebliebenen Betroffenen gegen<br />

den Bußgeldbescheid der Verwaltungsbehörde auch dann noch nach § 74 Abs. 2 Satz 1 OWiG verwerfen, wenn<br />

das vorangegangene Sachurteil vom Rechtsbeschwerdegericht aufgehoben <strong>und</strong> die Sache zurückverwiesen worden<br />

war (BGH, Beschluss vom 10. Dezember 1985 – 1 StR 506/85, BGHSt 33, 394). Der B<strong>und</strong>esgerichtshof hat dies<br />

seinerzeit daraus geschlossen, dass das Erste Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts (1. StVRG) vom 9. Dezember<br />

1974 (BGBl. I S. 3393, 3533) lediglich § 329 Abs. 1 StPO <strong>und</strong> § 412 StPO in dem Sinne geändert hat, dass<br />

die Berufung oder der Einspruch nach diesen Vorschriften nicht mehr verworfen werden darf, wenn das Tatgericht<br />

erneut verhandelt, nachdem die Sache vom Revisionsgericht zurückverwiesen worden ist. Damit habe der Gesetzgeber<br />

der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs zu § 329 Abs. 1 StPO (Urteil vom 3. April 1962 – 5 StR 580/61,<br />

BGHSt 17, 188) Rechnung tragen wollen. Weil § 329 Abs. 1 StPO <strong>und</strong> § 412 StPO sowie § 74 Abs. 2 OWiG dasselbe<br />

Rechtsproblem beträfen, lasse sich schon aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber diese Frage in § 329 Abs. 1<br />

StPO <strong>und</strong> § 412 StPO neu geregelt habe, während § 74 Abs. 2 OWiG – bei Änderung in anderen Punkten – unverändert<br />

geblieben sei, der Schluss ziehen, dass er damit unterschiedliche Regelungen für Strafverfahren <strong>und</strong> Bußgeldverfahren<br />

habe treffen wollen. Diese Argumentation trifft auch nach der gegenwärtigen Rechtslage zu. Zwar stand<br />

nach der früheren Fassung des § 74 Abs. 2 OWiG die Verwerfung des Einspruchs bei unentschuldigtem Ausbleiben<br />

des Betroffenen im Ermessen des Gerichts, während diese Folge nunmehr zwingend auszusprechen ist. Aus der<br />

Tatsache, dass der Gesetzgeber bei dieser erneuten Änderung des § 74 Abs. 2 OWiG in Kenntnis der Rechtsprechung<br />

zur Zulässigkeit der Verwerfung nach Aufhebung <strong>und</strong> Zurückverweisung durch das Revisionsgericht wiederum<br />

keine dem § 329 Abs. 1 Satz 2 StPO entsprechende Regelung in die Vorschrift eingefügt hat, kann daher weiterhin<br />

geschlossen werden, dass die Verwerfung des Einspruchs gegen einen Bußgeldbescheid nach Aufhebung des ersten<br />

Sachurteils in der Rechtsbeschwerdeinstanz <strong>und</strong> die Verwerfung der Berufung bzw. des Einspruchs gegen einen<br />

Strafbefehl unterschiedlich geregelt bleiben sollen (so auch OLG Köln, VRS 98 [2000], 217, 219; OLG Stuttgart,<br />

NJW 2002, 978, 979; OLG Brandenburg, VRS 117 [2009] 102; OLG <strong>Hamm</strong>, Beschluss vom 22. März 2012 – 3 RBs<br />

68/12, veröffentlicht bei juris; zustimmend Seitz in Göhler, OWiG, 16. Aufl., § 74 Rn. 24; Rebmann/Roth/Herrmann,<br />

OWiG, Stand März 2011, § 74 Rn. 13; Bohnert, OWiG, 3. Aufl., § 74 Rn. 22; aA KK-Senge,<br />

OWiG, 3. Aufl., § 74 Rn. 21). Dies entspricht auch dem Ziel der Entlastung der Gerichte durch das OWiGÄndG. Da<br />

es sich um eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers handelt, die Verfahrensweise beim unentschuldigten Ausbleiben<br />

des Betroffenen im Bußgeldverfahren abweichend vom Strafverfahren zu regeln, scheidet eine Anwendung<br />

der Regelungen der §§ 412, 329 Abs. 1 StPO über § 71 Abs. 1 OWiG aus.<br />

b) Die Verwerfung des Einspruchs bei unentschuldigtem Ausbleiben des Betroffenen hat auch dann zu erfolgen,<br />

wenn das Rechtsbeschwerdegericht die Sache nur im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben <strong>und</strong> an das Amtsgericht<br />

zurückverwiesen hat.<br />

aa) Dies folgt bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift. § 74 Abs. 2 OWiG ist durch das OWiGÄndG ohne Ausnahme<br />

zu einer zwingenden Regelung umgestaltet worden, obwohl der Gesetzgeber wusste, dass die Rechtsprechung der<br />

Oberlandesgerichte eine Verwerfung des Einspruchs nach Teilaufhebung durch das Rechtsbeschwerdegericht wegen<br />

der eingetretenen Teilrechtskraft des Schuldspruchs als unzulässig ansah (vgl. OLG Köln, NStZ 1987, 372; KG,<br />

VRS 72 [1987], 451; BayObLG VRS 80 [1991], 45). Die Änderung diente der dringend gebotenen Entlastung der<br />

Justiz im Bereich der Ordnungswidrigkeiten (BT-Drucks. 13/5418 S. 1). Zugleich wurde die zuvor in § 74 Abs. 2<br />

Satz 2 OWiG a.F. gegebene Möglichkeit der Vorführung des Betroffenen oder der Verhandlung in seiner Abwesen-<br />

- 180 -


heit abgeschafft (vgl. BT-Drucks. 13/5418 S. 9). Der Gesetzgeber hat dafür angesichts der zwingenden Regelung<br />

keinen Anwendungsbereich mehr gesehen, also auch nicht in den in den Materialien nicht angesprochenen Fällen der<br />

Teilaufhebung <strong>und</strong> Zurückverweisung durch das Rechtsbeschwerdegericht. Es ist deshalb ersichtlich auch in diesen<br />

Fällen davon auszugehen, dass die Verwerfung des Einspruchs gesetzgeberisch gewollt ist. Der Gesetzgeber hat dem<br />

Betroffenen in § 73 Abs. 1 OWiG das persönliche Erscheinen in der Hauptverhandlung auferlegt. Lehnt es der Betroffene<br />

durch sein unentschuldigtes Ausbleiben ab, zur Aufklärung beizutragen, ist das Gericht im Interesse der<br />

Verfahrensökonomie von der Verpflichtung entb<strong>und</strong>en, die Beschuldigung zu prüfen oder – bei Rechtskraft des<br />

Schuldspruchs – zum Rechtsfolgenausspruch neu zu verhandeln. Das Interesse des Betroffenen <strong>und</strong> der Allgemeinheit<br />

an einer inhaltlich möglichst gerechten Entscheidung tritt in diesen Fällen hinter der Verfahrensökonomie zurück<br />

(vgl. zur alten Rechtslage Meurer, NStZ 1987, 540).<br />

bb) Der Eintritt der Teilrechtskraft des Schuldspruchs bei Aufhebung nur des Rechtsfolgenausspruchs durch das<br />

Rechtsbeschwerdegericht steht der Verwerfung des Einspruchs in der neuen Verhandlung nicht entgegen.<br />

Wegen des Gr<strong>und</strong>satzes der Einheitlichkeit des Urteils sind der rechtskräftige Schuldspruch <strong>und</strong> die ihm zugr<strong>und</strong>e<br />

liegenden Feststellungen zwar im Regelfall Gr<strong>und</strong>lage des weiteren Verfahrens <strong>und</strong> wesentlicher Teil des abschließenden<br />

Urteils (BGH, Urteil vom 14. Januar 1982 – 4 StR 642/81, BGHSt 30, 340, 342). Dies folgt aus dem Gebot<br />

der inneren Einheit <strong>und</strong> der damit notwendig verb<strong>und</strong>enen Widerspruchsfreiheit der Entscheidung, das unabhängig<br />

davon Gültigkeit beansprucht, ob ein Urteil über die Schuld- <strong>und</strong> Rechtsfolgenfrage gleichzeitig entscheidet oder<br />

nicht. Durch die Verwerfung des Einspruchs wird dieser Gr<strong>und</strong>satz aber nicht berührt, denn durch sie wird der einheitliche<br />

Inhalt des Bußgeldbescheids wiederhergestellt. Durch die Verwerfung des Einspruchs nach § 74 Abs. 2<br />

OWiG wird der Bußgeldbescheid insgesamt rechtskräftig (§ 84 Abs. 1 OWiG). Der Gr<strong>und</strong>satz der reformatio in<br />

peius gebietet es nicht, einen dem Betroffenen günstigeren, in Folge der nur teilweisen Urteilsaufhebung rechtskräftigen<br />

Schuldspruch aufrecht zu erhalten. Dieser Gr<strong>und</strong>satz gilt im Ordnungswidrigkeitenrecht ohnehin nur eingeschränkt.<br />

§ 72 Abs. 3 Satz 2 OWiG verbietet dem Gericht nur die Festsetzung einer nachteiligeren Rechtsfolge als im<br />

Bußgeldbescheid festgesetzt, wenn es durch Beschluss entscheidet. Im Rechtsbeschwerdeverfahren gilt der Gr<strong>und</strong>satz<br />

des § 358 Abs. 2 StPO, der den Betroffenen vor einer Verschlechterung des Rechtsfolgenausspruchs, nicht aber<br />

des Schuldspruchs schützt (vgl. Seitz, aaO, § 79 Rn. 37; KK-Kuckein, StPO, 6. Aufl., § 358 Rn. 18). So kann das<br />

Revisions- oder das Rechtsbeschwerdegericht auf der Gr<strong>und</strong>lage der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen den<br />

Schuldspruch verbösern, ohne gegen das Verbot der reformatio in peius zu verstoßen. Vor einer möglichen Verschlechterung<br />

des Schuldspruchs ist der Betroffene durch den Eintritt von Teilrechtskraft nicht in jedem Fall geschützt.<br />

Bei Vorliegen besonderer Umstände kann es sich ergeben, dass zwischen den Erörterungen zur Schuld- <strong>und</strong><br />

Straffrage eine so enge Verbindung besteht, dass eine getrennte Überprüfung des angefochtenen Teils nicht möglich<br />

ist, ohne dass der nicht angefochtene Teil mitberührt wird (BGH, Beschluss vom 21. Oktober 1980 – 1 StR 262/80,<br />

BGHSt 29, 359, 364; Urteil vom 22. April 1993 – 4 StR 153/93, BGHSt 39, 208, 209; KK-Paul, aaO, § 318 Rn. 7a<br />

mwN). Eine Beschränkung des Rechtsmittels auf den Strafausspruch kann zudem dann unwirksam sein, wenn die<br />

Feststellungen zur Tat so mangelhaft sind, dass sie keine ausreichende Gr<strong>und</strong>lage für die Entscheidung über die<br />

Rechtsfolge sein können (BGH, Urteil vom 5. November 1984 – AnwSt (R) 11/84, BGHSt 33, 59). Die Teilrechtskraft<br />

des Schuldspruchs führt somit nicht in jedem Fall zu dessen Unabänderlichkeit. Der horizontalen Teilrechtskraft<br />

kommt nicht die volle Wirkung der Rechtskraft zu (LR-Gössel, StPO, 25. Aufl., § 318 Rn. 30, Rn. 126 Fn.<br />

377). Dem teilrechtskräftigen Schuldspruch kommt im Bußgeldverfahren auch sonst keine unabänderliche Bestandsgarantie<br />

zu. So kann das Gericht in jeder Lage das Verfahren nach § 47 Abs. 2 OWiG einstellen <strong>und</strong> somit die Teilrechtskraft<br />

durchbrechen. Es werden nach alledem keine unabänderlichen Verfahrensgr<strong>und</strong>sätze durchbrochen, wenn<br />

bei verschuldetem Ausbleiben des Betroffenen in der Hauptverhandlung durch Einspruchsverwerfung ein teilrechtskräftiger,<br />

gegenüber dem Bußgeldbescheid günstigerer oder ungünstigerer Schuldspruch entfällt.<br />

c) Der Senat entnimmt der vom Gesetzgeber geschaffenen Regelung der ausnahmslosen Verwerfung des Einspruchs<br />

bei unentschuldigtem Nichterscheinen des nicht von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entb<strong>und</strong>enen<br />

Betroffenen in der Hauptverhandlung, dass ihm dann auch die Rechtswohltat des Verschlechterungsverbots hinsichtlich<br />

des Rechtsfolgenausspruchs nicht zukommt. Das Verschlechterungsverbot ist kein übergeordneter allgemeiner<br />

Verfahrensgr<strong>und</strong>satz, sondern gilt im Rechtsbeschwerdeverfahren aufgr<strong>und</strong> der gesetzlichen Regelung in § 79 Abs. 3<br />

Satz 1 OWiG, § 358 Abs. 2 StPO. Der Gesetzgeber konnte durch die Anordnung der Verwerfung des Einspruchs<br />

diese Regelung konkludent auf die Fälle beschränken, in denen das Gericht nach einer Urteilsaufhebung durch das<br />

Rechtsbeschwerdegericht eine neue Sachentscheidung trifft.<br />

ung wäre nach § 76a Abs. 3 StGB zulässig.<br />

- 181 -


UrhG § 106 Abs. 1, § 108a, § 17; AEUV Art. 34, 36; StGB § 017, § 27 . Urhgeberrechtsverletzung –<br />

Verbreiten<br />

BGH, Urt. v. 11.10.2012 - 1 StR 213/10 - NJW 2013, 93 = NZWiSt 2013, 16<br />

LS: 1. Bei einem grenzüberschreitenden Verkauf liegt ein Verbreiten in Deutschland gemäß § 17<br />

UrhG schon dann vor, wenn ein Händler, der seine Werbung auf in Deutschland ansässige K<strong>und</strong>en<br />

ausrichtet <strong>und</strong> ein spezifisches Lieferungssystem <strong>und</strong> spezifische Zahlungsmodalitäten schafft, für<br />

sie zur Verfügung stellt oder dies einem Dritten erlaubt <strong>und</strong> diese K<strong>und</strong>en so in die Lage versetzt,<br />

sich Vervielfältigungen von Werken liefern zu lassen, die in Deutschland urheberrechtlich geschützt<br />

sind.<br />

2. Der auf einer Auslegung der §§ 106, 108a UrhG, § 27 StGB im aufgezeigten Sinn gestützten<br />

Strafbarkeit steht nicht die unionsrechtlich garantierte Warenverkehrsfreiheit entgegen.<br />

3. Zum Verbotsirrtum.<br />

Der 1. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat in der Sitzung vom 11. Oktober 2012 für Recht erkannt: Die Revision<br />

des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts München II vom 12. Oktober 2009 wird verworfen. Der Angeklagte<br />

hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Beihilfe zur gewerbsmäßigen unerlaubten Verwertung urheberrechtlich<br />

geschützter Werke in 485 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt <strong>und</strong> deren Vollstreckung<br />

zur Bewährung ausgesetzt. Es hat festgestellt, dass in Höhe von 59.363,16 € nicht auf Verfall erkannt werde, weil<br />

Ansprüche von Verletzten entgegenstehen. Die Revision des Angeklagten, mit der er eine Verfahrensrüge erhebt <strong>und</strong><br />

die Verletzung materiellen Rechts beanstandet, hat keinen Erfolg.<br />

A. Der Verurteilung liegt zugr<strong>und</strong>e, dass der Angeklagte in Italien verkaufte Vervielfältigungsstücke von in Deutschland<br />

urheberrechtlich geschützten Einrichtungsgegenständen an deutsche K<strong>und</strong>en mittels seiner Spedition ausgeliefert<br />

hat.<br />

I.<br />

1. Dazu hat das Landgericht folgende Feststellungen getroffen: Die Firma D. mit Sitz in Bologna (nachfolgend D.)<br />

bot in Deutschland ansässigen K<strong>und</strong>en durch Zeitschriftenanzeigen <strong>und</strong> -beilagen, durch direkte Werbeanschreiben<br />

<strong>und</strong> per deutschsprachiger Internet-Website Nachbauten von Einrichtungsgegenständen im sogenannten „Bauhausstil“<br />

zum Kauf an, ohne über Lizenzen für deren Vertrieb in Deutschland zu verfügen. Es handelte sich - soweit<br />

verfahrensgegenständlich - um Nachbauten von:<br />

- Stühlen der Aluminium-Group, entworfen von Charles <strong>und</strong> Ray Eames, Lizenzinhaber Firma Vitra Collections AG,<br />

- der Wagenfeldleuchte, entworfen von Wilhelm Wagenfeld, Lizenzinhaber Firma Tecnolumen GmbH & Co. KG,<br />

- Sitzmöbeln, entworfen von Le Corbusier, Lizenzinhaber Firma Cassina SpA,<br />

- dem Beistelltisch "Adjustable Table" <strong>und</strong> der Leuchte "Tubelight", entworfen von Eileen Gray, Lizenzinhaber<br />

Firma Classicon GmbH,<br />

- Stahlrohr-Freischwingern (Stühle), entworfen von Mart Stam, Lizenzinhaber Firma Thonet GmbH.<br />

Für diese Gegenstände bestand im relevanten Tatzeitraum vom 1. Januar 2005 bis zum 15. Januar 2008 in Italien<br />

jedenfalls kein durchsetzbarer urheberrechtlicher Schutz. In Deutschland waren sie hingegen als Werke der angewandten<br />

Kunst urheberrechtlich geschützt.<br />

Der Angeklagte, ein deutscher Staatsangehöriger, war Geschäftsführer <strong>und</strong> Gesellschafter zu 90 % der Firma I.<br />

(nachfolgend I. genannt), einer Spedition, die ebenfalls ihren Sitz in Bologna hatte. Er betrieb seine Geschäfte jedoch<br />

im Wesentlichen von seinem Wohnsitz in Deutschland aus. Die Firma I. war seit mindestens April 1999 mit der<br />

Auslieferung der vorbenannten Nachbauten befasst. Der Vertrieb war zunächst in der Weise organisiert worden, dass<br />

die Möbel - ohne einzelnen Endabnehmern zugeordnet zu sein - in ein vom Angeklagten unterhaltenes Lager in<br />

Deutschland verbracht <strong>und</strong> sodann an die K<strong>und</strong>en geliefert wurden. Das wegen dieses Sachverhalts vor dem Amtsgericht<br />

München geführte Strafverfahren gegen den Angeklagten wurde gegen Zahlung einer Geldauflage in Höhe von<br />

insgesamt 120.000 € im Dezember 2006 endgültig eingestellt. Spätestens durch dieses Strafverfahren wussten sowohl<br />

der Angeklagte als auch der Geschäftsführer der Firma D. um den urheberrechtlichen Schutz der Vervielfältigungsstücke<br />

in Deutschland. Der Verteidiger des Angeklagten in diesem Strafverfahren, Rechtsanwalt Sk., teilte dem<br />

- 182 -


Angeklagten mit, dass nach seiner Auffassung die Einfuhr „EU-rechtlich auch möglich sein“ müsse. Hierzu müssten<br />

das Lager in Deutschland <strong>und</strong> die K<strong>und</strong>en in der Auswahl der Spedition frei sein. Nachfragen des Angeklagten hierzu<br />

erfolgten nicht. Der Angeklagte wurde zudem von dem Geschäftsführer der Firma D., La. <strong>und</strong> dem italienischen<br />

Rechtsanwalt dieser Firma dahingehend informiert, dass die Gefahr einer Strafverfolgung nicht mehr bestehe, wenn<br />

das Auslieferungslager nach Italien verlegt werde. La. berief sich dabei auch auf eine ihm erteilte Auskunft eines<br />

Frankfurter Rechtsanwalts. Des Weiteren trat der Angeklagte einmal in Kontakt mit Rechtsanwalt U. aus Frankfurt.<br />

Dieser teilte ihm mit, er sehe gr<strong>und</strong>sätzlich kein Problem, müsse die Frage aber abklären. Ein weiterer Kontakt erfolgte<br />

nicht. Während des Laufs des Strafverfahrens wurde die Durchführung der Auslieferung geändert <strong>und</strong> nunmehr<br />

für den verfahrensgegenständlichen Zeitraum wie folgt durchgeführt: Die Firma D. unterhielt für ihr Warenangebot<br />

ein Auslieferungslager im italienischen Sterzing. Nach ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen waren die<br />

K<strong>und</strong>en verpflichtet, die bestellte Ware selbst in Italien abzuholen oder abholen zu lassen. Die Bestellung der deutschen<br />

K<strong>und</strong>en erfolgte per Fax, per E-Mail, über ein auf der Website abrufbares Bestellformular oder telefonisch bei<br />

einer deutschsprachigen Mitarbeiterin. In den verfahrensgegenständlichen Fällen wollten die K<strong>und</strong>en die Ware weder<br />

selbst abholen noch eine Spedition benennen. Die Firma D. empfahl die Beauftragung der Firma I. <strong>und</strong> sandte<br />

dem K<strong>und</strong>en ein Werbeschreiben der Firma I. zu, in dem diese den Transport von Italien nach Deutschland anbot.<br />

Die K<strong>und</strong>en beauftragten die Firma I. mit dem Transport der von ihnen gekauften Ware. In Werbematerial der Firma<br />

D. war ausgeführt, der K<strong>und</strong>e erwerbe die Möbel in Italien, zahle aber erst bei Übernahme der Ware. Die Rechnungen<br />

schickte die Firma D. direkt an die K<strong>und</strong>en. Im Auslieferungslager in Sterzing wurden die aus Deutschland bestellten<br />

Einrichtungsgegenstände in verpacktem Zustand bereitgehalten. Auf der Verpackung waren Name <strong>und</strong> Adresse<br />

des Bestellers oder zumindest die Auftragsnummer angegeben. Die Fahrer der Firma I. holten die den K<strong>und</strong>en<br />

konkret zugeordneten Gegenstände in Sterzing ab, bezahlten den jeweiligen Kaufpreis an die Firma D. <strong>und</strong> zogen bei<br />

Ablieferung an den Besteller in Deutschland Kaufpreis <strong>und</strong> Frachtlohn vom K<strong>und</strong>en ein. Wenn ein K<strong>und</strong>e bei der<br />

Auslieferung der Einrichtungsgegenstände diese nicht bezahlte, wurde die Ware nicht herausgegeben, sondern mit<br />

einem entsprechenden Kommentar an die Firma D. zurückgesandt. Diese erstattete der Firma I. den zuvor entrichteten<br />

Kaufpreis im Wege der Verrechnung <strong>und</strong> bezahlte die Frachtkosten. Von den 2.399 Lieferungen im Tatzeitraum<br />

erfolgten 484 Lieferungen durch den Angeklagten selbst, die übrigen durch angestellte Fahrer. Für die Lieferungen<br />

ab dem 1. Januar 2007 erhielt die Firma I. Frachtlöhne in Höhe von mindestens 59.363,16 €.<br />

2. Das Landgericht hat die Verurteilung des Angeklagten auf §§ 106, 108a UrhG, § 27 StGB gestützt. Die Firma D.,<br />

vertreten durch den Geschäftsführer La., habe Vervielfältigungsstücke der Werke in Deutschland durch Inverkehrbringen<br />

verbreitet. Zum Verbreiten sei neben der bereits am Lager in Sterzing erfolgten Eigentumsübertragung ein<br />

Wechsel der Verfügungsgewalt vom Verkäufer auf den Käufer erforderlich. Die Firma D. habe - entgegen einem<br />

beabsichtigten Anschein - ihre Verfügungsgewalt bis zur Ablieferung an den Käufer gegen Kaufpreiszahlung trotz<br />

erfolgter Übereignung nicht aus der Hand gegeben. Sie sei daher erst in Deutschland mit Hilfe des Angeklagten auf<br />

den K<strong>und</strong>en übergegangen. Der Angeklagte sei zwar davon ausgegangen, dass eine Strafverfolgung in Deutschland<br />

unter den praktizierten Lieferbedingungen entfalle. Dieser Verbotsirrtum sei jedoch vermeidbar gewesen, da er zu<br />

dem Geschäftsmodell keinen ausreichenden Rechtsrat eingeholt habe. Der Strafbarkeit des Angeklagten stehe auch<br />

die Warenverkehrsfreiheit nicht entgegen, da die sich aus den nationalen Regelungen zum Urheberrecht ergebende<br />

Beschränkung derselben zum Schutz des gewerblichen <strong>und</strong> kommerziellen Eigentums gerechtfertigt sei.<br />

II. Der Senat hat aufgr<strong>und</strong> Beschlusses vom 8. Dezember 2010 dem Gerichtshof der Europäischen Union (im folgenden<br />

EuGH) gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. a), Abs. 3 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Sind<br />

die den freien Warenverkehr regelnden Art. 34, 36 AEUV dahin auszulegen, dass sie einer aus der Anwendung nationaler<br />

Strafvorschriften resultierenden Strafbarkeit wegen Beihilfe zum unerlaubten Verbreiten urheberrechtlich<br />

geschützter Werke entgegenstehen, wenn bei einem grenzüberschreitenden Verkauf eines in Deutschland urheberrechtlich<br />

geschützten Werkes kumulativ<br />

- dieses Werk aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union nach Deutschland verbracht <strong>und</strong> die tatsächliche<br />

Verfügungsgewalt an ihm in Deutschland übertragen wird,<br />

- der Eigentumsübergang aber in dem anderen Mitgliedstaat erfolgt ist, in dem urheberrechtlicher Schutz des Werkes<br />

nicht bestand oder nicht durchsetzbar war?<br />

Daraufhin hat der EuGH in seinem Urteil vom 21. Juni 2012 (Rechtssache C 5/11, EuZW 2012, 663) entschieden:<br />

1. Ein Händler, der seine Werbung auf in einem bestimmten Mitgliedstaat ansässige Mitglieder der Öffentlichkeit<br />

ausrichtet <strong>und</strong> ein spezifisches Lieferungssystem <strong>und</strong> spezifische Zahlungsmodalitäten schafft oder für sie zur Verfügung<br />

stellt oder dies einem Dritten erlaubt <strong>und</strong> diese Mitglieder der Öffentlichkeit so in die Lage versetzt, sich<br />

- 183 -


Vervielfältigungen von Werken liefern zu lassen, die in dem betreffenden Mitgliedstaat urheberrechtlich geschützt<br />

sind, nimmt in dem Mitgliedstaat, in dem die Lieferung erfolgt, eine „Verbreitung an die Öffentlichkeit“ im Sinne<br />

von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments <strong>und</strong> des Rates vom 22. Mai 2001 zur<br />

Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts <strong>und</strong> der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft<br />

vor.<br />

2. Die Art. 34 AEUV <strong>und</strong> 36 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht verbieten, die Beihilfe<br />

zum unerlaubten Verbreiten von Vervielfältigungsstücken urheberrechtlich geschützter Werke in Anwendung<br />

seiner nationalen Strafvorschriften strafrechtlich zu verfolgen, wenn Vervielfältigungsstücke solcher Werke in dem<br />

betreffenden Mitgliedstaat im Rahmen eines Verkaufsgeschäfts an die Öffentlichkeit verbreitet werden, das speziell<br />

auf die Öffentlichkeit in diesem Mitgliedstaat ausgerichtet ist <strong>und</strong> von einem anderen Mitgliedstaat aus abgeschlossen<br />

wird, in dem ein urheberrechtlicher Schutz der Werke nicht besteht oder nicht durchsetzbar ist.<br />

B. Die Nachprüfung des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des<br />

Angeklagten ergeben.<br />

I. Die Verfahrensrüge, § 261 StPO sei verletzt, weil das Landgericht den Inhalt der im Urteil als „verlesen“ wiedergegebenen<br />

Lieferlisten <strong>und</strong> -scheine (UA S. 11 bis 108) nicht in zulässiger Form in die Hauptverhandlung eingeführt<br />

habe, dringt - ungeachtet der Frage ihrer Zulässigkeit - in der Sache nicht durch.<br />

1. Die Revision trägt vor, aus dem Protokoll der Hauptverhandlung ergebe sich, dass die besagten Lieferlisten <strong>und</strong> -<br />

scheine nicht im Wege eines ordnungsgemäß angeordneten Selbstleseverfahrens gemäß § 249 Abs. 2 StPO zum<br />

Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht worden seien. Sie seien auch sonst nicht eingeführt worden.<br />

2. Das Hauptverhandlungsprotokoll vom 3. August 2009 enthält folgende Eintragung: "Es wurde sodann in die Beweisaufnahme<br />

eingetreten. Die Verfahrensbeteiligten erhielten eine Liste mit aufgeführten Urk<strong>und</strong>en ausgehändigt,<br />

welche die Kammer gemäß § 249 II StPO in die Verhandlung einführen will. - Anlage II zum Protokoll -<br />

Der Verteidiger des Angeklagten Do. … widersprach, soweit die in seinem Antrag aufgeführten Unterlagen betreffe.“<br />

In Anlage II zum Protokoll vom 3. August 2009 befindet sich ein Abdruck der "Urk<strong>und</strong>enliste gem. § 249 Abs. 2<br />

StPO", die u.a. einen Beweismittelordner umfasst, der die Lieferlisten <strong>und</strong> -scheine beinhaltet, die laut Urteil in den<br />

Tabellen UA S. 11 bis 108 wiedergegeben sind. Im Protokoll vom 22. September 2009 Seite 4 oben ist sodann ausgeführt:<br />

„Es wurde festgestellt, dass das Gericht einschließlich der Schöffen von dem Wortlaut der Urk<strong>und</strong>en gemäß<br />

übergebenen Listen Kenntnis genommen hat <strong>und</strong> die übrigen Verfahrensbeteiligten Gelegenheit hatten hiervon<br />

Kenntnis zu nehmen."<br />

3. Der Senat folgt schon nicht der Auffassung der Revision, das Selbstleseverfahren sei lediglich angekündigt, nicht<br />

aber angeordnet worden. Vielmehr ergibt die Beweiskraft des Protokolls, dass der Inhalt der Lieferlisten im Wege<br />

des Selbstleseverfahrens in zulässiger Form in die Hauptverhandlung eingeführt worden ist. Hier ist bei der - durch §<br />

274 StPO nicht ausgeschlossenen, vielmehr bei zweifelhaftem Sinn des Protokolls gebotenen (Meyer-Goßner, StPO,<br />

55. Aufl., § 274 Rn. 5 mwN) - Auslegung maßgeblich auch das tatsächliche Vorgehen der Strafkammer zu berücksichtigen.<br />

Den Verfahrensbeteiligten wurde nämlich nicht nur mitgeteilt, die Strafkammer wolle Urk<strong>und</strong>en im<br />

Selbstleseverfahren einführen, sondern diese Urk<strong>und</strong>en wurden durch die aufgenommene „Urk<strong>und</strong>enliste gem. § 249<br />

Abs. 2 StPO" im Protokoll im Einzelnen bezeichnet. Zudem erhielten die Verfahrensbeteiligen zugleich einen Abdruck<br />

dieser Liste ausgehändigt. Danach kann in der protokollierten Mitteilung nicht mehr eine bloße Absichtserklärung<br />

gesehen werden; sie ist vielmehr als Anordnung des Selbstleseverfahrens durch das Gericht auszulegen, auch<br />

wenn das Wort Anordnung darin nicht vorkommt. Das Wort "will" deutet lediglich auf die übrigen zur Umsetzung<br />

erforderlichen Handlungsakte - wie Kenntnisnahme bzw. Gelegenheit zur Kenntnisnahme - hin. Dass die Verfahrensbeteiligten<br />

hierin auch eine eindeutige Anordnung gesehen haben, wird belegt durch den vom Instanzverteidiger<br />

daraufhin - neben einem bereits zu einem früheren Zeitpunkt erhobenen Verwertungswiderspruch - eingelegten Widerspruch<br />

gemäß § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO. Tragfähige Anhaltspunkte, die zu einer anderen Bewertung führen könnten,<br />

sind nicht ersichtlich. Die Revision weist in diesem Zusammenhang allerdings darauf hin, dass der Widerruf des<br />

Verteidigers nicht beschieden worden ist. Daraus schließt der Senat jedoch nicht, dass die Strafkammer davon überzeugt<br />

gewesen wäre, dass die Voraussetzungen für ein Selbstleseverfahren nicht vorgelegen haben <strong>und</strong> auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage dieser Überzeugung dann dennoch ein solches durchgeführt hat. Freilich ist die Bescheidung des Widerspruchs<br />

rechtsfehlerhaft unterbleiben. Die allein erhobene Rüge, ein Selbstleseverfahren sei durchgeführt worden,<br />

ohne dass es zuvor angeordnet worden sei, kann jedoch nicht in die wesensverschiedene Rüge umgedeutet werden,<br />

der gegen die Anordnung eines Selbstleseverfahrens vorgebrachte Widerspruch sei nicht verbeschieden worden (vgl.<br />

zur Bedeutung der Angriffsrichtung einer Verfahrensrüge BGH, Beschluss vom 29. August 2006 - 1 StR 371/06,<br />

- 184 -


NStZ 2007, 161, 162; BGH, Beschluss vom 14. September 2010 - 3 StR 573/09, NJW 2011, 1523, 1525). Folgerichtig<br />

hat der Vorsitzende hinsichtlich der bezeichneten Urk<strong>und</strong>enliste die Feststellung gemäß § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO<br />

getroffen. Hierdurch wird beweiskräftig der Hinweis an die Verfahrensbeteiligten belegt, dass insoweit der Urk<strong>und</strong>sbeweis<br />

im Selbstleseverfahren außerhalb der Hauptverhandlung erhoben wurde <strong>und</strong> als Inbegriff der Hauptverhandlung<br />

im Sinne des § 261 StPO der Überzeugungsbildung des Gerichts zugr<strong>und</strong>e gelegt werden kann (vgl. BGH,<br />

Beschluss vom 20. Juli 2010 - 3 StR 76/10, NJW 2010, 3382, 3383; BGH, Beschluss vom 14. September 2010 - 3<br />

StR 131/10, NStZ-RR 2011, 20).<br />

4. Im Übrigen wurden die für die Urteilsfindung relevanten Informationen aus den Lieferlisten <strong>und</strong> -scheinen auch<br />

auf andere Weise Gegenstand der Hauptverhandlung.<br />

a) Denn der Angeklagte hat - was die Revision nicht mitteilt - ausweislich der Urteilsfeststellungen die Durchführung<br />

der Lieferungen entsprechend geschildert (UA S. 110, 126, 127). Zwar sind der Einführung von in Urk<strong>und</strong>en<br />

enthaltenen umfangreichen <strong>und</strong> detaillierten Informationen über eine Auskunfts-person Grenzen gesetzt (vgl. BGH,<br />

Beschluss vom 30. August 2011 - 2 StR 652/10, NJW 2011, 3733; BGH, Urteil vom 7. Februar 2006 - 3 StR 460/98,<br />

NJW 2006, 1529, 1531; BGH, Beschluss vom 5. April 2000 - 5 StR 226/99, NStZ 2000, 427; BGH, Beschluss vom<br />

13. April 1999 - 1 StR 107/99, NStZ 1999, 424). Angesichts von Besonderheiten der Fallgestaltung steht dies hier<br />

der Einführung der für die Urteilsfindung bedeutsamen Umstände der Lieferungen über die Einlassung des Angeklagten<br />

nicht entgegen. Hierfür war zum einen von Bedeutung, dass es sich um aus den Geschäftsunterlagen des<br />

Angeklagten ergebende Informationen handelte, die zudem schon Gegenstand der Anklageschrift waren. Deren<br />

Richtigkeit konnte der Angeklagte also bereits zuvor im Hinblick auf das Strafverfahren prüfen. Zum anderen waren<br />

unter Berücksichtigung dieser vorherigen Prüfungsmöglichkeit die für die Urteilsfindung belangvollen Informationen<br />

- vor allem Anzahl <strong>und</strong> Zeitraum der Transportfahrten sowie hierfür erhaltener Frachtlohn - sehr wohl einer<br />

zusammenfassenden Schilderung zugänglich. Dies gilt entsprechend für die Einführung der relevanten Informationen<br />

durch die Angaben der Zeuginnen Sc. <strong>und</strong> H., beide gemäß den Urteilsgründen Sachbearbeiterinnen des Zolls, die<br />

die Listen <strong>und</strong> -scheine vorab gesichtet <strong>und</strong> ausgewertet haben. So stellt die Strafkammer ausdrücklich fest, dass die<br />

Angaben zur Höhe des Frachtlohns auf den Angaben der Zeugin Sc. beruhen. Dass diese Informationen zu komplex<br />

sein sollten, um auch in einer nur 23 Minuten währenden Zeugeneinvernahme geklärt werden zu können, erschließt<br />

sich dem Senat nicht.<br />

b) Soweit die Urteilsgründe daneben unter Verweis auf die Verlesung der Lieferlisten <strong>und</strong> -scheine eine Vielzahl der<br />

sich daraus ergebenden Details, wie z.B. die Namen der belieferten K<strong>und</strong>en <strong>und</strong> der im Einzelnen gelieferten Einrichtungsgegenstände,<br />

enthalten, war dies für die Urteilsfindung ohne Belang <strong>und</strong> ersichtlich nur der Vollständigkeit<br />

<strong>und</strong> Genauigkeit wegen bei unstreitigem <strong>und</strong> unzweifelhaftem Sachverhalt aufgenommen worden. Insoweit wäre<br />

jedenfalls ein Beruhen des Urteils auf dem geltend gemachten Verstoß auszuschließen (vgl. BGH, Urteil vom 30.<br />

April 2009 - 1 StR 342/08, wistra 2009, 359; BGH, Beschluss vom 22. September 2006 - 1 StR 298/06, NStZ 2007,<br />

235, 236; vgl. schon zum Ausschluss eines Verfahrensverstoßes BGH, Urteil vom 7. Februar 2006 - 3 StR 460/98,<br />

NJW 2006, 1529).<br />

II. Auch die sachlich-rechtliche Prüfung zum Schuld- <strong>und</strong> Strafausspruch hat keinen den Angeklagten beschwerenden<br />

Rechtsfehler ergeben. Zutreffend hat das Landgericht auf der Gr<strong>und</strong>lage der ohne den Angeklagten beschwerenden<br />

Rechtsfehler getroffenen Feststellungen strafbare Taten nach § 106 Abs. 1, § 108a Abs. 1 UrhG bejaht, zu denen<br />

der Angeklagte Beihilfe geleistet hat (nachfolgend 1.). Die den freien Warenverkehr regelnden Art. 34, 36 AEUV<br />

stehen einer Strafbarkeit nicht entgegen (nachfolgend 2.). Der Angeklagte handelte auch schuldhaft. Denn jedenfalls<br />

ist das Landgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise von der Vermeidbarkeit eines - allerdings<br />

eher fernliegenden - Verbotsirrtums ausgegangen (nachfolgend 3.).<br />

1. Nach den Urteilsfeststellungen hat der Angeklagte dabei geholfen, in Deutschland geschützte Werke der angewandten<br />

Kunst gewerbsmäßig im Schutzland zu verbreiten (zum Territorialitätsprinzip vgl. BGH, Urteil vom 3.<br />

März 2004 - 2 StR 109/03, BGHSt 49, 93 mwN; BGH, Urteil vom 16. Juni 1994 - I ZR 24/92, BGHZ 126, 252 Rn.<br />

17ff.; Dreier in Dreier/Schulze, UrhG, 3. Aufl. vor §§ 120 ff. Rn. 32).<br />

a) Die genannten Einrichtungsgegenstände genießen in Deutschland als Werke der angewandten Kunst urheberrechtlichen<br />

Schutz gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 UrhG (vgl. BGH, Urteil vom 27. Februar 1961 - I ZR 127/59, GRUR<br />

1961, 635 - Stahlrohrstuhl I; BGH, Urteil vom 27. Mai 1981 - I ZR 102/79, GRUR 1981, 820 - Stahlrohrstuhl II;<br />

BGH, Urteil vom 10. Dezember 1986 - I ZR 15/85, GRUR 1987, 903 - Le-Corbusier-Möbel; OLG Düsseldorf<br />

GRUR 1993, 903 - Bauhausleuchte). Bestand, Inhalt, Umfang <strong>und</strong> Inhaberschaft eines Schutzrechts richten sich nach<br />

dem Recht desjenigen Staates, für dessen Territorium es Wirkung entfalten soll, also nach dem Recht des Schutz-<br />

- 185 -


lands (vgl. BGH, Urteil vom 3. März 2004 - 2 StR 109/03, BGHSt 49, 93 mwN; Dreier in Dreier/Schulze, UrhG, 3.<br />

Aufl. vor §§ 120 ff. Rn. 28, 30 mwN; Katzenberger in Schricker/Loewenheim, UrhG, 4. Aufl., Vor §§ 120 ff. Rn.<br />

129 ff.).<br />

b) Die Vervielfältigungsstücke der geschützten Werke wurden ohne Einwilligung der Berechtigten von dem Verantwortlichen<br />

der Firma D. gemäß § 106 Abs. 1, § 108a Abs. 1 UrhG in Deutschland verbreitet.<br />

aa) Zu Recht hat das Landgericht wegen der Urheberrechtsakzessorietät dieser Strafvorschriften den Verbreitungsbegriff<br />

des § 17 UrhG zugr<strong>und</strong>e gelegt (BGH, Urteil vom 3. März 2004 - 2 StR 109/03, BGHSt 49, 93; Hildebrandt<br />

in Wandtke/Bullinger, Urheberrecht, 3. Aufl. § 106 Rn. 17).<br />

bb) § 17 Abs. 1 UrhG dient der Umsetzung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments<br />

<strong>und</strong> des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts <strong>und</strong> der verwandten<br />

Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (im Folgenden RL 2001/29/EG). Es besteht deshalb die Notwendigkeit<br />

der richtlinienkonformen Auslegung dieser Norm nationalen Rechts (vgl. BGH, Urteil vom 22. Januar<br />

2009 - I ZR 247/03, NJW 2009, 2960; BGH, Urteil vom 15. Februar 2007 - I ZR 114/04, BGHZ 171, 151 Rn. 32 f.<br />

Wagenfeld-Leuchte; Oppermann/Classen/ Nettesheim, Europarecht, 5. Aufl., 3. Teil Rn. 99).<br />

cc) Für die Auslegung des Verbreitungsbegriffs gemäß Art. 4 Abs. 1 RL 2001/29/EG wiederum - <strong>und</strong> nicht etwa zur<br />

Anwendung des Unionsrechts auf den konkreten Fall, was allein den nationalen Gerichten obliegt (vgl. dd) - war die<br />

Vorabentscheidung durch den EuGH bestimmend (zur Urteilswirkung Kotzur in Geiger/Khan/Kotzur, AEUV EUV,<br />

5. Aufl., § 267 Rn. 37). Der EuGH hat zur Begründung der oben unter A.II. wiedergegebenen Beantwortung der<br />

Vorlagefrage zu 1. ausgeführt, dass die RL 2001/29/EG dazu diene, den Verpflichtungen nachzukommen, die der<br />

Union nach dem WIPO-Urheberrechtsvertrag (WCT; UNTS Bd. 2186, S. 121; ABl Nr. L 89 [2000], S. 6; BGBl<br />

2003 II S. 754; vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 19. Juli 2011 - 1 BvR 1916/09) obliegen <strong>und</strong> Bestimmungen des<br />

Unionsrechts nach Möglichkeit im Lichte des Völkerrechts auszulegen seien. Deswegen sei „Verbreitung durch<br />

Verkauf“ in Art. 4 Abs. 1 RL 2001/29/EG im Einklang mit Art. 6 Abs. 1 WCT auszulegen <strong>und</strong> gleichbedeutend mit<br />

der dort verwandten Formulierung „durch Verkauf … der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden“ (EuGH aaO<br />

Rn. 23 f. mwN). Um einen wirksamen Schutz des Urheberrechts entsprechend der Intention der RL 2001/29/EG zu<br />

sichern, so der EuGH, müsse der darin verwandte Begriff der Verbreitung eine autonome Auslegung im Unionsrecht<br />

erfahren, die nicht von dem Recht abhängen könne, das auf die Geschäfte anwendbar sei, in deren Rahmen eine<br />

Verbreitung erfolge <strong>und</strong> über das die Parteien verfügen könnten (EuGH aaO Rn. 25). Zur weiteren Begründung insoweit<br />

verweist er auf die Schlussanträge des Generalanwalts in dieser Sache, der weitergehend ausführt, dass es<br />

dem Urheber möglich sein müsse, die kommerzielle Nutzung seiner Werke von der Vervielfältigung über die Vertriebswege<br />

tatsächlich <strong>und</strong> wirksam zu kontrollieren (Nrn. 50 bis 53 der Schlussanträge, zur Vereinbarkeit mit Art. 8<br />

Abs. 3 der Rom-II-Verordnung vgl. dort Nr. 51).<br />

Dementsprechend hat der EuGH weiter ausgeführt, dass sich die Verbreitung an die Öffentlichkeit durch eine Reihe<br />

von Handlungen auszeichne, die zumindest vom Abschluss eines Kaufvertrags bis zu dessen Erfüllung durch die<br />

Lieferung an ein Mitglied der Öffentlichkeit reichten. Bei einem grenzüberschreitenden Verkauf könnten Handlungen,<br />

die zu einer „Verbreitung an die Öffentlichkeit“ i.S.v. Art. 4 Abs. 1 RL 2001/29/EG führten, in mehreren Mitgliedstaaten<br />

stattfinden. Ein Händler sei daher für jede von ihm selbst oder für seine Rechnung vorgenommene<br />

Handlung verantwortlich, die zu einer „Verbreitung an die Öffentlichkeit“ in einem Mitgliedstaat führe, in dem die<br />

in Verkehr gebrachten Waren urheberrechtlich geschützt seien. Ihm könne ebenfalls jede derartige von einem Dritten<br />

vorgenommene Handlung zugerechnet werden, wenn der betreffende Händler speziell die Öffentlichkeit des Bestimmungsstaats<br />

ansprechen wollte <strong>und</strong> ihm das Verhalten dieses Dritten nicht unbekannt sein konnte (EuGH, aaO<br />

Rn. 26 f.).<br />

dd) Entsprechend diesem Schutzniveau des Gemeinschaftsrechts legt der Senat den Begriff des Verbreitens gemäß §<br />

17 UrhG so aus, dass bei einem grenzüberschreitenden Verkauf ein Verbreiten in Deutschland gemäß § 17 UrhG<br />

schon dann vorliegt, wenn ein Händler, der seine Werbung auf in Deutschland ansässige K<strong>und</strong>en ausrichtet <strong>und</strong> ein<br />

spezifisches Lieferungssystem <strong>und</strong> spezifische Zahlungsmodalitäten schafft, für sie zur Verfügung stellt oder dies<br />

einem Dritten erlaubt <strong>und</strong> diese K<strong>und</strong>en so in die Lage versetzt, sich Vervielfältigungen von Werken liefern zu lassen,<br />

die in Deutschland urheberrechtlich geschützt sind. Danach ist weder ein Eigentumsübergang noch ein Wechsel<br />

der Verfügungsgewalt in Deutschland zwingend erforderlich. Bei Nutzung eines gezielten <strong>und</strong> eingespielten Vertriebsweges<br />

hierher ist beim grenzüberschreitenden Verkauf hinreichend, dass eine dem Händler zuzurechnende<br />

Vertriebshandlung in Deutschland stattfindet, um das Tatbestandsmerkmal des § 106 Abs. 1 UrhG zu erfüllen.<br />

- 186 -


ee) In diesem Sinne sind die Einrichtungsgegenstände von der Firma D., also dem Verantwortlichen La. in Deutschland<br />

verbreitet worden. Zwar war die Firma D. unmittelbar nur in Italien, mithin nicht im Schutzland tätig. Jedoch<br />

sind dieser Firma die in Deutschland erfolgten Lieferungen durch die Firma I. als ihre Vertriebshandlung zuzurechnen.<br />

Denn die Urteilsfeststellungen belegen eine gezielte Ausrichtung der Vertriebstätigkeit der Firma D. auf in<br />

Deutschland ansässige K<strong>und</strong>en <strong>und</strong> spezifisch für diese geschaffene Liefer- <strong>und</strong> Zahlungsmodalitäten. So wurden die<br />

von der Firma D. ohne Lizenz vertriebenen Vervielfältigungsstücke in Deutschland durch Zeitschriftenanzeigen <strong>und</strong><br />

-beilagen, durch direkte Werbeanschreiben, durch zu Werbezwecken versandte, deutschsprachige Kataloge sowie<br />

mittels einer auch deutschsprachigen Internetseite beworben <strong>und</strong> zum Kauf angeboten. Für die Abwicklung stand<br />

deutschsprachiges Personal zur Verfügung. Dies lässt den Schluss zu, dass die Firma D. gezielt in Deutschland ansässige<br />

K<strong>und</strong>en ansprechen <strong>und</strong> unter ihnen die Einrichtungsgegenstände verbreiten wollte. Zum anderen schuf sich<br />

die Firma D. für den Transport zu deutschen K<strong>und</strong>en durch die seit Jahren bestehende, enge Zusammenarbeit mit der<br />

Spedition des Angeklagten einen eingespielten Vertriebsweg von Italien nach Deutschland. Darüber hinaus hat das<br />

Landgericht zu Recht auf die spezifischen Zahlungsmodalitäten abgestellt, wie die Herausgabeverweigerung bei<br />

Nichtzahlung des K<strong>und</strong>en, die Rücksendung der Ware an D. <strong>und</strong> die Erstattung von Kaufpreis <strong>und</strong> Frachtlohn an I.<br />

durch D. . Daraus durfte es folgern, die Firma D. mache im Zusammenwirken mit der Firma I. trotz der bereits erfolgten<br />

Übereignung die Übergabe der Ware von der Bezahlung des Kaufpreises durch den K<strong>und</strong>en abhängig. Dass<br />

das Landgericht diese Feststellung zur Gr<strong>und</strong>lage genommen hat, um zu belegen, dass die Ware die betriebliche<br />

Sphäre des Verkäufers erst mit Auslieferung an die in Deutschland ansässigen K<strong>und</strong>en verließ, also erst dort der<br />

K<strong>und</strong>e die Verfügungsgewalt erlangte, beruht auf der Anwendung eines seiner rechtlichen Würdigung zugr<strong>und</strong>e<br />

gelegten engeren Verbreitungsbegriffs. Die Annahme dieser engeren Voraussetzungen durch das Landgericht - Zurechnung<br />

der Handlungen des Angeklagten zur betrieblichen Sphäre der Firma D. - belegt zwanglos auch die nach<br />

der Entscheidung des EuGH nur mehr erforderliche Verantwortlichkeit des Händlers für die ihm aufgr<strong>und</strong> eingespielter<br />

Vertriebswege bekannte Mitwirkung Dritter an deren Umsetzung.<br />

c) Die Annahme, der Angeklagte, dem die gezielte Tätigkeit der Firma I. zur Verbreitung urheberrechtlich geschützter<br />

Waren in Deutschland ebenso bekannt war, wie seine bei der Verbreitung nicht nur untergeordnete Rolle, sei<br />

lediglich Teilnehmer <strong>und</strong> nicht sogar Mittäter, beschwert den Angeklagten nicht.<br />

d) Auch die Annahme gewerbsmäßigen Handelns im Sinne des § 108a UrhG begegnet keinen Bedenken.<br />

2. Der auf einer Auslegung der §§ 106, 108a UrhG, § 27 StGB im aufgezeigten Sinn gestützten Strafbarkeit steht<br />

nicht die unionsrechtlich garantierte Warenverkehrsfreiheit entgegen. Zwar kann jede Regelung, die geeignet ist, den<br />

innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, eine „Maßnahme<br />

gleicher Wirkung“ i.S.v. Art. 34 AEUV darstellen <strong>und</strong> daher unzulässig sein (vgl. EuGH, Urteil vom 11. Dezember<br />

2003 - C 322/01, Deutscher Apothekerverband/DocMorris, GRUR 2004, 174 Rn. 66; EuGH, Urteil vom 11. Juli<br />

1974 - C 8/74, Dassonville, NJW 1975, 515 Rn. 5). Solche Maßnahmen können indes aus Gründen des Schutzes des<br />

gewerblichen <strong>und</strong> kommerziellen Eigentums, wozu im Kernbereich auch das Urheberrecht zählt (EuGH, Urteil vom<br />

24. Januar 1989 - Rs 341/87, EMI Electrola/Patricia Im- <strong>und</strong> Export, GRUR Int. 1989, 319, Rn. 12; EuGH, Urteil<br />

vom 22. Januar 1981 - Rs 55/80, MusikVertrieb Membran/GEMA, EuGHE 1981, 147, 162; Ulrich/Konrad in Dauses,<br />

Hdb. EU-WirtschaftsR C.III Rn. 8 mwN), gerechtfertigt sein, wenn sie weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung<br />

noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen (Art. 36<br />

AEUV ab 1. Dezember 2009, vormals Art. 30 EGV). Beschränkungen, die auf dem Unterschied in den nationalen<br />

Regelungen über die Schutzfristen beruhen, sind gerechtfertigt, wenn diese untrennbar mit dem Bestehen der ausschließlichen<br />

Rechte verknüpft sind (vgl. etwa EuGH aaO, Urteil vom 24. Januar 1989 - Rs 341/87, EMI Electrola/Patricia<br />

Im- <strong>und</strong> Export, GRUR Int. 1989, 319, Rn. 12). Das muss dann erst recht gelten, wenn an sich bestehende<br />

Schutzrechte nur unterschiedlich durchsetzbar sind, denn die Beschränkung, die für einen Händler aufgr<strong>und</strong> des<br />

strafrechtlich sanktionierten Verbreitungsverbots besteht, beruht in derartigen Fällen ebenfalls nicht auf einer Handlung<br />

oder auf der Zustimmung des Rechtsinhabers, sondern darauf, dass die Bedingungen des Schutzes der betreffenden<br />

Urheberrechte von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich sind, wie der EuGH in der Vorabentscheidung<br />

in dieser Sache klargestellt hat (EuGH, Urteil vom 21. Juni 2012, Rechtssache C 5/11, Rn. 34, EuZW 2012,<br />

663). Dies muss auch nicht zu einer unzulässigen, weil unverhältnismäßigen <strong>und</strong> künstlichen Abschottung der Märkte<br />

führen (vgl. EuGH, Urteil vom 24. Januar 1989 - Rs 341/87, EMI Electrola/Patricia Im <strong>und</strong> Export, GRUR Int.<br />

1989, 319, Rn. 7 f.). Denn von den Mitgliedstaaten kann zum Schutz des Urheberrechts auch eine Strafbarkeit als<br />

erforderlich angesehen werden; die sich daraus ergebende Beschränkung des freien Warenverkehrs ist gerechtfertigt<br />

<strong>und</strong> verfolgt einen legitimen Zweck, wenn sich der Beschuldigte absichtlich oder zumindest wissentlich an Handlun-<br />

- 187 -


gen beteiligt hat, die zur Verbreitung geschützter Werke an die Öffentlichkeit in einem Mitgliedstaat führen, in dem<br />

das Urheberrecht in vollem Umfang geschützt ist, <strong>und</strong> so das ausschließliche Recht des Inhabers dieses Rechts beeinträchtigen<br />

(EuGH aaO Rn. 36). So verhält es sich im vorliegenden Fall. Das dem Urheberrechtsinhaber nach § 17<br />

UrhG zustehende ausschließliche Verbreitungsrecht gilt unterschiedslos für inländische <strong>und</strong> eingeführte Erzeugnisse.<br />

Für die geschützten Werke bestand in Italien im Tatzeitraum entweder nur eine verkürzte Schutzfrist oder der an sich<br />

bestehende urheberrechtliche Schutz war nicht durchsetzbar. Zudem wurden die Vervielfältigungsstücke der geschützten<br />

Werke unter Beteiligung des Angeklagten im Rahmen eines Verkaufsgeschäfts in Deutschland verbreitet,<br />

welches speziell auf K<strong>und</strong>en in Deutschland ausgerichtet war (II. 1.) <strong>und</strong> von Italien aus abgeschlossen wurde. Die<br />

Beschränkung des italienischen Anbieters durch ein sanktioniertes Verbreitungsverbot in Deutschland beruht somit<br />

ausschließlich auf den unterschiedlichen Schutzvoraussetzungen des deutschen <strong>und</strong> des italienischen Urheberrechts<br />

<strong>und</strong> ist mithin gerechtfertigt.<br />

3. Der Angeklagte handelte auch schuldhaft. Das Landgericht hat sich von einem schuldhaften Handeln des Angeklagten<br />

überzeugt. Entgegen der fehlerhaften, den sich eindeutig ergebenden Sinn indes nicht in Frage stellenden<br />

Formulierung im Urteil handelte der Angeklagte nicht „ohne Schuld“. Denn der angenommene Verbotsirrtum ist -<br />

wie das Landgericht insoweit zutreffend ausführt - jedenfalls vermeidbar gewesen (§ 17 Satz 2 StGB).<br />

a) Zwar begegnet die Annahme eines Verbotsirrtums Bedenken, indes ist der Angeklagte hierdurch nicht beschwert.<br />

Das Landgericht legt seiner Würdigung zugr<strong>und</strong>e, der Angeklagte sei davon ausgegangen, mit der Verlegung des<br />

Lagers nach Italien würde eine Strafbarkeit in Deutschland entfallen. Dies gründet es auf die unwiderlegte Einlassung,<br />

er sei in diese Richtung beraten worden. Die bloße Berufung des Angeklagten auf einen Verbotsirrtum nötigt<br />

nicht dazu, einen solchen als gegeben anzunehmen. Es bedarf vielmehr einer Gesamtwürdigung aller Umstände, die<br />

für das Vorstellungsbild des Angeklagten von Bedeutung waren (vgl. BGH, Urteil vom 18. August 2009 - 1 StR<br />

107/09, NStZ-RR 2010, 85; BGH, Urteil vom 8. September 2011 - 1 StR 38/11, NStZ 2012, 160). Zu einer solchen<br />

Gesamtwürdigung aller für das Vorstellungsbild des Angeklagten relevanten Umstände hätte indes hier Anlass bestanden.<br />

Dass dies unterblieben ist, lässt besorgen, dass die Strafkammer bei der Frage, ob dem Angeklagten die<br />

Einsicht fehlte, Unrecht zu tun, von einem unzutreffenden Maßstab ausgegangen ist. Denn der Täter hat bereits dann<br />

ausreichende Unrechtseinsicht, wenn er bei Begehung der Tat mit der Möglichkeit rechnet, Unrecht zu tun, <strong>und</strong> dies<br />

billigend in Kauf nimmt. Es genügt mithin das Bewusstsein, die Handlung verstoße gegen irgendwelche, wenn auch<br />

im Einzelnen nicht klar vorgestellte gesetzliche Bestimmungen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteil vom 3. April 2008 - 3<br />

StR 394/07, NStZ-RR 2009, 13; BGH, Beschluss vom 24. Februar 2011 - 5 StR 514/09, NJW 2011, 1236, 1239<br />

mwN). Für ein solches Vorstellungsbild sprechende Indizien lässt das Landgericht unerörtert. So war dem Angeklagten<br />

aus dem ersten Strafverfahren bewusst, dass er sich in einem rechtlichen Grenzbereich bewegte. Die ihm zuteil<br />

gewordene rechtliche Beratung erfolgte zu Geschäftsmodellen, die darauf ausgelegt waren, eine als möglich erkannte<br />

Strafbarkeit zu umgehen. Dies setzt aber eine gedankliche Auseinandersetzung mit den Grenzen strafbaren Verhaltens<br />

voraus <strong>und</strong> schließt die Möglichkeit mit ein, sich bei einer Fehlinterpretation der Gesetzeslage strafbar zu machen<br />

(vgl. hierzu BGH, Urteil vom 8. Dezember 2009 - 1 StR 277/09, BGHSt 54, 243, 258; BGH, Urteil vom 8.<br />

September 2011 - 1 StR 38/11, NStZ 2012, 160). So lag es hier, denn der Angeklagte konnte sich für die lediglich<br />

erhoffte Annahme der Straflosigkeit auf keine höchstrichterlichen Entscheidungen stützen. Deswegen kommt auch<br />

dem Aspekt, dass der Begriff der Verbreitung im Sinne des Art. 4 Abs. 1 RL 2001/29/EG durch den EuGH erst in<br />

diesem Verfahren eine weitere Auslegung erfahren hat, für die Irrtumsfrage keine ausschlaggebende Bedeutung zu.<br />

In diesem Zusammenhang hätte zudem nicht unbeachtet bleiben dürfen, dass die vom Angeklagten praktizierten<br />

Lieferbedingungen entgegen einem beabsichtigten Anschein darauf ausgerichtet waren, Einwirkungsmöglichkeiten<br />

der Firma D. bis zur Zahlung durch den K<strong>und</strong>en aufrecht zu erhalten. Diese Verfahrensweise hätte Anlass sein müssen,<br />

zu prüfen, ob der Angeklagte nicht von einer gewissen Wahrscheinlichkeit der Strafbarkeit des praktizierten<br />

Geschäftsmodells ausgegangen ist, weil anderenfalls kein Erfordernis für die festgestellte Verschleierung bestanden<br />

hätte. Bei der gebotenen Gesamtwürdigung wäre das Landgericht überdies nicht gehindert gewesen, aus dem Umstand,<br />

dass der Angeklagte die Rechtsanwälte U. <strong>und</strong> D’. nicht von der Schweigepflicht entb<strong>und</strong>en hat, dem Angeklagten<br />

nachteilige Schlüsse zu ziehen. Zwar darf aus zulässigem Prozessverhalten gr<strong>und</strong>sätzlich kein dem Angeklagten<br />

nachteiliger Schluss gezogen werden. Hat sich der Angeklagte aber - wie hier - nach Belehrung zum Tatgeschehen<br />

geäußert <strong>und</strong> ein Beweismittel für seine Unschuld benannt <strong>und</strong> sich damit in einer bestimmten Weise zum<br />

Hergang des Gesprächs mit dem Rechtsanwalt geäußert, sodann aber die Überprüfung dieser Darstellung verhindert,<br />

kann der Tatrichter hieraus Schlüsse auch zum Nachteil des Angeklagten ziehen (BGH, Urteil vom 3. Dezember<br />

1965 - 4 StR 573/65, BGHSt 20, 298 mwN; vgl. Miebach NStZ 2000, 234, 239).<br />

- 188 -


) Jedenfalls ist das Landgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise von der Vermeidbarkeit eines<br />

solchen Irrtums ausgegangen. Unvermeidbar ist ein Verbotsirrtum erst dann, wenn der Täter alle seine geistigen<br />

Erkenntniskräfte eingesetzt <strong>und</strong> etwa aufkommende Zweifel durch Nachdenken oder erforderlichenfalls durch Einholung<br />

verlässlichen <strong>und</strong> sachk<strong>und</strong>igen Rechtsrats beseitigt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Januar 1966 - KRB<br />

2/65, BGHSt 21, 18, 20; BGH, Urteil vom 3. April 2008 - 3 StR 394/07, NStZ-RR 2009, 13). Dabei müssen sowohl<br />

die Auskunftsperson als auch die Auskunft aus der Sicht des Täters verlässlich sein; die Auskunft selbst muss zudem<br />

einen unrechtsverneinenden Inhalt haben. Eine Auskunft ist in diesem Sinne nur dann verlässlich, wenn sie objektiv,<br />

sorgfältig, verantwortungsbewusst <strong>und</strong> insbesondere nach pflichtgemäßer Prüfung der Sach- <strong>und</strong> Rechtslage erteilt<br />

worden ist (vgl. Vogel in LK 12. Aufl. § 17 Rn. 78, 85). Bei der Auskunftsperson ist dies der Fall, wenn sie die Gewähr<br />

für eine diesen Anforderungen entsprechende Auskunftserteilung bietet, sie muss insbesondere sachk<strong>und</strong>ig <strong>und</strong><br />

unvoreingenommen sein <strong>und</strong> mit der Erteilung der Auskunft keinerlei Eigeninteresse verfolgen (vgl. BGH, Urteil<br />

vom 15. Dezember 1999 - 2 StR 365/99, BGHR StGB § 17 Vermeidbarkeit 4; BGH, Urteil vom 13. September 1994<br />

- 1 StR 357/94, BGHSt 40, 257, 264). Auf der Gr<strong>und</strong>lage dessen durfte das Landgericht die vom Angeklagten entfalteten<br />

Bemühungen zur Klärung der Rechtslage als nicht ausreichend werten. Zum einen boten einige Auskunftspersonen<br />

nicht die Gewähr für eine verlässliche Auskunft. Zu Recht hat das Landgericht darauf abgestellt, dass die<br />

Auskunft des Geschäftsführers der Firma D. <strong>und</strong> deren Anwalt D‘. im Interesse der Firma D. erfolgte, was für den<br />

Angeklagten ohne weiteres erkennbar war. Abgesehen von einer ungewissen Sachk<strong>und</strong>e zu Fragen des deutschen<br />

Urheberrechts, hätte er daher berücksichtigen müssen, dass diese Auskunftspersonen möglicherweise voreingenommen<br />

waren <strong>und</strong> mit der Auskunft Eigeninteressen verfolgten, nämlich durch seine weitere Mitwirkung an dem Geschäftsmodell<br />

Einnahmen unter Verletzung der Urheberrechte in Deutschland zu erzielen. Zum anderen waren die<br />

Auskünfte der anderen Rechtsanwälte für den Angeklagten, der aufgr<strong>und</strong> des ersten Strafverfahrens um das Risiko<br />

einer Strafbarkeit bei dem Handel von unlizensierten Vervielfältigungsstücken urheberrechtlich geschützter Werke<br />

nach Deutschland wusste, nicht hinreichend verlässlich. Der Rat eines Rechtsanwalts ist nicht ohne weiteres bereits<br />

deshalb vertrauenswürdig, weil er von einer kraft ihrer Berufsstellung vertrauenswürdigen Person erteilt worden ist.<br />

Maßgebend ist vielmehr, ob der Rechtsrat - aus der Sicht des Anfragenden - nach eingehender sorgfältiger Prüfung<br />

erfolgt <strong>und</strong> von der notwendigen Sachkenntnis getragen ist (BGH, Urteil vom 15. Dezember 1999 - 2 StR 365/99,<br />

BGHR StGB § 17 Vermeidbarkeit 4). Eher zur Absicherung als zur Klärung bestellte Gefälligkeitsgutachten scheiden<br />

als Gr<strong>und</strong>lage unvermeidbarer Verbotsirrtümer aus (vgl. Fischer, StGB, 59. Aufl. § 17 Rn. 9 a). Auskünfte, die<br />

erkennbar vordergründig <strong>und</strong> mangelhaft sind oder nach dem Willen des Anfragenden lediglich eine "Feigenblattfunktion"<br />

erfüllen sollen, können den Täter ebenfalls nicht entlasten. Vielmehr muss der Beratende eine vollständige<br />

Kenntnis von allen tatsächlich gegebenen, relevanten Umständen haben. Insbesondere bei komplexen Sachverhalten<br />

<strong>und</strong> erkennbar schwierigen Rechtsfragen ist regelmäßig ein detailliertes, schriftliches Gutachten erforderlich, um<br />

einen unvermeidbaren Verbotsirrtum zu begründen (BGH, Urteil vom 3. April 2008 - 3 StR 394/07, NStZ-RR 2009,<br />

13 mwN). Der Verweis des Geschäftsführers der Firma D. auf den Rechtsrat eines Frankfurter Rechtsanwalts bot<br />

keine Gewähr für eine derart verlässliche Auskunft. Schon ungeachtet der Einbindung La. s <strong>und</strong> dessen Eigeninteresse<br />

durfte der Angeklagte nicht auf diese ganz pauschale Auskunft vertrauen. Auch der vom Angeklagten nur einmal<br />

kontaktierte Rechtsanwalt U. konnte keine Auskunft aufgr<strong>und</strong> sorgfältiger Prüfung <strong>und</strong> Kenntnis aller Umstände<br />

erteilen. Denn er hatte den Angeklagten darauf hingewiesen, dass die Frage einer Urheberrechtsverletzung genauerer<br />

Abklärung bedürfe, welche aber nicht erfolgte. Zutreffend folgert das Landgericht hieraus, dass dies keine ausreichende<br />

Gr<strong>und</strong>lage für einen unvermeidbaren Irrtum des Angeklagten bot. Zudem hätte berücksichtigt werden dürfen,<br />

dass der Angeklagte sich einerseits darauf beruft, er habe auf den Rechtsrat Rechtsanwalts U. s <strong>und</strong> des auch von ihm<br />

bezahlten Rechtsanwalts der Firma D. vertraut, andererseits aber eine Überprüfung der Substanz dieser Auskünfte<br />

durch Nichtentpflichtung von der Schweigepflicht der Rechtsanwälte nicht ermöglicht hat (hierzu oben unter a.). Mit<br />

nicht zu beanstandenden Erwägungen hat das Landgericht die Auskunft des Rechtsanwalt Sk. als nicht verlässlich<br />

gewertet, da diese weder „eindeutig“ oder „klar“, sondern lediglich eine allgemeine <strong>und</strong> ohne konkrete Prüfung <strong>und</strong><br />

Kenntnis der Ausgestaltung des geänderten Geschäftsmodells geäußerte Rechtsauffassung gewesen sei. Dies wird<br />

von den Feststellungen getragen, denn Rechtsanwalt Sk. hat dem Angeklagten ungefragt lediglich seine - ohne Wissen<br />

um die genauen Umständen des praktizierten Geschäftsmodells ersichtlich wenig substantiierte - Auffassung bei<br />

Kenntnis um den kontroversen Meinungsstand bek<strong>und</strong>et. Eine solche Auskunft hat schon keinen hinreichend unrechtsverneinenden<br />

Inhalt. Auf diesem ihm günstigen Standpunkt durfte der Angeklagte nicht vorschnell vertrauen<br />

(vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juni 1985 - 3 StR 82/85) <strong>und</strong> seine Augen nicht vor gegenteiligen Ansichten <strong>und</strong><br />

Entscheidungen verschließen. Denn es reicht nicht aus, wenn er aufgr<strong>und</strong> der Auskunft nicht mehr als eine Hoffnung<br />

- 189 -


haben kann, das ihm bekannte Strafgesetz greife nicht ein (vgl. BGH, Urteil vom 3. April 2008 - 3 StR 394/07,<br />

NStZ-RR 2009, 13 mwN). Nachfragen seitens des Angeklagten erfolgten aber nicht.<br />

c) Soweit die Revision sich darauf beruft, dem Angeklagten hätte auch bei weitergehenden Bemühungen angesichts<br />

der erst in diesem Verfahren erfolgten Entscheidung des EuGH zur Auslegung des Art. 4 Abs. 1 der RL 2001/29/EG<br />

kein der jetzigen Rechtslage entsprechender Hinweis erteilt werden können, führt dies zu keiner anderen Beurteilung.<br />

Angesichts des schon vor der Vorabentscheidung des EuGH bestehenden strafrechtlich abgesicherten Urheberrechtsschutzes<br />

war das vom Angeklagten praktizierte Geschäftsmodell mit dem Risiko der Strafbarkeit behaftet, wie<br />

die Entscheidung des Landgerichts in dieser Sache belegt (vgl. hierzu Vorlagebeschluss des Senats in dieser Sache<br />

vom 8. Dezember 2010). Eine den dargestellten Anforderungen an Verlässlichkeit genügende, insbesondere auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage einer dem Angeklagten obliegenden umfassenden Darstellung des Geschäftsmodells erfolgende Auskunft<br />

hätte auf dieses Risiko hingewiesen <strong>und</strong> spätestens hierdurch beim Angeklagten die Einsicht geweckt, es bestehe die<br />

Möglichkeit der Strafbarkeit. Ob das Verbreiten dabei entsprechend der Vorabentscheidung des EuGH weit ausgelegt<br />

oder - enger - an das hier gegebene Erfordernis des Übergangs der tatsächlichen Verfügungsgewalt geknüpft<br />

wird, ist für das Vorstellungsbild unerheblich.<br />

III. Die Feststellung nach § 111i Abs. 2 StPO ist rechtlich nicht zu beanstanden. Der Angeklagte hat aus den Taten<br />

nach dem 1. Januar 2007 (vgl. zur Nichtanwendbarkeit des § 111i Abs. 2 StPO auf zuvor bereits beendete Taten<br />

gemäß § 2 Abs. 5 i.V.m. Abs. 3 StGB, BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2008 - 1 StR 535/08, NStZ-RR 2009, 56)<br />

den ihm vom K<strong>und</strong>en ausbezahlten Frachtlohn erlangt; einer Verfallsanordnung stehen die den verletzten Lizenzinhabern<br />

aus den Taten erwachsenen Ansprüche (§ 97 UrhG, § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB) entgegen.<br />

WpHG § 13 Abs. 1, § 15 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1, § 37b Ad-hoc-Pflicht schon bei sich abzechnenden<br />

Insidertatsachen<br />

BGH, Beschl. v. 23.04.2013 - II ZB 7/09 - NJW 2013, 2114<br />

LS: a) Bei einem zeitlich gestreckten Vorgang wie der Herbeiführung eines Aufsichtsratsbeschlusses<br />

über den Wechsel im Amt des Vorstandsvorsitzenden kann jeder Zwischenschritt auch bereits die<br />

K<strong>und</strong>gabe der Absicht des amtierenden Vorstandsvorsitzenden gegenüber dem Aufsichtsratsvorsitzenden,<br />

vor Ablauf der Amtszeit aus dem Amt zu scheiden eine Insiderinformation im Sinn von § 13<br />

Abs. 1 Satz 1 WpHG über einen bereits eingetretenen, nicht öffentlich bekannten Umstand sein.<br />

b) Der Zwischenschritt kann eine Insiderinformation im Sinn von § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG über<br />

einen künftigen Umstand hier: Zustimmung des Aufsichtsrats oder Wechsel im Amt sein, wenn<br />

nach den Regeln der allgemeinen Erfahrung eher mit dem Eintritt des künftigen Umstands als mit<br />

seinem Ausbleiben zu rechnen ist.<br />

c) Die Emittentin macht sich nicht nach § 37b WpHG schadensersatzpflichtig, wenn sie sich bei<br />

Fehlen einer bewussten Entscheidung für eine Befreiung von der Veröffentlichungspflicht entschieden<br />

hätte <strong>und</strong> die weiteren Voraussetzungen von § 15 Abs. 3 Satz 1 WpHG tatsächlich vorliegen.<br />

Der II. Zivilsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat am 23. April 2013 beschlossen: Auf die Rechtsbeschwerde des Musterklägers<br />

wird der Beschluss des 20. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 22. April 2009 mit Ausnahme<br />

der Feststellung zu 1), dass in der Zeit vom 17. Mai 2005 bis zur Beschlussfassung des Aufsichtsrats der Musterbeklagten<br />

am 28. Juli 2005 keine Insiderinformation des Inhalts entstanden ist, dass Prof. S. gegenüber dem Aufsichtsratsvorsitzenden<br />

die einseitige Amtsniederlegung erklärt hat, auf-gehoben. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache<br />

zur anderweitigen Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an<br />

das Oberlandesgericht zurückverwiesen.<br />

Streitwert: 5.481.662,92 €<br />

Gründe:<br />

I. Der Musterkläger verlangt von der Musterbeklagten Schadensersatz wegen verspäteter Ad-hoc-Mitteilung über das<br />

vorzeitige Ausscheiden ihres Vorstandsvorsitzenden Prof. S . Nach der Hauptversammlung der Musterbeklagten<br />

vom 6. April 2005 trug sich Prof. S. zunehmend mit dem Gedanken, vor Ablauf seiner bis 2008 reichenden Bestellung<br />

als Vorstandsvorsitzender auszuscheiden. Seine Ehefrau, die als Führungskraft sein Büro betreute, weihte er in<br />

- 190 -


diese Überlegungen ein. Am 17. Mai 2005 erörterte er seine Absicht mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden K. . Am 1.<br />

Juni 2005 wurden die Aufsichtsratsmitglieder W. <strong>und</strong> L. über die Pläne informiert, spätestens am 15. Juni 2005 setzte<br />

Prof. S. das Vorstandsmitglied Dr. Z. , der sein Nachfolger als Vorstandsvorsitzender werden sollte, in Kenntnis.<br />

Am 6. Juli 2005 wurde die Chefsekretärin B. informiert, ab dem 10. Juli 2005 arbeiteten der Kommunikationschef<br />

Sc. , Frau S. <strong>und</strong> Frau B. an einer Pressemitteilung, einem externen Statement <strong>und</strong> einem Brief an die Mitarbeiter der<br />

Musterbeklagten. Am 13. Juli 2005 wurde zu einer Aufsichtsratssitzung auf den 28. Juli 2005 eingeladen. Die Einladung<br />

enthielt ebenso wie die Einberufung des Präsidialausschusses des Aufsichtsrats auf den 27. Juli 2005 keinen<br />

Hinweis auf einen möglichen Wechsel in der Person des Vorstandsvorsitzenden. Am 18. Juli 2005 verständigten sich<br />

Prof. S. <strong>und</strong> der Aufsichtsratsvorsitzende K. darauf, in der Aufsichtsratssitzung vom 28. Juli 2005 das vorzeitige<br />

Ausscheiden von Prof. S. zum Ende des Jahres <strong>und</strong> die Bestimmung von Dr. Z. zum Nachfolger vorzuschlagen. Am<br />

25. Juli 2005 erörterte Prof. S. mit dem Aufsichtsratsmitglied <strong>und</strong> Vorsitzenden des Konzern- <strong>und</strong> Gesamtbetriebsrats<br />

Kl. den Wechsel. Ob Kl. bereits am 11. Juli 2005 telefonisch über den beabsichtigten Wechsel informiert worden<br />

war, ist streitig. Klemm besprach die Personalfrage mit den übrigen Arbeitnehmervertretern, führte Gespräche mit<br />

Dr. Z. <strong>und</strong> kündigte am 27. Juli 2005 Prof. S. an, dass die Arbeitnehmerbank für den Wechsel stimmen werde. Am<br />

27. Juli 2005 wurden die beiden weiteren Mitglieder des Präsidialausschusses Dr. Kle. <strong>und</strong> Dr. Sch. informiert, bevor<br />

um 17.00 Uhr die Sitzung des Präsidialausschusses begann. Der Präsidialausschuss beschloss, dem Aufsichtsrat am<br />

Folgetag vorzuschlagen, dem vorzeitigen Ausscheiden von Prof. S. zum Jahresende <strong>und</strong> der Bestellung von Dr. Z. zu<br />

seinem Nachfolger zuzustimmen. Prof. S. informierte um 18.30 Uhr das Vorstandsmitglied Dr. C. , das in der Öffentlichkeit<br />

als sein möglicher Nachfolger gegolten hatte, <strong>und</strong> um 19.00 Uhr die beiden weiteren Vorstandsmitglieder<br />

Dr. G. <strong>und</strong> U. von dem beabsichtigten Wechsel. Um 19.30 Uhr fand ein Abendessen der Anteilseignervertreter<br />

unter den Aufsichtsratsmitgliedern statt, bei dem die Empfehlung des Präsidialausschusses Gesprächsthema war. Am<br />

28. Juli 2005 beschloss der Aufsichtsrat der Musterbeklagten gegen 9.50 Uhr, dass Prof. S. zum Jahresende aus dem<br />

Amt ausscheiden <strong>und</strong> Dr. Z. neuer Vorstandsvorsitzender werden sollte. Eine entsprechende Ad-hoc-Mitteilung<br />

sandte die Musterbeklagte den Geschäftsführungen der Börsen <strong>und</strong> der B<strong>und</strong>esanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht<br />

(BaFin) vorab um 10.02 Uhr, um 10.32 Uhr wurde die Ad-hoc-Mitteilung in der Meldungsdatenbank der Deutschen<br />

Gesellschaft für Ad-hoc-Publizität veröffentlicht. Der an diesem Tag bereits nach der Veröffentlichung der<br />

Ergebnisse des zweiten Quartals 2005 angestiegene Kurswert der Aktien der Musterbeklagten stieg nach der Mitteilung<br />

über den Wechsel im Amt des Vorstandsvorsitzenden deutlich an. Mehrere Anleger, die Aktien der Musterbeklagten<br />

vor diesem Zeitpunkt verkauft hatten, haben wie der Musterkläger Klage gegen die Musterbeklagte erhoben,<br />

mit der sie Schadensersatz wegen der ihrer Ansicht nach verspäteten Ad-hoc-Mitteilung verlangen. Das Oberlandesgericht<br />

Stuttgart hat auf die ihm durch Vorlagebeschluss des Landgerichts vorgelegten Feststellungsziele mit Musterentscheid<br />

vom 15. Februar 2007 (ZIP 2007, 481) festgestellt, dass eine Insiderinformation im Sinne des § 37b<br />

Abs. 1 WpHG erst am 28. Juli 2005 um ca. 9.50 Uhr entstanden sei <strong>und</strong> dass die Musterbeklagte diese unverzüglich<br />

veröffentlicht habe. Der B<strong>und</strong>esgerichtshof hat diesen Musterentscheid mit Beschluss vom 25. Februar 2008 (II ZB<br />

9/07, ZIP 2008, 639) aufgehoben <strong>und</strong> die Sache zur anderweitigen Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung an das Oberlandesgericht<br />

Stuttgart zurückverwiesen. Im Musterentscheid vom 22. April 2009 (ZIP 2009, 962) hat das Oberlandesgericht<br />

Stuttgart festgestellt, dass bis zur Beschlussfassung des Aufsichtsrats der Musterbeklagten am 28. Juli 2005<br />

keine Insiderinformation des Inhalts entstanden ist, dass Prof. S. gegenüber dem Aufsichtsratsvorsitzenden die einseitige<br />

Amtsniederlegung erklärt hat <strong>und</strong> dass am 27. Juli 2005 nach 17.00 Uhr mit der Beschlussfassung des Präsidialausschusses<br />

des Aufsichtsrats der Musterbeklagten eine Insiderinformation entstanden ist, dass der Aufsichtsrat<br />

in seiner Sitzung am 28. Juli 2005 über den Vorschlag des Präsidialausschusses beschließen wird, der vorzeitigen<br />

Aufhebung der Bestellung von Prof. S. zum Vorstandsvorsitzenden zum 31. Dezember 2005 zuzustimmen. Weiter<br />

hat es festgestellt, dass die Musterbeklagte von der Pflicht zur unverzüglichen Veröffentlichung dieser Information<br />

nicht bis zur Beschlussfassung durch den Aufsichtsrat am 28. Juli 2005 gem. § 15 Abs. 3 WpHG befreit war, aber<br />

nicht nach § 37b WpHG auf Schadensersatz wegen Unterlassens einer unverzüglichen Veröffentlichung haftet, weil<br />

sie sich darauf berufen könne, dass der geltend gemachte Schaden gleichermaßen eingetreten wäre, wenn sie eine<br />

bewusste Entscheidung über den Aufschub getroffen sowie das mit den Insiderregeln hinreichend vertraute Aufsichtsratsmitglied<br />

noch einmal belehrt <strong>und</strong> damit rechtmäßig gehandelt hätte. Gegen den Musterentscheid hat der<br />

Musterkläger Rechtsbeschwerde eingelegt, der zwölf weitere Kläger beigetreten sind. Der Senat hat dem Gerichtshof<br />

der Europäischen Union mit Beschluss vom 22. November 2010 (ZIP 2011, 72) zwei Fragen zur Auslegung von Art.<br />

1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/6/EG, Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124/EG vorgelegt. Der Gerichtshof hat mit<br />

Urteil vom 28. Juni 2012 C-19/11 (ZIP 2012, 1282) entschieden:<br />

- 191 -


1. Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments <strong>und</strong> des Rates vom 28. Januar 2003 über Insider-Geschäfte<br />

<strong>und</strong> Marktmanipulation (Marktmissbrauch) <strong>und</strong> Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124/EG der Kommission<br />

vom 22. Dezember 2003 zur Durchführung der Richtlinie 2003/6 betreffend die Begriffsbestimmung <strong>und</strong> die<br />

Veröffentlichung von Insider-Informationen <strong>und</strong> die Begriffsbestimmung der Marktmanipulation sind dahin auszulegen,<br />

dass bei einem zeitlich gestreckten Vor-gang, bei dem ein bestimmter Umstand verwirklicht oder ein bestimmtes<br />

Ereignis herbeigeführt werden soll, nicht nur dieser Umstand oder dieses Ereignis präzise Informationen im<br />

Sinne der genannten Bestimmungen sein können, sondern auch die mit der Verwirklichung des Umstands oder Ereignisses<br />

verknüpften Zwichenschritte dieses Vorgangs.<br />

2. Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124 ist dahin auszulegen, dass die Wendung „eine Reihe von Umständen …, …<br />

bei denen man mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass sie in Zukunft existieren werden,<br />

oder ein Ereignis, das … mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in Zukunft eintreten wird“, auf künftige Umstände<br />

oder Ereignisse abzielt, bei denen eine umfassen-de Würdigung der bereits verfügbaren Anhaltspunkte ergibt, dass<br />

tatsächlich erwartet werden kann, dass sie in Zukunft existieren oder eintreten werden. Dagegen ist die Wendung<br />

nicht dahin aus-zulegen, dass das Ausmaß der Auswirkung dieser Reihe von Umständen oder dieses Ereignisses auf<br />

den Kurs der betreffenden Finanzinstrumente berücksichtigt werden muss.<br />

II. Die zulässige Rechtsbeschwerde des Musterklägers, die gemäß § 15 Abs. 1 Satz 2 KapMuG in der bis zum 1.<br />

November 2012 geltenden Fassung (im Folgenden nur: KapMuG), die gem. § 27 KapMuG in der ab diesem Zeitpunkt<br />

geltenden Fassung (Art. 1, 10 Abs. 1 S. 1 des Gesetzes vom 19. Oktober 2012, BGBl. I S. 2182; im Folgenden:<br />

KapMuG n.F.) auf das vorliegende Musterverfahren weiterhin anwendbar ist, kraft Gesetzes stets gr<strong>und</strong>sätzliche<br />

Bedeutung im Sinne des § 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO hat, ist teilweise begründet. Auf die Rechtsbeschwerde des<br />

Musterklägers ist der Musterentscheid mit Ausnahme der Feststellung zu 1) aufzuheben <strong>und</strong> die Sache an das Oberlandesgericht<br />

zurückzuverweisen, damit es die nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union weiter<br />

erforderlichen Tatsachenfeststellungen treffen kann.<br />

1. Die Feststellung des Oberlandesgerichts, dass in der Zeit vom 17. Mai 2005 bis zur Beschlussfassung des Aufsichtsrats<br />

der Musterbeklagten keine Insiderinformation des Inhalts entstanden ist, dass Prof. S. gegenüber dem Aufsichtsratsvorsitzenden<br />

die einseitige Amtsniederlegung erklärt hat, hält der Überprüfung im Rechtsbeschwerdeverfahren<br />

stand. Die Beweiswürdigung des Oberlandesgerichts, das dazu Prof. S. <strong>und</strong> den Aufsichtsratsvorsitzenden K.<br />

als Zeugen vernommen hat, ist rechtsfehlerfrei. Die Beweiswürdigung durch das Oberlandesgericht im Kapitalanlegermusterverfahren<br />

ist im Rechtsbeschwerdeverfahren nur auf Rechtsfehler zu überprüfen, § 576 Abs. 1 <strong>und</strong> Abs. 3<br />

ZPO i.V.m. § 546 ZPO. Die Beweiswürdigung ist gr<strong>und</strong>sätzlich Sache des Tatrichters <strong>und</strong> nur eingeschränkt darauf<br />

zu überprüfen, ob er sich mit dem Prozessstoff <strong>und</strong> den Beweisergebnissen umfassend <strong>und</strong> widerspruchsfrei auseinandergesetzt<br />

hat, die Beweiswürdigung also vollständig <strong>und</strong> rechtlich möglich ist <strong>und</strong> nicht gegen Denkgesetze <strong>und</strong><br />

Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr., vgl. BGH, Urteil vom 13. Dezember 2011 XI ZR 51/10, BGHZ 192, 90 Rn. 29;<br />

Urteil vom 19. Juli 2004 II ZR 217/03, WM 2004, 1726, 1729). Das gilt auch für die Musterrechtsbeschwerde. Dass<br />

einem Musterverfahren nach § 15 Abs. 1 Satz 2 KapMuG (§ 20 Abs. 1 Satz 2 KapMuG n.F.) gr<strong>und</strong>sätzliche Bedeutung<br />

zukommt, auch wenn es auf die Feststellung von Tatsachen zielt, betrifft die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde,<br />

beseitigt aber nicht die gr<strong>und</strong>sätzliche Bindung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs als Rechtsbeschwerdegericht an rechtsfehlerfrei<br />

getroffene tatsächliche Feststellungen des Oberlandesgerichts (§ 577 Abs. 2 Satz 4 ZPO i.V.m. § 559 Abs.<br />

2 ZPO; vgl. KK-KapMuG/Rimmelspacher, § 15 Rn. 205). Das Oberlandesgericht setzt sich mit den Beweisergebnissen<br />

umfassend <strong>und</strong> widerspruchsfrei auseinander <strong>und</strong> würdigt sie vollständig. Entgegen der Auffassung des Beigetretenen<br />

zu 1 ist die Beweiswürdigung nicht deshalb unvollständig, weil das Oberlandesgericht die Glaubwürdigkeit der<br />

Zeugen nicht ausdrücklich erwähnt hat. Nach § 286 Abs. 1 Satz 2 ZPO sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche<br />

Überzeugung leitend gewesen sind. Mit der Frage der Glaubhaftigkeit der Aussagen der beiden Zeugen, die<br />

bei der Würdigung von Zeugenaussagen im Mittelpunkt steht, hat sich das Oberlandesgericht ausführlich auseinandergesetzt.<br />

Das Oberlandesgericht hat dabei entgegen der Auffassung des Beigetretenen zu 1 nicht Umständen eine<br />

ihnen nicht zukommende Indizwirkung zukommen lassen, weil eine Beschlussfassung durch den Aufsichtsrat nach<br />

einer Amtsniederlegung entbehrlich <strong>und</strong> unverständlich gewesen sei, obwohl die Beteiligten an einem Beschluss des<br />

Aufsichtsrats wegen der Außenwirkung ein Interesse haben konnten. Es hat die Ankündigung der einseitigen Amtsniederlegung<br />

bei dem Gespräch mit dem Zeugen K. bereits im Mai vielmehr mit dem gesamten weiteren Geschehensablauf<br />

seit Mitte Mai 2005 für unvereinbar gehalten. Das Oberlandesgericht ist auch auf die Glaubwürdigkeit<br />

der Zeugen eingegangen, soweit sie der Musterkläger in Zweifel gezogen <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> der übereinstimmenden<br />

- 192 -


Wortwahl in den Aussagen eine Abstimmung der Aussagen vermutet hat. Es hat die übereinstimmende Wortwahl<br />

nachvollziehbar damit erklärt, dass die Zeugen den Ablauf eines Gesprächs zwischen ihnen schilderten.<br />

2. Dagegen hat die Rechtsbeschwerde Erfolg, soweit sie sich gegen die Feststellung im Musterentscheid wendet,<br />

dass erst am 27. Juli 2005 eine Insiderinformation entstanden ist. Als Zeitpunkt, zu dem eine Insiderinformation<br />

entstanden ist, kommt bereits das Gespräch des Zeugen S. Mitte Mai mit dem Zeugen K. in Betracht. Insoweit bedarf<br />

es aber noch tatrichterlicher Feststellungen, ob zu diesem Zeitpunkt eine konkrete Information im Sinn von § 13 Abs.<br />

1 Satz 1 WpHG vorlag (Kursspezifität), ob diese Information geeignet war, im Falle ihres öffentlichen Bekanntwerdens<br />

den Börsenkurs der Aktien der Musterbeklagten erheblich zu beeinflussen (Kursrelevanz) oder ob die Zustimmung<br />

des Aufsichtsrats hinreichend wahrscheinlich war.<br />

a) Die Mitteilung des Zeugen S. gegenüber dem Zeugen K. über seine Absicht, vor Ablauf der Amtszeit im Einvernehmen<br />

mit dem Aufsichtsrat aus dem Amt auszuscheiden, kann eine Insiderinformation im Sinn von § 13 Abs. 1<br />

Satz 1 WpHG über einen bereits eingetretenen, nicht öffentlich bekannten Umstand sein. Das gilt erst recht für die<br />

weiteren, vom Oberlandesgericht aufgezählten Umstände bis zum Aufsichtsratsbeschluss vom 28. Juli 2005.<br />

aa) Dass es sich um einen Zwischenschritt auf dem Weg zum Ausscheiden des Zeugen S. aus dem Vorstand der<br />

Musterbeklagten <strong>und</strong> der Bestimmung eines neuen Vorstandsvorsitzenden handelte, sperrt eine Einordnung als Insiderinformation<br />

nicht. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat auf die Vorlage des Senats klargestellt, dass bei<br />

einem zeitlich gestreckten Vorgang nicht nur der am Ende der Entwicklung stehende Umstand oder das Ereignis,<br />

sondern auch die mit der Verwirklichung des Umstands oder des Ereignisses verknüpften Zwischenschritte eine<br />

präzise Information im Sinn von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments <strong>und</strong> des Rates<br />

vom 28. Januar 2003 über Insider-Geschäfte <strong>und</strong> Marktmanipulation (Marktmissbrauch) <strong>und</strong> Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie<br />

2003/124/EG der Kommission vom 22. Dezember 2003 zur Durchführung der Richtlinie 2003/6 betreffend die<br />

Begriffsbestimmung <strong>und</strong> die Veröffentlichung von Insider-Information <strong>und</strong> die Begriffsbestimmung der Marktmanipulation<br />

sein können (EuGH, ZIP 2012, 1282 Rn. 40). Dementsprechend kommt jedes einzelne Ereignis auf dem<br />

Weg zu einem beabsichtigten Ergebnis als Insiderinformation nach § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG in Betracht. Entgegen<br />

dem Musterentscheid sperrt das im beabsichtigten Ergebnis bestehende künftige Ereignis nicht die Überprüfung der<br />

einzelnen Zwischenschritte auf ihre Eignung als Insiderinformation.<br />

bb) Der Musterentscheid erweist sich insoweit auch nicht aufgr<strong>und</strong> der Hilfserwägung des Oberlandesgerichts als<br />

richtig, aus der Sicht eines verständigen Anlegers könnten bereits eingetretene Umstände nur kursrelevant sein, wenn<br />

das künftige Ereignis, auf das sie inhaltlich gerichtet sind, hinreichend wahrscheinlich eintrete. Da der bereits eingetretene<br />

Umstand selbständig im Hinblick auf seine Eignung als Insiderinformation zu betrachten ist, kommt es nicht<br />

ausschließlich darauf an, ob er auf ein künftiges Ereignis gerichtet ist <strong>und</strong> mit welcher Wahrscheinlichkeit dieses<br />

künftige Ereignis gegebenenfalls eintritt. Eine Insiderinformation setzt voraus, dass die nicht öffentlich bekannten<br />

Umstände geeignet sind, im Falle ihres öffentlichen Bekanntwerdens den Börsenpreis der Insiderpapiere erheblich zu<br />

beeinflussen (Kursrelevanz). Eine solche Eignung ist nach § 13 Abs. 1 Satz 2 WpHG gegeben, wenn ein verständiger<br />

Anleger die Information bei seiner Anlageentscheidung berücksichtigen würde. Vor dem Hintergr<strong>und</strong> von Art. 1<br />

Abs. 2 der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments <strong>und</strong> des Rates vom 28. Januar 2003 über Insider-<br />

Geschäfte <strong>und</strong> Marktmanipulation (Marktmissbrauch) ist damit in richtlinienkonformer Auslegung eine Information<br />

gemeint, die ein verständiger Anleger wahrscheinlich als Teil der Gr<strong>und</strong>lage seiner Anlageentscheidung nutzen würde.<br />

Dabei ist zwischen der Information über ein bereits eingetretenes Ereignis oder einen vorliegenden Umstand <strong>und</strong><br />

der Information über künftige Umstände <strong>und</strong> Ereignisse zu unterscheiden. Nur für die Information über künftige, mit<br />

hinreichender Wahrscheinlichkeit eintretende Ereignisse hat der Gerichtshof der Europäischen Union ausdrücklich<br />

entschieden, dass es für die Kursrelevanz auch auf die Wahrscheinlichkeit des Eintritts des Ereignisses ankommt<br />

(EuGH, ZIP 2012, 1282 Rn. 55).<br />

cc) Der Senat kann in der Sache insoweit nicht selbst entscheiden, weil das Oberlandesgericht von seinem Standpunkt<br />

aus folgerichtig weder Feststellungen getroffen hat, welche der bis zum Aufsichtsratsbeschluss eingetretenen<br />

Umstände im Sinn von § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG eine konkrete Information sind (Kursspezifität), noch ob sie geeignet<br />

sind, im Falle ihres öffentlichen Bekanntwerdens den Börsenkurs der Aktien der Musterbeklagten erheblich zu<br />

beeinflussen (Kursrelevanz).<br />

(1) Die Tatsache, dass sich der Zeuge S. mit dem Gedanken trug, vor Ablauf seiner bis 2008 reichenden Bestellung<br />

als Vorstandsvorsitzender auszuscheiden, <strong>und</strong> seine Ehefrau in entsprechende Überlegungen einweihte, ist allerdings<br />

auch als bereits existierender Umstand noch keine konkrete Information im Sinn von § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG. Eine<br />

auf einen bereits existierenden Umstand oder ein bereits eingetretenes Ereignis bezogene Information ist konkret,<br />

- 193 -


wenn sie spezifisch genug ist, um einen Schluss auf die mögliche Auswirkung des bereits existierenden Umstands<br />

oder des bereits ein-getretenen Ereignisses auf die Kurse von Finanzinstrumenten zuzulassen (Art. 1 Abs. 1 der<br />

Richtlinie 2003/124/EG, EuGH, ZIP 2012, 1282 Rn. 29). Zwar können auch Pläne, Vorhaben oder Absichten einer<br />

Person konkrete Informationen über diesen bereits existierenden Umstand sein (a.A. Assmann in Assmann/Uwe H.<br />

Schneider, WpHG, 6. Aufl., § 13 Rn. 21). Wenn bei einem zeitlich gestreckten Vorgang ein bestimmter Umstand<br />

verwirklicht oder ein bestimmtes Ereignis herbeigeführt werden soll, können auch die mit der Verwirklichung des<br />

Umstands oder Ereignisses verknüpften Zwischenschritte dieses Vorgangs eine Insiderinformation sein (EuGH, ZIP<br />

2012, 1282 Rn. 38). Allein die Tatsache, dass sich der Zeuge S. mit Überlegungen befasste, vor Ablauf der Bestellung<br />

auszuscheiden, ohne einen dahin gehenden Entschluss gefasst zu haben, begründet aber noch keine so spezifische<br />

Information, dass sie einen Schluss auf eine mögliche Auswirkung auf die Kurse zuließe. Dem Merkmal der<br />

Kursspezifität kommt gerade bei Ereignissen, die als Teil eines gestreckten Geschehensablaufs angesehen werden<br />

können, eine Bedeutung zu (vgl. EuGH, ZIP 2012, 1282 Rn. 39). Eine mögliche Auswirkung auf die Kurse stand mit<br />

dem Verbleib des Zeugen S. als Vorstandsvorsitzenden in Zusammenhang. Auswirkungen auf die Kurse sind bei der<br />

Kenntnis von bloßen Überlegungen auch nicht daraus herzuleiten, dass den Erwägungen eine Schwächung der Leitungsposition<br />

entnommen werden könnte. Das ist auch nicht deshalb anders zu beurteilen, weil der Zeuge S. die<br />

Überlegungen seiner Ehefrau, die ebenfalls bei der Musterbeklagten tätig war, mitgeteilt hat. Damit sind sie nicht<br />

über den engen persönlichen Bereich hinausgelangt <strong>und</strong> haben den Charakter als Überlegungen, denen kein präziser<br />

Informationsgehalt zukommt, nicht verloren.<br />

(2) Ob das Gespräch mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden K. <strong>und</strong> die weiteren einzelnen Ereignisse, die das Oberlandesgericht<br />

für die Zeit zwischen diesem Gespräch <strong>und</strong> dem Aufsichtsratsbeschluss ermittelt hat, konkrete Informationen<br />

<strong>und</strong> kursrelevant sind, kann der Senat nicht selbst feststellen. Maßgebend für die Kursspezifität ist, ob die Information<br />

über diese Umstände jeweils schon spezifisch bzw. präzise genug ist, um einen Schluss auf eine Auswirkung<br />

auf den Kurs der Aktien der Musterbeklagten zuzulassen. Die Information über das Gespräch zwischen dem<br />

Aufsichtsratsvorsitzenden <strong>und</strong> dem Vorstandsvorsitzenden zu einem einvernehmlichen Wechsel im Vorstandsvorsitz<br />

ist konkret. Anhand der tatsächlichen Umstände ist für den 17. Mai 2005 aber noch zu ermitteln, ob sie einen Rückschluss<br />

auf die Kursentwicklung zulässt. Bisher ist nur für den 27. Juli 2005 festgestellt, dass die Information über<br />

den Aufsichtsratsbeschluss zum Wechsel im Vorstandsvorsitz auf einen Kursanstieg der Aktie der Musterbeklagten<br />

schließen ließ. Entsprechendes gilt gegebenenfalls für die weiteren Ereignisse bis zum Aufsichtsrats-beschluss.<br />

Maßgebend für die Kursrelevanz ist, ob ein verständiger Anleger als Teil der Gr<strong>und</strong>lage seiner Anlageentscheidung<br />

bereits die Information über den jeweiligen Umstand nutzen würde, hier also dass der Zeuge S. gegenüber dem Zeugen<br />

K. seine Absicht bek<strong>und</strong>et hat, vor Ablauf der Amtszeit im Einvernehmen mit dem Aufsichtsrat aus dem Amt<br />

auszuscheiden, <strong>und</strong> der Zeuge K. dem nicht entgegengetreten ist, sondern mit dem Zeugen S. zusammen auf einen<br />

Aufsichtsratsbeschluss hinarbeiten wollte; entsprechendes gilt für die weiteren Ereignisse <strong>und</strong> Umstände bis zum<br />

Beschluss des Aufsichtsrats. Das Kursbeeinflussungspotential einer Information ist in objektiv-nachträglicher Exante-Prognose<br />

zu ermitteln (BGH, Urteil vom 13. Dezember 2011 XI ZR 51/10, BGHZ 192, 90 Rn. 41). Die Prüfung<br />

soll nach dem zur Auslegung heranzuziehenden ersten Erwägungsgr<strong>und</strong> der Richtlinie 2003/124/EG der Kommission<br />

vom 22. Dezember 2003 zur Durchführung der Richtlinie 2003/6 betreffend die Begriffsbestimmung <strong>und</strong> die<br />

Veröffentlichung von Insider-Information <strong>und</strong> die Begriffsbestimmung der Marktmanipulation (vgl. EuGH, ZIP<br />

2012, 1282 Rn. 55) anhand der ex ante vorliegenden In-formationen erfolgen <strong>und</strong> sollte die möglichen Auswirkungen<br />

der Information in Betracht ziehen, insbesondere unter Berücksichtigung der Gesamttätigkeit des Emittenten, der<br />

Verlässlichkeit der Informationsquelle <strong>und</strong> sonstiger Marktvariablen, die das entsprechende Finanzinstrument beeinflussen<br />

dürften. Ein zwischen den Parteien umstrittener Kursanstieg nach der Ad-hoc-Mitteilung über den Aufsichtsratsbeschluss<br />

kann nur eingeschränkt als Indiz für die Kurserheblichkeit der Information über die vom Zeugen S.<br />

beabsichtigte einvernehmliche Beendigung der Vorstandstätigkeit <strong>und</strong> das Gespräch zwischen den Zeugen S. <strong>und</strong> K.<br />

herangezogen werden. Zwar kann der tatsächliche Kursverlauf Indizwirkung haben, wenn andere Umstände als das<br />

öffentliche Bekanntwerden der Insiderinformation für eine erhebliche Kursänderung praktisch ausgeschlossen werden<br />

können (vgl. BGH, Urteil vom 13. Dezember 2011 XI ZR 51/10, BGHZ 192, 90 Rn. 41). Bei der Information<br />

über den Aufsichtsratsbeschluss, nach dem die Beendigung der Vorstandstätigkeit von Prof. S. zum Jahresende praktisch<br />

sicher war, handelt es sich aber um eine andere Information als die Information über ein Gespräch über die<br />

Absicht, aus dem Vorstandsamt zum Jahreswechsel auszuscheiden. Aus einem Kursanstieg als Reaktion auf den<br />

Aufsichtsratsbeschluss lässt sich daher nur entnehmen, dass eine Information über das Ausscheiden des Zeugen S.<br />

aus dem Vorstandsamt, wenn sie Ende Juli 2005 von Bedeutung für den Kurs der Aktie der Musterbeklagten war,<br />

- 194 -


Anfang Mai kaum ohne jede Bedeutung für den Kurs gewesen sein kann, wenn in der Zeit dazwischen nicht besondere<br />

Umstände eingetreten sind, die eine solche Veränderung erklären. Bei der Beurteilung der Kursrelevanz kann<br />

nicht allein darauf abgestellt werden, wie wahrscheinlich die beabsichtigte einvernehmliche Beendigung der Bestellung<br />

war. Die Information über die Absicht des Zeugen S. , im Einverständnis mit dem Aufsichtsrat vorzeitig aus<br />

dem Amt als Vorstandsvorsitzender auszuscheiden, muss sich für die Bewertung durch einen Anleger nicht im Hinweis<br />

auf ein künftiges Ereignis beschränken, sondern kann auch aus an-deren Gründen von einem Anleger als Teil<br />

der Gr<strong>und</strong>lage seiner Anlageentscheidungen benutzt werden. Schon die Absicht, die personelle Veränderung in der<br />

Leitung umzusetzen, kann bedeuten, dass die Musterbeklagte die vom Zeugen S. verfolgte Geschäftspolitik nicht<br />

oder nicht mit Nachdruck weiterverfolgt. Allerdings ist auch zu berücksichtigen, dass der Umstand, dass an einer<br />

einvernehmlichen Aufhebung der Bestellung <strong>und</strong> Nachfolgeregelung gearbeitet wird, auch auf das künftige Ereignis<br />

des Wechsels im Amt des Vorstandsvorsitzenden hindeutet. Inwieweit die Wahrscheinlichkeit des Eintritts des künftigen<br />

Ereignisses, auf das das bereits eingetretene Ereignis hindeuten kann, bei der Beurteilung der Kursrelevanz des<br />

bereits eingetretenen Ereignisses von Bedeutung ist, hat der Gerichtshof der Europäischen Union nicht ausdrücklich<br />

ausgeführt. Im Zusammenhang mit der Kursrelevanz der Information über künftige Umstände hat er entschieden,<br />

dass dann, wenn es sich um eine Information über ein hinreichend wahrscheinliches künftiges Ereignis handelt, davon<br />

auszugehen sei, dass ein Anleger auch den Grad der Wahrscheinlichkeit des Eintritts des künftigen Ereignisses<br />

in Betracht zieht (vgl. EuGH, ZIP 2012, 1282 Rn. 55). Da danach bei der Kursrelevanz generell davon auszugehen<br />

ist, dass ein Anleger den Grad der Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines künftigen Ereignisses in Betracht zieht,<br />

muss dies auch gelten, wenn eine präzise Information über einen eingetretenen Umstand vorliegt, der auf ein künftiges<br />

Ereignis hinweist, <strong>und</strong> der Anleger insoweit den möglichen künftigen Verlauf abschätzen muss (Schall, ZIP<br />

2012, 1286, 1288; Klöhn, ZIP 2012, 1885, 1891). Der Senat verkennt nicht, das dies frühzeitig zu einer veröffentlichungspflichtigen<br />

Insiderinformation führen kann, obwohl der unternehmensinterne Entscheidungsprozess noch<br />

nicht abgeschlossen ist. Das entspricht aber dem Zweck der Richtlinie, die Anleger einander gleichzustellen <strong>und</strong> u.a.<br />

vor der unrechtmäßigen Verwendung von Insiderinformationen zu schützen (vgl. EuGH, ZIP 2012, 1282 Rn. 33).<br />

Der Emittent ist dadurch geschützt, dass er die Veröffentlichung auf das eigene Risiko, die Vertraulichkeit gewährleisten<br />

zu können, aufschieben darf (§ 15 Abs. 3 Satz 1 WpHG). Außerdem schuldet er keinen Schadensersatz, wenn<br />

das Unterlassen der Veröffentlichung nicht auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit beruht (§ 37b Abs. 2 WpHG). Ein<br />

solcher Fall kann gerade auch vorliegen, wenn die Kursspezifität oder die Kursrelevanz mit einfacher Fahrlässigkeit<br />

falsch eingeschätzt werden.<br />

b) Weiter kann ab Mitte Mai 2005 eine Insiderinformation über einen künftigen Zwischenschritt bzw. das „Endereignis“<br />

entstanden sein, dass der Aufsichtsrat dem Ausscheiden des Zeugen S. zum Jahresende zustimmen bzw. dass<br />

der Zeuge S. zum Jahresende ausscheiden werde.<br />

aa) Das Oberlandesgericht hat entsprechend dem Hinweis im Beschluss des Senats vom 25. Februar 2008 (II ZB<br />

9/07, ZIP 2008, 639 Rn. 25 f.) seiner Entscheidung zugr<strong>und</strong>e gelegt, dass von dem künftigen Umstand des Aufsichtsratsbeschlusses,<br />

mit dem das Ausscheiden von Prof. S. zum Jahresende beschlossen wurde, erst mit hinreichender<br />

Wahrscheinlichkeit im Sinn des § 13 Abs. 1 Satz 3 WpHG (Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124/EG) ausgegangen<br />

werden konnte, wenn aus der Sicht eines verständigen Anlegers die Entscheidung des Aufsichtsrats vorabgestimmt<br />

sei. Der Senat hatte im Beschluss vom 25. Februar 2008 ausgeführt, dass offen bleiben könne, ob mit hinreichender<br />

Wahrscheinlichkeit im Sinn von § 13 Abs. 1 Satz 3 WpHG (Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124/EG) eine hohe<br />

oder nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit gefordert werde. Zu dem einvernehmlichen Ausscheiden sei ein<br />

Beschluss des Gesamtaufsichtsrats erforderlich gewesen <strong>und</strong> nach der Geschäftsordnung des Aufsichtsrats habe<br />

bereits auf den Widerspruch eines Mitglieds hin kein Beschluss zu dem in der Tagesordnung nicht angekündigten<br />

Ausscheiden von Prof. S. gefasst werden dürfen. Daher sei offen gewesen, ob der Aufsichtsrat sofort zu einer Entscheidung<br />

im Sinn des Vorschlags zum Ausscheiden von Prof. S. <strong>und</strong> der Bestellung von Dr. Z. als Nachfolger<br />

kommen oder sie vertagen würde. Anders sei dies gegebenenfalls bei einer definitiven Vorabstimmung des Aufsichtsratsbeschlusses<br />

zu beurteilen. Eine solche Vorabstimmung hat das Oberlandesgericht mit der Sitzung des Präsidialausschusses<br />

am 27. Juli 2005 angenommen.<br />

bb) An dieser an einer reinen Wahrscheinlichkeitsbeurteilung orientierten Auslegung, die mindestens eine überwiegende<br />

Wahrscheinlichkeit verlangt <strong>und</strong> zudem im Ergebnis bei Entscheidungen von mit mehreren Personen besetzten<br />

Gremien wie dem Aufsichtsrat hohe Anforderungen an die Eintrittswahrscheinlichkeit stellt, hält der Senat nach<br />

der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht fest. Nach der Vorabentscheidung des Gerichtshofs<br />

der Europäischen Union ist der Begriff der hinreichenden Wahrscheinlichkeit in § 13 Abs. 1 Satz 3 WpHG<br />

- 195 -


dahin auszulegen, dass er auf künftige Umstände oder Ereignisse abzielt, bei denen eine umfassende Würdigung der<br />

bereits verfügbaren Anhaltspunkte ergibt, dass tatsächlich erwartet werden kann, dass sie in Zukunft existieren oder<br />

eintreten werden (EuGH, ZIP 2012, 1282 Rn. 56). Damit wird nicht ausschließlich auf eine Wahrscheinlichkeitsbeurteilung<br />

abgestellt, sondern auf Regeln der allgemeinen Erfahrung (EuGH, ZIP 2012, 1282 Rn. 44). Zwar muss<br />

danach eher mit dem Eintreten des künftigen Ereignisses als mit seinem Ausbleiben zu rechnen sein, aber die Wahrscheinlichkeit<br />

muss nicht zusätzlich hoch sein. Damit sind auch hier weitere tatrichterliche Feststellungen erforderlich.<br />

Bei der Beurteilung nach den Regeln der allgemeinen Erfahrung sind alle tatsächlichen Umstände einzubeziehen.<br />

Insoweit ist auch zu berücksichtigen, ob es dem Aufsichtsratsvorsitzenden in der Vergangenheit regelmäßig<br />

gelang, bei sorgfältiger Vorbereitung <strong>und</strong> Leitung beabsichtigte Beschlüsse zu Personalfragen im Aufsichtsrat durchzusetzen,<br />

<strong>und</strong> Umstände vorlagen, die hier ex ante dagegen sprachen, dass dies auch diesmal gelingen würde. Auf<br />

die Frage, ob der Aufsichtsrat auf Antrag eines Mitglieds eine Entscheidung vertagen musste, kommt es dagegen<br />

nicht entscheidend an, weil § 13 Abs. 1 Satz 3 WpHG auf ein künftiges Ereignis abzielt <strong>und</strong> die vernünftige Erwartung,<br />

dass es eintreten wird, durch eine Vertagung der Entscheidung, wenn sich dahinter keine Gegnerschaft verbirgt,<br />

nicht erheblich beeinträchtigt wird.<br />

cc) Soweit danach von einer hinreichend präzisen Information über einen Aufsichtsratsbeschluss als künftig eintretenden<br />

Umstand auszugehen sein sollte, hat der nach Veröffentlichung der Ad-hoc-Mitteilung über den Aufsichtsratsbeschluss<br />

tatsächlich eingetretene Kursanstieg für die Beurteilung der Kursrelevanz Indizwirkung, wenn andere<br />

Umstände als das öffentliche Bekanntwerden der Insiderinformation für eine erhebliche Kursänderung praktisch<br />

ausgeschlossen werden können (vgl. BGH, Urteil vom 13. Dezember 2011 XI ZR 51/10, BGHZ 192, 90 Rn. 41).<br />

Insoweit ist das Oberlandesgericht daher zutreffend von einer Kursrelevanz für den von ihm angenommenen Zeitpunkt<br />

für eine veröffentlichungspflichtige Insiderinformation, den Vorabend vor dem Aufsichtsratsbeschluss, ausgegangen.<br />

Sofern dieser Zeitpunkt nach weiteren tatrichterlichen Feststellungen zeitlich vorzuverlegen ist, ist allerdings<br />

zu berücksichtigen, dass Anleger nicht nur die möglichen Auswirkungen dieses künftigen Ereignisses auf den Emittenten<br />

in Betracht ziehen werden, für die der Kursanstieg Indizwirkung hat, sondern bei ihren Anlageentscheidungen<br />

auch den Grad der Wahrscheinlichkeit des Eintritts des Ereignisses berücksichtigen werden (vgl. EuGH, ZIP 2012,<br />

1282 Rn. 55).<br />

3. Die Feststellungen im Musterentscheid, dass die Musterbeklagte von der Pflicht zur unverzüglichen Veröffentlichung<br />

der Insiderinformation nicht bis zur Beschlussfassung durch den Aufsichtsrat befreit war <strong>und</strong> dass die Musterbeklagte<br />

auch bei Erforderlichkeit einer bewussten Entscheidung über den Aufschub <strong>und</strong> trotz fehlender Belehrung<br />

eines Aufsichtsratsmitglieds nicht haftet, weil sie sich darauf berufen könne, dass der geltend gemachte Schaden<br />

gleichermaßen eingetreten wäre, wenn sie eine bewusste Entscheidung über den Aufschub getroffen <strong>und</strong> das Aufsichtsratsmitglied<br />

noch einmal belehrt hätte, beziehen sich auf den vom Oberlandesgericht angenommenen Zeitpunkt<br />

des Entstehens der Insiderinformation am 27. Juli 2005 nach 17.00 Uhr. Sie sind daher ebenfalls aufzuheben. Insoweit<br />

weist der Senat für das weitere Verfahren darauf hin, dass eine Feststellung, ob die Befreiung von der Pflicht<br />

zur unverzüglichen Veröffentlichung einer Insiderinformation nach § 15 Abs. 3 WpHG eine bewusste Entscheidung<br />

über den Aufschub der Veröffentlichung <strong>und</strong> eine nachträgliche Mit-teilung an die B<strong>und</strong>esanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht<br />

(BaFin) voraus-setzt, im Kapitalanlegermusterverfahren nicht getroffen werden muss, wenn die<br />

Emittentin sich darauf berufen kann, sie hätte sich für einen Aufschub entschieden, <strong>und</strong> die weiteren Voraussetzungen<br />

nach § 15 Abs. 3 Satz 1 WpHG tatsächlich vorliegen. Der Schädiger kann sich darauf berufen, dass der Schaden<br />

auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten eingetreten wäre.<br />

a) Der Schutzzweck der verletzten Norm schließt im Fall des § 15 Abs. 1 <strong>und</strong> 3, § 37b Abs. 1 WpHG die Berufung<br />

auf rechtmäßiges Alternativverhalten nicht aus. Ob der Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens im Einzelfall<br />

erheblich ist, richtet sich nach dem Schutzzweck der jeweils verletzten Norm (BGH, Urteil vom 24. Oktober 1985 IX<br />

ZR 91/84, BGHZ 96, 157, 171 ff.; Urteil vom 25. November 1992 VIII ZR 170/91, BGHZ 120, 281, 285). Die<br />

Schadensersatzpflicht wegen Verletzung der Pflicht zur unverzüglichen Veröffentlichung einer Insiderinformation<br />

dient in erster Linie dem Vermögensschutz der Anleger, selbst wenn sie zusätzlich einen generalpräventiven Charakter<br />

hat, <strong>und</strong> der Vermögensschutz der Anleger wird durch das Fehlen einer bewussten Entscheidung für einen befreienden<br />

Aufschub der Veröffentlichung nach § 15 Abs. 3 WpHG nicht berührt. Die Pflicht zur unverzüglichen Veröffentlichung<br />

schützt das Interesse an der Funktionsfähigkeit der Märkte <strong>und</strong> soll dem Insider-Handel entgegenwirken,<br />

<strong>und</strong> sie schützt auch das Vermögensinteresse der Anleger hinsichtlich des Erzielens „richtiger“ Preise sowie ihre<br />

Entscheidungsfreiheit. Wenn es für die Befreiung nach § 15 Abs. 3 WpHG nur an einer bewussten Entscheidung<br />

über den Aufschub fehlt, die Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 Satz 1 WpHG im Übrigen aber eingehalten sind, sind<br />

- 196 -


die Schutzzwecke der Pflicht zur unverzüglichen Veröffentlichung, soweit sie den Anlegerinteressen dienen, nicht<br />

unmittelbar berührt. Eine bewusste Entscheidung des Emittenten soll die Sicherung der Vertraulichkeit gewährleisten<br />

helfen. Der Emittent muss nach § 15 Abs. 3 WpHG sicherstellen, dass nur Personen, die über ihre Insiderpflichten<br />

belehrt sind, im weiteren Ablauf von den Insiderinformationen erfahren <strong>und</strong> dass die Ad-Hoc-Mitteilung unverzüglich<br />

nachgeholt wird, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Vertraulichkeit nicht mehr gewahrt ist, um Insider-Handel<br />

zu verhindern. Das kann er nur gewährleisten, wenn er den weiteren Gang der Information im Unternehmen<br />

<strong>und</strong> den Markt beobachtet. Wenn der Emittent diese Anforderungen tatsächlich erfüllt, wird das Vermögensinteresse<br />

der Anleger hinsichtlich „richtiger“, nicht von Insiderhandel beeinflusster Preise <strong>und</strong> ihrer Entscheidungsfreiheit<br />

nicht beeinflusst. Dass die Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 Satz 1 WpHG abgesehen von der bewussten<br />

Entscheidung im Übrigen vorliegen müssen, betrifft hier insbesondere die Gewährleistung der Vertraulichkeit. Sie<br />

setzt neben der Kontrolle des Zugangs zu den Informationen (§ 7 WpAIV) voraus, dass der Emittent die erforderlichen<br />

Maßnahmen ergriffen hat, um zu gewährleisten, dass jede Person, die Zugang zur Insiderinformation hat, die<br />

sich daraus ergebenden rechtlichen sowie regulatorischen Pflichten anerkennt <strong>und</strong> sich der Sanktionen bewusst ist,<br />

die bei einer missbräuchlichen Verwendung bzw. einer nicht ordnungsgemäßen Verbreitung derartiger Informationen<br />

verhängt werden. Der deutsche Gesetzgeber hat dieses Anerkennungs- <strong>und</strong> Aufklärungserfordernis nach Art. 3<br />

Abs. 2 Buchstabe b der Richtlinie 2003/124/EG in § 15b Abs. 1 Satz 3 WpHG aufgenommen (vgl. Assmann in Assmann/Uwe<br />

H. Schneider, WpHG, 6. Aufl., § 15 Rn. 163; unklar insoweit Regierungsentwurf eines Gesetzes zur<br />

Verbesserung des Anlegerschutzes [Anlegerschutzverbesserungsgesetz AnSVG], BT-Drucks. 15/3174 S. 35). Die<br />

mit § 15b Abs. 1 Satz 3 WpHG für die Gewährleistung der Vertraulichkeit geregelte Voraussetzung, dass die Personen,<br />

die Zugang zu den Insiderinformationen haben, deren Veröffentlichung aufgeschoben wurde, über die Rechtsfolgen<br />

von Verstößen aufgeklärt <strong>und</strong> über ihre Pflichten belehrt sind, kann nicht ihrerseits wieder dadurch ersetzt<br />

werden, dass es genügt, dass die Personen aufgeklärt <strong>und</strong> belehrt werden könnten. Das Aufklärungs- <strong>und</strong> Belehrungserfordernis<br />

soll der Kontrolle des Informationsflusses durch den Emittenten dienen <strong>und</strong> bei den Insidern das<br />

Bewusstsein für ihre Pflichten stärken. Diesem Zweck widerspricht es, es genügen zu lassen, dass die Insiderinformation<br />

tatsächlich vertraulich geblieben ist <strong>und</strong> der Emittent die von ihm verlangte Kontrolle dadurch ersetzt, dass er<br />

sich darauf beruft, dass er die formalen Voraussetzungen der Gewährleistung der Vertraulichkeit jederzeit hätte herbeiführen<br />

können.<br />

b) Die Berufung auf rechtmäßiges Alternativverhalten setzt aber voraus, dass der Schädiger bei rechtmäßigem Verhalten<br />

denselben Erfolg herbeigeführt hätte. Es genügt nicht, dass er ihn hätte herbeiführen können (BGH, Urteil<br />

vom 25. November 1992 VIII ZR 170/91, BGHZ 120, 281, 287; Urteil vom 3. Februar 2000 III ZR 296/98, BGHZ<br />

143, 362, 365). Dass die Musterbeklagte, wenn sie das Vorliegen einer Insiderinformation erkannt hätte, eine Befreiungsentscheidung<br />

getroffen hätte, hat das Oberlandesgericht bisher nicht festgestellt.<br />

Verfahrensrecht<br />

StPO § 81h, 261 DNA-Reihenuntersuchung „Beinahetreffer“<br />

BGH, Urt. v. 20.12.2012 - 3 StR 117/12 - NJW 2013, 1827<br />

LS: Zur Verwertbarkeit der im Zusammenhang mit einer molekulargenetischen Reihenuntersuchung<br />

gewonnenen Erkenntnis, dass der Verursacher der bei der Tat gelegten DNA-Spur wahrscheinlich<br />

mit einem der Teilnehmer der Untersuchung verwandt ist (sog. Beinahetreffer).<br />

Der 3. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat aufgr<strong>und</strong> der Verhandlung vom 18. Oktober 2012 in der Sitzung am 20.<br />

Dezember 2012 für Recht erkannt: Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Osnabrück vom<br />

2. November 2011 wird verworfen. Die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen die Kostenentscheidung des<br />

vorgenannten Urteils wird verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seiner Rechtmittel <strong>und</strong> die der Nebenklägerin<br />

im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Gründe:<br />

- 197 -


Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schwerer Vergewaltigung zur Jugendstrafe von fünf Jahren<br />

verurteilt. Von der Auferlegung der Kosten <strong>und</strong> Auslagen des Verfahrens auf den Angeklagten hat es abgesehen, hat<br />

ihn aber zur Tragung der notwendigen Auslagen der Nebenklägerin <strong>und</strong> seiner eigenen Auslagen verurteilt. Mit<br />

seiner Revision beanstandet der Angeklagte das Verfahren <strong>und</strong> rügt die Verletzung materiellen Rechts. Mit der sofortigen<br />

Beschwerde greift er die Auslagenentscheidung des Landgerichts an. Die Rechtsmittel haben keinen Erfolg.<br />

A.<br />

I. Nach den Feststellungen des Landgerichts sprang der Angeklagte, der sich entschlossen hatte, die Nebenklägerin<br />

unter Einsatz massiver Gewalt zum Geschlechtsverkehr zu nötigen, diese in der Nacht vom 17. auf den 18. Juli 2010<br />

auf dem Nachhauseweg von einer Gaststätte von hinten an, so dass sie auf den Bauch zu Boden fiel. Auf ihr sitzend<br />

oder liegend gelang es ihm trotz heftiger Gegenwehr der Nebenklägerin unter Einsatz massiver Schläge gegen ihren<br />

Kopf, den er auch auf den Boden schlug, ihr den Rock hochzuschieben, den Slip auszuziehen <strong>und</strong> ihre Beine zu<br />

spreizen. Anschließend drang er mit seinem erigierten Glied mehrfach in ihre Scheide <strong>und</strong> einmal kurzzeitig in ihren<br />

Anus ein, bevor er sie nach einem kurzen, missglückten Befreiungsversuch erneut zu Boden warf <strong>und</strong> mit ihr den<br />

Vaginalverkehr bis zum Samenerguss vollzog. Als die Nebenklägerin, die den Angeklagten nicht erkennen konnte,<br />

weil ihre Augen wegen der heftigen Schläge gegen den Kopf zugeschwollen waren, sich bewusstlos stellte, ließ er<br />

von ihr ab, auch weil er auf dem Weg herannahende Personen hörte.<br />

II. Die Nebenklägerin begab sich unmittelbar nach der Tat zu der in der Nähe liegenden Wohnung ihres Fre<strong>und</strong>es,<br />

der umgehend die Polizei informierte; sie wurde noch in der Nacht ärztlich untersucht <strong>und</strong> es wurden Abstriche aus<br />

dem Vaginal- <strong>und</strong> Analbereich entnommen. In diesen <strong>und</strong> an der Kleidung der Nebenklägerin wurde DNA-Material<br />

sichergestellt, dessen Untersuchung zwar einen bestimmten Spurenverursacher, aber keine Hinweise auf einen polizeilich<br />

bekannten Täter ergab. Nachdem weitere Ermittlungen eine örtliche Verwurzelung des Täters nahegelegt<br />

hatten, ordnete der Ermittlungsrichter beim Amtsgericht Osnabrück auf Antrag der Staatsanwaltschaft mit Beschluss<br />

vom 13. September 2010 hinsichtlich sämtlicher zwischen dem 1. Januar 1970 <strong>und</strong> dem 31. Dezember 1992 geborener<br />

männlicher Personen in der Samtgemeinde D. die freiwillige Abgabe von Körperzellen zur Feststellung des<br />

DNA-Identifizierungsmusters an. An dem Reihengentest, bei dem von 2.406 Männern nach der gesetzlich vorgeschriebenen<br />

Belehrung über die Freiwilligkeit <strong>und</strong> den Umfang der Nutzung der DNA Speichelproben genommen<br />

wurden, nahmen auch der Vater des Angeklagten <strong>und</strong> zwei seiner Onkel teil; er selbst war davon aufgr<strong>und</strong> seines<br />

geringen Alters nicht betroffen. Bei der Untersuchung <strong>und</strong> dem Vergleich der DNA-Proben aus dem Reihengentest<br />

mit dem DNA-Muster der Tatspuren stellte die beauftragte Sachverständige bei zwei anonymisierten Proben aufgr<strong>und</strong><br />

des Vorkommens eines sehr seltenen Allels eine hohe Übereinstimmung zwischen diesen <strong>und</strong> der des mutmaßlichen<br />

Täters fest. Sie teilte diesen Bef<strong>und</strong> dem ermittelnden Polizeibeamten mit <strong>und</strong> wies darauf hin, dass diese<br />

beiden Probengeber zwar nicht als Täter in Betracht kämen, aber Verwandte des Spurenlegers sein könnten. Deshalb<br />

erbat sie die Überprüfung, ob weitere Verwandte an dem Reihengentest teilgenommen hätten, um - zu diesem Zeitpunkt<br />

stand noch die Untersuchung von etwa 800 Speichelproben aus - deren Untersuchung gegebenenfalls vorzuziehen.<br />

Die beiden Proben wurden daraufhin bei der Polizeidienststelle entanonymisiert <strong>und</strong> es wurde festgestellt,<br />

dass sie von untereinander Verwandten - dem Vater des Angeklagten <strong>und</strong> seinem Onkel A. - stammten. Die in anonymer<br />

Form durchgeführte Untersuchung der Probe des weiteren Onkels M. des Angeklagten hatte ergeben, dass<br />

dieser ebenfalls nicht als Verursacher der Tatspur in Betracht kam; das bei den beiden anderen Proben gef<strong>und</strong>ene<br />

seltene Allel, das auch die Tatspur aufwies, war bei ihm nicht vorhanden. Ein alsdann von der Polizei durchgeführter<br />

Melderegisterabgleich erbrachte das Ergebnis, dass einer der Probengeber einen Sohn - den Angeklagten - hat, der<br />

aufgr<strong>und</strong> seines jugendlichen Alters nicht in das Raster für den Reihengentest gefallen war, der aber gleichwohl die<br />

Tat begangen haben könnte. Daraufhin erließ das Amtsgericht Osnabrück - Ermittlungsrichter - auf Antrag der<br />

Staatsanwaltschaft am 13. Januar 2011 einen Beschluss auf Entnahme von Körperzellen bei dem Angeklagten <strong>und</strong><br />

deren Untersuchung zur Bestimmung des DNA-Identifizierungsmusters. Diese Untersuchung ergab eine Übereinstimmung<br />

mit der Tatspur.<br />

B.<br />

I. Das unter A. II. geschilderte Verfahrensgeschehen rügt der Beschwerdeführer unter mehreren rechtlichen Gesichtspunkten<br />

als verfahrensfehlerhaft.<br />

1. a) Die Verwertung der Ergebnisse der DNA-Untersuchung betreffend den Angeklagten <strong>und</strong> seine Verwandten<br />

stelle einen Verstoß gegen § 261 i.V.m. § 81h Abs. 3, Abs. 4 Nr. 1 StPO <strong>und</strong> den Gr<strong>und</strong>satz vom Vorbehalt des<br />

Gesetzes dar, weil diese Erkenntnisse auf rechtswidrige Art <strong>und</strong> Weise erlangt <strong>und</strong> deshalb unverwertbar seien. Fehlerhaft<br />

sei, dass die Proben des Vaters <strong>und</strong> des Onkels des Angeklagten, welche die teilweise Übereinstimmung zur<br />

- 198 -


Tatspur aufgewiesen hätten, sowie die Aufzeichnungen über deren festgestellte DNA-Identifizierungsmuster nicht<br />

unverzüglich vernichtet worden seien, nachdem festgestellt worden war, dass die beiden Probanden nicht als Spurenleger<br />

in Betracht kamen. Die Sachverständige habe zudem einen Quervergleich der Proben untereinander durchgeführt,<br />

was eine von § 81h StPO nicht erlaubte Untersuchungsmethode darstelle. Weitere Gesetzesverletzungen seien<br />

in der Entanonymisierung der Proben <strong>und</strong> in dem später durchgeführten Abgleich mit der Probe des weiteren Onkels<br />

des Angeklagten zu sehen. Der Vater <strong>und</strong> die beiden Onkel des Angeklagten hätten zudem nicht wirksam in die<br />

Entnahme <strong>und</strong> Untersuchung ihres Zellmaterials eingewilligt, weil sie bei der durchgeführten Belehrung über das<br />

Schicksal ihrer DNA-Probe getäuscht worden seien. Schließlich seien durch die Vorgehensweise der Ermittlungsbehörden<br />

die analog anwendbaren Vorschriften des § 52 Abs. 1 Nr. 3 <strong>und</strong> des § 81c Abs. 3 Satz 1 StPO verletzt worden.<br />

Die Vielzahl der Verstöße, die auf ein willkürliches Handeln der Ermittlungsorgane hindeute, sowie ihr Gewicht<br />

begründeten nicht nur ein Beweiserhebungs-, sondern auch ein Beweisverwertungsverbot.<br />

b) Die Rüge ist unbegründet. Die von der Revision erhobenen Beanstandungen wegen Rechtsverletzungen bei der<br />

Gewinnung der DNA-Identifizierungsmuster des Vaters <strong>und</strong> der Onkel des Angeklagten im Rahmen des Reihengentests<br />

dringen nicht durch. Die Erhebung dieser Beweismittel war rechtmäßig (dazu unten aa)). Allerdings sind diese<br />

Beweismittel in einer vom Gesetz nicht gedeckten Weise verwendet worden, um den Tatverdacht gegen den Angeklagten<br />

zu begründen. Dies führte zum Erlass des von diesem Fehler bemakelten Beschlusses des Ermittlungsrichters<br />

nach § 81a StPO <strong>und</strong> damit letztlich zur Feststellung der Übereinstimmung des DNA-Identifizierungsmusters des<br />

Angeklagten mit dem der Tatspuren. Diese somit rechtswidrig gewonnenen Erkenntnisse (dazu unten bb)) durfte die<br />

Strafkammer gleichwohl in die Hauptverhandlung einführen <strong>und</strong> im Urteil gegen den Angeklagten verwerten (dazu<br />

unten cc)).<br />

aa) Die Durchführung des Reihengentests gibt keinen Anlass zu rechtlichen Beanstandungen. Insoweit gilt zudem,<br />

dass die Untersuchung der Probe des Onkels M. die hohe Übereinstimmung mit der Tatspur - insbesondere hinsichtlich<br />

des bei den beiden anderen Proben festgestellten, seltenen Allels - nicht ergab. Sie vermochte deshalb einen<br />

Verdacht bezüglich des Angeklagten nicht zu begründen. Auf den behaupteten Gesetzesverletzungen gegenüber<br />

diesem Onkel des Angeklagten kann das Urteil deshalb jedenfalls nicht beruhen. Danach bleiben nur etwaige Gesetzesverletzungen<br />

betreffend die Entnahme <strong>und</strong> Untersuchung der Speichelprobe des Vaters des Angeklagten <strong>und</strong> des<br />

Onkels A. zu prüfen; insoweit greifen die von der Revision erhobenen Rügen nicht durch. Im Einzelnen:<br />

(1) Es ist nicht zu beanstanden, dass die beiden DNA-Identifizierungsmuster nach dem Abgleich mit der Tatspur<br />

nicht sofort gelöscht worden sind. Nach § 81h Abs. 3 Satz 1, § 81g Abs. 2 Satz 1 1. Halbs. StPO müssen die den<br />

Probanden entnommenen Körperzellen unverzüglich vernichtet werden, sobald sie für die Untersuchung nicht mehr<br />

erforderlich sind; dies ist ausweislich des schriftlichen Gutachtens der Sachverständigen geschehen. Die aus der<br />

Untersuchung gewonnenen Aufzeichnungen über die DNA-Identifizierungsmuster hingegen sind nach § 81h Abs. 3<br />

Satz 2 StPO erst dann unverzüglich zu löschen, wenn sie zur Aufklärung des Verbrechens nicht mehr erforderlich<br />

sind. Vorliegend ist ein Verstoß gegen die Löschungsverpflichtung nicht gegeben: Im Zeitpunkt der Untersuchung<br />

der DNA-Proben der beiden Onkel des Angeklagten war der Reihengentest noch nicht abgeschlossen; es stand noch<br />

die Untersuchung von ca. 800 Speichelproben aus. Eine Verpflichtung zur sofortigen Löschung jedes einzelnen -<br />

nicht übereinstimmenden - Identifizierungsmusters unmittelbar nach seinem Abgleich mit dem der Tatspur lässt sich<br />

dem Gesetzeswortlaut nicht entnehmen. Im Übrigen würde auf der unterlassenen Löschung der beiden DNA-<br />

Identifizierungsmuster das Urteil nicht beruhen: Nach der Untersuchung lag jedenfalls aus Sicht der Sachverständigen<br />

sehr nahe, dass diese Probanden Verwandte des mutmaßlichen Täters sein könnten. Auch wenn die Sachverständige<br />

die DNA-Identifizierungsmuster im Anschluss an den Abgleich sofort gelöscht hätte, wäre - wie geschehen - die<br />

Verwendung dieser Information (dazu unten bb)) als Anlass für weitere Ermittlungen <strong>und</strong> ihre Verwertung als verdachtsbegründend<br />

möglich gewesen. Aus dem gleichen Gr<strong>und</strong> ist es für die Entscheidung auch ohne Bedeutung, ob<br />

die Identifizierungsmuster im Zeitpunkt der Hauptverhandlung noch vorhanden waren oder ob sie mittlerweile gelöscht<br />

worden sind.<br />

(2) Soweit der Beschwerdeführer als fehlerhaft beanstandet, dass die Sachverständige einen gezielten Quervergleich<br />

der Proben des Vaters des Angeklagten <strong>und</strong> seiner Onkel untereinander durchgeführt habe, ist die Rüge bereits unzulässig.<br />

Aus dem in der Revisionsbegründung nur auszugsweise zitierten Vermerk von KHK Z. vom 4. Januar 2011<br />

ergibt sich, dass die Sachverständige mitgeteilt hatte, die anonyme Auswertung der Proben des Vaters (90/4) <strong>und</strong> des<br />

Onkels A. (89/4) habe eine hohe Übereinstimmung "mit der Tatspur" ergeben. Ein Hinweis auf einen Vergleich der<br />

Proben untereinander lässt sich dem nicht entnehmen. Im weiteren - nicht mitgeteilten - Text des Vermerks ist niedergelegt,<br />

dass der Ermittlungsbeamte auf diese fernmündliche Mitteilung die Personenliste der DNA-<br />

- 199 -


Reihenuntersuchung durchsah, ihm aufgr<strong>und</strong> der Namensgleichheit der weitere Onkel des Angeklagten als vermutlicher<br />

Verwandter auffiel <strong>und</strong> er dies der Sachverständigen in einem weiteren Telefonat mitteilte. Sie erklärte, auch<br />

diese Probe (91/3) bereits untersucht zu haben; die Person komme als Täter ebenfalls nicht in Betracht. Damit ist die<br />

Verfahrensrüge insoweit nicht in der Form des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO erhoben: Die den Verfahrensmangel begründenden<br />

Tatsachen müssen so vollständig <strong>und</strong> genau dargelegt werden, dass das Revisionsgericht allein auf<br />

Gr<strong>und</strong> dieser Darlegung das Vorhandensein eines Verfahrensmangels feststellen kann, wenn die behaupteten Tatsachen<br />

bewiesen werden; dazu gehört auch, dass dem Beschwerdeführer nachteilige Tatsachen nicht übergangen werden<br />

(KK/Kuckein, StPO, 6. Aufl., § 344 Rn. 38 mit zahlreichen Nachweisen). So verhält es sich hier. Der Umstand,<br />

dass die Sachverständige die Probe 91/3 bereits untersucht hatte, bevor ihr der Ermittlungsbeamte mitteilte, dass<br />

dieser möglicherweise ein Verwandter der Probanden 89/4 <strong>und</strong> 90/4 sein könne, belegt, dass ein Quervergleich der<br />

Proben untereinander gerade nicht stattgef<strong>und</strong>en haben kann, weil der Sachverständigen unbekannt war, welche<br />

Proben sie miteinander hätte abgleichen sollen. Dieses Verfahrensgeschehen ergibt zugleich, dass ein "gezielter<br />

Quervergleich" der Proben des Vaters des Angeklagten <strong>und</strong> seiner Onkel untereinander durch die Sachverständige<br />

nicht vorgenommen worden ist, so dass die Rüge auch in der Sache keinen Erfolg hat. Gleiches gilt mit Blick auf die<br />

in diesem Zusammenhang in der Hauptverhandlung von dem Verteidiger des Angeklagten vertretene Rechtsauffassung,<br />

die Sachverständige habe mit ihrer Vorgehensweise gegen eine Verpflichtung zum automatisierten Abgleich<br />

der DNA-Identifizierungsmuster verstoßen, weil sie andernfalls die hohe Übereinstimmung zwischen den Mustern<br />

des Vaters des Angeklagten <strong>und</strong> seinem Onkel A. mit der Tatspur nicht habe zur Kenntnis nehmen können. Der<br />

Gesetzgeber hat das Verfahren, mit dem die im Rahmen der DNA-Reihenuntersuchung festgestellten DNA-<br />

Identifizierungsmuster nach § 81h Abs. 1 Nr. 3 StPO mit dem der Tatspur "automatisiert abgeglichen" werden, nicht<br />

definiert, insbesondere nicht vorgeschrieben, dass das Ergebnis des Abgleichs nur mit dem Ergebnis "Treffer" oder<br />

"Nichttreffer" angezeigt werden dürfe. Die Gesetzesbegründung, in der es heißt, die festgestellten Muster dürften<br />

"mit denen des aufgef<strong>und</strong>enen Spurenmaterials - auch in automatisierter Weise - abgeglichen werden" (BT-Drucks.<br />

15/5674, S. 13), spricht vielmehr dafür, dass dadurch lediglich eine Arbeitserleichterung für die beauftragten Sachverständigen<br />

<strong>und</strong> Untersuchungslaboratorien geschaffen werden sollte, die eine effiziente <strong>und</strong> zeitnahe abgleichende<br />

Analyse der im Rahmen der Reihenuntersuchung in erheblicher Zahl anfallenden DNA-Identifizierungsmuster ermöglichen<br />

sollte (vgl. zu den insoweit bestehenden technischen Gegebenheiten auch Kuhne, Die Polizei 2011, 19, 20<br />

f.).<br />

(3) Zu Unrecht beanstandet die Revision Gesetzesverletzungen mit Blick auf die Entanonymisierung des DNA-<br />

Identifizierungsmusters. Die Körperzellen werden durch die Ermittlungsbehörden nicht in anonymisierter Form<br />

erhoben, ihnen liegen vielmehr bezüglich jedes Probanden die vollständigen Daten vor. Die über § 81h Abs. 3 Satz 1<br />

StPO anwendbare Vorschrift des § 81f Abs. 2 Satz 3 StPO regelt nur, dass die Proben an den einzuschaltenden Sachverständigen<br />

in teilanonymisierter Form zu versenden sind. Dies ist geschehen. Die Proben des Vaters des Angeklagten<br />

<strong>und</strong> des Onkel A. sind von der Sachverständigen weder entanonymisiert noch ihr in entanonymisierter Form zur<br />

Verfügung gestellt worden. Sie hatte weder im Zeitpunkt der Untersuchung dieser Probe noch der des Angeklagten<br />

Kenntnis von der Identität der Probanden. Dass der ermittelnde Polizeibeamte auf die Mitteilung der hohen Übereinstimmung<br />

der DNA-Identifizierungsmuster mit der Tatspur in der Personenliste der DNA-Reihenuntersuchung die<br />

Identität der Probengeber überprüfte <strong>und</strong> so den Vater <strong>und</strong> den Onkel des Angeklagten ermittelte, verletzt die Vorschrift<br />

des § 81f Abs. 2 Satz 3 StPO damit ersichtlich nicht. Verstöße gegen das in dieser Norm ausgesprochene<br />

Gebot der Teilanonymisierung sind zudem in der Regel ohnehin nicht geeignet, die Revision zu begründen, weil die<br />

Regelungen des § 81f Abs. 2 StPO außerprozessualen Zwecken dienen, die nicht mit den Mitteln des Prozessrechts<br />

geschützt werden müssen (BGH, Beschluss vom 12. November 1998 - 3 StR 421/98, NStZ 1999, 209 L.; SK-Rogall,<br />

StPO, Stand: Januar 2006, § 81f Rn. 24 mwN; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 81f Rn. 9).<br />

(4) Rechtlich verfehlt ist weiter die Auffassung der Revision, die Einwilligung des Vaters <strong>und</strong> des Onkels des Angeklagten<br />

(<strong>und</strong> der anderen Probanden) in die Zellentnahme <strong>und</strong> deren anschließende Untersuchung sei insgesamt<br />

unwirksam gewesen, weil die Belehrung nicht nur objektiv falsch gewesen sei, sondern - wie insbesondere die mehrfachen<br />

Gesetzesverletzungen zeigten - sie auch subjektiv getäuscht worden seien. Wie die Revision selbst vorträgt,<br />

entsprach die Belehrung der gemäß § 81h Abs. 4 StPO gesetzlich vorgesehenen Form. Sie kann nicht durch spätere<br />

Vorgänge, die im Zeitpunkt der Erteilung der Belehrung nicht absehbar waren, nachträglich verfahrensfehlerhaft<br />

werden. Zu Gesetzesverletzungen in Bezug auf die Löschungspflicht, die angewendeten Untersuchungsmethoden<br />

<strong>und</strong> das Gebot der Teilanonymisierung ist es zudem - wie dargelegt - nicht gekommen. Von einer "selbstherrlichen<br />

- 200 -


Missachtung" einer richterlichen Anordnung oder einer Täuschungsabsicht der ermittelnden Behörden kann mithin<br />

keine Rede sein.<br />

bb) Allerdings ist der Revision zuzugeben, dass das Vorgehen der Sachverständigen <strong>und</strong> der Ermittlungsbehörden<br />

von § 81h Abs. 1 StPO <strong>und</strong> der Einwilligung des Vaters des Angeklagten <strong>und</strong> seines Onkels A. insoweit nicht gedeckt<br />

war, als von der Sachverständigen infolge des Abgleichs der DNA-Identifizierungsmuster der Teilnehmer des<br />

Reihengentests mit dem des mutmaßlichen Täters nicht nur festgestellt <strong>und</strong> den Ermittlungsbehörden mitgeteilt wurde,<br />

dass keiner der Probanden als Verursacher der Tatspur in Betracht kam, sondern auch, dass die teilweise Übereinstimmung<br />

der DNA-Identifizierungsmuster von zwei Probanden - dem Vater des Angeklagten <strong>und</strong> seinem Onkel<br />

A. - es als möglich erscheinen lasse, es handele sich bei diesen um Verwandte des mutmaßlichen Täters. Gemäß §<br />

81h Abs. 1 StPO darf die Ermittlung von Identifizierungsmustern <strong>und</strong> ihr Abgleich mit dem des Spurenmaterials nur<br />

vorgenommen werden, soweit dies zur Feststellung erforderlich ist, ob das Spurenmaterial von den Teilnehmern des<br />

Reihengentests stammt. Die nach § 81h Abs. 3 Satz 1 StPO entsprechend geltende Vorschrift des § 81g Abs. 2 Satz 2<br />

StPO verbietet es, darüber hinausgehende Untersuchungen vorzunehmen <strong>und</strong> weitergehende Feststellungen zu treffen<br />

(LR/Krause, StPO, 26. Aufl., § 81h Rn. 29). Die hier festgestellte mögliche Verwandtschaft zwischen zwei Probanden<br />

<strong>und</strong> dem mutmaßlichen Täter stellt eine für die Frage, ob die DNA-Identifizierungsmuster der Teilnehmer<br />

des Reihengentests mit dem der Tatspur übereinstimmen, nicht erforderliche Erkenntnis dar. Diese ist allerdings<br />

nicht durch eine darauf gerichtete <strong>und</strong> damit unzulässige Untersuchung erlangt worden, denn nach den rechtsfehlerfrei<br />

getroffenen Feststellungen des Landgerichts liegt das Auswertungsergebnis der automatisierten Abgleichung der<br />

DNA-Identifizierungsmuster erst am Ende des Abgleichungsprozesses in verschiedenen DNA-Systemen vor, so dass<br />

es der Sachverständigen faktisch nicht möglich war, das Ergebnis der Identitätsprüfung zur Kenntnis zu nehmen,<br />

ohne die auf eine mögliche Verwandtschaft deutende Übereinstimmung der DNA-Muster ebenfalls zu registrieren.<br />

(1) Wie ein solcher "Beinahetreffer" (vgl. dazu Brocke, StraFo 2011, 298 ff.), der im Rahmen einer DNA-<br />

Reihenuntersuchung anfällt, rechtlich zu beurteilen ist <strong>und</strong> wie mit ihm verfahren werden kann, ist in Rechtsprechung<br />

<strong>und</strong> Literatur bislang nicht geklärt. Der Gesetzgeber hat diese Fallkonstellation bei der Schaffung des § 81h<br />

StPO angesichts fehlender Regelungen dazu <strong>und</strong> dem diesbezüglichen Schweigen der Gesetzesbegründung offenbar<br />

nicht im Blick gehabt. Soweit sich die Literatur überhaupt mit der Problematik auseinandersetzt, wird vertreten, dass<br />

es sich bei der Feststellung des möglichen Verwandtschaftsverhältnisses um ein zufälliges zusätzliches Resultat der<br />

gesetzlich vorgesehenen Untersuchungsmethoden <strong>und</strong> -zwecke handele, um ein "technisch bedingtes Nebenprodukt",<br />

das lediglich bei Gelegenheit der Abgleichung <strong>und</strong> somit in Ausführung des eigentlich angestrebten Ziels der<br />

Ermittlungsmaßnahme anfalle; die Beweiserhebung sei insoweit zulässig (Brocke, StraFo 2011, 298, 299).<br />

(2) Zuzugeben ist dieser Auffassung, dass - wie dargelegt - ein Verstoß gegen ein Untersuchungsverbot nicht vorliegt.<br />

Aus diesem Gr<strong>und</strong> hätte der Senat auch Bedenken, ein Feststellungsverbot im Sinne eines Kenntnisnahmeverbots<br />

anzunehmen, weil dadurch von den zur Untersuchung <strong>und</strong> Auswertung einzuschaltenden Sachverständigen<br />

etwas verlangt würde, was ihnen nach den tatsächlichen Gegebenheiten unmöglich ist. Gleichwohl verbleibt es bei<br />

der nach dem Wortlaut des § 81h Abs. 1 StPO eindeutigen Zweckbindung von Untersuchung <strong>und</strong> Abgleich der<br />

DNA-Proben <strong>und</strong> dem Verbot überschießender Feststellungen. Dieses führt dazu, dass sich die Weitergabe der zusätzlich<br />

gewonnenen Erkenntnisse im Sinne einer möglichen verwandtschaftlichen Beziehung <strong>und</strong> ihre anschließende<br />

Verwendung im Verfahren gegen den Angeklagten als verfahrensfehlerhaft erweist. Denn die darin liegende<br />

Verwertung als Verdachtsmoment stellt eine Verwendung personenbezogener Daten zu einem Zweck dar, zu dem sie<br />

nicht erhoben worden waren. Hierin liegt ein Eingriff in die Gr<strong>und</strong>rechte des Vaters <strong>und</strong> des Onkels des Angeklagten<br />

aus Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 GG, der nach ständiger verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung einer gesonderten<br />

gesetzlichen Gr<strong>und</strong>lage bedarf (vgl. zuletzt BVerfG, Urteil vom 2. März 2010 - 1 BvR 256/08, 1 BvR 263/08, 1 BvR<br />

586/08, BVerfGE 125, 260, 309 ff. mwN). Diese fehlt. § 160 StPO kommt nicht in Betracht, weil § 81h Abs. 1 StPO<br />

eine eindeutige Zweckbindung <strong>und</strong> damit eine entgegenstehende Verwendungsregelung enthält (§ 160 Abs. 4 StPO).<br />

Auch aus den neben den bereichsspezifischen Regelungen der Strafprozessordnung subsidiär anwendbaren Vorschriften<br />

des allgemeinen Datenschutzrechts (Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., vor § 474 Rn. 3) ergibt sich eine solche<br />

Ermächtigungsgr<strong>und</strong>lage nicht. § 14 Abs. 2 Nr. 7 BDSG tritt hinter die speziellere, einschränkende Verwendungsregelung<br />

in § 81h Abs. 1, Abs. 3 Satz 1, § 81g Abs. 2 Satz 2 StPO zurück. Nach § 4 BDSG dürfen mangels<br />

sonstiger gesetzlicher Gr<strong>und</strong>lage personenbezogene Daten nur mit Einwilligung des Betroffenen verwendet werden.<br />

Der Vater <strong>und</strong> der Onkel des Angeklagten haben eine solche jedoch nicht erklärt. Ihre Einwilligung in den Reihengentest<br />

deckte - wie dargelegt - die Verwendung ihrer Daten als Verdachtsmoment gegen den Angeklagten nicht.<br />

- 201 -


Eine weitere Einwilligung haben sie nicht erteilt, vielmehr haben sie in der Hauptverhandlung der Verwertung ihrer<br />

Daten ausdrücklich widersprochen.<br />

cc) War damit die Verwendung der Daten der Angehörigen des Angeklagten in Form der verdachtsbegründenden<br />

Verwertung gegen ihn verfahrensfehlerhaft, ist davon auch der gegen ihn erlassene Beschluss nach § 81a StPO betroffen.<br />

Die Gewinnung der daraus folgenden Beweismittel - die Übereinstimmung seines DNA-<br />

Identifizierungsmusters mit dem der Tatspuren - erweist sich damit ebenfalls als rechtswidrig. Gleichwohl durfte die<br />

Strafkammer diese Beweismittel in die Hauptverhandlung einführen <strong>und</strong> im Urteil gegen den Angeklagten verwerten.<br />

(1) Dies folgt indes nicht schon daraus, dass der Angeklagte sich auf die gegenüber seinem Vater <strong>und</strong> seinem Onkel<br />

begangenen Rechtsverletzungen nicht berufen könnte, weil seine Interessen von dem Schutzzweck der eng gefassten<br />

Verwendungsregelung in § 81h Abs. 1, Abs. 3 Satz 1, § 81g Abs. 2 Satz 2 StPO nicht erfasst wären. Insoweit gilt<br />

vielmehr nichts anderes als bei Verstößen gegen § 52 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 Satz 1 oder § 81c Abs. 3 Satz 1 <strong>und</strong> 2 2.<br />

Halbs. StPO. Auch diese Vorschriften dienen zwar nicht unmittelbar dem Schutz des Beschuldigten vor der Verwendung<br />

bestimmter Beweismittel (BGH, Beschluss vom 21. Januar 1958 - GSSt 4/57, BGHSt 11, 213, 215 f.), sondern<br />

wollen in erster Linie den mit ihm eng verwandten Zeugen vor der Zwangslage bewahren, dass er durch eine wahrheitsgemäße<br />

Aussage oder die an ihm vorgenommene Untersuchung gegebenenfalls dazu beitragen müsste, einen<br />

Angehörigen einer Straftat zu überführen (BGH, Urteile vom 8. Mai 1952 - 3 StR 1199/51, BGHSt 2, 351, 354; vom<br />

5. Januar 1968 - 4 StR 425/67, BGHSt 22, 35, 36 f.; vom 3. August 1977 - 2 StR 318/77, BGHSt 27, 231, 232; vom<br />

26. Oktober 1983 - 3 StR 251/83, BGHSt 32, 140, 143). Darüber hinaus bezwecken sie aber auch den Schutz der<br />

Familie des Beschuldigten (BGH, Beschluss vom 21. Januar 1958 - GSSt 4/57, BGHSt 11, 213, 216) <strong>und</strong> dienen<br />

damit mittelbar der Wahrnehmung seiner Interessen. Daher ist anerkannt, dass eine Missachtung des Zeugnisverweigerungsrechts<br />

aus § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO oder des Untersuchungsverweigerungsrechts nach § 81c Abs. 3 Satz 1<br />

i.V.m. § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO, insbesondere auch ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht gemäß § 52 Abs. 3 Satz 1<br />

StPO bzw. § 81c Abs. 2 Satz 2 2. Halbs. i.V.m. § 52 Abs. 3 Satz 1 StPO, gr<strong>und</strong>sätzlich zur Unverwertbarkeit der<br />

Aussage des Zeugen oder des Untersuchungsergebnisses führt <strong>und</strong> dies vom Angeklagten mit der Revision gerügt<br />

werden kann (Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 52 Rn. 32 <strong>und</strong> 34 m. zahlr. weiteren Nachweisen, § 81c Rn. 32;<br />

LR/Krause, StPO, 26. Aufl., § 81c Rn. 65). Ähnlich liegt es hier. Indem sich das zunächst gegen Unbekannt geführte<br />

Ermittlungsverfahren aufgr<strong>und</strong> der zweckwidrigen Verwendung der vom Vater <strong>und</strong> vom Onkel des Angeklagten bei<br />

dem Reihengentest gewonnenen DNA-Identifizierungsmuster nunmehr gegen den Angeklagten richtete, war nachträglich<br />

eine Situation entstanden, die derjenigen nach einem Verstoß gegen § 81c Abs. 3 Satz 1 <strong>und</strong> 2 2. Halbs., §<br />

52 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 Satz 1 StPO vergleichbar war. Die in dem Reihengentest gewonnenen DNA-<br />

Identifizierungsmuster hätten gegen den Angeklagten (damals Beschuldigten) verdachtsbegründend <strong>und</strong> als Gr<strong>und</strong>lage<br />

für die Anordnung nach § 81a StPO nur verwendet werden dürfen, wenn sein Vater <strong>und</strong> sein Onkel nach nachgeholter<br />

Belehrung (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Dezember 1958 - GSSt 3/58, BGHSt 12, 235, 242) in diese Nutzung<br />

ihrer persönlichen Daten eingewilligt hätten (vgl. § 4 BDSG). Daran fehlt es. Dementsprechend sind nach den<br />

dargestellten Maßstäben durch den Gesetzesverstoß auch die rechtlich geschützten Interessen des Angeklagten beeinträchtigt.<br />

(2) Dennoch hat die Rüge des Angeklagten keinen Erfolg; denn der dargestellte Verstoß gegen § 81h Abs. 1, Abs. 3<br />

Satz 1, § 81g Abs. 2 Satz 2 StPO <strong>und</strong> die daraus resultierende Rechtswidrigkeit des gegen ihn erwirkten Beschlusses<br />

nach § 81a StPO führen hier ausnahmsweise noch nicht dazu, dass das Ergebnis der an dem Zellmaterial des Angeklagten<br />

vorgenommenen DNA-Analyse nicht zum Tatnachweis gegen ihn hätte verwendet werden dürfen.<br />

(a) Nach ständiger Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofes führt nicht jeder Rechtsverstoß bei der strafprozessualen<br />

Beweisgewinnung zu einem Verwertungsverbot hinsichtlich der so erlangten Erkenntnisse. Vielmehr ist je nach<br />

den Umständen des Einzelfalles unter Abwägung aller maßgeblichen Gesichtspunkte <strong>und</strong> der widerstreitenden Interessen<br />

zu entscheiden (sog. Abwägungslehre). Bedeutsam sind dabei insbesondere die Art <strong>und</strong> der Schutzzweck des<br />

etwaigen Beweiserhebungsverbots sowie das Gewicht des in Rede stehenden Verfahrensverstoßes, das seinerseits<br />

wesentlich von der Bedeutung der im Einzelfall betroffenen Rechtsgüter bestimmt wird. Dabei ist in den Blick zu<br />

nehmen, dass die Annahme eines Verwertungsverbots ein wesentliches Prinzip des Strafverfahrensrechts - den<br />

Gr<strong>und</strong>satz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen <strong>und</strong> dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle<br />

Tatsachen <strong>und</strong> Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind - einschränkt. Aus diesem Gr<strong>und</strong> stellt ein<br />

Beweisverwertungsverbot eine Ausnahme dar, die nur bei ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung oder aus übergeordneten<br />

wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist (BGH, Urteil vom 14. August 2009 - 3 StR 552/08,<br />

- 202 -


BGHSt 54, 69 Rn. 47, mit zahlreichen weiteren Nachweisen; BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 - 2 BvR<br />

2500/09, 2 BvR 1857/10, NJW 2012, 907 Rn. 117).<br />

(b) Nichts anderes gilt mit Blick darauf, dass - wie dargelegt - nach neuerem verfassungsrechtlichen Verständnis jede<br />

weitere Verwendung erhobener Daten als eigenständiger Gr<strong>und</strong>rechtseingriff zu werten ist <strong>und</strong> einer Rechtsgr<strong>und</strong>lage<br />

bedarf. Diese liegt für die Einführung der Beweismittel in die Hauptverhandlung in der in § 244 Abs. 2 StPO<br />

statuierten Pflicht des Gerichts, zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung auf alle<br />

im Verfahren gewonnenen Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind. Die rechtliche<br />

Legitimation für die Verwertung der in die Hauptverhandlung eingeführten Daten zur Urteilsfindung - den nochmaligen<br />

Eingriff in die genannten Gr<strong>und</strong>rechte - folgt aus § 261 StPO, der dem Tatgericht gebietet, sich seine Überzeugung<br />

aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu bilden, mithin insbesondere die dort erhobenen Beweise zu würdigen<br />

(BGH, Urteil vom 13. Januar 2011 - 3 StR 332/10, BGHSt 56, 127 Rn. 18 mwN; BVerfG, Beschluss vom 7.<br />

Dezember 2011 - 2 BvR 2500/09, 2 BvR 1857/10, NJW 2012, 907 Rn. 138 ff.). Die hinreichend bestimmte Vorschrift<br />

des § 261 StPO beschränkt die Verwertung nicht auf rechtmäßig erhobene Beweise; auch in verfahrensfehlerhafter<br />

Weise gewonnene Beweismittel können zur Urteilsfindung herangezogen werden, wenn nicht im Einzelfall<br />

ein Beweisverwertungsverbot entgegensteht. Ein solches kann sich aus gesetzlichen Vorschriften ergeben. Es kann<br />

aber - mit Blick auf die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Rechts auf ein faires Verfahren - auch von Verfassungs<br />

wegen geboten sein. Letzteres ist insbesondere nach schwerwiegenden, bewussten oder objektiv willkürlichen<br />

Rechtsverstößen, bei denen gr<strong>und</strong>rechtliche Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden<br />

sind, in Betracht zu ziehen (BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 - 2 BvR 2500/09, 2 BvR 1857/10, NJW<br />

2012, 907 Rn. 115 ff.). Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen wird die in ständiger Rechtsprechung des<br />

B<strong>und</strong>esgerichtshofes vertretene Abwägungslehre gerecht (BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 - 2 BvR<br />

2500/09, 2 BvR 1857/10, NJW 2012, 907 Rn. 123 f.).<br />

(c) Nach dieser war die Verwertung der erlangten Beweisergebnisse - namentlich des mit dem der Tatspur übereinstimmenden<br />

DNA-Identifizierungsmusters des Angeklagten - hier (noch) zulässig. Im Einzelnen: Der Rechtsverstoß<br />

liegt vorliegend in der Verwendung der durch den angeordneten Reihengentest zufällig gewonnenen Erkenntnis, dass<br />

zwischen dem mutmaßlichen Täter <strong>und</strong> dem Vater <strong>und</strong> dem Onkel des Angeklagten möglicherweise eine verwandtschaftliche<br />

Beziehung bestehen könnte. Dieser ist auch von erheblichem Gewicht, denn eine Zweckbindung, wie sie<br />

von § 81h Abs. 1, Abs. 3 Satz 1, § 81g Abs. 2 Satz 2 StPO vorgesehen ist, soll gerade jede sonstige Datenverwendung<br />

verhindern. Dem stehen jedoch folgende Umstände gegenüber: Der Reihengentest, der zu der Erkenntnis führte,<br />

war in rechtmäßiger Art <strong>und</strong> Weise richterlich angeordnet <strong>und</strong> die Probanden entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen<br />

ordnungsgemäß belehrt worden. Auch bei der Durchführung der Maßnahme, namentlich bei der Untersuchung<br />

der Proben <strong>und</strong> dem anschließenden Abgleich mit der Tatspur, ist es - entgegen dem Revisionsvorbringen -<br />

nicht zu Rechtsverstößen gekommen; die Beweisgewinnung insoweit war rechtmäßig. Die Sachverständige wollte<br />

zudem ausweislich ihrer Stellungnahme zu einem gegen sie gerichteten Befangenheitsgesuch mit ihrer Mitteilung<br />

des wahrscheinlichen Verwandtschaftsverhältnisses in erster Linie erreichen, dass ihr die etwaigen Probennummern<br />

weiterer Verwandter des Vaters <strong>und</strong> des Onkels des Angeklagten unter den Teilnehmern des Reihengentests genannt<br />

würden, um so den Reihengentest gegebenenfalls schneller abschließen zu können. Damit war die Weitergabe dieser<br />

Information an die Ermittlungsbehörden, wenn auch nicht von § 81h StPO vorgesehen, so doch von einem nachvollziehbaren,<br />

die Zweckbindung der Datenverwendung nicht missachtenden Motiv getragen. Entscheidend ist aber, dass<br />

der Gesetzgeber Regelungen für den Umgang mit solchen sog. Beinahetreffern nicht getroffen hat. Die Rechtslage<br />

war für die Ermittlungsbehörden im Zeitpunkt der weiteren Verwendung ungeklärt. Die Ausgangslage der zufälligen<br />

Gewinnung einer überschießenden Erkenntnis im Rahmen des Reihengentests wies eine strukturelle Nähe zu der auf,<br />

die Gegenstand anderer strafprozessualen Regelungen über den Umgang mit Zufallserkenntnissen ist. Diese verbieten<br />

die Verwertung von Zufallserkenntnissen nicht generell: § 108 Abs. 1 StPO regelt den Umgang mit Zufallsf<strong>und</strong>en.<br />

Die Vorschrift betrifft Gegenstände, die anlässlich einer Durchsuchung aufgef<strong>und</strong>en wurden <strong>und</strong> - anders als im<br />

vorliegenden Fall - in keiner Beziehung zur Anlasstat stehen, aber auf die Verübung einer anderen Straftat hindeuten.<br />

Mit Ausnahme der Abs. 2 <strong>und</strong> 3, die dem Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt <strong>und</strong> Patientin <strong>und</strong> dem<br />

der Pressefreiheit dienen, ist die Verwertung der Zufallsf<strong>und</strong>e gestattet. Nach § 477 Abs. 2 Satz 2 StPO ist die Verwendung<br />

von Daten in einem anderen Strafverfahren als dem Anlassverfahren - auch ohne Einwilligung des Betroffenen<br />

- erlaubt, wenn die Voraussetzungen der Anordnung der Ermittlungsmaßnahme auch in dem Verfahren<br />

gegen den nunmehr Beschuldigten vorgelegen hätten; auch in diesen Fällen liegen zufällig gewonnene Erkenntnisse<br />

vor, die gleichwohl verwertet werden dürfen. Angesichts dieser Umstände war die Annahme der Ermittlungsbeamten<br />

- 203 -


nicht völlig unvertretbar, dass die Erkenntnis der möglichen Verwandtschaft zwischen dem mutmaßlichen Täter <strong>und</strong><br />

dem Vater <strong>und</strong> dem Onkel des Angeklagten als Ermittlungsansatz verwertet werden konnte. Jedenfalls stellte sich<br />

diese Annahme nicht als eine bewusste oder gar willkürliche Umgehung des Gesetzes oder gr<strong>und</strong>rechtlich geschützter<br />

Positionen des - zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht bekannten - Angeklagten oder seiner Verwandten dar. Nach<br />

alledem wiegt der Verfahrensverstoß auch mit Blick auf die Überschreitung der Zweckbindung <strong>und</strong> den berührten<br />

Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG nicht so schwer, dass er hier die Unverwertbarkeit der infolge der unbefugten<br />

Datenverwendung erlangten Erkenntnisse zur Folge hätte. Schließlich steht auch der weitere Verfahrensgang einer<br />

Verwertung der erlangten Beweisergebnisse nicht entgegen. Diese wurden zwar unter verfahrensfehlerhafter Verwendung<br />

der durch den Reihengentest erlangten Daten des Vaters <strong>und</strong> des Onkels des Angeklagten erlangt, im Übrigen<br />

aber - was auch die Revision nicht in Abrede stellt - für sich betrachtet rechtmäßig erhoben <strong>und</strong> in prozessordnungsgemäßer<br />

Weise zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht.<br />

2. Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, die Verteidigung sei dadurch, dass die Strafkammer die Entscheidung<br />

über seinen Widerspruch gegen die Verwertung des DNA-Gutachtens der Sachverständigen sowie ihrer Vernehmung<br />

als Sachverständige <strong>und</strong> als Zeugin sowie des KHK Z. <strong>und</strong> aller Ermittlungspersonen über die Ergebnisse<br />

des "Quervergleichs" zurückgestellt <strong>und</strong> erst in den Urteilsgründen über die Verwertbarkeit entschieden habe, in<br />

einem wesentlichen Punkt beschränkt worden, wodurch § 338 Nr. 8 StPO verletzt worden sei. Die Rüge ist nicht in<br />

zulässiger Weise erhoben, weil die Revision eine konkret-kausale Beziehung zwischen dem behaupteten Verfahrensfehler<br />

<strong>und</strong> einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt nicht dargetan hat (BGH, Beschluss vom 23. September<br />

2003 - 1 StR 341/03, BGHR StPO § 338 Nr. 8, Beschränkung 8 mwN). Es ist nicht vorgetragen, dass das Urteil auf<br />

der angeblichen Beschränkung der Verteidigung beruht. Dies ist auch sonst nicht ersichtlich, insbesondere liegt es<br />

fern, dass die Sachentscheidung anders ausgefallen wäre, wenn die Strafkammer schon in der Hauptverhandlung die<br />

Verwertbarkeit der Beweismittel bejaht hätte, zumal die Verteidigung - wie ihr Revisionsvorbringen zeigt - ersichtlich<br />

nicht daran gehindert war, ihre entgegenstehende Rechtsauffassung mit Nachdruck in der Hauptverhandlung zu<br />

vertreten.<br />

3. Schließlich behauptet die Revision in diesem Zusammenhang einen Verstoß gegen § 74 StPO. Der Angeklagte<br />

hatte die Sachverständige in der Hauptverhandlung aufgr<strong>und</strong> der behaupteten Rechtsverletzungen im Umgang mit<br />

den DNA-Proben seiner Verwandten wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt; die Strafkammer wies das<br />

Befangenheitsgesuch mit der Begründung zurück, die Person des Angeklagten sei der Sachverständigen zu keinem<br />

Zeitpunkt bekannt gewesen. Auch im Übrigen lasse ihre Arbeit keine Parteilichkeit erkennen: Soweit die Belehrung<br />

beanstandet werde, habe die Sachverständige diese nicht erteilt. Angesichts dessen, dass in einer Fallkonstellation<br />

wie der vorliegenden noch nicht entschieden worden sei, wie mit der Erkenntnis der möglichen Verwandtschaft von<br />

Probanden mit dem mutmaßlichen Täter umzugehen sei, bestünden jedenfalls keine Anhaltspunkte für ein willkürliches<br />

Verhalten der Sachverständigen. Auch diese Rüge hat keinen Erfolg. Der Ablehnungsbeschluss der Strafkammer<br />

geht von einem zutreffenden rechtlichen Maßstab aus <strong>und</strong> lässt Rechtsfehler nicht erkennen. Der Umgang der<br />

Sachverständigen mit den DNA-Proben entsprach den gesetzlichen Vorgaben. Die Mitteilung des Verwandtschaftsverhältnisses<br />

stellt allenfalls eine - wie dargelegt - vertretbare Überschreitung des Gutachtenauftrages dar, die die<br />

Besorgnis der Befangenheit nicht ohne Hinzutreten weiterer - hier nicht gegebener - Umstände zu begründen vermag<br />

(LR/Krause, StPO, 26. Aufl., § 74 Rn. 14).<br />

II. Der Beschwerdeführer rügt darüber hinaus eine Verletzung der Aufklärungspflicht wegen des Unterlassens der<br />

Einholung eines (weiteren) Sachverständigengutachtens. Entgegen den Urteilsausführungen <strong>und</strong> der Darstellung der<br />

Sachverständigen hätten sich bei Abstrichen innerhalb von weniger als fünf St<strong>und</strong>en nach der Tat darin Spermien/Spermienköpfe<br />

<strong>und</strong> nicht nur DYS-Systeme finden lassen müssen. Daher hätte sich dem Landgericht aufdrängen<br />

müssen, dass es zu keinem Samenerguss in der Scheide gekommen sei; die Kammer hätte dazu einen weiteren<br />

Sachverständigen vernehmen müssen. Zum Beleg zitiert die Revision eine in der Hauptverhandlung verlesene Stellungnahme<br />

eines von der Verteidigung beauftragten Privatgutachters zu dem beigefügten schriftlichen DNA-<br />

Gutachten der Sachverständigen, das sich indes zu dieser Frage nicht verhält. Die Rüge ist bereits unzulässig, denn<br />

weder ist vorgetragen, dass die Untersuchung der Nebenklägerin, bei der die Abstriche genommen wurden, bereits<br />

binnen fünf St<strong>und</strong>en nach der Tat durchgeführt wurde, noch ergibt sich dies aus den Urteilsgründen oder dem vorgelegten<br />

schriftlichen Gutachten der Sachverständigen. Zudem bleibt sie auch in der Sache ohne Erfolg, denn das<br />

Landgericht musste sich nach Vorlage der Stellungnahme des Privatgutachters zu einer weiteren Beweiserhebung<br />

nicht gedrängt sehen. Aus dieser ergibt sich nicht, dass Spermien bzw. Spermienköpfe hätten vorhanden sein müssen<br />

<strong>und</strong> die Aussage der Sachverständigen, männliche DNA könne sich im Körperinneren gegenüber der weiblichen<br />

- 204 -


DNA nicht behaupten, unzutreffend sei; sie befasst sich vielmehr - wie der Generalb<strong>und</strong>esanwalt zutreffend ausführt<br />

- in erster Linie mit den erst ab Ende 2013 von den Mitgliedstaaten umzusetzenden Vorgaben des Rahmenbeschlusses<br />

2009/905/JI des Rates über die Akkreditierung von Anbietern kriminaltechnischer Dienste, die Labortätigkeiten<br />

durchführen (ABl L Nr. 322 vom 9. Dezember 2009, S. 14), <strong>und</strong> steht damit in keinerlei Zusammenhang zum Gegenstand<br />

der gerichtlichen Untersuchung.<br />

III. Die Verfahrensbeanstandung einer Verletzung des § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO ist - wie der Generalb<strong>und</strong>esanwalt<br />

zutreffend ausgeführt hat - ebenfalls unbegründet. Die Strafkammer hat einen Beweisantrag der Verteidigung auf<br />

Untersuchung der Blutanhaftungen auf der Bluse der Nebenklägerin zum Beweis dafür, dass sich auf dieser neben<br />

den Spuren ihres Fre<strong>und</strong>es <strong>und</strong> den gef<strong>und</strong>enen / begutachteten Spuren (mutmaßlich des Angeklagten) noch weitere<br />

männliche Spuren befänden, wegen Bedeutungslosigkeit aus tatsächlichen Gründen zurückgewiesen. In der Begründung<br />

des Beschlusses hat sie unter eingehender Würdigung der bis zu diesem Zeitpunkt erhobenen Beweise dargelegt,<br />

warum sie selbst bei Gelingen des Beweises den nur möglichen Schluss, der Angeklagte sei nicht der Täter<br />

gewesen, nicht ziehen wolle. Rechtsfehler sind insoweit nicht zu erkennen.<br />

C. Die Überprüfung des Urteils auf die Sachrüge deckt aus den Gründen der Antragsschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwalts<br />

weder zum Schuld- noch zum Strafausspruch einen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.<br />

D. Mit seiner sofortigen Beschwerde gegen die Auslagenentscheidung des Landgerichts beanstandet der Angeklagte,<br />

dass ihm die notwendigen Auslagen der Nebenklägerin auferlegt worden sind. Auch dieses Rechtsmittel bleibt ohne<br />

Erfolg. Die notwendigen Auslagen der Nebenklage (§ 472 Abs. 1 StPO) können auch einem verurteilten Jugendlichen<br />

aus erzieherischen Gründen auferlegt werden, um zu verdeutlichen, dass der Nebenkläger Opfer der Straftat ist<br />

<strong>und</strong> um eine Abschwächung der Verurteilung durch die Kostenfreistellung zu vermeiden (vgl. OLG <strong>Hamm</strong>, Urteil<br />

vom 9. November 1962 - 1 Ss 1133/62, NJW 1963, 1168). Dabei kann die Verwerflichkeit des Verhaltens gegenüber<br />

dem Nebenkläger wie auch die Frage, ob die Nebenklage gerechtfertigt erscheint, berücksichtigt werden (vgl. Brunner/Dölling,<br />

JGG, 12. Aufl., § 74 Rn. 8). Dem Beschwerdeführer ist zuzugeben, dass die Strafkammer die Überbürdung<br />

der Auslagen der Nebenklägerin nicht begründet hat; dies ist, da es sich um eine Ermessensentscheidung handelt,<br />

rechtlich bedenklich. Angesichts der durch massive Gewalt gekennzeichneten Tat zulasten der Nebenklägerin<br />

entspricht die ausgesprochene Kostenfolge indes den oben genannten Zwecken der Auslagenentscheidung. Der Senat<br />

sieht deshalb keinen Anlass zu deren Änderung.<br />

StPO § 119, § 126 Abs. 1, § 169 Abs. 1 Satz 2; NJVollzG §§ 133 ff., 134a Abs. 1 Satz 2 – Zuständigkeit<br />

Ermittlungsrichter des BGH für Haftentscheidungen<br />

BGH, Beschl. v. 09.02.2012 - 3 BGs 82/12 (2 BJs 8/12-2 ) - NJW 2012, 1158 = NStZ 2012, 705 = wistra 2012, 489<br />

LS: Sitzt der Beschuldigte aufgr<strong>und</strong> eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters des B<strong>und</strong>esgerichtshofs<br />

in Untersuchungshaft, ist für die Anordnung von Beschränkungen, die dem Beschuldigten aufgr<strong>und</strong><br />

des Zwecks der Untersuchungshaft aufzuerlegen sind, gemäß § 126 Abs. 1, § 169 Abs. 1 Satz<br />

2 StPO der Ermittlungsrichter des B<strong>und</strong>esgerichtshofs bis zur Anklageerhebung auch dann zuständig,<br />

wenn die Untersuchungshaft in Niedersachsen vollzogen wird. § 134a Abs. 1 Satz 2 NJVollzG<br />

ändert hieran nichts. Die aufgr<strong>und</strong> des Zwecks der Untersuchungshaft erforderlichen Beschränkungen<br />

bestimmen sich (auch) in diesem Fall nach § 119 StPO <strong>und</strong> nicht nach §§ 133 ff. NJVollzG<br />

(entgegen Oberlandesgericht Celle, StV 2010, 194; Anschluss an OLG Oldenburg, StV 2008, 195;<br />

vgl. auch OLG Frankfurt, NStZ-RR 2010, 294; OLG Rostock, NStZ 2010, 350; OLG <strong>Hamm</strong>, NStZ-<br />

RR 2010, 221 [3. Strafsenat] <strong>und</strong> NStZ-RR 2010, 292 [2. Strafsenat]; KG, StV 2010, 370; OLG Köln,<br />

NStZ 2011, 55).<br />

Auf Antrag des Generalb<strong>und</strong>esanwalts wird der Beschluss des Ermittlungsrichters des B<strong>und</strong>esgerichtshofs vom 14.<br />

November 2011 - 3 BGs 12/11 – abgeändert <strong>und</strong> wie folgt neu gefasst: Der Vollzug der Untersuchungshaft wird<br />

gemäß § 119 Abs. 1 StPO wie folgt geregelt:<br />

1. – 12 …..<br />

13. Im Übrigen gelten für den Beschuldigten die im Niedersächsischen Justizvollzugsgesetz (NJVollzG) allgemein<br />

getroffenen Regelungen, sofern sie diesem Beschluss nicht entgegenstehen.<br />

- 205 -


14. […]<br />

Gründe:<br />

I. Durch Beschluss des Ermittlungsrichters des B<strong>und</strong>esgerichtshofs vom 14. November 2011 - 3 BGs 12/11 – sind<br />

dem Beschuldigten gemäß § 119 Abs. 1 StPO Beschränkungen in der Untersuchungshaft auferlegt worden, die allesamt<br />

der Sicherung des Verfahrens dienen <strong>und</strong> damit den Zweck der Untersuchungshaft betreffen. Der Generalb<strong>und</strong>esanwalt<br />

hat wegen der Fortentwicklung des Verfahrensstandes eine Anpassung dieser Beschränkungen beantragt.<br />

Diesem Antrag entsprechend werden hiermit die dem Beschuldigten auferlegten Beschränkungen wie aus dem Tenor<br />

ersichtlich geändert <strong>und</strong> neu gefasst. Dieser Beschluss tritt an die Stelle des vorgenannten Beschlusses vom 14. November<br />

2011.<br />

II. Für verfahrenssichernde Anordnungen im Zusammenhang mit dem Vollzug der Untersuchungshaft des Beschuldigten<br />

G. in der Justizvollzugsanstalt S. (Niedersachsen) ist ausschließlich der Ermittlungsrichter des B<strong>und</strong>esgerichtshofs<br />

zuständig (§ 169 Abs. 1 Satz 2, § 126 Abs. 1 StPO, § 120 Abs. 1 Nr. 6, § 142a GVG, § 129a StGB). Die<br />

dem Beschuldigten in der Untersuchungshaft aufgr<strong>und</strong> des Zwecks der Untersuchungshaft aufzuerlegenden Beschränkungen<br />

bestimmen sich nach § 119 StPO <strong>und</strong> nicht nach den Vorschriften des Niedersächsischen Justizvollzugsgesetzes<br />

(NJVollzG), insbesondere den §§ 133 ff. NVollzG.<br />

1. Allerdings ist gemäß § 134a Abs. 1 NJVollzG Gericht im Sinne des den Vollzug der Untersuchungshaft betreffenden<br />

Teils dieses Gesetzes das für die Haftprüfung (§ 117 StPO) zuständige Gericht; handelt es sich hierbei nicht um<br />

ein Gericht des Landes Niedersachsen, so ist nach § 134 Abs. 1 Satz 2 NJVollzG das Amtsgericht zuständig, in dessen<br />

Bezirk sich der Gefangene in Untersuchungshaft befindet. Neben dieser die gerichtliche Zuständigkeit betreffenden<br />

Regelung enthält das NJVollzG Vorschriften, die unmittelbar den Zweck der Untersuchungshaft betreffen. So<br />

können dem Gefangenen etwa gemäß § 135 Abs. 2 NJVollzG Beschränkungen auferlegt werden, die der Zweck der<br />

Untersuchungshaft erfordert.<br />

2. Die vorstehend genannten Bestimmungen vermögen weder in formeller Hinsicht etwas an der ausschließlichen<br />

Zuständigkeit des Ermittlungsrichters des B<strong>und</strong>esgerichtshofs zu ändern, noch führen sie sachlich dazu, dass sich die<br />

zur Sicherung des Verfahrens dienenden Beschränkungen in der Untersuchungshaft hier nicht nach § 119 StPO,<br />

sondern nach den Vorschriften des NJVollzG zu richten hätten.<br />

a) Zwar vertritt das Oberlandesgericht Celle (StV 2010, 194) - als für das Amtsgericht L., in dessen Bezirk sich die<br />

Justizvollzugsanstalt befindet, in der der Beschuldigte derzeit einsitzt, zuständiges Obergericht - die Auffassung,<br />

dass sich Anordnungen zur Ausgestaltung der Untersuchungshaft in Niedersachsen alleine nach den §§ 135 ff<br />

NJVollzG richten <strong>und</strong> § 119 StPO nF in Niedersachsen keine Anwendung finde. Diese Auffassung vermag indes<br />

nicht zu überzeugen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass dem niedersächsischen Landesgesetzgeber die Gesetzgebungskompetenz<br />

zur Schaffung von Regelungen, die den Zweck der Untersuchungshaft unmittelbar betreffen,<br />

ebenso fehlt wie die Gesetzgebungskompetenz für eine Änderung der haftrichterlichen Zuständigkeit, namentlich der<br />

hier maßgeblichen Zuständigkeit in Ermittlungsverfahren, die in die Zuständigkeit des Generalb<strong>und</strong>esanwalts beim<br />

B<strong>und</strong>esgerichtshof <strong>und</strong> damit hinsichtlich der vor Anklageerhebung zu treffenden gerichtlichen Maßnahmen in die<br />

Zuständigkeit des Ermittlungsrichters des B<strong>und</strong>esgerichtshofs fallen.<br />

b) Seit dem 1. September 2006 ist nach der Änderung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG durch das Gesetz zur Änderung<br />

des Gr<strong>und</strong>gesetzes vom 28. August 2006 (BGBl. I S. 2034) das Recht des Untersuchungshaftvollzugs – nicht hingegen<br />

das die Anordnung <strong>und</strong> Fortdauer der Untersuchungshaft sowie die Auferlegung von der Verfahrenssicherung<br />

dienenden Beschränkungen betreffende gerichtliche Verfahrensrecht - ausschließlich Sache der Länder. Der B<strong>und</strong>esgesetzgeber<br />

kann im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung - nach wie vor - solche Maßnahmen regeln, die den<br />

Zweck der Untersuchungshaft (Abwehr von Flucht-, Verdunkelungs- <strong>und</strong> Wiederholungsgefahren) betreffen (Meyer-<br />

Goßner, StPO, 54. Aufl., § 119 Rn. 2; BeckOK-StPO/Krauß, Stand: 15. Oktober 2011, § 119 Rn. 1 f.; König, NStZ<br />

2010, 185 f.; Paeffgen, StV 2009, 46; Kazele, StV 2010, 258; OLG Oldenburg, StV 2008, 195, 196). Von dieser<br />

Gesetzgebungs-befugnis hat der B<strong>und</strong>esgesetzgeber bereits durch § 119 Abs. 3 Alt. 1 StPO aF vor der oben genannten<br />

Änderung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG <strong>und</strong> anschließend durch die seit dem 1. Januar 2010 geltende Neufassung<br />

des § 119 StPO Gebrauch gemacht, so dass sich Beschränkungen, die wegen des Zwecks der Untersuchungshaft<br />

erforderlich sind, nach § 119 StPO nF richten (siehe nur OLG Köln, NStZ 2011, 55; OLG Frankfurt, NStZ-RR 2010,<br />

294; OLG Oldenburg, aaO S. 196 f.; Meyer-Goßner, aaO; BeckOK-StPO/Krauß, aaO Rn. 1a <strong>und</strong> 2; König, aaO;<br />

Paeffgen, aaO; Kazele, aaO).<br />

c) Hiervon ist ersichtlich auch der Gesetzgeber ausgegangen. So lassen sich der Entstehungsgeschichte der oben<br />

genannten Änderung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG (vgl. nur BT-Drs. 16/813, S. 9 <strong>und</strong> 12) keine Hinweise darauf<br />

- 206 -


entnehmen, dass hierdurch dem Haftrichter Kompetenzen entzogen werden sollten (ebenso Kazele, aaO S. 260;<br />

Paeffgen, aaO.). Aus den Materialien des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts (vgl. insbesondere<br />

BT-Drs. 16/11644, S. 1, 12, 23 ff.) ergibt sich vielmehr eindeutig, dass der Gesetzgeber davon ausging, in die Gesetzgebungskompetenz<br />

des B<strong>und</strong>es falle auch nach der Föderalismusreform noch die zuvor in § 119 Abs. 3 Alt. 1<br />

StPO aF geregelte Anordnung solcher Beschränkungen, die zur Erreichung des Zwecks der Untersuchungshaft erforderlich<br />

sind. Der Gesetzgeber wollte mithin die insoweit bestehenden Kompetenzen des Haftrichters im Zuge der<br />

Föderalismusreform ersichtlich nicht einschränken. Soweit die Landesgesetze – wie hier das NJVollZG - bezüglich<br />

der Regelung von Maßnahmen, die der Zweck der Untersuchungshaft erfordert, von der Strafprozessordnung, namentlich<br />

von § 119 StPO, abweichende Regelungen enthalten, ist entsprechendes Landesrecht im Hinblick auf die<br />

Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG unwirksam (Krauß, aaO Rn. 1a mwN; vgl. hierzu auch die zum NJVollzG bereits<br />

erfolgten Vorlagen gemäß Art. 100a Abs. 1 GG an das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht, die mangels Entscheidungserheblichkeit<br />

der Vorlagefrage indes für unzulässig erklärt worden sind [BVerfGE 121, 233; BVerfG, Beschluss vom<br />

20. November 2008 – 2 BvL 16/08, juris]).<br />

III. Die im Tenor genannten Beschränkungen sind aufgr<strong>und</strong> des Zwecks der Untersuchungshaft notwendig <strong>und</strong> auch<br />

verhältnismäßig. […]<br />

StPO § 136 Abs. 1 Satz 2 Beschuldigtenvernehmung – Ständiges Nachfragen <strong>und</strong> Provozieren von<br />

Spontanäußerungen nach Belehrung <strong>und</strong> Schweigen<br />

BGH, Urt. v. 27.06.2013 - 3 StR 435/12 - BeckRS 2013, 12716<br />

LS: Der hohe Rang der Selbstbelastungsfreiheit gebietet es, dass auch Spontanäußerungen - zumal<br />

zum Randgeschehen - nicht zum Anlass für sachaufklärende Nachfragen genommen werden, wenn<br />

der Beschuldigte nach Belehrung über seine Rechte nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO die Konsultation<br />

durch einen benannten Verteidiger begehrt <strong>und</strong> erklärt, von seinem Schweigerecht Gebrauch zu<br />

machen.<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 26. April 2012, soweit es ihn<br />

betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu erneuter Verhandlung <strong>und</strong><br />

Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung zweier vorangegangener<br />

Urteile zur Jugendstrafe von zwei Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt sowie eine Adhäsionsentscheidung<br />

getroffen. Dagegen wendet sich die Revision des Beschwerdeführers, mit der er eine Verfahrensbeanstandung erhebt<br />

<strong>und</strong> die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat mit der Verfahrensbeanstandung Erfolg.<br />

I. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zu Gr<strong>und</strong>e: Der Angeklagte wurde etwa drei Wochen nach der<br />

verfahrensgegenständlichen Tat wegen des dringenden Verdachts des versuchten Totschlags vorläufig festgenommen.<br />

Am nächsten Tag wurde er um ca. 13.30 Uhr der Ermittlungsrichterin des Amtsgerichts Uelzen vorgeführt, die<br />

ihm den Haftbefehl eröffnete <strong>und</strong> ihn ordnungsgemäß, unter anderem nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO, belehrte. Der<br />

Angeklagte erklärte, dass er seinen Verteidiger Rechtsanwalt K. beigeordnet bekommen wolle. Die Ermittlungsrichterin<br />

unterbrach daraufhin die Vernehmung <strong>und</strong> versuchte um 13.35 Uhr, den Verteidiger telefonisch zu erreichen.<br />

Dort meldete sich ein Anrufbeantworter mit der Ansage, dass das Büro während der Mittagspause von 13.00 bis<br />

15.00 Uhr nicht besetzt sei. Sie kehrte in das Vernehmungszimmer zurück <strong>und</strong> teilte dem Angeklagten mit, dass sie<br />

seinen Verteidiger nicht habe erreichen können. Der Angeklagte erklärte nunmehr, er wolle sich zur Sache nicht<br />

äußern, <strong>und</strong> fügte spontan hinzu, er kenne - den im Haftbefehl genannten, ausschließlich in das Tatvorgeschehen<br />

verwickelten - S. , habe mit diesem aber nichts zu tun. Die Ermittlungsrichterin fragte daraufhin, ob er gesehen habe,<br />

wie S. auf den Fußweg uriniert habe, was zu einer der Tat vorgelagerten Auseinandersetzung zwischen S. <strong>und</strong> dem<br />

Tatopfer geführt hatte, aus der heraus sich im weiteren das eigentliche Tatgeschehen entwickelte. Der Angeklagte<br />

verneinte. Sodann fragte die Ermittlungsrichterin weiter, wie das Tatopfer verletzt worden sei. Der Angeklagte ließ<br />

- 207 -


sich im Folgenden umfassend zur Sache ein <strong>und</strong> räumte auf weitere Nachfragen ein, das Opfer zwei Mal gegen den<br />

Kopf getreten zu haben. Im Haftprüfungstermin vom 18. August 2011 revidierte der Angeklagte - nunmehr anwaltlich<br />

beraten - sein Geständnis <strong>und</strong> gab an, er könne sich nicht erinnern, ob er das Opfer getreten habe. In der Hauptverhandlung<br />

hat der Angeklagte von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht. Zum Inhalt seiner Angaben im Ermittlungsverfahren<br />

hat das Landgericht die Ermittlungsrichterin <strong>und</strong> den Protokollführer vernommen; der Verteidiger<br />

hat unter Hinweis darauf, dass die Angaben des Angeklagten im Termin zur Haftbefehlsverkündung wegen Belehrungsmängeln<br />

unverwertbar seien, sowohl der Vernehmung der Ermittlungsrichterin als auch der Verwertung<br />

ihrer Aussage widersprochen. Die Strafkammer hat den Verwertungswiderspruch zurückgewiesen <strong>und</strong> die Einlassung<br />

des Angeklagten anlässlich der Haftbefehlsverkündung im Urteil gegen ihn verwertet.<br />

II.<br />

1. Die von der Revision zulässig erhobene Verfahrensrüge zeigt auf, dass bei der Vernehmung des Angeklagten<br />

durch die Ermittlungsrichterin in unzulässiger Weise in dessen Rechte, sich nicht zur Sache äußern zu müssen <strong>und</strong><br />

vor der Vernehmung einen Verteidiger zu befragen (§ 136 Abs. 1 Satz 2 StPO), eingegriffen worden ist. Im Einzelnen:<br />

a) Nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO ist der Beschuldigte zu Beginn seiner Vernehmung über sein Schweigerecht zu<br />

belehren <strong>und</strong> darauf hinzuweisen, dass er jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden<br />

Verteidiger befragen kann. Beide Rechte des Beschuldigten hängen eng zusammen <strong>und</strong> sichern seine verfahrensmäßige<br />

Stellung - als Beteiligter <strong>und</strong> nicht als Objekt des Verfahrens - in ihren Gr<strong>und</strong>lagen. Die Verteidigerkonsultation<br />

hat dabei insbesondere auch den Zweck, dass sich der Beschuldigte beraten lassen kann, ob er von seinem Schweigerecht<br />

Gebrauch machen will oder nicht (BGH, Urteile vom 29. Oktober 1992 - 4 StR 126/92, BGHSt 38, 372, 373<br />

<strong>und</strong> vom 22. November 2001 - 1 StR 220/01, BGHSt 47, 172, 174). Die Belehrungspflichten des § 136 Abs. 1 Satz 2<br />

StPO schützen mithin die Selbstbelastungsfreiheit, die im Strafverfahren von überragender Bedeutung ist: Der<br />

Gr<strong>und</strong>satz, dass niemand gezwungen werden darf, sich selbst zu belasten (nemo tenetur se ipsum accusare), zählt zu<br />

den Gr<strong>und</strong>prinzipien eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Er ist verfassungsrechtlich abgesichert durch die gemäß<br />

Art. 1, 2 Abs. 1 GG garantierten Gr<strong>und</strong>rechte auf Achtung der Menschenwürde sowie auf freie Entfaltung der Persönlichkeit<br />

(BVerfG, Beschluss vom 13. Januar 1981 - 1 BvR 116/77, BVerfGE 56, 37, 43 ff.) <strong>und</strong> gehört zum<br />

Kernbereich des von Art. 6 MRK garantierten Rechts auf ein faires Strafverfahren (EGMR, Urteil vom 5. November<br />

2002 - 48539/99 - Fall Allan v. Großbritannien, StV 2003, 257, 259; BGH, Beschluss vom 31. März 2011 - 3 StR<br />

400/10, NStZ 2011, 596, 597). Aus diesem Gr<strong>und</strong> wiegt ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht schwer (BGH,<br />

Beschluss vom 27. Februar 1992 - 5 StR 190/91, BGHSt 38, 214, 221; Urteil vom 22. November 2001 - 1 StR<br />

220/01, BGHSt 47, 172, 174).<br />

b) Einen Verfahrensverstoß stellt es aber auch dar, wenn der Beschuldigte vor seiner ersten Vernehmung zwar nach<br />

§ 136 Abs. 1 Satz 2 StPO belehrt worden ist, ihm die Rechte, die Gegenstand der Belehrung sind, aber verwehrt<br />

werden: Entscheidet sich der Beschuldigte, von seinem Schweigerecht Gebrauch zu machen, ist dies von den Ermittlungsbehörden<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich zu respektieren (BGH, Urteil vom 26. Juli 2007 - 3 StR 104/07, BGHSt 52, 11, 19);<br />

stetige Nachfragen ohne zureichenden Gr<strong>und</strong> können das Schweigerecht entwerten (BGH, Beschluss vom 10. Januar<br />

2006 - 5 StR 341/05, NJW 2006, 1008, 1009). Gleiches gilt, wenn der Beschuldigte einen Verteidiger zu konsultieren<br />

wünscht (BGH, Urteil vom 29. Oktober 1992 - 4 StR 126/92, BGHSt 38, 372). Insoweit ist anerkannt, dass die<br />

Vernehmung sogleich zu unterbrechen ist, um eine Kontaktaufnahme zu einem Verteidiger zu ermöglichen (BGH,<br />

Urteile vom 29. Oktober 1992 - 4 StR 126/92, BGHSt 38, 372, 373 <strong>und</strong> vom 12. Januar 1996 - 5 StR 756/94, BGHSt<br />

42, 15, 18 f.; Geppert in Festschrift Otto, 2007, S. 913, 917 mwN; Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl., § 136 Rn. 10<br />

mwN); der Beschuldigte darf nicht bedrängt werden, weitere Angaben zu machen (BGH, Beschlüsse vom 18. Dezember<br />

2003 - 1 StR 380/03, NStZ 2004, 450, 451 <strong>und</strong> vom 10. Januar 2006 - 5 StR 341/05, NJW 2006, 1008, 1009<br />

f.).<br />

c) Allerdings kann die Vernehmung auch ohne vorherige Konsultation fortgesetzt werden, wenn der Beschuldigte<br />

dem in freier Entscheidung zustimmt (BGH, Urteil vom 21. Mai 1996 - 1 StR 154/96, BGHSt 42, 170; LR/Gleß,<br />

StPO, 26. Aufl., § 136 Rn. 101; Geppert, aaO, S. 918), wobei eine solche Zustimmung auch durch schlüssiges Verhalten<br />

erklärt werden kann (vgl. Klein, Inhalt <strong>und</strong> Reichweite der Belehrungsvorschrift des § 136 StPO, 2005, S. 145<br />

f.; LR/Gleß aaO; aA BGH, Urteil vom 12. Januar 1996 - 5 StR 756/94, BGHSt 42, 15). Dieses kann gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

etwa darin zu sehen sein, dass sich der Beschuldigte von sich aus spontan zur Sache äußert, obwohl eine Verteidigerkonsultation<br />

noch nicht möglich war. Bei der Prüfung, ob in Spontanäußerungen des Beschuldigten zugleich die<br />

eigenverantwortliche <strong>und</strong> von einem freien Willensentschluss getragene Zustimmung zu einer solchen Fortsetzung<br />

- 208 -


der Vernehmung zu sehen ist, muss aber der enge Zusammenhang zwischen dem Schweigerecht <strong>und</strong> dem Recht auf<br />

Verteidigerkonsultation in den Blick genommen werden. Dient die Ermöglichung der Beratung durch einen Verteidiger<br />

gerade dazu, eine sachgerechte Entscheidung des Beschuldigten über den Umgang mit seinem Schweigerecht<br />

zu ermöglichen, sind an das Vorliegen einer - noch dazu konkludent erklärten - Zustimmung zur Fortsetzung der<br />

Vernehmung hohe Anforderungen zu stellen. Insoweit ist die bloße Entgegennahme spontaner Äußerungen regelmäßig<br />

unbedenklich; diese <strong>und</strong> die spätere Verwertung solcher Angaben sind auch bei einem nicht über seine Rechte<br />

belehrten Beschuldigten zulässig, wenn keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Belehrungspflicht des § 136<br />

Abs. 1 Satz 2 StPO - <strong>und</strong> damit letztlich die dadurch geschützten Beschuldigtenrechte - gezielt umgangen werden<br />

sollten, um den Betroffenen zu einer Selbstbelastung zu verleiten (BGH, Beschluss vom 9. Juni 2009 - 4 StR 170/09,<br />

NJW 2009, 3589 mwN). Der hohe Rang der Selbstbelastungsfreiheit gebietet es indes, dass auch Spontanäußerungen<br />

- zumal zum Randgeschehen - nicht zum Anlass für sachaufklärende Nachfragen genommen werden, wenn der Beschuldigte<br />

nach Belehrung über seine Rechte nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO die Konsultation durch einen benannten<br />

Verteidiger begehrt <strong>und</strong> erklärt, von seinem Schweigerecht Gebrauch zu machen.<br />

d) Nach diesen Maßgaben erweist sich das Vorgehen der Ermittlungsrichterin als verfahrensfehlerhaft.<br />

aa) Zwar unterbrach sie zunächst prozessordnungsgemäß die Vernehmung, um den vom Angeklagten gewünschten<br />

Verteidiger zu erreichen <strong>und</strong> so eine Konsultation durch diesen zu ermöglichen. Angesichts des kurzen Zeitraums, in<br />

dem der Verteidiger wegen der Mittagspause seiner Kanzlei unerreichbar war, bestand indes auch unter Berücksichtigung<br />

eines Interesses der Ermittlungsbehörden, möglichst frühzeitig Angaben des Beschuldigten zu erhalten (vgl.<br />

dazu Geppert, aaO, S. 914) - dem hier angesichts der etwa drei Wochen zurückliegenden Tat <strong>und</strong> des Umstandes,<br />

dass bereits ein Haftbefehl ergangen war, allerdings ohnehin keine hohe Bedeutung zukommt - kein nachvollziehbarer<br />

Gr<strong>und</strong>, mit der Vernehmung nicht bis nach der Mittagspause zuzuwarten. Es waren in der Zwischenzeit auch<br />

weder weitere Erkenntnisse erlangt worden noch war eine neue prozessuale Situation eingetreten, aufgr<strong>und</strong> derer zu<br />

erwarten gewesen wäre, dass sich die Auffassung des Beschuldigten geändert haben könnte (vgl. zu diesen Kriterien<br />

bei der Fortsetzung der Vernehmung eines Beschuldigten, der sich auf sein Schweigerecht berufen hat BGH, Beschluss<br />

vom 10. Januar 2006 - 5 StR 341/05, NJW 2006, 1008, 1009). Es hätte damit bereits jetzt Veranlassung bestanden,<br />

die unterbrochene Vernehmung nicht fortzusetzen. Die Fortführung der Vernehmung ohne vorherige Verteidigerkonsultation<br />

war auch nicht deshalb zulässig, weil der Angeklagte dem zugestimmt hätte: Eine ausdrückliche<br />

Zustimmung hat er nicht erteilt. Von einer konkludent erklärten kann hier ebenfalls nicht ausgegangen werden, weil<br />

er sich nach der Mitteilung über die Versuche, den gewählten Verteidiger zu erreichen, ausdrücklich auf sein<br />

Schweigerecht berufen hat. In diesem Moment hätte die Ermittlungsrichterin die Vernehmung nicht fortsetzen dürfen.<br />

bb) Dem steht nicht entgegen, dass der Angeklagte im Anschluss an seine Erklärung, er wolle nichts zur Sache sagen,<br />

spontan erklärte, er kenne S. , habe mit ihm aber nichts zu tun. Diese Äußerung betraf lediglich seine Beziehung<br />

zu einer am Vorgeschehen der Tat beteiligten Person; er machte keine Angaben zu deren Verhalten <strong>und</strong> keine zum<br />

eigentlichen Tatgeschehen. Die zu seiner Überführung verwertete Einlassung gab er erst ab, nachdem die Ermittlungsrichterin<br />

ihm - von seiner Äußerung ausgehend - gezielte Nachfragen zum Verhalten von S. <strong>und</strong> zum Tatgeschehen<br />

gestellt hatte. Damit ging die Ermittlungsrichterin über die bloße Entgegennahme seiner Äußerung hinaus;<br />

dies stellt nach den dargelegten Maßstäben einen unzulässigen Eingriff in die Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten<br />

dar. Seine Äußerung kann hier auch nicht dahin verstanden werden, dass er in freier Entscheidung seinen unmittelbar<br />

zuvor zum Ausdruck gebrachten Entschluss, sich nicht zur Sache einzulassen, revidiert hätte. Seine Angaben<br />

waren inhaltlich vom Tatvorwurf so weit entfernt, dass ihnen nicht die konkludente Erklärung entnommen werden<br />

konnte, er wolle entgegen seiner zuvor ausdrücklich geäußerten Absicht doch umfassend aussagen. Jedenfalls hätte<br />

es der Ermittlungsrichterin in dieser Situation - wollte sie nicht den Eindruck erwecken, die Berufung des Angeklagten<br />

auf sein Schweigerecht zu übergehen - aufgr<strong>und</strong> ihrer verfahrensrechtlichen Fürsorgepflicht oblegen, durch ausdrückliche<br />

Befragung zu klären, ob der Angeklagte nunmehr gleichwohl bereit war, Angaben zur Sache zu machen,<br />

gegebenenfalls auch ohne vorherige Verteidigerkonsultation (Geppert, aaO, S. 922). Auch dies ist nicht geschehen.<br />

2. Der aufgezeigte Verstoß bei der Vernehmung des Angeklagten führt zu einem Verwertungsverbot hinsichtlich<br />

seiner Angaben anlässlich der Haftbefehlsverkündung. Zwar zieht nach ständiger Rechtsprechung nicht jedes Verbot,<br />

einen Beweis zu erheben, ohne Weiteres auch ein Beweisverwertungsverbot nach sich. Vielmehr ist je nach den<br />

Umständen des Einzelfalles unter Abwägung aller maßgeblichen Gesichtspunkte <strong>und</strong> der widerstreitenden Interessen<br />

zu entscheiden. Bedeutsam sind dabei insbesondere die Art <strong>und</strong> der Schutzzweck des etwaigen Beweiserhebungsverbots<br />

sowie das Gewicht des in Rede stehenden Verfahrensverstoßes, das seinerseits wesentlich von der Bedeutung<br />

- 209 -


der im Einzelfall betroffenen Rechtsgüter bestimmt wird (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 20. Dezember 2012 - 3 StR<br />

117/12, zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen). Ein Verwertungsverbot liegt jedoch stets dann nahe, wenn die<br />

verletzte Verfahrensvorschrift dazu bestimmt ist, die Gr<strong>und</strong>lagen der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten<br />

im Strafverfahren zu sichern (BGH, Beschluss vom 27. Februar 1992 - 5 StR 190/91, BGHSt 38, 214, 219 ff.;<br />

Urteil vom 29. Oktober 1992 - 4 StR 126/92, BGHSt 38, 372, 373 f.). So verhält es sich hier. Die von § 136 Abs. 1<br />

Satz 2 StPO geschützten Beschuldigtenrechte gehören - wie dargelegt - zu den wichtigsten verfahrensrechtlichen<br />

Prinzipien. Durch sie wird sichergestellt, dass der Beschuldigte nicht nur Objekt des Strafverfahrens ist, sondern zur<br />

Wahrung seiner Rechte auf dessen Gang <strong>und</strong> Ergebnis Einfluss nehmen kann (BGH, Urteil vom 29. Oktober 1992 -<br />

4 StR 126/92, BGHSt 38, 372, 374). Der Beschuldigte ist bei seiner ersten Vernehmung in besonderem Maße der<br />

Gefahr ausgesetzt, sich unbedacht selbst zu belasten. In dieser Situation ist er oft unvorbereitet, ohne Ratgeber <strong>und</strong><br />

auch sonst von der vertrauten Umgebung abgeschnitten. Nicht selten ist er durch die Ereignisse verwirrt <strong>und</strong> durch<br />

die ungewohnte Umgebung bedrückt oder verängstigt. Seine ersten Angaben entfalten zudem - wie nicht zuletzt der<br />

vorliegende Fall zeigt - selbst bei einer späteren Änderung des Aussageverhaltens eine faktische Wirkung, die für<br />

den weiteren Verlauf des Verfahrens von erheblicher Bedeutung ist (BGH, Beschluss vom 27. Februar 1992 - 5 StR<br />

190/91, BGHSt 38, 214, 221 f.). Diese zum Schweigerecht des Beschuldigten entwickelten Gr<strong>und</strong>sätze gelten für die<br />

Belehrung über das Verteidigerkonsultationsrecht entsprechend (BGH, Urteil vom 22. November 2001 - 1 StR<br />

220/01, BGHSt 47, 172, 174). Der Annahme eines nach diesen Maßstäben gegebenen Beweisverwertungsverbotes<br />

steht nicht entgegen, dass der Angeklagte aufgr<strong>und</strong> der ein-gangs der Vernehmung ordnungsgemäß erteilten Belehrung<br />

zunächst Kenntnis sowohl von seinem Schweige- als auch von seinem Verteidigerkonsultationsrecht erlangt<br />

hatte (vgl. dazu BGH, aaO <strong>und</strong> BGH, Beschluss vom 18. Dezember 2003 - 1 StR 380/03, NStZ 2004, 450, 451).<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich mag der Beschuldigte, der in Kenntnis seiner Rechte gleichwohl Angaben zu Sache macht, weniger<br />

schutzbedürftig sein. Der aufgezeigte enge Zusammenhang zwischen dem Verteidigerkonsultations- <strong>und</strong> dem<br />

Schweigerecht erfordert hier jedoch die Annahme eines hohen Schutzniveaus: Der Angeklagte hatte mit seinem<br />

Wunsch nach Verteidigerkonsultation zum Ausdruck gebracht, dass er der Beratung bedurfte. Als diese nicht möglich<br />

war, verweigerte er Angaben zur Sache, was zum Abbruch der Vernehmung hätte führen müssen. Nach den vom<br />

Landgericht getroffenen Feststellungen <strong>und</strong> dem Revisionsvorbringen zum Gang der Vernehmung ist zudem nicht<br />

ersichtlich, dass sich der Angeklagte im Zeitpunkt seiner ihn belastenden Einlassung dieser Belehrung noch bewusst<br />

war, etwa weil er differenziert damit umgegangen wäre. Vielmehr befand er sich im Unklaren darüber, ob <strong>und</strong> gegebenenfalls<br />

wann sein Verteidiger erreichbar sein würde, <strong>und</strong> konnte er die wiederholten Nachfragen der Ermittlungsrichterin<br />

dahingehend verstehen, dass seinem geäußerten Wunsch, sich jedenfalls nicht ohne vorherige Befragung<br />

seines Verteidigers zur Sache einzulassen, nicht entsprochen werden würde. Etwas anderes könnte allenfalls gelten,<br />

wenn der Angeklagte erneut über seine Rechte belehrt worden wäre (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 10. Januar 2013<br />

- 1 StR 560/12, NStZ 2013, 299, 300). Das ist indes nicht geschehen. Schließlich sprechen auch die Schwere des<br />

Tatvorwurfs <strong>und</strong> der Gr<strong>und</strong>satz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen <strong>und</strong> dazu die Beweisaufnahme von<br />

Amts wegen auf alle bedeutsamen Tatsachen <strong>und</strong> Beweismittel zu erstrecken hat, nicht gegen die Annahme eines<br />

Beweisverwertungsverbots; insoweit ist in die Abwägung auch einzustellen, dass die Wahrheit nicht um jeden Preis<br />

erforscht werden muss (BGH, Beschluss vom 27. Februar 1992 - 5 StR 190/91, BGHSt 38, 214, 220 mwN).<br />

3. Das Urteil beruht auf der Verwertung der Angaben des Angeklagten aus seiner Vernehmung anlässlich der Haftbefehlsverkündung.<br />

Ausweislich der Urteilsgründe hat keiner der Zeugen bek<strong>und</strong>et, dass der Angeklagte auf das<br />

Opfer eingetreten habe; die Strafkammer hat sich diese Überzeugung vielmehr aufgr<strong>und</strong> der Verwertung seiner Einlassung<br />

im Ermittlungsverfahren gebildet. Der Verteidiger musste in der Hauptverhandlung nicht auch der Vernehmung<br />

des Protokollführers <strong>und</strong> der Verwertung von dessen Aussage widersprechen. Der erhobene Verwertungswiderspruch<br />

bezüglich der Aussage der Ermittlungsrichterin bezog sich nach seiner Begründung eindeutig auf das<br />

Beweisthema - Angaben des Angeklagten in seiner Beschuldigtenvernehmung -, so dass für die Verfahrensbeteiligten<br />

ungeachtet des protokollierten Wortlauts des Widerspruchs kein Zweifel bestehen konnte, dass auch der Verwertung<br />

etwaiger Angaben des später vernommenen Protokollführers zu diesem Beweisthema widersprochen werden<br />

sollte (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2003 - 5 StR 307/03, BGHR StPO § 136 Abs. 1 Verteidigerbefragung<br />

7).<br />

- 210 -


StPO § 140, §145 Abs. 1 § 338 Nr. 8<br />

BGH, Urteil vom 20. Juni 2013 - 2 StR 113/13 - LG Kassel<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

LS: Der Angeklagte ist nicht hinreichend verteidigt, wenn bei kurzfristiger Erkrankung des Pflichtverteidigers<br />

ein anderer Verteidiger für einen Tag der Hauptverhandlung bestellt wird, um die<br />

Vernehmung eines Zeugen zu ermöglichen, ohne dass der Ersatzverteidiger sich in die Sache einarbeiten<br />

konnte.<br />

Der 2. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat aufgr<strong>und</strong> der Verhandlung vom 8. Mai 2013 in der Sitzung am 20. Juni<br />

2013, für Recht erkannt:<br />

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 2. August 2012 mit<br />

den Feststellungen aufgehoben.<br />

2. Auf die Revision des Angeklagten W. wird das vorgenannte Urteil, soweit es ihn betrifft, mit den zugehörigen<br />

Feststellungen aufgehoben.<br />

3. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine<br />

andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

I.<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten W. wegen Beihilfe zur Unterschlagung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr<br />

<strong>und</strong> zehn Monaten verurteilt, wovon neun Monate als vollstreckt gelten. Den Angeklagten K. hat es von dem Vorwurf<br />

einer Unterschlagung freigesprochen. Die auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision der<br />

Staatsanwaltschaft hat in vollem Umfang Erfolg. Die Revision des Angeklagten W. führt auf eine Verfahrensrüge<br />

hin zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.<br />

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts arbeitete der Angeklagte W. seit Beginn des Jahres 2006 bei der Spedition<br />

L. Diese erhielt am 13. Februar 2006 den Auftrag, sechs Paletten Telekommunikationsartikel nach Großbritannien<br />

zu verbringen. Für den Transport wurde der Angeklagte W. eingesetzt. Er machte sich nach dem Beladen des<br />

zum Fuhrpark der Spedition L. gehörenden LKW am 13. Februar 2006 gegen 18.00 Uhr auf den Weg in Richtung<br />

Großbritannien. Im Fahrzeug befanden sich 3.000 Mobiltelefone der Marke Nokia im Wert von 615.000 € netto. Der<br />

Angeklagte fuhr über die Autobahn A 44 in Richtung Niederlande <strong>und</strong> erreichte nach einigen Pausen <strong>und</strong> dem Passieren<br />

der niederländischen <strong>und</strong> belgischen Grenze in Kr., kurz hinter Antwerpen, eine an der E 17 gelegene Tankstelle.<br />

Dort betankte er gegen 1.58 Uhr den LKW. In der Zeit danach kam es auf der Strecke zwischen Kr.<strong>und</strong> M. zu<br />

einer vollständigen Entwendung der Ladung. Dabei verschaffte der Angeklagte W. einem oder mehreren Dritten den<br />

Zugang zur Ladefläche des LKW, damit diese die geladenen Mobiltelefone an sich nehmen <strong>und</strong> zueignen konnten.<br />

Anschließend wurde der LKW auf dem Gelände der F. in G. abgestellt.<br />

Sodann begab sich der Angeklagte W. zu einer an der E 40 gelegenen Tankstelle in M., die er gegen 4.30 Uhr<br />

betrat, um etwas zu trinken. Kurz vor 5.00 Uhr verließ er den Shop in Richtung der auf dem Gelände befindlichen<br />

Abstellplätze für Kraftfahrzeuge. Wenig später kam er zurück, um dem Kassierer <strong>und</strong> den später eintreffenden Polizeibeamten<br />

der Wahrheit zuwider mitzuteilen, dass sein angeblich auf dem Parkplatz abgestellter LKW während<br />

seines Aufenthalts in der Tankstelle entwendet worden sei.<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten W. wegen Beihilfe zur verun-treuenden Unterschlagung verurteilt, da lediglich<br />

habe festgestellt werden können, dass er Dritten den Zugang zu Ladung <strong>und</strong> PKW ermöglicht <strong>und</strong> damit lediglich<br />

eine fremde Tat gefördert habe.<br />

2. Den die Tat bestreitenden Angeklagten K, den Vater der Lebensgefährtin des Angeklagten W. , hat das Landgericht<br />

vom Vorwurf einer Beteiligung an der vorangehend geschilderten Tat aus tatsächlichen Gründen freigesprochen.<br />

Diese sei ihm nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachzuweisen gewesen. Zwar habe festgestellt werden<br />

können, dass vom Mobiltelefon des Angeklagten W. zu der auf den Angeklagten K. zugelassenen Ruf-nummer zwischen<br />

0.39 Uhr <strong>und</strong> 2.22 Uhr Gespräche stattgef<strong>und</strong>en hätten <strong>und</strong> beide Geräte sich zu Zeitpunkten zwischen<br />

1.06 Uhr <strong>und</strong> 3.23 Uhr auf belgischem Gebiet bef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> sich in einer Entfernung von wenigen Kilometern in<br />

Richtung Frankreich bewegt hätten. Zu einer Verurteilung hat sich das Landgericht außer Stande gesehen, weil<br />

Zweifel verblieben, ob der Angeklagte K. nicht für den Tatzeitraum das Telefon verliehen oder den Anschluss überhaupt<br />

erst nach der Tat erstmalig verwendet habe. Zudem sei nicht auszuschließen, dass der Angeklagte K. in Belgi-<br />

- 211 -


6<br />

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13<br />

14<br />

en einen völlig anderen, eigenen Zweck abseits einer Tatbeteiligung verfolgt oder möglicherweise den Angeklagten<br />

W. von dessen Tatbeteiligung abzubringen versucht habe.<br />

II.<br />

Die Revision der Staatsanwaltschaft hat in vollem Umfang Erfolg.<br />

1. Der Freispruch des Angeklagten K. hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.<br />

Das Revisionsgericht hat es zwar regelmäßig hinzunehmen, wenn der Tatrichter einen Angeklagten freispricht, weil<br />

er Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Denn die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters<br />

(§ 261 StPO). Ihm obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen <strong>und</strong> zu würdigen. Das Revisionsgericht<br />

kann <strong>und</strong> muss jedoch eingreifen, wenn dem Tatrichter - wie hier - Rechtsfehler unterlaufen sind.<br />

Der Angeklagte K. hat eine Tatbeteiligung bestritten <strong>und</strong> für den Tatabend einen Alibibeweis angetreten, den das<br />

Landgericht allerdings als widerlegt erachtet. Hinsichtlich des Mobilfunkanschlusses, dessen Verbindungsdaten über<br />

einen längeren Zeitraum in der fraglichen Nacht ein synchrones Bewegungsbild zu dem Mobilfunkanschluss des<br />

überführten Angeklagten W., eine räumliche Nähe zum späteren Auffindeort des Fahrzeugs <strong>und</strong> schließlich Gespräche<br />

zwischen beiden Anschlüssen belegen, hat sich der Angeklagte K. eingelassen, dieser sei auf ihn zugelassen.<br />

Gleichwohl hat ihn das Landgericht freigesprochen, weil es nicht habe ausschließen können, dass der Angeklagte das<br />

Mobiltelefon zu diesem Zeitpunkt noch nicht genutzt oder es möglicherweise an einen anderen verliehen habe oder -<br />

falls er es in Belgien genutzt habe- einen völlig anderen Zweck verfolgt oder möglicherweise den Angeklagten W.<br />

von dessen Tatbeteiligung abzubringen versucht habe.<br />

Dies erweist sich als rechtsfehlerhaft, weil das Landgericht damit nicht eher fern liegende Möglichkeiten unterstellt<br />

hat, ohne tragfähige Gründe anzuführen, die dieses Ergebnis stützen könnten (st. Rspr.: vgl. BGH NStZ 2008, 575<br />

mwN). Es gibt keine greifbaren Hinweise für das Vorliegen der in Betracht gezogenen Sachverhaltskonstellationen;<br />

selbst der Angeklagte K. hat sich auf sie nicht berufen. Fehlen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen<br />

einer Sachverhaltsvariante, ist es weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, einen nur abstrakt<br />

denkbaren Sachverhalt zugunsten eines Angeklagten zu unterstellen.<br />

2. Die Verurteilung des Angeklagten W. wegen Beihilfe zur Unterschlagung begegnet ebenfalls durchgreifenden<br />

rechtlichen Bedenken. Nach den Feststellungen des Landgerichts liegt es - wie der Generalb<strong>und</strong>esanwalt zutreffend<br />

ausgeführt hat - auf der Hand, dass der Angeklagte W. sich wegen täterschaftlich verwirklichter Unterschlagung<br />

gemäß § 246 Abs. 2 StGB hinsichtlich der Ladung des LKW in Form einer vom Vorsatz getragenen Drittzueignung<br />

strafbar gemacht hat. Im Fall einer Drittzueignung muss das Verhalten des Täters nach der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs<br />

darauf gerichtet sein, dass das Sicherungsgut dem Vermögen des Dritten zugeführt wird. Die Tathandlung<br />

muss dabei zu einer Stellung des Dritten in Bezug auf die Sache führen, wie sie auch bei der Selbstzueignung<br />

für die Tatbestandserfüllung notwendig wäre (BGH NStZ-RR 2006, 377 = wistra 2007, 18). Das bloße Schaffen<br />

einer Gelegenheit für die Selbstzueignung - worauf das Landgericht abgestellt hat - reicht danach zwar nicht aus<br />

(vgl. Fischer, StGB, 60. Aufl., § 246 Rn. 11a), doch liegt hier in der besonderen Fallkonstellation in der mit den<br />

Dritten abgesprochenen Abstellung des LKW auf einem Parkplatz zu dessen Entladung schon die Einräumung von<br />

Verfügungsgewalt über fremde Sachen, die aus der Sicht eines objektiven Dritten einen Zustand schafft, bei dem die<br />

nicht fern liegende Möglichkeit der dauernden Enteignung besteht (vgl. Hohmann in: Münchener Kommentar zum<br />

StGB, 2. Aufl., § 246 Rn. 44) <strong>und</strong> damit bereits zu einer eigentümerähnlichen Stellung der dritten Personen führt.<br />

III.<br />

Die Revision des Angeklagten W hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.<br />

1. Dem liegt folgendes Prozessgeschehen zugr<strong>und</strong>e:<br />

Zum Beginn des 4. Hauptverhandlungstags am 6. Juli 2012 um 9.10 Uhr erschien der Pflichtverteidiger des Angeklagten<br />

nicht. Durch sein Büro hatte er über die Geschäftsstelle mitteilen lassen, sich wegen Herzrhythmusstörungen<br />

in ärztliche Behandlung begeben zu müssen, aber davon auszugehen, ab 11.00 Uhr an der Hauptverhandlung teilnehmen<br />

zu können. Daraufhin wurde die Hauptverhandlung um 9.12 Uhr unterbrochen <strong>und</strong> schließlich um<br />

11.10 Uhr fortgesetzt. Zwischenzeitlich hatte das Büro des Pflichtverteidigers des Angeklagten mitgeteilt, dass dessen<br />

Einlieferung in eine Klinik notwendig geworden sei <strong>und</strong> er am heutigen Tag nicht mehr erscheinen werde.<br />

Für die Hauptverhandlung am 6. Juli 2012 war - als Folge eines Beweisermittlungsantrages des Verteidigers des<br />

Angeklagten - die Vernehmung des belgischen Polizeibeamten C. vorgesehen. Um ihm eine erneute Anreise an einem<br />

der folgenden Hauptverhandlungstermine zu ersparen, bemühte sich die Strafkammer um einen anderen Verteidiger<br />

für den Angeklagten, den sie ihm für diesen Hauptverhandlungstag als Pflichtverteidiger beiordnete. Es bestand<br />

Gelegenheit zu einem kurzen Gespräch mit dem Angeklagten, der keine Einwände gegen das Vorgehen erhob.<br />

- 212 -


15<br />

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20<br />

21<br />

Akteneinsicht in die Verfahrensakte nahm der neue Pflichtverteidiger nicht. Sodann wurde der Zeuge C. in Anwesenheit<br />

einer Dolmetscherin vernommen, wobei seine Aussage auf Antrag des Verteidigers des Mitangeklagten<br />

wörtlich protokolliert worden ist. Fragen an den Zeugen richtete der „neue“ Verteidiger des Angeklagten nicht. Die<br />

Hauptverhandlung wurde um 12.05 Uhr geschlossen.<br />

An den folgenden Hauptverhandlungsterminen nahm wieder der „alte“ Pflichtverteidiger des Angeklagten die Verteidigung<br />

des Angeklagten wahr. Ein von ihm gestellter Antrag auf erneute Vernehmung des Zeugen C. lehnte<br />

die Strafkammer nach Maßgabe des § 244 Abs. 5 StPO ab.<br />

2. Dieses Vorgehen steht nicht in Einklang mit § 145 Abs. 1 Satz 2 StPO <strong>und</strong> stellt eine unzulässige Beschränkung<br />

der Verteidigung dar, auf der das Urteil auch beruhen kann.<br />

a) Dem Revisionsvorbringen des Angeklagten, „unverteidigt“ gewesen zu sein, ist zugleich die Beanstandung zu<br />

entnehmen, das Landgericht habe es unterlassen, anlässlich der Erkrankung des Verteidigers die diesen Verhandlungstag<br />

vorgesehene Vernehmung des Zeugen C. nicht auf den nächsten Verhandlungstag verschoben zu haben.<br />

Damit zielt die Rüge ihrer Zielrichtung nach jedenfalls auch auf eine Verletzung von § 145 Abs. 1 Satz 2 StPO.<br />

b) § 145 Abs. 1 Satz 2 StPO sieht vor, dass das Gericht auch eine Aussetzung der Verhandlung beschließen kann,<br />

wenn der Verteidiger in der Hauptverhandlung ausbleibt. Die Regelung steht in Konkurrenz zu § 145 Abs. 1 Satz 1<br />

StPO, der für diesen Fall anordnet, dass der Vorsitzende sogleich einen anderen Verteidiger bestellt. Das Gericht hat<br />

also insoweit nach seinem Ermessen zu entscheiden, ob der Vorsitzende einen neuen Verteidiger bestellt oder die<br />

Hauptverhandlung ausgesetzt wird. Dabei hat es - über den Wortlaut der Vorschrift hinaus - auch zu prüfen, ob nicht<br />

eine Unterbrechung der Hauptverhandlung der entstandenen Konfliktlage - Kontinuität der Verteidigung oder gegebenenfalls<br />

Fortführung der Hauptverhandlung mit neuem Verteidiger - angemessen Rechnung trägt (LR-<br />

Lüderssen/Jahn, 26. Aufl., § 145 Rn. 20: angesichts des verfassungsrechtlichen Prinzips der Erforderlichkeit im<br />

Einzelfall bestehende Verpflichtung zur Unterbrechung). Prüft das Gericht nicht von Amts wegen, ob eine Verhandlung<br />

auszusetzen oder zu unterbrechen ist, kann dies die Revision begründen (LR-Lüderssen/Jahn, aaO, Rn. 41).<br />

aa) Die Literatur geht gr<strong>und</strong>sätzlich davon aus, dass dem Beschuldigten der eingearbeitete <strong>und</strong> vertraute Verteidiger<br />

zu erhalten ist <strong>und</strong> deshalb eine Aussetzung bzw. Unterbrechung gr<strong>und</strong>sätzlich trotz Verfahrensverzögerung der<br />

Vorzug vor einer neuen Bestellung zu geben ist (LR-Lüderssen/Jahn, aaO, Rn. 19; Laufhütte in: KK-StPO, 6. Aufl.<br />

Rn. 7). So soll ein kurzfristiger Ausfall wegen Erkrankung des Verteidigers in der Regel zu einer Aussetzung führen<br />

(Meyer-Goßner, 55. Aufl., § 145 Rn. 9). Dahinter steht - ohne dass dies im Einzelnen ausgeführt wird - die Erwägung,<br />

dass § 145 StPO nicht dem Ziel der Verfahrenssicherung dient, sondern das Recht des Beschuldigten zu einer<br />

effektiven <strong>und</strong> angemessenen Verteidigung wahren soll (LR-Lüderssen/Jahn, aaO, Rn. 1).<br />

bb) Der B<strong>und</strong>esgerichtshof hat sich bisher nicht weitergehend zur Frage einer Aussetzung bzw. Unterbrechung nach<br />

§ 145 Abs. 1 Satz 2 StPO geäußert (vgl. aber BGH MDR 1977, 767). Er hatte sich bisher lediglich damit zu befassen,<br />

ob nach einem Wechsel des Verteidigers eine im Sinne von § 265 Abs. 4 StPO veränderte Sachlage eingetreten<br />

ist, die zur genügenden Vorbereitung der Verteidigung eine Aussetzung angemessen erscheinen lässt. Die dort in der<br />

Rechtsprechung entwickelten Gr<strong>und</strong>sätze lassen sich entsprechend auch für die - zeitlich vorangehende - Konstellation<br />

des § 145 Abs. 1 StPO nutzen, in der es um die Frage geht, ob bei Ausbleiben eines Verteidigers überhaupt ein<br />

neuer Verteidiger beizuordnen ist oder ob nicht stattdessen die Hauptverhandlung auszusetzen bzw. zu unterbrechen<br />

ist, um dem Angeklagten die weitere Verteidigung durch den bisherigen Verteidiger zu ermöglichen. In beiden Fällen<br />

geht es darum, eine sachgerechte <strong>und</strong> angemessene Verteidigung des Angeklagten sicherzustellen (so auch knapp<br />

BGH MDR 1997, 767, 768 zu § 145 StPO). Dabei steht diese Entscheidung in Ausübung der prozessualen Fürsorgepflicht<br />

im pflichtgemäß auszuübenden Ermessen des Gerichts <strong>und</strong> hängt von den Umständen des Einzelfalles ab<br />

(vgl. zuletzt BGH NStZ 2013, 212). Maßgeblich ist zunächst die Erwägung, wie der Strafverteidiger als Organ der<br />

Rechtspflege selbst beurteilt, ob er für die Erfüllung seiner Aufgabe hinreichend vorbereitet ist. Hält er die Vorbereitungszeit<br />

für ausreichend, ist das Gericht gr<strong>und</strong>sätzlich nicht berufen, dies zu überprüfen. Doch gibt es greifbare<br />

Anhaltspunkte dafür, dass dies nicht der Fall sein könnte, gebietet die Fürsorgepflicht des Gerichts die Prüfung einer<br />

Aussetzung oder Unterbrechung des Verfahrens. Dies ist etwa der Fall, wenn der Verteidiger objektiv nicht genügend<br />

Zeit hatte, sich vorzubereiten (vgl. BGH NJW 1965, 2164, 2165) oder wenn sich die dem Prozessverhalten des<br />

Angeklagten <strong>und</strong> seines Verteidigers zu entnehmende Einschätzung der Sach- <strong>und</strong> Rechtslage als evident interessenwidrig<br />

darstellt <strong>und</strong> eine effektive Verteidigung (Art. 6 Abs. 3c MRK) unter keinem Gesichtspunkt mehr gewährleistet<br />

gewesen wäre (vgl. BGH NStZ 2013, 122).<br />

- 213 -


22<br />

23<br />

24<br />

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cc) Gemessen an diesen Maßstäben erweist sich hier die Beiordnung eines neuen Verteidigers als evident interessenwidrig.<br />

Das Landgericht hätte stattdessen die Hauptverhandlung unterbrechen <strong>und</strong> in einem der Folgetermine den<br />

Auslandszeugen C vernehmen müssen.<br />

Mit der Beiordnung eines neuen Verteidigers im Termin vom 6. Juli 2012 sind Verteidigungsrechte des Angeklagten<br />

in erheblicher Weise eingeschränkt worden (vgl. § 338 Nr. 8 StPO). Der neue Verteidiger hat zwar mit dem Angeklagten<br />

sprechen können; es liegt allerdings angesichts des Verfahrensablaufs (Unterbrechung der Hauptverhandlung<br />

um 9.12 Uhr, Fortsetzung um 11.10 Uhr nach zwischenzeitlicher Mitteilung gegen 10.00 Uhr, dass der alte Verteidiger<br />

krankheitsbedingt nicht mehr erscheinen wird) <strong>und</strong> auch des Aktenumfangs auf der Hand, dass eine Information<br />

des neuen Verteidigers, die ihn nur annähernd auf den Stand des Verfahrens hätte bringen können, nicht erfolgt sein<br />

kann. Nur ein Verteidiger aber, der den Stoff ausreichend beherrscht, kann die Verteidigung mit der Sicherheit führen,<br />

die das Gesetz verlangt (BGHSt 13, 337, 344 unter Hinweis auf RGSt 71, 353, 354). Die Absicht, einem „Auslandszeugen“<br />

die erneute Anreise zu ersparen, kann das rechtsstaatlich gebotene Recht auf eine angemessene <strong>und</strong><br />

effektive Verteidigung (Art. 6 Abs. 3c EMRK) nicht wirksam beschränken, zumal Anhaltspunkte für eine längerfristige<br />

Erkrankung des Pflichtverteidigers offenbar nicht gegeben waren <strong>und</strong> auch nichts dafür sprach, dass der Zeuge<br />

nicht erneut an dem bereits sechs Tage später bestimmten Fortsetzungstermin erschienen wäre. Im Übrigen ist zu<br />

berücksichtigen, dass es sich um die Vernehmung eines Zeugen handelte, die der Verteidiger beantragt hatte.<br />

Dass der neu beigeordnete Pflichtverteidiger nicht selbst Einwendungen gegen das prozessuale Vorgehen erhoben<br />

<strong>und</strong> einen Antrag nach § 145 Abs. 3 StPO auf Unterbrechung des Verfahrens nicht gestellt hat, kann an diesem Bef<strong>und</strong><br />

nichts ändern. Auf die Einschätzung des neuen Verteidigers, der selbst wohl keine Zweifel gehegt hat, die Verteidigung<br />

des Angeklagten sachgerecht führen zu können, kann es bei der besonderen Sachlage nicht ankommen. So<br />

war die Suche nach einem neuen Verteidiger hier von vornherein mit dem Zweck verb<strong>und</strong>en, die Vernehmung des<br />

aus dem Ausland angereisten Zeugen auf alle Fälle durchzuführen. Ein Verteidiger, der dies abgelehnt hätte, wäre<br />

nicht zur Durchführung des Termins beigeordnet worden; ein Verteidiger, der wie hier ohne weitere Beteiligung in<br />

der Sache lediglich formal die Verteidigung übernimmt, ist - was sich auch dem Landgericht aufdrängen musste -<br />

erkennbar nicht in der Lage, eine sachgerechte <strong>und</strong> angemessene Verteidigung des Angeklagten zu übernehmen.<br />

Auch dem Umstand, dass der Angeklagte keine Einwendungen gegen die Fortsetzung der Verhandlung erhoben hat,<br />

kann vorliegend keine maßgebliche Bedeutung zukommen. Aus dem Regelungsgefüge des § 145 StPO ergibt sich,<br />

dass nach dem Willen des Gesetzgebers dem Angeklagten insoweit keine maßgeblichen Verfahrensrechte eingeräumt<br />

worden sind. Ein Antragsrecht nach § 145 Abs. 3 StPO steht lediglich dem Verteidiger zu. Dies ändert zwar<br />

nichts daran, dass der Angeklagte gleichwohl eine Erklärung abgeben <strong>und</strong> evtl. eine Aussetzung nach § 265 Abs. 4<br />

StPO anregen kann. In dem Verzicht auf eine bloße Verfahrensanregung kann allerdings nicht der Schluss gezogen<br />

werden, der Angeklagte sei mit dem Vorgehen einverstanden.<br />

dd) Die Entscheidung beruht auch auf dem festgestellten Verfahrensverstoß. Es besteht die konkrete Möglichkeit<br />

eines kausalen Zusammenhangs des Verfahrensverstoßes mit dem angefochtenen Urteil. Wie sich aus dem Antrag<br />

auf erneute Vernehmung des Zeugen ergibt, sollte seine Vernehmung u.a. ergeben, dass der Angeklagte erst bei<br />

einem Telefonat nach Entwendung des LKW vom Inhalt der Ladung erfahren hat. Es ist nicht auszuschließen, dass<br />

bei einer Vernehmung des Zeugen in Gegenwart des durch Krankheit verhinderten Verteidigers, der anders als der<br />

neu bestellte Fragen oder Vorhalte an den belgischen Polizeibeamten gerichtet hätte, entsprechende Feststellungen<br />

hätten getroffen werden können.<br />

StPO § 229 Überschreitung der Unterbrechungsfrist – Beruhensfrage<br />

BGH, Beschl. v. 22.05.2013 - 4 StR 106/13- StraFo 2013, 338<br />

Das Beruhen des Urteils auf einem Verstoß gegen § 229 StPO kann nur dann ausgeschlossen werden,<br />

wenn die Fristüberschreitung ersichtlich weder den Eindruck von der Hauptverhandlung abgeschwächt<br />

noch die Zuverlässigkeit der Erinnerung beeinträchtigt hat.<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dessau-Roßlau vom 19. Juli 2012 mit den Feststellungen<br />

aufgehoben.<br />

Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere<br />

Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

- 214 -


Gründe<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen "sexueller Nötigung - Vergewaltigung -" in Tateinheit mit Körperverletzung<br />

<strong>und</strong> Freiheitsberaubung zu der Freiheitsstrafe von sieben Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt. Seine hiergegen<br />

gerichtete, auf die Verletzung formellen <strong>und</strong> materiellen Rechts gestützte Revision hat mit einer Verfahrensrüge<br />

Erfolg.<br />

1. Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugr<strong>und</strong>e:<br />

Die Hauptverhandlung begann am 17. Juni 2010. Nach dem 26. Hauptverhandlungstag am 17. August 2011 wurde<br />

die Hauptverhandlung "für 30 Tage unterbrochen" <strong>und</strong> am 19. September 2011 fortgesetzt. Der 32. Hauptverhandlungstag<br />

fand am 15. Dezember 2011 statt; danach wurde die Hauptverhandlung erneut "für 30 Tage unterbrochen"<br />

<strong>und</strong> am 13. Januar 2012 fortgesetzt.<br />

2. Dieses Verfahren beanstandet die Revision mit Recht. Der Generalb<strong>und</strong>esanwalt hat hierzu Folgendes ausgeführt:<br />

"Die zulässig erhobene Rüge der Verletzung des § 229 Abs. 2 StPO greift durch. Die Revision beanstandet zu Recht,<br />

dass die Hauptverhandlung, die in der Zeit vom 17. Juni 2010 bis zum 17. August 2011 an 26 Verhandlungstagen<br />

durchgeführt <strong>und</strong> dann bis zum 19. September 2011 einen Monat unterbrochen worden war, nach weiteren sechs<br />

Verhandlungstagen mit Beschluss vom 15. Dezember 2011 erneut 28 Tage unterbrochen wurde (RB S. 216).<br />

Nach § 229 Abs. 2 StPO darf eine Hauptverhandlung bis zu einem Monat unterbrochen werden, wenn sie davor<br />

jeweils an mindestens zehn Tagen stattgef<strong>und</strong>en hat. Wird sie nicht spätestens am Tage nach Ablauf der Frist fortgesetzt,<br />

so ist mit ihr von neuem zu beginnen (§ 229 Abs. 4 Satz 1 StPO). Sinn dieser Bestimmung ist es, das Gericht<br />

an eine möglichst enge Aufeinanderfolge der Verhandlungstage zu binden, damit die zu erlassende Entscheidung<br />

unter dem lebendigen Eindruck des zusammenhängenden Bildes des gesamten Verhandlungsstoffs ergeht (vgl. bereits<br />

RGSt 53, 332, 334; 57, 266, 267; 62, 263, 264; BGHSt 33, 217, 218; BGH, Urteil vom 25. Juli 1996 - 4 StR<br />

172/96, NJW 1996, 3019; Urteil vom 3. August 2006 - 3 StR 199/06, NJW 2006, 3077; Beschluss vom 16. Oktober<br />

2007 - 3 StR 254/07, NStZ 2008, 115). Sie soll gewährleisten, dass der Urteilsspruch aus dem "Inbegriff der Verhandlung"<br />

gewonnen werden kann <strong>und</strong> nicht dem Gr<strong>und</strong>satz der Mündlichkeit <strong>und</strong> Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung<br />

zuwider den Akten entnommen werden muss (vgl. BGH, Urteil vom 25. Juli 1996 - 4 StR 172/96, NJW<br />

1996, 3019 mwN). Von der Unterbrechungsmöglichkeit des § 229 Abs. 2 StPO kann das Gericht gr<strong>und</strong>sätzlich beliebig<br />

oft Gebrauch machen; es muss jedoch seit einer früheren Unterbrechung um einen Monat seither an weiteren<br />

zehn Tagen verhandelt worden <strong>und</strong> eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ausgeschlossen sein.<br />

Ungeachtet der Frage, ob das Verfahren in den Fortsetzungsterminen vom 21. Oktober 2011 <strong>und</strong> vom 2. Dezember<br />

2011 in der Sache gefördert wurde (RB S. 219 f.), hat das Landgericht seit der vorangegangenen Unterbrechung nach<br />

§ 229 Abs. 2 StPO bis zum 15. Dezember 2011 an allenfalls sechs Tagen verhandelt. Es hat damit die gesetzlichen<br />

Voraussetzungen für eine Unterbrechung bis zu 21 Tagen (§ 229 Abs. 1 StPO) geschaffen, eine längere Unterbrechung<br />

zu diesem Zeitpunkt schied demgegenüber aus.<br />

Das Beruhen des Urteils im Sinne des § 337 Abs. 1 StPO auf einem Verstoß gegen § 229 StPO kann regelmäßig -<br />

wie auch hier - nicht ausgeschlossen werden (BGHSt 23, 224, 225; NJW 1952, 1149 f.; BGH, Urteil vom 25. Juli<br />

1996 - 4 StR 172/96, NJW 1996, 3019; Beschluss vom 16. Oktober 2007 - 3 StR 254/07, NStZ 2008, 115; Becker in<br />

LR StPO 26. Aufl. § 229 Rn. 42). Ein besonders gelagerter Ausnahmefall, in dem die Fristüberschreitung ersichtlich<br />

weder den Eindruck von der Hauptverhandlung abgeschwächt noch die Zuverlässigkeit der Erinnerung beeinträchtigt<br />

hat, liegt hier nicht vor ..."<br />

Dem tritt der Senat bei.<br />

StPO § 229 Abs. 1, 2, 4 Satz 1, StPO § 249 Abs. 2 Sachverhandlung nach Selbestlese<br />

BGH, Urt. v. 28.11.2012 – 5 StR 412/12 - NJW 2013, 404 = StraFo 2013, 25<br />

LS: Sachverhandlung durch Anordnung <strong>und</strong> Vollzug des Selbstleseverfahrens.<br />

Der 5. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat aufgr<strong>und</strong> der Hauptverhandlung vom 27. November 2012 für Recht<br />

erkannt: Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 7. Mai 2012 werden<br />

verworfen. Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.<br />

– Von Rechts wegen –<br />

G r ü n d e<br />

- 215 -


Das Landgericht hat die Angeklagten wegen banden- <strong>und</strong> gewerbsmäßigen Betruges verurteilt, den Angeklagten F.<br />

zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten, den Angeklagten G. zu einer solchen von drei Jahren.<br />

Ihre Revisionen, mit denen sie die Verletzung formellen <strong>und</strong> materiellen Rechts rügen, bleiben ohne Erfolg. Die<br />

Nachprüfung des Urteils aufgr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigungen hat, wie der Generalb<strong>und</strong>esanwalt in seiner Antragsschrift<br />

vom 22. August 2012 ausgeführt hat, einen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten nicht ergeben.<br />

Der näheren Erörterung bedarf nur die von beiden Beschwerdeführern jeweils erhobene Verfahrensrüge, dass die im<br />

Hauptverhandlungstermin vom 3. Januar 2012 vom Vorsitzenden nach § 249 Abs. 2 StPO getroffenen Feststellungen<br />

zum Selbstleseverfahren keine fristwahrende Sachverhandlung im Sinne des § 229 Abs. 1, 2 <strong>und</strong> 4 Satz 1 StPO darstellten.<br />

1. Den Verfahrensrügen liegt folgender Sachverhalt zugr<strong>und</strong>e:<br />

Der Vorsitzende der Strafkammer verfügte mit Erlass des Eröffnungsbeschlusses <strong>und</strong> Terminsanberaumung, dass<br />

von der Verlesung von 520 in einer „Selbstleseliste“ angeführten Urk<strong>und</strong>en nach § 249 Abs. 2 StPO in der Hauptverhandlung<br />

abgesehen werden solle. Die Selbstleseliste wurde den Verfahrensbeteiligten mit dem Zusatz mitgeteilt,<br />

dass bereits jetzt für die Verteidiger, die Angeklagten <strong>und</strong> den Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft Gelegenheit<br />

bestehe, diese Urk<strong>und</strong>en nach Terminsvereinbarung auf der Geschäftsstelle einzusehen. Im ersten Hauptverhandlungstermin<br />

bestätigten alle Verfahrensbeteiligten, dass sie die Selbstleseliste erhalten hätten. Der Vorsitzende ordnete<br />

bis zum elften Hauptverhandlungstag, dem 20. Dezember 2011, gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO hinsichtlich<br />

weiterer Urk<strong>und</strong>en das Selbstleseverfahren an, darunter auch schriftliche Angaben von Zeugen, deren Verlesung die<br />

Strafkammer gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO mit Zustimmung der Verfahrensbeteiligten zuvor beschlossen hatte. In<br />

dem nachfolgenden Hauptverhandlungstermin am 3. Januar 2012, der von 7.50 Uhr bis 7.55 Uhr dauerte, wurden<br />

zunächst antragsgemäß zwei Pflichtverteidiger anstelle der abwesenden Pflichtverteidiger beigeordnet. Anschließend<br />

erklärten die Schöffen <strong>und</strong> die Berufsrichter jeder für sich, dass sie vom Wortlaut der in der Selbstleseliste genannten<br />

Urk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> der weiteren Urk<strong>und</strong>en, für die im Laufe der Hauptverhandlung das Selbstleseverfahren angeordnet<br />

worden war, durch Lesen Kenntnis genommen hätten. Es wurde des Weiteren festgestellt, dass die übrigen Verfahrensbeteiligten<br />

Gelegenheit hatten, vom Wortlaut all dieser Urk<strong>und</strong>en selbst Kenntnis zu nehmen. Sodann ordnete<br />

der Vorsitzende zusammenfassend an, dass von der Verlesung vorgenannter Urk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Schriftstücke nach „§<br />

249 Abs. 2 Satz 1 StPO“ abgesehen werde. Die Hauptverhandlung wurde danach unterbrochen <strong>und</strong> am 1. Februar<br />

2012 fortgesetzt.<br />

2. Eine Verletzung der Vorschriften über die Höchstdauer der Unterbrechung der Hauptverhandlung gemäß § 229<br />

Abs. 1, 2 <strong>und</strong> 4 Satz 1 StPO liegt nicht vor.<br />

a) Der Senat erachtet die Anordnungen <strong>und</strong> Feststellungen des Vorsitzenden im Hauptverhandlungstermin vom 3.<br />

Januar 2012 zur Durchführung des Selbstleseverfahrens (§ 249 Abs. 2 Sätze 1 <strong>und</strong> 3 StPO) als Sachverhandlung im<br />

Sinne der Unterbrechungsvorschriften. Eine solche liegt vor, wenn die Verhandlung den Fortgang der zur Urteilsfindung<br />

führenden Sachverhaltsaufklärung betrifft (BGH, Urteil vom 11. Juli 2008 – 5 StR 74/08 – <strong>und</strong> Beschluss vom<br />

22. Juni 2011 – 5 StR 190/11, BGHR StPO § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 9 <strong>und</strong> 13 mwN).<br />

b) Entgegen der Entscheidung des 3. Strafsenats des B<strong>und</strong>esgerichtshofs (Beschluss vom 16. Oktober 2007 – 3 StR<br />

254/07, BGHR StPO § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 8) stellen allein die Feststellungen des Vorsitzenden nach § 249<br />

Abs. 2 Satz 3 StPO schon eine inhaltliche Sachverhandlung dar. Die Feststellung, dass außerhalb der Hauptverhandlung<br />

eine Beweiserhebung durch Selbstlesung einer Urk<strong>und</strong>e stattgef<strong>und</strong>en hat, erschöpft sich nicht in deren Protokollierung<br />

(vgl. hierzu Winkler, jurisPR-StrafR 6/2008 Anm. 1), sondern betrifft den Fortgang der zur Urteilsfindung<br />

führenden Sachaufklärung. Die Berufsrichter <strong>und</strong> die Schöffen geben auf Nachfrage des Vorsitzenden regelmäßig –<br />

wie auch hier – die festzustellende Erklärung ab, dass sie vom Wortlaut der Urk<strong>und</strong>e Kenntnis genommen haben;<br />

gleiches gilt für die Erklärung der übrigen Verfahrensbeteiligten, dass sie hierzu Gelegenheit hatten. Erst mit dem<br />

Akt der Feststellung durch den Vorsitzenden ist nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO dieser Teil einer Beweisaufnahme<br />

durch das Selbstleseverfahren abgeschlossen. Die Urk<strong>und</strong>e kann dann zum Gegenstand von Erklärungen (§ 257<br />

StPO) gemacht werden. Dem Tatgericht ist es ohne die abschließende Feststellung verwehrt, die Urk<strong>und</strong>e zur Urteilsfindung<br />

heranzuziehen (§ 261 StPO, vgl. BGH, Beschluss vom 28. Januar 2010 – 5 StR 169/09, BGHSt 55, 31,<br />

32).<br />

c) Der Senat ist – abweichend von den Ausführungen des Generalb<strong>und</strong>esanwalts in der Hauptverhandlung – nicht<br />

gehalten, gemäß § 132 Abs. 2 <strong>und</strong> 3 GVG beim 3. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs anzufragen, ob er an seiner<br />

entgegenstehenden Rechtsauffassung festhält, weil der prozessuale Sachverhalt eine Besonderheit aufweist. Der<br />

Vorsitzende der Strafkammer hat zwar teilweise hinsichtlich in der Hauptverhandlung vorausgegangener Anordnun-<br />

- 216 -


gen des Selbstleseverfahrens die Feststellungen nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO getroffen; eine insoweit auch getroffene<br />

wiederholte Anordnung mag ohne verfahrensrechtlichen Gehalt sein. In Bezug auf die Selbstleseliste lag<br />

aber noch keine Anordnung des Selbstleseverfahrens durch den Vorsitzenden vor, die in der Hauptverhandlung erfolgen<br />

muss, deren Inbegriff (§ 261 StPO) sie mitbestimmt. Die Verfügung des Vorsitzenden in der Terminsanberaumung,<br />

dass von der Verlesung der in dieser Liste angeführten Urk<strong>und</strong>en gemäß § 249 Abs. 2 StPO abgesehen<br />

werden solle, stellt noch keine Anordnung im Sinne dieser Vorschrift, sondern lediglich eine Vorankündigung zur<br />

Verfahrensgestaltung dar (vgl. auch Mosbacher in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 249 Rn. 68, 69). Jedenfalls<br />

insoweit bedurfte es – anders als etwa bei einem Beschluss nach § 247a StPO (vgl. BGH, Beschluss vom 28. September<br />

2011 – 5 StR 315/11, StV 2012, 65) – in der Hauptverhandlung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO neben den<br />

gebotenen Feststellungen im Zusammenhang mit der Kenntnisnahme von den Urk<strong>und</strong>en noch einer Anordnung des<br />

Vorsitzenden. Diese erfolgte ausdrücklich – so dass es auf eine etwa mögliche konkludente Anordnung nicht ankommt<br />

– in dem hier in Streit stehenden Hauptverhandlungstermin vom 3. Januar 2012. Hierdurch unterscheidet sich<br />

der prozessuale Sachverhalt von dem vom 3. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs entschiedenen Fall, in dem die Anordnung<br />

des Selbstleseverfahrens an einem früheren Hauptverhandlungstag getroffen worden war <strong>und</strong> lediglich dessen<br />

Vollzug protokolliert wurde. Dass die Anordnung der Feststellung des Vollzugs des Selbstleseverfahrens durch<br />

Kenntnisnahme <strong>und</strong> Gelegenheit hierzu nicht vorausging, sondern ihr nachfolgte, ist zwar strukturell ungeschickt<br />

(vgl. BGH, Beschluss vom 28. August 2012 – 5 StR 251/12, NJW 2012, 3319, zum Abdruck in BGHSt bestimmt),<br />

indes unschädlich (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Januar 2012 – 1 StR 587/11, NStZ 2012, 346, 347). Die Anordnung<br />

des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO stellt unzweifelhaft eine Sachverhandlung dar, in gleicher<br />

Weise wie eine Beweisanordnung (vgl. BGH, Urteil vom 19. April 2000 – 3 StR 442/99, NJW 2000, 2754:<br />

Beauftragung eines Sachverständigen), die Entgegennahme von die Sachverhaltsaufklärung betreffenden Verteidigeranträgen<br />

(BGH, Beschluss vom 6. Juli 2000 – 5 StR 613/99, BGHR StPO § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 5) oder<br />

die Ladung von Zeugen nach einem gestellten Beweisantrag (BGH, Urteil vom 19. August 2010 – 3 StR 98/10,<br />

BGHR StPO § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 11). Allein die kurze Dauer des Termins am 3. Januar 2012 steht bei<br />

dem inhaltlichen Gehalt der Verhandlung der Annahme einer Sachverhandlung nicht entgegen (vgl. BGH, Beschlüsse<br />

vom 7. April 2011 – 3 StR 61/11 – <strong>und</strong> vom 22. Juni 2011 – 5 StR 190/11, BGHR StPO § 229 Abs. 1 Sachverhandlung<br />

12 <strong>und</strong> 13).<br />

StPO § 244 Aufklärungspflicht . Beweisantragsrecht s.u. Schwerpunktthemen<br />

StPO § 249 Abs. 2 Satz 2, § 337 Abs. 1 Selbsrtleseverfahren Widerspruch –kein Beschluss<br />

BGH, Beschl. v. 28.08.2012 - 5 StR 251/12 - BGHSt 57, 306 = NJW 2012, 3319 = NStZ 2012, 708 = StV 2013, 71 =<br />

JS 2013, 380 = BGHR StPO § 249 II Selbstleseverfahren 7<br />

LS: Unterbliebener Gerichtsbeschluss bei Widerspruch gegen die Anordnung des Selbstleseverfahrens<br />

<strong>und</strong> Beruhen.<br />

Der 5. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat am 28. August 2012 beschlossen: Die Revisionen der Angeklagten<br />

gegen das Urteil des Landgerichts Dresden vom 6. Dezember 2011 werden nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet<br />

verworfen. Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten A. wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht<br />

geringer Menge in drei Fällen <strong>und</strong> wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer<br />

Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren <strong>und</strong> acht Monaten verurteilt. Die Angeklagten V. <strong>und</strong> J. O. hat es jeweils<br />

wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe<br />

von sechs Jahren <strong>und</strong> zehn Monaten verurteilt. Gegen alle Angeklagten ist Wertersatzverfall angeordnet<br />

worden. Die gegen dieses Urteil gerichteten, mit der Sachrüge <strong>und</strong> von A. zudem mit Verfahrensrügen<br />

begründeten Revisionen der Angeklagten sind unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Der Erörterung bedarf<br />

nur die auf die Verletzung des § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO gestützte Verfahrensrüge des Angeklagten A. .<br />

- 217 -


1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugr<strong>und</strong>e: Nachdem der Vorsitzende zunächst bekannt gegeben<br />

hatte, dass beabsichtigt sei, bestimmte – in einer Liste im Einzelnen bezeichnete – Wortprotokolle der überwachten<br />

Telefongespräche sowie Observationsberichte im Wege des Selbstleseverfahrens in die Hauptverhandlung einzuführen,<br />

widersprach der Verteidiger des Angeklagten A. der beabsichtigten Einführung der Protokolle aus den Erkenntnissen<br />

der Telefonüberwachung <strong>und</strong> kündigte mit spezifischen Einwänden gegen deren Aufnahmequalität „für den<br />

Fall der Anordnung des Selbstleseverfahrens Widerspruch an“. Nachdem der Vorsitzende den Prozessbeteiligten<br />

eine weitere Liste der Urk<strong>und</strong>en überreicht hatte, deren Einführung im Selbstleseverfahren beabsichtigt war, widersprach<br />

ein weiterer Verteidiger im Folgetermin gemäß § 249 Abs. 2 StPO ausdrücklich der Einführung der im Einzelnen<br />

benannten Urk<strong>und</strong>en im Selbstleseverfahren. Ohne die Widersprüche zu bescheiden, wurde dann mit den<br />

Prozessbeteiligten erörtert, welche Urk<strong>und</strong>en im Selbstleseverfahren eingeführt werden sollten. Anschließend wurde<br />

festgestellt, dass die Angeklagten, die Verteidiger <strong>und</strong> der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft Gelegenheit hatten,<br />

die in den Anlagen näher bezeichneten Urk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Schriftstücke zu lesen. Die Schöffen <strong>und</strong> Berufsrichter<br />

erklärten ausdrücklich, dass sie diese Urk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Schriftstücke bereits gelesen hätten. Sodann erging die Verfügung<br />

des Vorsitzenden, dass hinsichtlich dieser Urk<strong>und</strong>en auf die Verlesung verzichtet <strong>und</strong> gemäß § 249 Abs. 2<br />

StPO das Selbstleseverfahren angeordnet werde. Nachdem anschließend festgestellt worden war, dass der Angeklagte<br />

V. O. tatsächlich noch keine Gelegenheit gehabt hatte, die Urk<strong>und</strong>en zu lesen, wurde die Aushändigung der Urk<strong>und</strong>en<br />

an ihn veranlasst. Im nächsten Hauptverhandlungstermin wiederholte der Vorsitzende die Feststellung <strong>und</strong><br />

ordnete in der gleichen Weise wie bereits am vorangegangenen Verhandlungstag nochmals das Selbstleseverfahren<br />

an. Eine Entscheidung über den Widerspruch der Verteidigung des Angeklagten A. gegen die Durchführung des<br />

Selbstleseverfahrens erging bis zur Urteilsverkündung nicht.<br />

2. Die zulässige Rüge hat in der Sache letztlich keinen Erfolg. Gegenstand dieser Rüge ist nicht etwa die Frage eines<br />

Vorrangs der Augenscheinseinnahme bezogen auf abgehörte Gespräche vor deren Einführung durch Urk<strong>und</strong>enverlesung,<br />

sondern allein die Art <strong>und</strong> Weise der Einführung durch Urk<strong>und</strong>enbeweis.<br />

a) Der Beschwerdeführer beanstandet mit Recht einen Verstoß bei der Anordnung des Selbstleseverfahrens. Über<br />

den Widerspruch des Verteidigers ist nicht durch Gerichtsbeschluss entschieden worden. Dies war nach § 249 Abs. 2<br />

Satz 2 StPO geboten, <strong>und</strong> zwar ungeachtet dessen, dass der Widerspruch hier bereits vor der eigentlichen Vorsitzendenanordnung,<br />

indes nach deren ausdrücklicher Ankündigung erhoben worden ist. Dies gilt jedenfalls angesichts der<br />

strukturell allzu spät erst nach Feststellung der Selbstlesemodalitäten getroffenen ausdrücklichen Vorsitzendenanordnung.<br />

Dass der klar <strong>und</strong> unbedingt, nicht etwa nur vorläufig erklärte <strong>und</strong> später ausweislich des Revisionsvorbringens<br />

weder in Frage gestellte noch gar zurückgenommene Widerspruch nach Erlass der schließlich allein vom Vorsitzenden<br />

getroffenen Anordnung des Selbstleseverfahrens nicht wiederholt worden ist, begründet bei dem hier gegebenen<br />

Verfahrensablauf nicht etwa einen Verlust der Revisionsrüge.<br />

b) Der durch das Unterbleiben eines Gerichtsbeschlusses trotz Widerspruchs gegen die Anordnung des Selbstleseverfahrens<br />

begründete Verstoß gegen § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO kann gr<strong>und</strong>sätzlich mit der Revision gerügt werden.<br />

Entgegen einer verbreiteten Ansicht im Schrifttum (vgl. etwa Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 249 Rn. 31; Mosbacher<br />

in LR-StPO, 26. Aufl., § 249 Rn. 110; Frister in SK-StPO, 4. Aufl., § 249 Rn. 116; Eisenberg, Beweisrecht der<br />

StPO, 7. Aufl., Rn. 2069) ist auch nicht regelmäßig auszuschließen, dass das Urteil auf einem solchen Verstoß beruht.<br />

Vielmehr ist stets die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass aufgr<strong>und</strong> des Gerichtsbeschlusses vom Selbstleseverfahren<br />

Abstand genommen worden wäre. Da der gemäß § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO erhobene Widerspruch lediglich<br />

das Absehen von der Verlesung – mithin die Art der Beweiserhebung <strong>und</strong> nicht die Verwertung der Urk<strong>und</strong>en<br />

als solche – betrifft, ist mit dem Revisionsvortrag bei der Beruhensprüfung darauf abzustellen, ob ausgeschlossen<br />

werden kann, dass für den Fall alternativer Verlesung nach § 249 Abs. 1 StPO der in dem mangelhaft angeordneten<br />

Selbstleseverfahren eingeführten Urk<strong>und</strong>en ein abweichendes Beweisergebnis denkbar wäre, <strong>und</strong> zwar namentlich<br />

infolge hierbei erhobener erheblicher Einwände von Verfahrensbeteiligten. Eine derartige Prüfung vermag nicht<br />

ohne weiteres stets einen Ausschluss des Beruhens des Urteils auf dem Verstoß zu rechtfertigen. Bereits aus dem<br />

unter anderem in §§ 250, 261, 264 StPO zum Ausdruck kommenden Prinzip der Mündlichkeit der Beweisaufnahme,<br />

das auch gewährleisten soll, dass der Prozessstoff den Beteiligten zur Kenntnis gebracht <strong>und</strong> zur Diskussion gestellt<br />

wird (vgl. hierzu etwa Pfeiffer/Hannich in KK-StPO, 6. Aufl., Einl. Rn. 8), lässt sich der Ausnahmecharakter des<br />

Selbstleseverfahrens – gegenüber dem Regelfall der Urk<strong>und</strong>enverlesung in der Hauptverhandlung gemäß § 249 Abs.<br />

1 StPO – ableiten. Dieser findet in der speziell für das Selbstleseverfahren als besondere Form der Einführung von<br />

Urk<strong>und</strong>en geregelten Widerspruchsmöglichkeit <strong>und</strong> dem durch den Widerspruch begründeten Erfordernis eines<br />

Gerichtsbeschlusses seinen gesetzlichen Ausdruck. Vor dem Hintergr<strong>und</strong> dieser gesetzlichen Wertung ist gr<strong>und</strong>sätz-<br />

- 218 -


lich davon auszugehen, dass die Verlesung jenseits prozessökonomischer Erwägungen die im Vergleich zum Selbstleseverfahren<br />

vorzugswürdige Methode der Einführung von Beweisstoff in die Hauptverhandlung darstellt. Dies<br />

dürfte letztlich auch der Vorstellung des historischen Gesetzgebers entsprechen. Zwar war das Selbstleseverfahren<br />

im Gesetzgebungsverfahren, wonach unter anderem die bis dahin geltende Voraussetzung des Verzichts aller Prozessbeteiligten<br />

auf die Urk<strong>und</strong>enverlesung gestrichen wurde, ursprünglich als gleichwertige Alternative zu der Verlesung<br />

in der Hauptverhandlung konzipiert (vgl. Regierungsentwurf BT-Drucks. 10/1313 S. 28). In der Begründung<br />

der dann Gesetz gewordenen Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, durch die die Widerspruchsmöglichkeit<br />

in den Entwurf eingebracht wurde, wird jedoch darauf abgestellt, dass „der Staatsanwaltschaft, dem Angeklagten <strong>und</strong><br />

dem Verteidiger eine formalisierte Einflussnahme auf die Entscheidung darüber, ob von der Verlesung abgesehen<br />

werden soll, weiterhin ermöglicht werden sollte“ (BT-Drucks. 10/6592 S. 22). Mit der Einfügung des § 249 Abs. 2<br />

Satz 2 StPO in den ursprünglichen Entwurf hat der Gesetzgeber somit am Ausnahmecharakter des Selbstleseverfahrens<br />

festgehalten <strong>und</strong> einer mit ihm verb<strong>und</strong>enen gewissen Beeinträchtigung der Teilhaberechte von Verfahrensbeteiligten<br />

Rechnung getragen. Dementsprechend hat auch der B<strong>und</strong>esgerichtshof schon zum Ausdruck gebracht, dass<br />

mit dem Selbstleseverfahren potentielle Einbußen der Qualität des Urk<strong>und</strong>enbeweises verb<strong>und</strong>en sind, die der Gesetzgeber<br />

allerdings in Kauf genommen hat <strong>und</strong> die daher von den Verfahrensbeteiligten prinzipiell zu akzeptieren<br />

sind (BGH, Beschluss vom 14. September 2010 – 3 StR 131/10, Rn. 13, NStZ-RR 2011, 20). Neben normativen<br />

Überlegungen streiten auch rein tatsächliche Erwägungen dafür, ein Beruhen des Urteils auf einem Verstoß gegen §<br />

249 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht von vornherein als ausgeschlossen anzusehen. Eine Verlesung in der Hauptverhandlung<br />

kann den Verfahrensbeteiligten eine Chance geben, eher zu erkennen, welchen Urk<strong>und</strong>en oder Urk<strong>und</strong>eninhalten<br />

das Gericht besondere Bedeutung beimisst. Insbesondere ergibt sich durch die Verlesung die Gelegenheit für<br />

Erörterungen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Einführung des jeweiligen Beweismittels (vgl. Krahl, GA<br />

1998, 329, 336). Schwächen des Selbstleseverfahrens werden auch nicht etwa durch – jenseits des freilich in vielen<br />

Umfangsverfahren besonders wichtigen Gesichtspunkts der Prozessökonomie – denkbare Vorteile gegenüber dem<br />

Verlesen in der Hauptverhandlung ausgeglichen. Denn es bleibt neben den Richtern auch dem Staatsanwalt, dem<br />

Verteidiger <strong>und</strong> dem Angeklagten in der Regel unbenommen, in der Hauptverhandlung verlesene Urk<strong>und</strong>en selbst<br />

noch einmal zu lesen.<br />

c) Im zu entscheidenden Fall kann gleichwohl ausgeschlossen werden, dass das Urteil auf dem gerügten Verstoß<br />

beruht. Dies kann zwar nicht schon daraus gefolgert werden, dass in der Revisionsbegründung nicht angegeben ist, in<br />

welcher Weise sich die Art der Beweiserhebung, also die Einführung der dem Urteil zugr<strong>und</strong>e liegenden Urk<strong>und</strong>en<br />

im Selbstleseverfahren statt durch Verlesung, auf das Beweisergebnis ausgewirkt hat <strong>und</strong> welche anderweitigen<br />

Erkenntnisse im Fall des Verlesens zu gewinnen gewesen wären (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Januar 2010 – 1 StR<br />

587/09, Rn. 28, StV 2012, 74). In Anbetracht der im Urteil der Beweiswürdigung zugr<strong>und</strong>e gelegten Urk<strong>und</strong>eninhalte<br />

ist indessen nicht ansatzweise ersichtlich, wie eine Verlesung in der Hauptverhandlung zu einer anderen Bewertung<br />

der eingeführten Telefongespräche <strong>und</strong> Observationsberichte hätte führen sollen. Insbesondere angesichts der<br />

Vielzahl der aus diesen gewonnenen Indizien, für die es durchweg auf Formulierungsdetails nicht angekommen ist,<br />

ist nicht vorstellbar, dass diese seitens der Strafkammer nach Verlesung in der Hauptverhandlung anders als geschehen<br />

hätten bewertet werden können oder dass der Angeklagte durch Aufdeckung von Missverständnissen oder die<br />

Abgabe von entlastenden Erklärungen für das dokumentierte Verhalten die Schlussfolgerungen der Strafkammer<br />

ernsthaft hätte in Frage stellen können. Insoweit fällt zusätzlich ins Gewicht, dass die durch die im Selbstleseverfahren<br />

eingeführten Urk<strong>und</strong>en gewonnenen Erkenntnisse zu einem erheblichen Teil durch Zeugenaussagen, im Fall II.4<br />

der Urteilsgründe auch durch objektive Beweismittel maßgeblich gestützt werden.<br />

StPO § 252, 52, 251 Abs. 2 Nr. 3, 273 Abs. 1 Verwertuungsverbot<br />

BGH, Beschl. v. 13.06.2012 - 2 StR 112/12 - BGHSt 57, 254 = NJW 2012, 3192 = StV 2012, 705 = StraFo 2012, 405<br />

= BGHR StPO § 252 Verwertungsverbot 25 = BGHR StPO § 274 Beweiskraft 34 = BGHR StPO § 344 II 2 Verwertungsverbot<br />

10<br />

LS: 1. Die Zulässigkeit der Verfahrensrüge eines Verstoßes gegen § 252 StPO setzt nicht den Vortrag<br />

voraus, der zeugnisverweigerungsberechtigte Zeuge habe nicht nach qualifizierter Belehrung<br />

auf das Verwertungsverbot verzichtet.<br />

- 219 -


2. Die qualifizierte Belehrung über Möglichkeit <strong>und</strong> Rechtsfolgen eines Verzichts auf das Verwertungsverbot<br />

gemäß § 252 StPO sowie die daraufhin abgegebene Verzichtserklärung eines zeugnisverweigerungsberechtigten<br />

Zeugen sind als wesentliche Förmlichkeiten des Verfahrens in das<br />

Hauptverhandlungsprotokoll aufzunehmen (§ 273 Abs. 1 StPO).<br />

3. Ist auf das Verwertungsverbot aus § 252 StPO wirksam verzichtet worden, ist die frühere Aussage<br />

des zeunisverweigerungsberechtigten Zeugen nach allgemeinen Regeln verwertbar; dies schließt<br />

eine Verlesung gemäß § 251 Abs. 2 Nr. 3 StPO ein.<br />

Der 2. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalb<strong>und</strong>esanwalts <strong>und</strong> des Beschwerdeführers<br />

am 13. Juni 2012 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen: Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des<br />

Landgerichts Gera vom 10. November 2011 aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist. Die Sache<br />

wird im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels,<br />

an eine andere Strafkammer - Jugendschutzkammer - des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 111 Fällen, jeweils in<br />

Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren verurteilt<br />

<strong>und</strong> ihn im Übrigen - vom Vorwurf einer Vielzahl weiterer Fälle - freigesprochen. Seine Revision hat mit einer Verfahrensrüge<br />

Erfolg; auf die ebenfalls ausgeführte Sachrüge kommt es nicht an.<br />

1. Der Verfahrensrüge einer Verletzung von § 252 StPO liegt folgender Verfahrenssachverhalt zugr<strong>und</strong>e: Das Landgericht<br />

hat am 3. Tag der Hauptverhandlung die Zeuginnen S. L. <strong>und</strong> M. L., die nach den Urteilsfeststellungen geschädigten<br />

Töchter des Angeklagten, vernommen. Beide Zeuginnen wurden gemäß § 52 StPO über ihr Zeugnisverweigerungsrecht<br />

belehrt <strong>und</strong> verweigerten sodann unter Berufung auf dieses Recht die Aussage. Nach Entlassen der<br />

Zeuginnen ist im Hauptverhandlungsprotokoll jeweils vermerkt: "Der Vorsitzende erläutert den Verfahrensbeteiligten<br />

die Sach- <strong>und</strong> Rechtslage sowie den weiteren Verfahrensfortgang." Im Anschluss daran erklärten der Angeklagte,<br />

sein Verteidiger sowie der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft jeweils, sie seien mit der Verlesung der richterlichen<br />

Vernehmung der Zeuginnen einverstanden. Dies wurde jeweils durch Beschlüsse des Landgerichts angeordnet.<br />

Die Verlesung wurde ausgeführt; auf den Inhalt der Vernehmungen ist die Verurteilung des Angeklagten gestützt. In<br />

den Urteilsgründen hat das Landgericht ausgeführt: "Die richterlichen Aussagen wurden im Einvernehmen aller<br />

Beteiligten verlesen, da die beiden Frauen (…) von ihrem (…) Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht haben.<br />

Beiden Zeuginnen war dabei sehr wohl bewusst <strong>und</strong> bekannt, dass dann gleichwohl ihre Angaben, die sie zuvor<br />

vor dem jeweiligen Ermittlungsrichter gemacht hatten, in die Hauptverhandlung eingeführt werden können <strong>und</strong> auch<br />

eingeführt werden."<br />

2. Die hiergegen gerichtete Verfahrensrüge einer Verletzung des § 252 StPO ist entgegen der Ansicht des Generalb<strong>und</strong>esanwalts<br />

nicht unzulässig. Dieser hat ausgeführt, § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO hätte den Vortrag des Revisionsführers<br />

verlangt, dass die Zeuginnen auf das Beweisverwertungsverbot des § 252 StPO nicht wirksam verzichtet<br />

hatten. Der Senat teilt diese Ansicht nicht. Aus § 252 StPO ergibt sich, wenn ein Zeuge unter Berufung auf sein<br />

Zeugnisverweigerungsrecht in der Hauptverhandlung die Aussage verweigert, gr<strong>und</strong>sätzlich ein umfassendes Verwertungsverbot<br />

(vgl. BGHSt 29, 230, 232; 32, 25, 29). Eine Ausnahme gilt nach ständiger Rechtsprechung insoweit<br />

nur für eine Vernehmung eines Richters als Zeuge über eine frühere Aussage der Auskunftsperson, wenn diese bei<br />

jener früheren Vernehmung über ihr Zeugnisverweigerungsrecht ordnungsgemäß belehrt worden war (BGHSt 32,<br />

25, 29; 36, 384, 385; 46, 189, 195; st. Rspr.). Weitergehend erlaubt der B<strong>und</strong>esgerichtshof in ständiger Rechtsprechung<br />

eine Verwertung früherer Aussagen, wenn der verweigerungsberechtigte Zeuge nach ausdrücklicher, qualifizierter<br />

Belehrung hierüber mitteilt, er mache von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch, gestatte jedoch die<br />

Verwertung jener früheren Aussage (BGHSt 45, 203; BGH NStZ 2007, 352; vgl. dazu Meyer-Goßner, StPO, 55.<br />

Aufl., § 252 Rn. 16a m.zahlr.Nachw.). Es handelt sich insoweit folglich um eine in der Rechtsprechung entwickelte<br />

eng begrenzte Ausnahme von dem gesetzlichen Verwertungsverbot. Nach Ansicht des Senats würde es die Regelung<br />

des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO unzulässig überdehnen, für die Zulässigkeit der Geltendmachung eines Verstoßes gegen<br />

§ 252 StPO den Vortrag einer Negativtatsache durch den Revisionsführer zu verlangen, wonach die Voraussetzungen<br />

dieser Ausnahme nicht gegeben sind.<br />

3. Die Rüge ist auch begründet. Da die früheren richterlichen Aussagen der beiden Zeuginnen nicht durch Vernehmung<br />

des Richters, sondern durch Verlesung eingeführt wurden, wäre hierzu ein ausdrücklicher Verzicht der Zeuginnen<br />

auf das Verwertungsverbot gemäß § 252 StPO erforderlich gewesen. Hieran fehlt es. Durch den Inhalt des<br />

- 220 -


Hauptverhandlungsprotokolls ist bewiesen, dass eine qualifizierte Belehrung der Zeuginnen S. <strong>und</strong> M. L. nicht erfolgte<br />

<strong>und</strong> dass diese auch nicht ausdrücklich ihr Einverständnis mit der Verwertung ihrer Aussagen erklärt haben.<br />

Hierbei handelt es sich um wesentliche Förmlichkeiten des Verfahrens (§ 273 Abs. 1 StPO); das Schweigen des<br />

Protokolls beweist, dass sie nicht stattgef<strong>und</strong>en haben. Diese Verfahrenstatsachen werden auch nicht dadurch ersetzt,<br />

dass das Landgericht in den Urteilsgründen ausgeführt hat, den Zeuginnen sei "bewusst <strong>und</strong> bekannt" gewesen, dass<br />

ihre frühere Vernehmung verwertet werden würde (UA S. 17). Im Hinblick auf den Ausnahmecharakter der Zulässigkeit<br />

einer Verwertung früherer Aussagen trotz gegenwärtiger Zeugnisverweigerung wäre es nicht angezeigt, die<br />

für diesen Fall von der Rechtsprechung entwickelten strengen Förmlichkeiten aufzuweichen <strong>und</strong> schon ein allgemeines,<br />

vom Tatrichter in den Urteilsgründen dargelegtes "Bewusstsein" des Zeugen von einer Verwertungsmöglichkeit<br />

ausreichen zu lassen.<br />

4. Auch die Erklärung des "Einvernehmens" aller Beteiligten (UA S. 17) mit der Verlesung der Niederschriften der<br />

richterlichen Aussagen konnte die Verzichtserklärungen nach qualifizierter Belehrung nicht ersetzen. Eine solche<br />

Erklärung gemäß § 251 Abs. 2 Nr. 3 StPO ist zwar gr<strong>und</strong>sätzlich möglich, wenn durch eine Verzichtserklärung des<br />

zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen die Schwelle des § 252 StPO überw<strong>und</strong>en <strong>und</strong> eine Verwertung daher -<br />

nach allgemeinen Regeln - zulässig ist. Die Einverständniserklärung nach § 251 Abs. 2 Nr. 3 StPO kann aber die<br />

Erklärung eines Verzichts auf das Verwertungsverbot nach qualifizierter Belehrung nicht ersetzen. Das ergibt sich<br />

schon daraus, dass § 251 Abs. 2 Nr. 3 StPO ein Einverständnis des betroffenen Zeugen nicht voraussetzt. Daher<br />

wurde vorliegend über die Verlesung der Vernehmungsprotokolle folgerichtig erst jeweils nach Entlassung der Zeuginnen<br />

beraten <strong>und</strong> entschieden.<br />

5. Das Urteil war auf die Verfahrensrüge insgesamt aufzuheben, so dass es auf die Sachrüge nicht mehr ankommt.<br />

Insoweit weist der Senat darauf hin, dass der Generalb<strong>und</strong>esanwalt zutreffend das Fehlen einer von Tatsachen getragenen<br />

Gr<strong>und</strong>lage für die Feststellung der Taten 52 bis 111 zu Lasten der Geschädigten M. L. bemängelt hat. Den<br />

Urteilsgründen ist nicht zu entnehmen, dass die Schätzung des Landgerichts, es sei zu insgesamt mindestens 60 Taten<br />

gekommen, auf einer hinreichenden Tatsachengr<strong>und</strong>lage beruht.<br />

StPO § 257c – Urteilsabsprachen s.u. Schwerpunktthema<br />

StPO § 261, § 267 Abs. 1 Satz 2 Beweiswürdigung bei einem DANN-Gutachten<br />

BGH, Urt. v. 21.03.2013 - 3 StR 247/12 - NStZ 2013, 420<br />

LS: 1. Ob sich das Tatgericht allein aufgr<strong>und</strong> der Übereinstimmung von DNA-<br />

Identifizierungsmustern von der Täterschaft eines Angeklagten zu überzeugen vermag, ist vorrangig<br />

- wie die Beweiswürdigung ansonsten auch - ihm selbst überlassen. Im Einzelfall kann es revisionsrechtlich<br />

sowohl hinzunehmen sein, dass sich das Tatgericht eine entsprechende Überzeugung<br />

bildet, als auch, dass es sich dazu aufgr<strong>und</strong> vernünftiger Zweifel nicht in der Lage sieht.<br />

2. Zum notwendigen Darlegungsumfang von DNA-Vergleichsuntersuchungen im Urteil.<br />

Der 3. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat in der Sitzung am 21. März 2013 für Recht erkannt: Die Revision des<br />

Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Duisburg vom 2. März 2012 wird verworfen. Der Beschwerdeführer<br />

hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit Körperverletzung unter<br />

Einbeziehung der Strafen aus drei früheren Urteilen <strong>und</strong> Auflösung dort gebildeter Gesamtstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe<br />

von sechs Jahren <strong>und</strong> zehn Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf die allgemeine Sachbeschwerde<br />

gestützte Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg.<br />

I. Das Landgericht hat im Wesentlichen die folgenden Feststellungen <strong>und</strong> Wertungen getroffen:<br />

Der Angeklagte suchte am Morgen des 6. Mai 2009 einen Autohandel in Duisburg auf, um dessen Inhaber T. unter<br />

Verwendung eines Elektroschockgeräts zu berauben. Während vermeintlicher Verkaufsverhandlungen ging der Angeklagte<br />

auf den halb abgewandt stehenden T. zu <strong>und</strong> führte das eingeschaltete Elektroschockgerät in dessen Rich-<br />

- 221 -


tung. Da der Angegriffene sich wehrte, versetzte ihm der Angeklagte im Rahmen eines Kampfes schließlich<br />

Kniestöße ins Gesicht, die zu Frakturen des Nasenbeins sowie der Nasenhöhle führten <strong>und</strong> den Geschädigten kampfunfähig<br />

machten. Der Angeklagte entnahm sodann aus dessen Hosentaschen 3.600 €. Zudem nahm er die Jacke des<br />

Opfers an sich, in der sich ein Portemonnaie mit Bargeld befand. Der Angeklagte hat sich zum Tatvorwurf nicht<br />

eingelassen. Zu seiner Täterschaft hat das Landgericht im Urteil ausgeführt, dass diese sich aus den DNA-Spuren<br />

ergebe, die an der Nylonschlaufe <strong>und</strong> der Batterie des vom Täter mitgebrachten Elektroschockgeräts sowie an einem<br />

vom Täter berührten Autoschlüssel festgestellt worden seien. Nach näherer Darstellung der jeweils acht untersuchten<br />

Merkmalsysteme hat die Strafkammer den Schluss gezogen, dass der Angeklagte der Spurenverursacher gewesen<br />

sei, da das für ihn bestimmte DNA-Identifizierungsmuster statistisch unter mehr als zehn Milliarden Personen kein<br />

zweites Mal vorkomme.<br />

II. Die Nachprüfung des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des<br />

Angeklagten ergeben. Der näheren Erörterung bedarf, dass das Landgericht seine Überzeugung von der Täterschaft<br />

des Angeklagten allein auf die Übereinstimmung von DNA-Merkmalen gestützt hat. Die Würdigung der Beweise ist<br />

vom Gesetz dem Tatgericht übertragen (§ 261 StPO), das sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung<br />

ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden hat. Dazu kann es zu seiner Überzeugungsbildung<br />

auch allein ein Beweisanzeichen heranziehen (vgl. hinsichtlich Fingerabdrücken bereits BGH, Urteil<br />

vom 11. Juni 1952 - 3 StR 229/52, juris Rn. 4 ff.; zu Schriftsachverständigengutachten BGH, Beschluss vom 24. Juni<br />

1982 - 4 StR 183/82, NJW 1982, 2882, 2883). Das Revisionsgericht ist demgegenüber auf die Prüfung beschränkt,<br />

ob die Beweiswürdigung des Tatrichters mit Rechtsfehlern behaftet ist, etwa weil sie Lücken oder Widersprüche<br />

aufweist, mit den Denkgesetzen oder gesichertem Erfahrungswissen nicht in Einklang steht oder sich so weit von<br />

einer festen Tatsachengr<strong>und</strong>lage entfernt, dass die gezogenen Schlussfolgerungen sich letztlich als reine Vermutungen<br />

erweisen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 6. Dezember 2007 - 3 StR 342/07, NStZ-RR 2008, 146, 147 mwN;<br />

vom 26. Juli 1990 - 4 StR 301/90, BGHR StGB § 306 Beweiswürdigung 3 mwN). Dabei gehören von gesicherten<br />

Tatsachenfeststellungen ausgehende statistische Wahrscheinlichkeitsrechnungen zu den Mitteln der logischen<br />

Schlussfolgerung, welche dem Tatrichter gr<strong>und</strong>sätzlich ebenso offenstehen wie andere mathematische Methoden<br />

(BGH, Urteil vom 14. Dezember 1989 - 4 StR 419/89, BGHSt 36, 320, 325). Nach diesen Prüfungsmaßstäben ist die<br />

Beweiswürdigung nicht zu beanstanden.<br />

1. Die hier festgestellte Übereinstimmung zwischen den Allelen des Angeklagten <strong>und</strong> auf Tatortspuren festgestellten<br />

Allelen in den acht untersuchten Systemen bietet angesichts der statistischen Häufigkeit des beim Angeklagten gegebenen<br />

DNA-Identifizierungsmusters eine ausreichende Tatsachengr<strong>und</strong>lage für die Überzeugungsbildung des Tatgerichts.<br />

Dabei ist davon auszugehen, dass es sich bei der Merkmalswahrscheinlichkeit (oder Identitätswahrscheinlichkeit)<br />

lediglich um einen statistischen Wert handelt. Dieser gibt keine empirische Auskunft darüber, wie viele Menschen<br />

tatsächlich eine identische Merkmalkombination aufweisen, sondern sagt lediglich etwas dazu aus, mit welcher<br />

Wahrscheinlichkeit aufgr<strong>und</strong> statistischer, von einer beschränkten Datenbasis ausgehender Berechnungen zu<br />

erwarten ist, dass eine weitere Person die gleiche Merkmalkombination aufweist. Diese Wahrscheinlichkeit lässt sich<br />

für die Bewertung einer festgestellten Merkmalsübereinstimmung heranziehen. Je geringer die Wahrscheinlichkeit<br />

ist, dass zufällig eine andere Person identische Merkmale aufweist, desto höher kann das Tatgericht den Beweiswert<br />

einer Übereinstimmung einordnen <strong>und</strong> sich - gegebenenfalls allein aufgr<strong>und</strong> der Übereinstimmung - von der Täterschaft<br />

überzeugen (vgl. einerseits BGH, Urteil vom 12. August 1992 - 5 StR 239/92, BGHSt 38, 320, 324: Wahrscheinlichkeit<br />

von 1 : 6.937 reicht allein zum Nachweis der Täterschaft nicht aus; andererseits BGH, Beschluss vom<br />

21. Januar 2009 - 1 StR 722/08, NJW 2009, 1159: Seltenheitswert im Millionenbereich, im konkreten Fall 1 : 256<br />

Billiarden, kann ausreichen; vgl. dazu auch BGH, Beschluss vom 12. Oktober 2011 - 2 StR 362/11, NStZ 2012, 403,<br />

404; zur Vaterschaftsfeststellung BGH, Urteil vom 12. Januar 1994 - XII ZR 155/92, NJW 1994, 1348, 1349). Dass<br />

sich auch bei einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit (selbst im Milliarden- oder Billionenbereich) wegen der statistischen<br />

Herangehensweise die Spurenverursachung durch eine andere Person niemals völlig ausschließen lässt, hindert<br />

das Tatgericht nicht daran, seine Überzeugungsbildung gegebenenfalls allein auf die DNA-Spur zu stützen; denn<br />

eine mathematische, jede andere Möglichkeit ausschließende Gewissheit ist für die Überzeugungsbildung nicht erforderlich<br />

(vgl. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2012 - VI ZR 132/10, juris Rn. 8; Urteil vom 20. September 2011 -<br />

1 StR 120/11, NStZ-RR 2012, 72, 73 mwN). Vielmehr genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an<br />

Sicherheit, das vernünftige Zweifel nicht aufkommen lässt. Ob sich das Tatgericht allein aufgr<strong>und</strong> einer Merkmalübereinstimmung<br />

mit einer entsprechenden Wahrscheinlichkeit von der Täterschaft zu überzeugen vermag, ist mithin<br />

vorrangig - wie die Beweiswürdigung ansonsten auch - ihm selbst überlassen (vgl. allgemein zur Bewertung des<br />

- 222 -


Beweiswerts einer DNA-Analyse durch das Tatgericht BVerfG, Beschluss vom 18. September 1995 - 2 BvR 103/92,<br />

NJW 1996, 771, 773 mwN; weitergehend zum Beweiswert BVerfG, Beschluss vom 14. Dezember 2000 - 2 BvR<br />

1741/99 u.a., BVerfGE 103, 21, 32). Im Einzelfall kann es revisionsrechtlich sowohl hinzunehmen sein, dass sich<br />

das Tatgericht eine entsprechende Überzeugung bildet, als auch, dass es sich dazu aufgr<strong>und</strong> vernünftiger Zweifel<br />

nicht in der Lage sieht. Dem stehen die Urteile des 5. Strafsenats vom 21. August 1990 (5 StR 145/90, BGHSt 37,<br />

157, 159) <strong>und</strong> 12. August 1992 (5 StR 239/92, BGHSt 38, 320, 322 ff.) nicht entgegen. Zum einen gingen die Entscheidungen<br />

insbesondere hinsichtlich der Anzahl der (damals lediglich drei) untersuchten Merkmale <strong>und</strong> des Stands<br />

der Untersuchungsabläufe von anderen Gr<strong>und</strong>lagen aus. Zum anderen ist ihnen kein allgemeiner Rechtssatz zu entnehmen,<br />

dass das Ergebnis einer DNA-Analyse niemals allein zur Überzeugungsbildung von der Täterschaft ausreichen<br />

könne. Vielmehr weisen die Urteile darauf hin, dass einem Analyseergebnis kein unumstößlicher Beweiswert<br />

zukomme, der eine Gesamtschau der gegebenenfalls weiter vorhandenen be- <strong>und</strong> entlastenden Indizien entbehrlich<br />

mache. Dass dem Tatgericht generell versagt ist, dem als bedeutsames Indiz zu wertenden Untersuchungsergebnis<br />

die maßgebliche oder alleinige Bedeutung bei der Überzeugungsbildung beizumessen, ergibt sich daraus nicht. Hiervon<br />

ist auch der Senat in einer früheren Entscheidung (BGH, Beschluss vom 6. März 2012 - 3 StR 41/12, BGHR<br />

StPO § 261 Identifizierung 21) nicht ausgegangen. Vielmehr hat er im Anschluss an die vorgenannte Rechtsprechung<br />

hervorgehoben, dass das Ergebnis eines DNA-Vergleichsgutachtens lediglich ein Indiz darstelle, das jedoch<br />

hinsichtlich der Spurenverursachung keinen zwingenden Schluss erlaube. Dies allein hindert indes das Tatgericht<br />

nicht, aus dem Ergebnis einen möglichen Schluss auf die Spurenverursachung <strong>und</strong> die Täterschaft zu ziehen.<br />

2. Das Landgericht hat die Gr<strong>und</strong>lagen zur Berechnung der Wahrscheinlichkeit in einer Weise dargelegt, die dem<br />

Revisionsgericht eine Überprüfung der Berechnung auf ihre Plausibilität ermöglicht (vgl. BGH, Beschluss vom 6.<br />

März 2012 - 3 StR 41/12, BGHR StPO § 261 Identifizierung 21 mwN). Dazu sind in den Urteilsgründen tabellarisch<br />

die acht untersuchten Merkmalsysteme <strong>und</strong> die Anzahl der Wiederholungen im Einzelnen aufgeführt worden. Der<br />

Senat sieht insofern - auch zur Klarstellung <strong>und</strong> Präzisierung seiner bisherigen Rechtsprechung (vgl. BGH, Beschlüsse<br />

vom 6. März 2012 - 3 StR 41/12, aaO; vom 3. Mai 2012 - 3 StR 46/12, BGHR StPO § 261 Identifizierung<br />

23; vom 15. Mai 2012 - 3 StR 164/12) - Anlass zu dem Hinweis, dass eine solche umfangreiche Darstellung gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

nicht erforderlich ist. Das Tatgericht hat in den Fällen, in dem es dem Gutachten eines Sachverständigen<br />

folgt, die wesentlichen Anknüpfungstatsachen <strong>und</strong> Ausführungen des Gutachters so darzulegen, dass das Rechtsmittelgericht<br />

prüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengr<strong>und</strong>lage beruht <strong>und</strong> ob die<br />

Schlussfolgerungen nach den Gesetzen, den Erfahrungssätzen des täglichen Lebens <strong>und</strong> den Erkenntnissen der Wissenschaft<br />

möglich sind (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. August 1993 - 4 StR 627/92, BGHSt 39, 291, 296 f.; vom 21.<br />

September 2004 - 3 StR 333/04, NStZ 2005, 326). Dabei dürfen die Anforderungen, welche das Tatgericht an das<br />

Gutachten zu stellen hat, nicht mit den sachlichrechtlichen Anforderungen an den Inhalt der Urteilsgründe gleichgesetzt<br />

werden. Mögliche Fehlerquellen sind nur zu erörtern, wenn der Einzelfall dazu Veranlassung gibt (vgl. BGH,<br />

Beschluss vom 19. August 1993 - 4 StR 627/92, aaO, 297 f.). Dies beeinträchtigt die Rechtsposition des Angeklagten<br />

nicht, da er etwaige Fehler des Sachverständigengutachtens sowohl in der Hauptverhandlung als auch mit der Verfahrensrüge<br />

im Revisionsverfahren geltend machen kann. Danach reicht es für das Revisionsgericht zur Überprüfung,<br />

ob das Ergebnis einer auf einer DNA-Untersuchung beruhenden Wahrscheinlichkeitsberechnung plausibel ist,<br />

im Regelfall aus, wenn das Tatgericht mitteilt, wie viele Systeme untersucht wurden, ob diese unabhängig voneinander<br />

vererbbar sind (<strong>und</strong> mithin die Produktregel anwendbar ist), ob <strong>und</strong> inwieweit sich Übereinstimmungen in den<br />

untersuchten Systemen ergeben haben <strong>und</strong> mit welcher Wahrscheinlichkeit die festgestellte Merkmalkombination zu<br />

erwarten ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. Oktober 2011 - 2 StR 362/11, NStZ 2012, 403, 404; vom 7. November<br />

2012 - 5 StR 517/12, NStZ 2013, 179; zu ggf. geringeren Anforderungen bei einer Vielzahl weiterer gewichtiger<br />

Indizien BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2012 - 1 StR 377/12, NStZ 2013, 179, 180). Sofern der Angeklagte einer<br />

fremden Ethnie angehört, ist zudem darzulegen, inwieweit dies bei der Auswahl der Vergleichspopulation von Bedeutung<br />

war.<br />

3. Die weitere Darstellung der Beweiswürdigung ist hier nicht lückenhaft, auch wenn die Urteilsgründe keine ausdrückliche<br />

Gesamtwürdigung aller beweiserheblichen Umstände enthalten. Zwar hat das Tatgericht zu beachten,<br />

dass die (durch eine DNA-Analyse ermittelte) hohe Wahrscheinlichkeit einer Spurenverursachung durch den Angeklagten<br />

eine Würdigung aller Beweisumstände gerade mit Blick auf die bloß statistische Aussagekraft nicht überflüssig<br />

macht (vgl. BGH, Urteile vom 27. Juli 1994 - 3 StR 225/94, NStZ 1994, 554, 555; vom 12. August 1992 - 5 StR<br />

239/92, BGHSt 38, 320, 324; zur Vaterschaftsfeststellung BGH, Urteil vom 3. Mai 2006 - XII ZR 195/03, BGHZ<br />

168, 79, 82 f.). Allerdings hängt das Maß der gebotenen Darlegung in den Urteilsgründen von der jeweiligen Be-<br />

- 223 -


weislage <strong>und</strong> insoweit von den Umständen des Einzelfalles ab; dieser kann so beschaffen sein, dass sich die Erörterung<br />

bestimmter einzelner Beweisumstände erübrigt (etwa BGH, Urteil vom 16. März 2004 - 5 StR 490/03, juris Rn.<br />

11). Nach den konkreten Umständen sind keine Gesichtspunkte ersichtlich, welche den Beweiswert der Merkmalübereinstimmung<br />

schmälern oder allgemein gegen die Täterschaft des Angeklagten sprechen könnten <strong>und</strong> daher in<br />

der Beweiswürdigung näher zu erörtern gewesen wären.<br />

4. Schließlich hat das Landgericht den Zusammenhang zwischen den DNA-Spuren <strong>und</strong> der Tat ausreichend dargelegt<br />

(vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. Oktober 2011 - 2 StR 362/11, NStZ 2012, 403, 404; vom 23. Oktober 2012 - 1<br />

StR 377/12, NStZ 2013, 179, 180).<br />

StPO § 265, § 145 Abs. 1 – Verteidigerwechsel während laufender Hauptverhandlung kann eine<br />

veränderte Sachlage im Sinne des § 265 Abs. 4 StPO<br />

BGH, Urt. v. 30.08.2012 – 4 StR 108/12 – JR 2013, 373 mit Anmerk. Prof. Dr. Wohlers; NStZ 2013, 122<br />

1. Der Anwendungsbereich des § 265 Abs. 4 StPO ist auch dann eröffnet, wenn ein Verteidigerwechsel<br />

stattgef<strong>und</strong>en hat <strong>und</strong> die neue Verteidigung möglicherweise nicht oder nicht vollständig in<br />

den Fall eingearbeitet ist.<br />

2. § 265 Abs. 4 StPO wird nicht von § 145 Abs. 3 StPO verdrängt.<br />

Der 4. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat in der Sitzung vom 30. August 2012 für Recht erkannt:<br />

1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Detmold vom 15. November 2011 wird als unbegründet<br />

verworfen.<br />

2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels <strong>und</strong> die hierdurch der Nebenklägerin im Revisionsverfahren<br />

entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung <strong>und</strong> sexueller Nötigung jeweils in Tateinheit mit vorsätzlicher<br />

Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Mit seiner Revision rügt der<br />

Angeklagte die Verletzung formellen <strong>und</strong> sachlichen Rechts. Sein Rechtsmittel hat keinen Erfolg.<br />

I.<br />

Nach den Feststellungen stellte sich der Angeklagte am 6. April 2010 im Verlauf eines Streites vor seine auf einem<br />

Sofa sitzende Ehefrau, packte sie an den Schultern <strong>und</strong> drückte sie in Rückenlage, um mit ihr den Geschlechtsverkehrkehr<br />

zu vollziehen. Nachdem es dem Angeklagten zunächst nicht gelungen war, der sich wehrenden Geschädigten<br />

die Schlafanzughose auszuziehen, versetzte er ihr mehrere Faustschläge in das Gesicht, unter das Kinn <strong>und</strong> in die<br />

Rippen. Als die Geschädigte daraufhin jede Gegenwehr aufgab, zog ihr der Angeklagte die Schlafanzughose nach<br />

unten <strong>und</strong> vollzog den Geschlechtsverkehr. Bei einer weiteren Auseinandersetzung am 17. Mai 2010, während der es<br />

der Zeugin gelang, einen Camcorder einzuschalten, „um später ein Beweisstück zu haben“, stieß der Angeklagte<br />

seine Ehefrau auf eine Couch <strong>und</strong> drückte ihr den M<strong>und</strong> zu, bis sie Luftnot bekam. Als die Geschädigte aus der<br />

Wohnung fliehen wollte, brachte sie der Angeklagte zu Boden, setzte sich auf sie <strong>und</strong> hielt sie „mit hartem Griff an<br />

den Handgelenken fest“. Sodann entblößte er seinen erigierten Penis <strong>und</strong> führte eine Hand der schreienden Geschädigten<br />

an sein Geschlechtsteil heran. Die andere Hand hielt er fest umklammert. Nachdem die Geschädigte masturbierende<br />

Bewegungen an dem Penis des Angeklagten vorgenommen hatte, weil sie keinen anderen Ausweg sah,<br />

forderte der Angeklagte von ihr die Durchführung des Oralverkehrs <strong>und</strong> rutschte mit seinem Becken in Richtung<br />

ihres Kopfes. Der Geschädigten gelang es nun, den Angeklagten durch einen Stoß mit dem Knie aus dem Gleichgewicht<br />

zu bringen <strong>und</strong> wegzulaufen. Der Angeklagte, der zwischenzeitlich einen Samenerguss gehabt hatte, setzte ihr<br />

nach <strong>und</strong> warf sie auf ein Sofa. Anschließend kam es zu einer Rangelei, bei der der Angeklagte der Geschädigten<br />

Boxhiebe <strong>und</strong> Ohrfeigen versetzte. Nachdem es ihm erneut gelungen war, sich auf die Geschädigte zu setzen, wischte<br />

er seinen Penis an ihrem Gesicht ab <strong>und</strong> beschmierte sie mit seinem Sperma. Aufgr<strong>und</strong> der Tat erlitt die Geschädigte<br />

verschiedene Prellungen <strong>und</strong> Blutergüsse.<br />

II.<br />

Die Verfahrensrügen haben keinen Erfolg.<br />

- 224 -


1. Die Rüge des Angeklagten, das Landgericht habe gegen § 265 Abs. 4, § 140 Abs. 1, § 145 Abs. 3 StPO <strong>und</strong> Art. 6<br />

Abs. 3 MRK verstoßen, weil es die Hauptverhandlung nicht von Amts wegen ausgesetzt oder zumindest unterbrochen<br />

hat, obwohl dies zur Vorbereitung der Verteidigung des Angeklagten geboten gewesen sei, ist nicht zulässig<br />

erhoben. Sie wäre auch unbegründet.<br />

a) Nach dem Vorbringen der Revision wurde der Angeklagte am ersten Hauptverhandlungstag, dem 28. September<br />

2011, von seinem Wahlverteidiger Rechtsanwalt P. vertreten. Nachdem er keine Angaben zur Sache gemacht hatte,<br />

vernahm das Gericht die Nebenklägerin <strong>und</strong> fünf weitere Zeugen. Am zweiten Verhandlungstag (12. Oktober 2011),<br />

zu dem der Angeklagte ebenfalls mit Rechtsanwalt P. erschienen war, wurden vier weitere Zeugen vernommen,<br />

Abschriften von Mitteilungen auf einem Anrufbeantworter verlesen <strong>und</strong> die Tonbandaufnahme eines Camcorders<br />

angehört. Im Anschluss an die Verlesung der Abschriften machte die Nebenklägerin weitere Angaben zur Sache.<br />

Rechtsanwalt P. stellte mehrere Beweisanträge <strong>und</strong> verlas nach Anhörung der Tonbandaufnahme eine als Anlage zu<br />

Protokoll genommene Erklärung. Danach wurde die Hauptverhandlung unterbrochen <strong>und</strong> Termin zur Fortsetzung<br />

der Hauptverhandlung auf den 31. Oktober 2011 um 13.00 Uhr bestimmt.<br />

Am 31. Oktober 2011 zeigte Rechtsanwalt P. dem Gericht um 11.15 Uhr an, dass er das Mandat niedergelegt habe.<br />

Der Angeklagte erschien um 12.45 Uhr ohne Verteidiger bei Gericht <strong>und</strong> erklärte, dass er nicht in der Lage gewesen<br />

sei, das von seinem Wahlverteidiger geforderte Honorar aufzubringen. Gegen 13.20 Uhr stellte sich dem Angeklagten<br />

der vom Gericht verständigte Rechtsanwalt S. vor <strong>und</strong> nahm Einsicht in die Akte. In diesem Zusammenhang<br />

erklärte Rechtsanwalt S. dem Angeklagten, dass er überlegen müsse, ob er die Verteidigung in der Kürze der Zeit<br />

vorbereiten könne; eine weitere Verzögerung, die durch eine Wiederholung des Verfahrens entstehen würde, könne<br />

aber kaum im Interesse des Angeklagten liegen. Danach wurde die Hauptverhandlung um 13.45 Uhr fortgesetzt <strong>und</strong><br />

Rechtsanwalt S. für den Angeklagten als Pflichtverteidiger bestellt. Ein Antrag auf Aussetzung oder Unterbrechung<br />

der Hauptverhandlung wurde nicht gestellt. In der Folge vernahm das Gericht bis 15.00 Uhr vier Zeugen. Danach<br />

wurde die Hauptverhandlung unterbrochen <strong>und</strong> Termin zur Fortsetzung auf den 15. November 2011 bestimmt. Im<br />

Hauptverhandlungstermin vom 15. November 2011 vernahm das Gericht drei weitere Zeugen. Anschließend verlas<br />

Rechtsanwalt S. einen Beweisantrag <strong>und</strong> eine gegen die Nebenklägerin erstattete Strafanzeige. Nachdem das Gericht<br />

die Mitschrift der Tonaufzeichnung des Camcorders verlesen hatte, wurde die Nebenklägerin nochmals vernommen<br />

<strong>und</strong> die Beweisaufnahme geschlossen. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft, der Nebenklägervertreter <strong>und</strong> der Verteidiger<br />

hielten ihre Schlussvorträge. Nach einer abschließenden Erklärung des Angeklagten wurde die Sitzung um<br />

12.00 Uhr unterbrochen <strong>und</strong> um 12.30 Uhr mit der Urteilsverkündung fortgesetzt.<br />

Nach Ansicht der Revision hat das Landgericht seine Fürsorgepflicht verletzt, weil es die Hauptverhandlung nach<br />

dem Verteidigerwechsel nicht von Amts wegen ausgesetzt oder zumindest unterbrochen hat. Zwar sei Rechtsanwalt<br />

S. „über den Inhalt der bisherigen Aussagen durch andere Beteiligte unterrichtet“ worden, „wobei die Unterrichtung<br />

nicht durch den Angeklagten erfolgte“ (Revisionsbegründung Rechtsanwalt R. , S. 27), doch sei eine Wiederholung<br />

der wesentlichen Teile der Hauptverhandlung nicht erfolgt. Das Landgericht habe die Nebenklägerin nach dem Verteidigerwechsel<br />

lediglich ergänzend vernommen.<br />

b) Dieses Vorbringen entspricht nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Danach muss der Beschwerdeführer,<br />

der eine Verletzung des Verfahrensrechts geltend machen will, die den Mangel enthaltenden Tatsachen<br />

angeben. Dies hat so vollständig <strong>und</strong> genau zu geschehen, dass das Revisionsgericht aufgr<strong>und</strong> der Rechtfertigungsschrift<br />

prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen bewiesen werden (BGH,<br />

Urteil vom 15. November 2001 – 4 StR 215/01, NStZ 2002, 216; Urteil vom 6. Februar 1980 – 2 StR 729/79, BGHSt<br />

29, 203).<br />

Die Darstellung des prozessualen Geschehens ist unvollständig, weil nicht im Einzelnen mitgeteilt wird, von wem,<br />

wann <strong>und</strong> in welchem Umfang der neue Verteidiger über den Inhalt der bisherigen Aussagen unterrichtet worden ist.<br />

Dies war hier erforderlich, weil die Frage, ob eine Aussetzung oder Unterbrechung der Hauptverhandlung geboten<br />

war, nur beurteilt werden kann, wenn feststeht, welche Informationen über den bisherigen Verfahrensgang dem neuen<br />

Verteidiger zur Verfügung standen. Dazu bedurfte es nicht nur näherer Angaben zum Zeitpunkt <strong>und</strong> zum Inhalt<br />

der erfolgten Unterrichtung, sondern auch zur Person des Unterrichtenden, weil daraus Schlüsse auf die Vollständigkeit<br />

<strong>und</strong> Zuverlässigkeit der übermittelten Informationen gezogen werden können.<br />

Der in der Revisionshauptverhandlung von dem Wahlverteidiger erhobene Einwand, ihm sei ein weiter gehendes<br />

Vorbringen nicht möglich gewesen, weil er erst in der Revisionsinstanz beauftragt worden sei <strong>und</strong> sein Mandant über<br />

keine näheren Informationen verfügt habe, führt zu keinem anderen Ergebnis. Unter diesen Umständen hätte der<br />

Wahlverteidiger bei dem nach wie vor beigeordneten Pflichtverteidiger Erk<strong>und</strong>igungen einholen können <strong>und</strong> müs-<br />

- 225 -


sen, um den geltend gemachten Verfahrensmangel ausreichend mit Tatsachen zu belegen (vgl. BVerfG, Beschluss<br />

vom 22. September 2005 – 2 BvR 93/05; BGH, Beschluss vom 23. November 2004 – 1 StR 379/04, NStZ 2005, 283,<br />

284).<br />

c) Die Rüge wäre aber auch nicht begründet.<br />

aa) Nach § 265 Abs. 4 StPO hat das Gericht von Amts wegen oder auf Antrag die Hauptverhandlung auszusetzen,<br />

falls dies infolge der veränderten Sachlage zur genügenden Vorbereitung der Verteidigung angemessen erscheint.<br />

Verfahrensvorgänge können eine veränderte Sachlage im Sinne des § 265 Abs. 4 StPO herbeiführen, wenn sie geeignet<br />

sind, die Fähigkeit des Angeklagten zu einer sachgerechten Verteidigung zu beschränken. Der Wechsel des<br />

Verteidigers während der laufenden Hauptverhandlung ist ein solcher Verfahrensvorgang. Er schafft selbst dann eine<br />

veränderte Sachlage, wenn der neue Verteidiger – wie hier – sogleich an die Stelle des früheren tritt (BGH, Beschluss<br />

vom 2. Februar 2000 – 1 StR 537/99, NJW 2000, 1350; Urteil vom 25. Oktober 1963 – 4 StR 404/63, VRS<br />

26, 46, 47; vgl. Beschluss vom 24. Juni 2009 – 5 StR 181/09, NStZ 2009, 650; Urteil vom 25. Juni 1965 – 4 StR<br />

309/65, NJW 1965, 2164, 2165; Urteil vom 19. Juni 1958 – 4 StR 725/57, NJW 1958, 1736, 1737). Kommt es zu<br />

einem Verteidigerwechsel, weil nach § 145 Abs. 1 Satz 1 StPO ein neuer Pflichtverteidiger bestellt werden muss,<br />

wird § 265 Abs. 4 StPO nicht von § 145 Abs. 3 StPO verdrängt, weil diese Bestimmung nur eine ergänzende, aber<br />

keine abschließende Regelung für diese Fallgestaltung enthält (BGH, Urteil vom 25. Juni 1965 – 4 StR 309/65, NJW<br />

1965, 2164, 2165; Urteil vom 17. Juli 1973 – 1 StR 61/73, JR 1974, 247).<br />

Ob auf eine veränderte Sachlage nach § 265 Abs. 4 StPO in Ausübung der prozessualen Fürsorgepflicht mit einer<br />

Aussetzung der Hauptverhandlung zu reagieren ist, steht im pflichtgemäß auszuübenden Ermessen des Gerichts <strong>und</strong><br />

hängt vom Einzelfall ab (BGH, Beschluss vom 25. Juni 2002 – 5 StR 60/02, NStZ-RR 2002, 270; Beschluss vom 2.<br />

Februar 2000 – 1 StR 537/99, NJW 2000, 1350; Urteil vom 19. Juni 1958 – 4 StR 725/57, NJW 1958, 1736, 1738).<br />

Anstelle einer Aussetzung kann es bei einem Verteidigerwechsel auch ausreichend sein, wichtige Verfahrensabschnitte<br />

zu wiederholen, um dem neuen Verteidiger Gelegenheit zu geben, sich ein umfassendes eigenes Urteil von<br />

dem Beweisergebnis zu machen (BGH, Urteil vom 25. Oktober 1963 – 4 StR 404/63, VRS 26, 46, 47 f.; vgl. Beschluss<br />

vom 2. Februar 2000 – 1 StR 537/99, NJW 2000, 1350).<br />

bb) Hiervon ausgehend bestand keine Notwendigkeit, die Hauptverhandlung von Amts wegen auszusetzen oder zu<br />

unterbrechen, nachdem dies weder von dem Verteidiger, noch dem Angeklagten beantragt oder angeregt worden<br />

war.<br />

Ein nach § 145 Abs. 1 Satz 1 StPO neu bestellter Verteidiger hat als unabhängiges Organ der Rechtspflege gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

selbst zu beurteilen, ob er für die Erfüllung seiner Aufgabe hinreichend vorbereitet ist (BGH, Beschlüsse<br />

vom 24. Juni 2009 – 5 StR 181/09, NStZ 2009, 650; vom 24. Juni 1998 – 5 StR 120/98, BGHR StPO § 265 Abs. 4<br />

Verteidigung, angemessene 5; Urteil vom 24. November 1999 – 3 StR 390/99, wistra 2000, 146, 147). Hält er die<br />

ihm verbleibende Vorbereitungszeit für nicht ausreichend, kann er durch einen Antrag nach § 145 Abs. 3 StPO eine<br />

Unterbrechung oder Aussetzung der Hauptverhandlung erzwingen. Dies ist nicht geschehen. Zwar hat das Gericht<br />

über die Frage, ob die Fürsorgepflicht eine Aussetzung der Hauptverhandlung nach § 265 Abs. 4 StPO gebietet,<br />

unabhängig von Anträgen <strong>und</strong> Erklärungen der Beteiligten zu entscheiden, doch kommt bei dieser Entscheidung der<br />

Einschätzung des neu bestellten Verteidigers <strong>und</strong> seinem Prozessverhalten eine maßgebliche Bedeutung zu. Stellt der<br />

neue Verteidiger seine Fähigkeit zu sachgerechter Verteidigung nicht in Frage, will er vielmehr die Hauptverhandlung<br />

ohne zeitliche Verzögerung fortsetzen <strong>und</strong> gibt auch der Angeklagte nicht zu erkennen, dass er mehr Zeit zur<br />

Vorbereitung der Verteidigung benötigt, so ist das Gericht in der Regel nicht dazu berufen, seine Auffassung von<br />

einer angemessenen Vorbereitungszeit gegen den Verteidiger durchzusetzen <strong>und</strong> von diesem nicht angestrebte prozessuale<br />

Maßnahmen zu treffen (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2009 – 5 StR 181/09, NStZ 2009, 650, 651;<br />

Urteil vom 2. November 1976 – 1 StR 590/76, MDR 1977, 767, 768; Urteil vom 25. Juni 1965 – 4 StR 309/65, NJW<br />

1965, 2164, 2165).<br />

Ein solcher Fall liegt hier vor. Wie sich aus dem Revisionsvorbringen ergibt, war die Entscheidung des neuen Verteidigers,<br />

nicht nach § 145 Abs. 3 StPO vorzugehen <strong>und</strong> keinen Aussetzungsantrag zu stellen, von der Erwägung<br />

geleitet, dass es unter den gegebenen Umständen den Interessen des Angeklagten eher entspricht, die bereits begonnene<br />

Hauptverhandlung in einem Durchgang zu Ende zu bringen. Der Angeklagte hat dieser ihm mitgeteilten Abwägung<br />

nicht widersprochen <strong>und</strong> auch seinerseits keinen Aussetzungs- oder Unterbrechungsantrag gestellt. Bei dieser<br />

Sachlage war das Landgericht nur dann gehalten, von Amts wegen eine Aussetzung oder Unterbrechung der Hauptverhandlung<br />

anzuordnen, wenn sich die dem Prozessverhalten des Angeklagten <strong>und</strong> seines Verteidigers zu entnehmende<br />

Einschätzung der Sach- <strong>und</strong> Rechtslage als evident interessenwidrig dargestellt hätte <strong>und</strong> ohne diese Maß-<br />

- 226 -


nahmen eine effektive Verteidigung (Art. 6 Abs. 3 c MRK) unter keinem Gesichtspunkt mehr gewährleistet gewesen<br />

wäre (vgl. BGH, Urteil vom 25. Oktober 1963 – 4 StR 404/63, VRS 26, 46, 47). Dies war jedoch nicht der Fall. Den<br />

Anklagevorwürfen lagen übersichtliche Lebenssachverhalte zugr<strong>und</strong>e. Zentrales Beweismittel waren die Angaben<br />

der Nebenklägerin, die nach dem Verteidigerwechsel nochmals vernommen wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte der<br />

neue Verteidiger 14 Tage Zeit, sich in den Fall einzuarbeiten <strong>und</strong> die ihm erteilten Informationen zu ihren bisherigen<br />

Angaben sowie dem übrigen Beweisergebnis auszuwerten <strong>und</strong> gegebenenfalls zu ergänzen. Die Revision trägt nicht<br />

vor, dass bei der erneuten Vernehmung der Nebenklägerin Fragen oder Vorhalte des Verteidigers zurückgewiesen<br />

worden sind. Der Umstand, dass sich der Verteidiger in der Lage sah, gegen die Nebenklägerin eine Strafanzeige zu<br />

erstatten <strong>und</strong> diese Anzeige vor deren nochmaliger Vernehmung in der Hauptverhandlung zu verlesen, lässt erkennen,<br />

dass er den bisherigen Angaben der Nebenklägerin entgegenzutreten vermochte. Schließlich wurde auch die als<br />

belastendes Beweismittel herangezogene Audioaufzeichnung durch die Verlesung ihrer Verschriftlichung ein zweites<br />

Mal zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht.<br />

2. Die Rüge, das Landgericht habe mit der Bestellung von Rechtsanwalt S. zum Pflichtverteidiger gegen § 142 Abs.<br />

1 StPO verstoßen, ist nicht begründet.<br />

Die Auswahl eines Pflichtverteidigers ist nur dann nach § 142 Abs. 1 StPO ermessens- <strong>und</strong> damit rechtsfehlerhaft,<br />

wenn der ausgewählte Verteidiger aus nachvollziehbaren Gründen nicht das Vertrauen des Angeklagten genießt oder<br />

objektiv keine Gewähr für eine sachgerechte Verteidigung bietet (BGH, Urteil vom 3. Dezember 1991 – 1 StR<br />

456/91, NJW 1992, 850; vgl. Beschluss vom 3. September 1986 – 3 StR 355/86, NStZ 1987, 217 bei Pfeiffer/Miebach).<br />

Ein Vertrauensmangel wird von dem Angeklagten nicht behauptet. Der Umstand, dass der vormalige<br />

Wahlverteidiger Rechtsanwalt P. mit dem Prozessstoff besser vertraut war, belegt nicht, dass der nach seiner Mandatsniederlegung<br />

zum Pflichtverteidiger bestellte Rechtsanwalt S. für eine Führung der von ihm übernommenen<br />

Verteidigung objektiv ungeeignet war.<br />

3. Der Revisionsgr<strong>und</strong> des § 338 Nr. 5 StPO liegt schon deshalb nicht vor, weil der Angeklagte zu keinem Zeitpunkt<br />

ohne Verteidiger war. Auf eine mangelnde Vorbereitung des anwesenden Verteidigers kann die Rüge nicht gestützt<br />

werden (BGH, Urteil vom 24. November 1999 – 3 StR 390/99, NStZ 2000, 212, 213).<br />

4. Die Rüge, das Landgericht habe entgegen § 244 Abs. 3 <strong>und</strong> 6 StPO einen am 12. Oktober 2011 gestellten Beweisantrag<br />

auf Einvernahme der Zeugin D. weder erledigt noch verbeschieden, deckt keinen Rechtsfehler auf.<br />

Der Antrag auf Einvernahme der Zeugin war kein Beweisantrag im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO, weil die<br />

Zeugin nur durch die Angabe ihres Namens <strong>und</strong> ihres Wohnortes (Köln) bezeichnet worden ist. Eine eindeutige<br />

Ermittlung ihrer genauen Anschrift aus den weiteren im Antrag enthaltenen Angaben war nicht möglich (BGH, Urteil<br />

vom 8. Dezember 1993 – 3 StR 446/93, BGHSt 40, 3, 6 f.). Dementsprechend hatte der Vorsitzende den Verteidiger<br />

darauf hingewiesen, dass die Zeugin geladen werden soll, wenn ihre Anschrift bekannt ist. In dem von der<br />

Revision herangezogenen Rechtsanwaltsschreiben vom 24. August 2004 wurde eine Frau zwar mit vollständiger<br />

Anschrift, aber unter einem anderen Namen bezeichnet. Der Antrag vom 12. Oktober 2011 enthielt weder einen<br />

Hinweis auf dieses Schreiben, noch die Information, dass die benannte Person früher einen anderen Namen führte<br />

<strong>und</strong> es sich bei ihr um die nunmehr benannte Zeugin handelte. Unter diesen Umständen drängte sich die Ladung der<br />

Zeugin dem Gericht auch nicht auf.<br />

5. Die Rüge, das Landgericht habe mit der Verlesung des Protokolls der von der Nebenklägerin heimlich gefertigten<br />

Audioaufzeichnung gegen ein aus Art. 1 Abs. 1 Satz 1, Art. 2 Abs. 1 GG, § 201 StGB abzuleitendes Beweisverbot<br />

verstoßen, ist nicht zulässig erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).<br />

Das Revisionsvorbringen des Angeklagten lässt unerwähnt, dass die dem verlesenen Protokoll zugr<strong>und</strong>e liegende<br />

Audioaufzeichnung bereits am zweiten Hauptverhandlungstag angehört wurde <strong>und</strong> der damalige Wahlverteidiger<br />

dazu eine Erklärung verlesen hat. Die Entscheidung der Frage, ob im Strafprozess von einer Audioaufzeichnung zu<br />

Beweiszwecken Gebrauch gemacht werden darf, die von einer Privatperson ohne Einverständnis des Angeklagten<br />

gefertigt worden ist, hängt von einer Abwägung des öffentlichen Interesses an einer vollständigen Wahrheitsermittlung<br />

einerseits <strong>und</strong> dem schutzwürdigen Interesse des Angeklagten an einer Nichtverwertung der unter Verletzung<br />

seines Persönlichkeitsrechts hergestellten Audioaufzeichnung andererseits ab (BGH, Urteil vom 12. April 1989 – 3<br />

StR 453/88, BGHSt 36, 167, 173; Urteil vom 9. Juli 1987 – 4 StR 223/87, BGHSt 34, 397, 401). Für diese Abwägung<br />

ist es von wesentlicher Bedeutung, ob die Audioaufzeichnung bereits in anderer Form zum Gegenstand der<br />

Hauptverhandlung gemacht worden ist <strong>und</strong> wie sich der Angeklagte dazu gestellt hat. Beides wäre deshalb mitzuteilen<br />

gewesen.<br />

III.<br />

- 227 -


Auch die Sachrüge hat keinen Erfolg.<br />

Die Beweiswürdigung des Landgerichts lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Das Landgericht hat seine Überzeugung<br />

von der Schuld des Angeklagten auf die Angaben der mehrfach vernommenen Nebenklägerin <strong>und</strong> mehrere andere<br />

Beweismittel gestützt. Eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation lag daher nicht vor (vgl. BGH, Urteil vom 7.<br />

März 2002 – 3 StR 6/02, NStZ 2002, 556 f.; Urteil vom 28. Mai 2003 – 2 StR 486/02, NStZ-RR 2003, 268, 269;<br />

Maier, NStZ 2005, 246 mwN). Die Entwicklungsgeschichte der Aussage wurde im Zusammenhang mit den Feststellungen<br />

<strong>und</strong> den Angaben der Zeugin Se. erörtert. Einer darüber hinausgehenden Darstellung der Angaben der Nebenklägerin<br />

bedurfte es entgegen der Auffassung der Revision nicht, weil sich der maßgebliche Aussageinhalt aus<br />

den hierauf gestützten umfangreichen Feststellungen ergibt.<br />

Die von der Revision gegen die Strafzumessung vorgebrachten Einwendungen zeigen aus den in der Zuschrift des<br />

Generalb<strong>und</strong>esanwalts vom 4. April 2012 angeführten Gründen keinen Rechtsfehler auf.<br />

StPO § 275 Abs. 1 Satz 2; OWiG § 77b Urteilsabsetzungsfrist im OWi-Verfahren<br />

BGH, Beschl. v. 08.05.2013 - 4 StR 336/12 - BeckRS 2013, 09025<br />

LS: Im Bußgeldverfahren dürfen die Urteilsgründe auch dann innerhalb der Frist des § 275 Abs. 1<br />

Satz 2 StPO zu den Akten gebracht werden, wenn der Staatsanwaltschaft, die an der Hauptverhandlung<br />

nicht teilgenommen hat, auf Veranlassung des Richters zunächst ein von diesem unterzeichnetes<br />

Hauptverhandlungsprotokoll, das bereits alle nach § 275 Abs. 3 StPO erforderlichen<br />

Angaben enthält <strong>und</strong> dem ein ebenfalls durch den Richter unterzeichnetes Urteilsformular mit vollständigem<br />

Tenor <strong>und</strong> der Liste der angewandten Vorschriften als Anlage beigefügt ist, mit der Bitte<br />

um Kenntnisnahme vom Protokoll der Hauptverhandlung sowie der Anfrage zugeleitet worden ist,<br />

ob auf Rechtsmittel verzichtet werde, <strong>und</strong> der Betroffene, dessen Verzichtserklärung nicht gemäß §<br />

77b Abs. 1 Satz 3 OWiG entbehrlich war, nachfolgend Rechtsbeschwerde eingelegt hat.<br />

Der 4. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalb<strong>und</strong>esanwalts <strong>und</strong> des Betroffenen am 8.<br />

Mai 2013 beschlossen: Im Bußgeldverfahren dürfen die Urteilsgründe auch dann inner-halb der Frist des § 275 Abs.<br />

1 Satz 2 StPO zu den Akten gebracht werden, wenn der Staatsanwaltschaft, die an der Haupt-verhandlung nicht<br />

teilgenommen hat, auf Veranlassung des Richters zunächst ein von diesem unterzeichnetes Hauptverhandlungsprotokoll,<br />

das bereits alle nach § 275 Abs. 3 StPO erforderlichen Angaben enthält <strong>und</strong> dem ein ebenfalls durch den<br />

Richter unterzeichnetes Urteilsformular mit vollständigem Tenor <strong>und</strong> der Liste der angewandten Vorschriften als<br />

Anlage beigefügt ist, mit der Bitte um Kenntnisnahme vom Protokoll der Hauptverhandlung sowie der Anfrage zugeleitet<br />

worden ist, ob auf Rechtsmittel verzichtet werde, <strong>und</strong> der Betroffene, dessen Verzichtserklärung nicht gemäß<br />

§ 77b Abs. 1 Satz 3 OWiG entbehrlich war, nachfolgend Rechtsbeschwerde eingelegt hat.<br />

Gründe:<br />

I.<br />

1. Das Amtsgericht Papenburg hat den Betroffenen durch Urteil vom 2. März 2012 wegen Führens eines Kraftfahrzeugs<br />

unter Einfluss von Alkohol mit einer Blutalkoholkonzentration von 0,5 Promille oder mehr zu einer Geldbuße<br />

von 500 € verurteilt <strong>und</strong> ein Fahrverbot von einem Monat verhängt. Die Staatsanwaltschaft hatte an der Hauptverhandlung<br />

nicht teilgenommen <strong>und</strong> eine Begründung des Urteils nur für den Fall beantragt, dass nicht auf ein Fahrverbot<br />

erkannt werde. Mit Verfügung vom selben Tag hat das Amtsgericht Papenburg die Akten der Staatsanwaltschaft<br />

Osnabrück mit der Bitte um Kenntnisnahme vom Protokoll der Hauptverhandlung <strong>und</strong> der Anfrage zugeleitet,<br />

ob auf Rechtsmittel <strong>und</strong> Begründung des Urteils verzichtet werde. Zugleich bestimmte das Gericht eine Wiedervorlagefrist<br />

von zwei Wochen mit dem in Klammern gesetzten Zusatz „falls kein Rechtsmittel abgekürztes Urteil vorbereiten:<br />

Gründe: Von einer Begründung des Urteils ist abgesehen worden, § 77b Abs. 1 OWiG. Die Kostenentscheidung<br />

beruht auf § 465 Abs. 1 StPO i.V.m. §§ 105 Abs. 1, 46 Abs. 1 OWiG“. Aus dem in den Akten befindlichen<br />

<strong>und</strong> vom Richter unterzeichneten Protokoll der Hauptverhandlung ergibt sich u.a., dass das „aus der Anlage ersichtliche<br />

Urteil“ durch Verlesung der Urteilsformel <strong>und</strong> durch mündliche Mitteilung des wesentlichen Inhalts der<br />

Urteilsgründe verkündet wurde. Bei diesem dem Protokoll als Anlage beigefügten Schriftstück handelt es sich um<br />

- 228 -


einen von dem Tatrichter ausgefüllten Vordruck, der – handschriftlich ergänzt – den voll-ständigen Urteilstenor<br />

nebst den angewendeten Vorschriften enthält <strong>und</strong> vom Richter unterzeichnet ist. Die Staatsanwaltschaft hat die Akten<br />

ausweislich eines Stempelvermerks „nach Kenntnisnahme <strong>und</strong> Zustellung“ mit dem handschriftlichen Zusatz<br />

„Rechtsmittelverzicht“ am 8. März 2012 zurückgesandt. Am selben Tag hat der Betroffene per Telefax Rechtsbeschwerde<br />

gegen das Urteil eingelegt. Die Akten gingen am 12. März 2012 beim Amtsgericht ein. Am 4. April 2012<br />

hat das Amtsgericht ein mit Gründen versehenes Urteil zu den Akten gebracht <strong>und</strong> zugleich dessen Zustellung an die<br />

Staatsanwaltschaft „gemäß § 41 StPO“ verfügt. Diese hat die Akten wiederum mit dem Stempelvermerk „nach<br />

Kenntnisnahme <strong>und</strong> Zustellung“ am 12. April 2012 zurückgesandt. Dem Verteidiger ist das Urteil am 10. April 2012<br />

zugestellt worden. Dieser hat die Rechtsbeschwerde mit einem am 8. Mai 2012 beim Amtsgericht Papenburg eingegangenen<br />

Schriftsatz unter Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch begründet. Er rügt die Verletzung materiellen<br />

Rechts <strong>und</strong> beantragt, das angefochtene Urteil im Rechtsfolgenausspruch zu ändern <strong>und</strong> festzustellen, dass das<br />

Fahrverbot durch die Zeit der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis bereits abgegolten sei.<br />

2. Das zur Entscheidung über die Rechtsbeschwerde berufene Oberlandesgericht Oldenburg beabsichtigt, das mit<br />

Gründen versehene Urteil seiner auf die Sachrüge hin vorzunehmenden Prüfung zu Gr<strong>und</strong>e zu legen. Da das Urteil<br />

ausreichende Feststellungen zu der dem Betroffenen angelasteten Ordnungswidrigkeit enthalte <strong>und</strong> deshalb eine vom<br />

Schuldspruch losgelöste rechtliche <strong>und</strong> tatsächliche Überprüfung des Rechtsfolgenausspruchs möglich sei, erweise<br />

sich die Beschränkung des Rechtsmittels als wirksam. Durch die Über-sendung des Hauptverhandlungsprotokolls<br />

(mit handschriftlich ergänztem Urteilsvordruck) lediglich zum Zwecke der Kenntnisnahme vom Ausgang des Verfahrens<br />

habe das Gericht sich ersichtlich vorbehalten, ein schriftliches Urteil innerhalb der Frist des § 275 Abs. 1<br />

Satz 2 StPO abzusetzen.<br />

An der beabsichtigten Vorgehensweise sieht sich das Oberlandesgericht Oldenburg jedoch durch den Beschluss des<br />

Oberlandesgerichts Bamberg vom 10. November 2011 – 3 Ss OWi 1444/11 – gehindert. Nach Ansicht des Oberlandesgerichts<br />

Bamberg liegt eine die nachträgliche Anfertigung von Urteilsgründen innerhalb der Frist des § 275 Abs.<br />

1 Satz 2 StPO sperrende Hinaus-gabe eines sog. „Protokollurteils“ auch dann vor, wenn das ohne Gründe in das<br />

Hauptverhandlungsprotokoll aufgenommene oder diesem als Anlage beigegebene bzw. nachgeheftete Urteil zur<br />

Herbeiführung einer (frühzeitigen) Rechtsmittelerklärung der Staatsanwaltschaft auf gerichtliche Anordnung der<br />

Staatsanwaltschaft bekannt gegeben wird. Es sei insbesondere auch ohne Belang, ob die Bekanntgabe zur Zustellung<br />

(§ 41 StPO) oder aber nur „zur Kenntnis“ des Hauptverhandlungsprotokolls <strong>und</strong> unter dem ausdrücklichen „Vorbehalt“<br />

einer (späteren) Urteilszustellung gemäß § 41 StPO erfolge. Das vorlegende Oberlandesgericht Oldenburg teilt<br />

die Auffassung des Oberlandesgerichts Bamberg nicht. Es entspreche allgemeiner Auffassung, dass ein vollständig<br />

in das Sitzungsprotokoll aufgenommenes oder diesem als Anlage beigefügtes Urteil unbeschadet der in § 77b Abs. 2<br />

OWiG geregelten Ausnahmen nicht mehr verändert werden dürfe, sobald es dadurch auf Anordnung des Gerichts<br />

aus dessen innerem Dienstbereich herausgegeben worden sei, dass es der Staatsanwaltschaft zum Zwecke der Zustellung<br />

gemäß § 41 StPO übersandt worden sei. Im vorliegenden Fall habe jedoch noch kein „Urteil“ in diesem Sinne<br />

den Dienstbereich verlassen. Sowohl im Strafverfahren als auch im Bußgeldverfahren sei dem Gericht die Möglichkeit<br />

eröffnet, das Urteil entweder schriftlich zu den Akten zu geben oder vollständig in das Sitzungsprotokoll aufzunehmen.<br />

Während sich im Strafverfahren bereits aus dem Hauptverhandlungsprotokoll ergebe, ob das Gericht unter<br />

Aufnahme der vollständigen Urteilsgründe ein „Protokollurteil“ habe fertigen wollen oder aber beabsichtige, das<br />

Urteil im Nachhinein schriftlich niederzulegen, finde in Bußgeld-sachen eine entsprechende Entscheidung des Richters<br />

nicht zwingend Niederschlag im Protokoll. Denn hier bestehe die zusätzliche Möglichkeit, unter den Voraussetzungen<br />

des § 77b OWiG von Urteilsgründen gänzlich abzusehen. Ebenso wie es im Strafverfahren im Ermessen des<br />

Vorsitzenden stehe zu entscheiden, ob das Urteil in das Protokoll aufgenommen oder schriftlich zu den Akten gegeben<br />

werde, bedürfe es auch im Bußgeldverfahren einer Ermessensentscheidung des erkennenden Richters. Obwohl<br />

jedes Hauptverhandlungsprotokoll zwingend die erforderlichen Bestandteile eines der Gründe entkleideten Urteils<br />

enthalte, liege ein „Protokollurteil“ erst dann vor, wenn der Tatrichter die Entscheidung getroffen habe, es hierbei zu<br />

belassen <strong>und</strong> von einer schriftlichen Begründung abzusehen. Eine derartige Entscheidung habe der Richter erkennbar<br />

zum Ausdruck gebracht, wenn er die Akten gemäß § 41 StPO der Staats-anwaltschaft zum Zwecke der Zustellung<br />

zuleite. Andernfalls liege in der (formlosen) Zuleitung nur die Übersendung des Hauptverhandlungsprotokolls,<br />

die keine Sperrwirkung für die nachträgliche Fertigung von Urteilsgründen entfalte. Das Oberlandesgericht Oldenburg<br />

hat die Sache daher dem B<strong>und</strong>esgerichtshof zur Entscheidung folgender Rechtsfrage vorgelegt: „Ist ein nachträgliches<br />

Absetzen der Urteilsgründe innerhalb der in § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO vorgesehenen Frist in Bußgeldsachen<br />

zulässig, wenn der zu einer zweih<strong>und</strong>ertfünfzig Euro übersteigenden Geldbuße verurteilte Betroffene von der<br />

- 229 -


Pflicht zum persönlichen Erscheinen entb<strong>und</strong>en war <strong>und</strong> in der Hauptverhandlung durch einen Verteidiger vertreten<br />

wurde, die Staatsanwaltschaft nicht an der Hauptverhandlung teilgenommen hat <strong>und</strong> dieser zunächst ein durch den<br />

Richter unterzeichnetes Hauptverhandlungsprotokoll, welches alle für den Urteilskopf nach § 275 Abs. 3 StPO erforderlichen<br />

Angaben enthält, nebst eines ebenfalls durch den Richter unterzeichneten, als Anlage zum Protokoll<br />

genommenen Urteilsformulars, welches den vollständigen Tenor sowie die Auflistung der angewandten Vorschriften<br />

enthält, auf Veranlassung des Tatrichters mit der Bitte um Kenntnisnahme vom Protokoll der Hauptverhandlung<br />

sowie der Anfrage, ob auf Rechtsmittel <strong>und</strong> Begründung des Urteils verzichtet werde, zugeleitet <strong>und</strong> nachfolgend<br />

seitens des Betroffenen Rechtsbeschwerde eingelegt worden ist?“<br />

3. Der Generalb<strong>und</strong>esanwalt hat unter Zusammenfassung der Vorlegungsfrage beantragt zu beschließen: „Ein nachträgliches<br />

Absetzen der Urteilsgründe innerhalb der in § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO vorgesehenen Frist ist in Bußgeldsachen<br />

auch dann zulässig, wenn der Staatsanwaltschaft bereits zuvor ein durch den Richter unterzeichnetes Hauptverhandlungsprotokoll,<br />

welches bereits alle für § 275 Abs. 3 StPO erforderlichen Angaben enthält, nebst eines ebenfalls<br />

durch den Richter unterzeichneten, als Anlage zum Protokoll genommenen Urteilsformulars, welches den vollständigen<br />

Tenor sowie die Auflistung der angewandten Vorschriften enthält, auf Veranlassung des Tatrichters mit<br />

der Bitte um Kenntnisnahme vom Protokoll der Hauptverhandlung sowie der Anfrage, ob auf Rechtsmittel <strong>und</strong> Begründung<br />

des Urteils verzichtet werde, zugeleitet wurde <strong>und</strong> nachfolgend seitens des Betroffenen Rechtsbeschwerde<br />

eingelegt worden ist.“<br />

II.<br />

1. Die Vorlegungsvoraussetzungen sind erfüllt. Die Vorschrift des § 121 Abs. 2 GVG ist gemäß § 79 Abs. 3 OWiG<br />

für die Rechtsbeschwerde im Sinne des Ordnungswidrigkeitengesetzes entsprechend heranzuziehen (vgl. BGH, Beschlüsse<br />

vom 20. März 1992 – 2 StR 371/91, BGHSt 38, 251, 254, <strong>und</strong> vom 18. Juli 2012 – 4 StR 603/11, BGHSt<br />

57, 282). Das Oberlandesgericht Oldenburg kann nicht seiner Absicht gemäß entscheiden, ohne von der Rechtsauffassung<br />

des Oberlandesgerichts Bamberg abzuweichen. Dürfte das nachträglich zu den Akten gebrachte Urteil der<br />

Überprüfung im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht zu Gr<strong>und</strong>e gelegt werden, wäre die Beschränkung des Rechtsmittels<br />

auf den Rechtsfolgenausspruch mangels tatsächlicher Feststellungen zum Schuldspruch unwirksam <strong>und</strong> das<br />

Urteil müsste schon aus diesem Gr<strong>und</strong> insgesamt aufgehoben werden (vgl. BGH, Beschluss vom 13. März 1997 – 4<br />

StR 455/96, BGHSt 43, 22, 25).<br />

2. In der Vorlegungsfrage teilt der Senat die Auffassung des vorlegenden Oberlandesgerichts Oldenburg. Das Amtsgericht<br />

Papenburg durfte die Urteils-gründe nachträglich innerhalb der Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO zu den<br />

Akten bringen. Dieses mit Gründen versehene Urteil ist der im Rechtsbeschwerdeverfahren vorzunehmenden Prüfung<br />

zu Gr<strong>und</strong>e zu legen. Der Senat hat die zu beantwortende Rechtsfrage lediglich aus Gründen der Übersichtlichkeit<br />

nach Maßgabe der Beschlussformel zum Teil neu gefasst.<br />

a) Die Bestimmung des § 275 Abs. 1 StPO gilt gemäß § 46 Abs. 1, § 71 Abs. 1 OWiG im gerichtlichen Bußgeldverfahren<br />

entsprechend (vgl. BayObLG, NJW 1976, 2273; Göhler/Seitz, OWiG, 16. Aufl., § 71 Rn. 45). Dies bedeutet,<br />

dass das vollständige Urteil unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb der Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO zu den<br />

Akten gebracht werden muss, sofern es nicht bereits vollständig in das Protokoll aufgenommen wurde. Liegt ein sog.<br />

„Protokollurteil“ vor, gelten die Fristen für die Urteilsabsetzung nach § 275 Abs. 1 StPO nicht (vgl. KG, NZV 1992,<br />

332; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 275 Rn. 1). Wie im Strafverfahren steht es auch im Bußgeldverfahren im<br />

nicht an-fechtbaren Ermessen des Vorsitzenden zu entscheiden, ob das Urteil mit den Gründen als besondere Niederschrift<br />

(also mit Urteilskopf, Urteilsformel <strong>und</strong> Gründen) zu den Akten zu bringen ist oder die Gründe vollständig in<br />

das Protokoll mit aufzunehmen sind (vgl. Göhler/Seitz, OWiG, 16. Aufl., § 71 Rn. 45; Stuckenberg in LR-StPO, 26.<br />

Aufl., § 275 Rn. 19). Hinsichtlich Form <strong>und</strong> Inhalt unterliegt das in das Protokoll aufgenommene Urteil den gleichen<br />

Anforderungen wie die in einer getrennten Urk<strong>und</strong>e erstellten Urteile (vgl. RGSt 19, 233). Wenn sich die nach § 275<br />

Abs. 3 StPO erforderlichen Angaben bereits aus dem Protokoll ergeben, ist ein besonderer Urteilskopf jedoch entbehrlich.<br />

Die Urteilsformel <strong>und</strong> die Gründe müssen im Protokoll von sämtlichen mitwirkenden Richtern unterschrieben<br />

werden (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 275 Rn. 1).<br />

b) Im Bußgeldverfahren eröffnet § 77b Abs. 1 OWiG – über § 267 Abs. 4 <strong>und</strong> Abs. 5 Satz 2 StPO hinausgehend –<br />

aus Gründen der Verfahrensvereinfachung <strong>und</strong> zur Entlastung der Tatsacheninstanz die Möglichkeit, von einer<br />

schriftlichen Begründung des Urteils gänzlich abzusehen (vgl. KK-Senge, OWiG, 3. Aufl., § 77b Rn. 1). Dies ist<br />

dann der Fall, wenn alle zur Anfechtung Berechtigten auf die Einlegung der Rechtsbeschwerde verzichtet haben oder<br />

wenn innerhalb der Frist keine Rechtsbeschwerde eingelegt wird (§ 77b Abs. 1 Satz 1 OWiG) oder wenn die Verzichtserklärungen<br />

der Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> des Betroffenen ausnahmsweise entbehrlich sind (§ 77b Abs. 1 Sätze 2<br />

- 230 -


<strong>und</strong> 3 OWiG). Im Bußgeldverfahren steht somit der Umstand, dass in dem Hauptverhandlungsprotokoll keine Urteilsgründe<br />

niedergelegt sind, der Annahme eines im Sinne von § 46 Abs. 1, § 71 Abs. 1 OWiG, § 275 Abs. 1 Satz 1<br />

StPO vollständig in das Sitzungsprotokoll aufgenommenen Urteils nicht entgegen. Es genügt, dass das Hauptverhandlungsprotokoll<br />

alle für den Urteilskopf nach § 275 Abs. 3 StPO erforderlichen Angaben sowie den vollständigen<br />

Tenor ein-schließlich der angewendeten Vorschriften enthält <strong>und</strong> von dem erkennenden Richter unterzeichnet ist<br />

(vgl. OLG Bamberg, ZfS 2009, 175; StraFo 2010, 468; OLG Celle, NZV 2012, 45, 46; KG, NZV 1992, 332; OLG<br />

Oldenburg, NZV 2012, 352).<br />

c) Es entspricht gefestigter Rechtsprechung <strong>und</strong> einer verbreiteten Meinung in der Literatur, dass die nachträgliche<br />

Ergänzung eines Urteils gr<strong>und</strong>sätzlich nicht zulässig ist – <strong>und</strong> zwar auch nicht innerhalb der Urteilsabsetzungsfrist<br />

des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO –, wenn es bereits aus dem inneren Dienstbereich des Gerichts herausgegeben worden<br />

ist (BGH, Beschluss vom 13. März 1997 – 4 StR 455/96, BGHSt 43, 22, 26 mwN). Für das Bußgeldverfahren folgt<br />

daraus, dass ein vollständig in das Sitzungsprotokoll aufgenommenes, nicht mit Gründen versehenes Urteil, das den<br />

inneren Dienstbereich des Gerichts bereits verlassen hat, nicht mehr verändert werden darf, es sei denn, die nachträgliche<br />

Urteilsbegründung ist gemäß § 77b Abs. 2 OWiG zulässig (vgl. OLG Bamberg, ZfS 2009, 175; StraFo 2010,<br />

468; Brandenburgisches OLG, VRS 122, 151; OLG Celle, VRS 75, 461; NStZ-RR 2000, 180; NZV 2012, 45; OLG<br />

Dresden, NZV 2012, 557; KG, NZV 1992, 332; OLG Oldenburg, NZV 2012, 352, 353). Die Voraussetzungen für<br />

eine ausnahmsweise nachträgliche Ergänzung der Urteilsgründe waren im vorliegenden Fall schon deshalb nicht<br />

gegeben, weil der Betroffene zu einer 250 € übersteigenden Geldbuße verurteilt worden ist (§ 77b Abs. 1 Satz 3,<br />

Abs. 2 OWiG). Gleichwohl durfte das Amtsgericht die Urteilsgründe innerhalb der Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2<br />

StPO zu den Akten bringen. Denn durch die Übersendung des Hauptverhandlungsprotokolls an die Staatsanwaltschaft<br />

zum Zwecke der Kenntnisnahme ist noch keine die nachträgliche Fertigung von Urteilsgründen sperrende<br />

Hinausgabe eines „Protokollurteils“ erfolgt. Dies ergibt sich hier unzweifelhaft aus dem Vorbehalt, den der Richter<br />

in die Begleitverfügung aufgenommen hat.<br />

d) Die Entscheidung, ob ein Urteil als verfahrensabschließend gewollt ist <strong>und</strong> deshalb aus dem inneren Dienstbetrieb<br />

herausgegeben werden soll, trifft der erkennende Richter (vgl. BGH, Beschluss vom 6. August 2004 – 2 StR 523/03,<br />

BGHSt 49, 230, 234). Voraussetzung für die Annahme der Hinausgabe eines nicht begründeten „Protokollurteils“ ist<br />

der erkennbar zum Aus-druck gebrachte Wille des Gerichts, dass es von den Möglichkeiten des § 77b Abs. 1 OWiG<br />

sowie des § 275 Abs. 1 Satz 1 StPO in Verbindung mit § 71 Abs. 1 OWiG Gebrauch macht, also von einer schriftlichen<br />

Begründung des Urteils gänzlich absieht <strong>und</strong> das Urteil allein durch Aufnahme in das Hauptverhandlungsprotokoll<br />

fertigt (vgl. OLG Celle, VRS 75, 461, 462). Der Richter muss sich bewusst für eine derart abgekürzte Fassung<br />

des Urteils entschieden haben (vgl. OLG Bamberg, ZfS 2009, 175; KG, NZV 1992, 332). Solange ein Urteil bewusst<br />

unvollständig ist, also noch keine endgültig gebilligte Urteilsfassung vorliegt, ist es nicht Bestandteil der Akten, <strong>und</strong><br />

zwar selbst dann nicht, wenn der Entwurf diesen einliegen sollte (Stuckenberg in LR-StPO, 26. Aufl., § 275 Rn. 3).<br />

Erst mit der gerichtlichen Anordnung (§ 36 Abs. 1 Satz 1 StPO) der Übersendung der Akten einschließlich eines<br />

ohne Gründe ins Hauptverhandlungsprotokoll aufgenommenen bzw. als Anlage zum Hauptverhandlungsprotokoll<br />

genommenen Urteils an die Staatsanwaltschaft „zur Zustellung gemäß § 41 StPO“ hat sich der Tatrichter für die<br />

Hinausgabe einer nicht mit Gründen versehenen Urteilsfassung endgültig entschieden. Damit hat ein „Protokollurteil<br />

ohne Gründe“ den inneren Dienstbereich des Gerichts verlassen <strong>und</strong> ist mit der Zustellung an die Staatsanwaltschaft<br />

nach außen in Erscheinung getreten. Da der Tatrichter in diesem Fall das Urteil der Staatsanwaltschaft in Urschrift<br />

<strong>und</strong> eindeutig erkennbar im Wege der förmlichen Bekanntmachung einer Entscheidung zugeleitet hat, muss er sich<br />

an dieser Erklärung festhalten lassen (vgl. OLG Bamberg, ZfS 2009, 175; StraFo 2010, 468; Brandenburgisches<br />

OLG, VRS 122, 151; OLG Celle, VRS 75, 461; NStZ-RR 2000, 180; NZV 2012, 45, 46; OLG Oldenburg, NZV<br />

2012, 352 f.). Dabei wird den Anforderungen an eine Zustellung gemäß § 41 StPO bereits dadurch genügt, dass die<br />

Staatsanwaltschaft aus der Übersendungsverfügung in Verbindung mit der aus den Akten zu ersehenden Verfahrenslage<br />

erkennen kann, mit der Übersendung an sie werde die Zustellung nach § 41 StPO bezweckt. Es bedarf keines<br />

ausdrücklichen Hinweises auf diese Vorschrift (vgl. RGSt 61, 351, 352; KK-Maul, StPO, 6. Aufl., § 41 Rn. 3;<br />

Graalmann-Scheerer in LR-StPO, 26. Aufl., § 41 Rn. 1). Hat der Tatrichter demgegenüber lediglich die formlose<br />

Übersendung der Akten <strong>und</strong> des Hauptverhandlungsprotokolls an die Staatsanwaltschaft verfügt, um diese über den<br />

Ausgang des Verfahrens zu informieren <strong>und</strong> die Frage des Rechtsmittelverzichts möglichst frühzeitig zu klären, so<br />

behält er sich ersichtlich die Entscheidung vor, gegebenenfalls innerhalb der Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO ein<br />

mit Gründen versehenes Urteil als besondere Niederschrift zu den Akten zu bringen. Für die Annahme einer Zustellung<br />

im Sinne von § 41 StPO durch Vorlegung der Urschrift des Urteils ist kein Raum, weil auf Seiten des Tatrich-<br />

- 231 -


ters ein entsprechender Zustellungswille fehlt <strong>und</strong> dies in der Zuleitungsverfügung auch deutlich zum Ausdruck<br />

kommt (vgl. OLG Celle, VRS 75, 461, 462; NStZ-RR 2000, 180; NZV 2012, 45, 46; Göhler/Seitz, OWiG, 16. Aufl.,<br />

§ 77b Rn. 3, 8; KK-Senge, OWiG, 3. Aufl., § 77b Rn. 5, 15). Der Richter will dann noch kein fertiges Urteil in den<br />

Geschäftsgang geben. So verhielt es sich insbesondere in dem Fall, der dem Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg<br />

vom 10. November 2011 – 3 Ss OWi 1444/11 – zu Gr<strong>und</strong>e lag. Auf den Willen <strong>und</strong> das Handeln der Staatsanwaltschaft,<br />

der zugestellt werden soll, kommt es dabei nicht an (vgl. RGSt 57, 55).<br />

e) Dem Tatrichter die Möglichkeit zu nehmen, durch formlose Übersendung des Hauptverhandlungsprotokolls an die<br />

Staatsanwaltschaft frühzeitig zu klären, ob diese auf Rechtsmittel verzichtet, <strong>und</strong> damit Zeit für den Fall zu gewinnen,<br />

dass auch der Betroffene kein Rechtsmittel einlegt, würde zudem eine unnötige formale Beschränkung darstellen.<br />

Diese wäre mit dem Zweck des Bußgeldverfahrens, der auf eine einfache, schnelle <strong>und</strong> summarische Erledigung<br />

ausgerichtet ist (BGH, Beschluss vom 13. März 1997 – 4 StR 455/96, BGHSt 43, 22, 26), nicht vereinbar.<br />

StPO § 302 Abs. 2 § 145a – Vollmacht mit (widerrufener) ausdrücklicher Ermächtigung zur Rücknahme<br />

von Rechtsmittel<br />

BGH, Beschl. v. 05.06.2013 - 1 StR 168/13 - BeckRS 2013, 12151<br />

Zum Widerruf einer bei Übernahme des Mandats im Rahmen der Vollmachtserteilung eingeräumten<br />

allgemeinen Ermächtigung zur Rücknahme von Rechtsmitteln.<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gewerbsmäßigen Bandenbetruges in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe<br />

von vier Jahren verurteilt. Seine dagegen gerichtete Revision ist zulässig, bleibt aber in der Sache ohne<br />

Erfolg.<br />

I.<br />

1. Gegen das am 11. Januar 2013 in Anwesenheit des Angeklagten verkündete Urteil haben für diesen Rechtsanwalt<br />

E. am 17. Januar 2013 (Bl. 4151 der Sachakten) sowie Rechtsanwalt Dr. En. am 18. Januar 2013 (Bl. 4155 der Sachakten)<br />

Revision eingelegt. Beide Revisionsschriften rügen die Verletzung formellen <strong>und</strong> materiellen Rechts. Nachdem<br />

das schriftliche Urteil am 6. Februar 2013 der den Angeklagten vor dem Landgericht verteidigenden Rechtsanwältin<br />

C. zugestellt worden war (Bl. 4227 der Sachakten), hat Rechtsanwalt E. die Sachrüge mit einem am 5. März<br />

2013 eingegangenen Schriftsatz näher ausgeführt (Bl. 4295 der Sachakten).<br />

2. Damit ist die Revision des Angeklagten zulässig eingelegt <strong>und</strong> begründet worden. Das Rechtsmittel ist nicht durch<br />

einen am 13. März 2013 bei dem Landgericht eingegangenen Schriftsatz von Rechtsanwalt Dr. En. (Bl. 4305 der<br />

Sachakten) wirksam zurückgenommen worden. Zum Zeitpunkt der Rücknahmeerklärung fehlte diesem die gemäß §<br />

302 Abs. 2 StPO erforderliche ausdrückliche Ermächtigung des Angeklagten zur Rücknahme der Revision.<br />

a) Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob Rechtsanwalt Dr. En. ursprünglich im Rahmen der Mandatserteilung<br />

aufgr<strong>und</strong> des Inhalts der von dem Angeklagten unter dem Datum vom 18. Juli 2011 unterzeichneten Vollmachtsurk<strong>und</strong>e<br />

(dort Ziffer 11; Bl. 795 der Sachakten) eine solche ausdrückliche Ermächtigung eingeräumt worden<br />

war. In der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs ist eine - wie hier - bei Übernahme des Mandats im Rahmen der<br />

Vollmachtserteilung eingeräumte allgemeine Ermächtigung zur Rücknahme von Rechtsmitteln als ausdrückliche<br />

Ermächtigung gemäß § 302 Abs. 2 StPO nicht für genügend erachtet worden (BGH, Beschluss vom 2. August 2000 -<br />

3 StR 284/00, NStZ 2000, 665; näher auch zu abweichenden Auffassungen Radtke in Radtke/Hohmann, StPO, 2011,<br />

§ 302 Rn. 51 mwN).<br />

b) Selbst wenn aber eine solche formularmäßig <strong>und</strong> vor Ergehen der später angefochtenen Entscheidung erklärte<br />

Ermächtigung den gesetzlichen Anforderungen genügen sollte, hat der Angeklagte die Ermächtigung gegenüber<br />

Rechtsanwalt Dr. En. wirksam <strong>und</strong> rechtzeitig widerrufen, bevor die Rücknahmeerklärung bei dem Landgericht<br />

eingegangen ist. Dem liegt folgendes Geschehen zugr<strong>und</strong>e:<br />

aa) Unter dem Datum vom 25. Februar 2013 richtete Dr. En. ein Schreiben an den Angeklagten, in dem der Verteidiger<br />

mitteilte, auftragsgemäß Revision eingelegt zu haben (Bl. 4335 der Sachakten). Weiterhin wies Dr. En. auf eine<br />

Zusage des Angeklagten hin, 1.500 Euro als Honorar zu entrichten, was bislang nicht geschehen sei. Der Verteidiger<br />

kündigte in dem Schreiben unter Hinweis auf die ausgebliebene Zahlung <strong>und</strong> die fehlende Reaktion des Angeklagten<br />

an, innerhalb der nächsten vier Tage die Revision zurücknehmen zu wollen. Mit einem weiteren, auf den 1. März<br />

2013 datierten Schreiben an den Angeklagten führte Dr. En. aus, ein Telefonat mit dem Angeklagten mit äußerster<br />

- 232 -


Verärgerung zur Kenntnis genommen zu haben, weil jener in dem Telefongespräch bestritten habe, ihn (Dr. En.) mit<br />

der Einlegung der Revision beauftragt <strong>und</strong> die Zahlung von 1.500 Euro zugesagt zu haben (Bl. 4337 der Sachakten).<br />

Wörtlich heißt es in dem Schreiben: „… so gehe ich davon aus, dass es sich um ein Missverständnis handelt. Ich<br />

werde daher die Revision am 6. März 2013, 16.00 Uhr gegenüber dem Landgericht in Heidelberg zurücknehmen,<br />

sollte bis dahin dieses Missverständnis nicht dadurch geklärt werden, indem Sie mir die für den Fall der Einlegung<br />

der Revision zugesagten € 1.500,-- überwiesen haben“. Rechtsanwalt Dr. En. hat in einem Telefonat mit dem Berichterstatter<br />

des Senats (vgl. Vermerk Bl. 4339 <strong>und</strong> 4341 der Sachakten) diesen Ablauf bestätigt <strong>und</strong> weiter erklärt,<br />

eine Zahlung des Angeklagten sei ausgeblieben, so dass er (Dr. En. ) mit Schriftsatz vom 7. März 2013 die Revision<br />

zurückgenommen habe.<br />

bb) Bei dieser Sachlage hat der Angeklagte eine etwaige, in der Vollmachtsurk<strong>und</strong>e vom 18. Juli 2011 erklärte ausdrückliche<br />

Ermächtigung widerrufen. Ein solcher Widerruf ist dem Angeklagten gr<strong>und</strong>sätzlich jederzeit <strong>und</strong> unabhängig<br />

von dem Fortbestehen des Mandatsverhältnisses gestattet (BGH, Beschluss vom 15. November 2006 - 2 StR<br />

429/06, NStZ-RR 2007, 151; Cirener in Graf, StPO, 2. Aufl., 2012, § 302 Rn. 28 mwN). Da eine bestimmte Form für<br />

die Widerrufserklärung im Gesetz nicht vorgesehen ist, kommt ein solcher auch durch schlüssiges Verhalten in Betracht<br />

(OLG München, NStZ 1987, 342). Adressaten des Widerrufs können sowohl das Gericht als auch der Verteidiger<br />

sein (BGH aaO). Der Widerruf hebt die zuvor erteilte ausdrückliche Ermächtigung auf, wenn die entsprechende<br />

Widerrufserklärung zeitlich vor dem Eingang der Rücknahmeerklärung bei dem zuständigen Gericht den Adressaten<br />

erreicht (BGH aaO; BGH, Beschluss vom 8. März 2005 - 4 StR 573/04, NStZ-RR 2005, 211; vgl. zum maßgeblichen<br />

Zeitpunkt auch BGH, Beschluss vom 19. Juni 2012 - 3 StR 190/12, NStZ-RR 2012, 318). So verhält es sich<br />

hier. Das Gesamtverhalten des Angeklagten mit dem von Rechtsanwalt Dr. En. selbst berichteten Bestreiten, diesen<br />

überhaupt mit der Einlegung des Rechtsmittels beauftragt <strong>und</strong> ein Honorar versprochen zu haben, sowie das Ausbleiben<br />

einer Zahlung selbst nach der Ankündigung des Verteidigers, die Revision zurückzunehmen, stellen sich als<br />

konkludente Widerrufserklärung dar. Das gilt jedenfalls angesichts des weiteren Umstandes, dass der Angeklagte<br />

nach dem Ergehen des landgerichtlichen Urteils Rechtsanwalt E. mit der Einlegung der Revision beauftragt hatte<br />

(vgl. Bl. 4329 <strong>und</strong> Bl. 4331 der Sachakten), die dieser dementsprechend auch am 17. Januar 2013 erhoben <strong>und</strong> am 5.<br />

März 2013 zur Sachrüge näher begründet hat. Angesichts dessen kommt dem Schweigen des Angeklagten (vgl. dazu<br />

auch im Zusammenhang mit § 302 Abs. 2 StPO OLG Oldenburg StraFo 2010, 347) auf die mit der Ankündigung der<br />

Rücknahme verb<strong>und</strong>ene Aufforderung zur Zahlung des Pauschalhonorars ein eindeutiger, den Widerruf der Ermächtigung<br />

beinhaltender Aussagegehalt zu. Es kann deshalb offen bleiben, ob bereits allein der Umstand der Mandatierung<br />

eines anderen Verteidigers (hier: Rechtsanwalt E.) als Widerruf der dem früheren Verteidiger erteilten ausdrücklichen<br />

Ermächtigung zu werten ist (vgl. Frisch in Systematischer Kommentar zur StPO, 3. Aufl. 16. Lfg., § 302<br />

Rn. 75). Der konkludente Widerruf der Ermächtigung hat Rechtsanwalt Dr. En. auch vor dem erst am 13. März 2013<br />

erfolgenden Eingang der Rücknahmeerklärung bei dem Landgericht erreicht. Denn der Widerruf liegt gerade in dem<br />

dem Verteidiger sogar vor dem Absenden der Rücknahmeerklärung bekannt gewordenen Gesamtverhalten des Angeklagten.<br />

3. Da die Revision des Angeklagten nicht wirksam zurückgenommen worden ist, erweist sich der Beschluss des<br />

Landgerichts Heidelberg vom 13. März 2013, mit dem ihm wegen der durch Rechtsanwalt Dr. En. (unwirksam)<br />

erklärten Rücknahme des Rechtsmittels die dafür entstandenen Kosten auferlegt worden sind, als gegenstandslos. Da<br />

die Rücknahme unwirksam war, ist die Sache bei dem Senat anhängig (vgl. BGH, Beschluss vom 3. März 2009 - 1<br />

StR 61/09), so dass dieser mit der Gegenstandslosigkeit des landgerichtlichen Beschlusses befasst ist.<br />

4. Wegen der zulässig erhobenen <strong>und</strong> nicht wirksam zurückgenommenen Revision sind der Antrag des Angeklagten<br />

vom 2. April 2013 auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur sofortigen Beschwerde<br />

gegen den genannten Beschluss des Landgerichts sowie die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde ebenfalls<br />

gegenstandslos (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Mai 2011 - 1 StR 381/10, wistra 2011, 315).<br />

II. In der Sache bleibt die Revision des Angeklagten ohne Erfolg. Aus den in der Antragsschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwaltes<br />

vom 6. Mai 2013 genannten Gründen enthält das angefochtene Urteil keinen Rechtsfehler zum Nachteil des<br />

Angeklagten.<br />

- 233 -


StPO § 406g Abs. 1, 3 Satz 1 Nr. 1, § 397a Abs. 1 Nr. 2, § 395 Abs. 2 Nr. 1; Türkisches Gesetz über<br />

das internationale Privat- <strong>und</strong> Zivilverfahrensrecht (türk. IPRG) Art. 14, 58<br />

BGH, Beschl. v. 18.09.2012 - 3 BGs 262/12 (2 BJs 162/11-2) - NJW 2012, 3524 BGHR StPO § 395 II Nr. 1 Nebenklageberechtigung<br />

Ehegatte 1<br />

LS: Zur Nebenklageberechtigung des Ehegatten im Falle einer in Deutschland rechtskräftig erfolgten<br />

Scheidung einer zwischen türkischen Staatsangehörigen geschlossenen Ehe bei Fehlen der nach<br />

dem anzuwendenden materiellen türkischen Recht erforderlichen Anerkennungsentscheidung.<br />

Der Antrag der G. Ö. vom 21. Februar 2012, ihr Rechtsanwalt Dr. D., B., als Beistand zu bestellen, wird nach Anhörung<br />

des Generalb<strong>und</strong>esanwalts beim B<strong>und</strong>esgerichtshof zurückgewiesen.<br />

Gründe:<br />

I. Der Generalb<strong>und</strong>esanwalt führt gegen die Beschuldigte X. ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts […]<br />

II.<br />

1. Mit Schriftsatz vom 21. Februar 2012 beantragte Rechtsanwalt Dr. D. seine Beiordnung für T. Ö., die Tochter des<br />

Getöteten A. Ö. (siehe oben I. (3)), <strong>und</strong> für die Antragstellerin G. Ö., die das Tatopfer im Jahre 1980 in der Türkei<br />

nach türkischem Recht geheiratet hatte. Nach dem Umzug der Antragstellerin <strong>und</strong> des Tatopfers in die B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland wurde deren Eheschließung auch nach deutschem Recht vor dem Standesamt in N. vollzogen. Im<br />

Jahre 1998 erfolgte die Scheidung der Ehe durch rechtskräftiges Urteil des Familiengerichts N. Während seitens des<br />

Generalb<strong>und</strong>esanwalts beim B<strong>und</strong>esgerichthof gegen den Antrag der Tochter des Getöteten Einwendungen nicht<br />

erhoben <strong>und</strong> insoweit durch Beschluss des Ermittlungsrichters des B<strong>und</strong>esgerichtshofs vom 29. Februar 2012 (3 BGs<br />

109/12) Rechtsanwalt Dr. D. als Beistand beigeordnet wurde, wies der Generalb<strong>und</strong>esanwalt die Antragstellerin G.<br />

Ö. darauf hin, dass nach Aktenlage die Eheleute Ö. geschieden <strong>und</strong> deshalb eine Nebenklageberechtigung nicht mehr<br />

gegeben sei. Rechtsanwalt Dr. D. bat den Generalb<strong>und</strong>esanwalt daraufhin, den Antrag zurückzustellen, um ihm Gelegenheit<br />

zu ergänzendem Vortrag zu geben. Auf den daraufhin vorgelegten Schriftsatz vom 29. Februar 2012 wies<br />

der Generalb<strong>und</strong>esanwalt unter Bezugnahme auf ein Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 27. Mai 2003<br />

(FamRZ 2004, 953 f.) auf fortbestehende Bedenken hin <strong>und</strong> gab Rechtsanwalt Dr. D. die Möglichkeit, ergänzend zu<br />

Art. 13, 54 <strong>und</strong> 58 des türkischen Gesetzes über das internationale Privat- <strong>und</strong> Zivilverfahrensrecht (türk. IPRG)<br />

vorzutragen, da auch nach den Ausführungen im Schriftsatz vom 29. Februar 2012 von der Geltung deutschen<br />

Scheidungsrecht auszugehen sei. Eine - ablehnende - Stellungnahme des Generalb<strong>und</strong>esanwalts beim Ermittlungsrichter<br />

des B<strong>und</strong>esgerichtshofs zum Beiordnungsantrag der Antragstellerin sollte einvernehmlich bis dahin zurückgestellt<br />

werden. Mit Schriftsatz vom 23. August 2012 hat Rechtsanwalt Dr. D. ergänzend Stellung genommen.<br />

2. Der Generalb<strong>und</strong>esanwalt ist dem Antrag mit Stellungnahme vom 30. August 2012 entgegengetreten <strong>und</strong> hat zur<br />

Begründung ausgeführt: „Für die Anwendung der §§ 395, 397a <strong>und</strong> 406g StPO ist von einer rechtskräftig geschiedenen<br />

Ehe des getöteten A. Ö. <strong>und</strong> der Antragstellerin auszugehen. Beide Ehegatten waren türkische Staatsangehörige,<br />

auf deren Scheidungsantrag gemäß Art. 14 Abs. 1 Nr. 1, Art. 17 EGBGB materielles türkisches Recht Anwendung<br />

findet. Damit wird aber auch auf das türkische internationale Privatrecht <strong>und</strong> dessen Art. 13 verwiesen, nach dem das<br />

materielle Recht des Aufenthalts der Ehegatten anzuwenden ist. Die Eheleute Ö. waren beide in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland aufenthältig, so dass auf deutsches Scheidungsrecht zurückverwiesen wird (vgl. OLG Frankfurt FamRZ<br />

2004, 953 f.). Dementsprechend ging die Antragstellerin auch in ihren Vernehmungen nach der Tat von einer geschiedenen<br />

Ehe aus (vgl. S. 2 f. vom 14. Juni 2001; S. 2, 6, 9 ff. vom 29. August 2001; S. 2 vom 17. September<br />

2002). Ob für eine Wirksamkeit des deutschen Scheidungsurteils in der Türkei die im Schriftsatz vom 23. August<br />

2012 angesprochene - türkische - Anerkennungsentscheidung rechtskräftig vorliegt, kann hier dahinstehen. Für die<br />

Frage der Nebenklageberechtigung nach § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO kann es nur darauf ankommen, ob eine Ehe nach<br />

deutschem Recht im Tatzeitpunkt bestand. Dies ist nach rechtskräftig ausgesprochener Scheidung nicht der Fall.“<br />

III.<br />

1. Für die beantragte Entscheidung ist gemäß § 406g Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 162 Abs. 1 Satz 1, § 169<br />

Abs. 1 Satz 2 StPO der Ermittlungsrichter des B<strong>und</strong>esgerichtshofs zuständig.<br />

2. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Bestellung eines Rechtsanwalts als Beistand für die Antragstellerin<br />

liegen nicht vor (§ 406g Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 Nr. 1, § 397a Abs. 1 Nr. 2, § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO i.V.m. §<br />

211 StGB).<br />

- 234 -


a) Gemäß § 406g Abs. 1 Satz 1 StPO können nach § 395 zum Anschluss mit der Nebenklage Befugte sich auch vor<br />

Erhebung der öffentlichen Klage <strong>und</strong> ohne Erklärung eines Anschlusses eines Rechtsanwalts als Beistand bedienen<br />

oder sich durch diesen vertreten lassen. Für die Bestellung eines solchen Beistands gilt gemäß § 406g Abs. 3 Satz 1<br />

Nr. 1 StPO die Vorschrift des § 397a StPO entsprechend. Nach § 397a Abs. 1 Nr. 2 StPO ist dem zur Nebenklage<br />

Berechtigten auf seinen Antrag ein Rechtsanwalt als Beistand zu bestellen, wenn er Angehöriger eines durch eine<br />

rechtswidrige Tat Getöteten im Sinne des § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO ist. Angehöriger gemäß dieser Vorschrift ist derjenige,<br />

dessen Kinder, Eltern, Geschwister, Ehegatten oder Lebenspartner durch eine rechtswidrige Tat getötet wurden.<br />

Das Angehörigenverhältnis muss im Zeitpunkt des Verfahrens bestehen (Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 395<br />

Rn. 8 mwN).<br />

b) Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Entgegen der von ihr vertretenen Auffassung ist die Antragstellerin<br />

nicht (mehr) Ehegatte des Getöteten A. Ö. im Sinne des § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO. Die Antragstellerin vertritt die<br />

Auffassung, sie sei angesichts der Anwendbarkeit des türkischen internationalen Privatrechts trotz der durch das<br />

Familiengericht N. rechtskräftig ausgesprochenen Scheidung nach wie vor als Ehegatte des Getöteten im Sinne des §<br />

395 Abs. 2 Nr. 1 StPO anzusehen. Denn das deutsche Scheidungsurteil entfalte in der Türkei aufgr<strong>und</strong> des Fehlens<br />

der nach türkischem Recht erforderlichen Anerkennungsentscheidung durch ein türkisches Gericht keine unmittelbare<br />

familienrechtliche Wirkung. Daher sei sie zum Zeitpunkt der Ermordung des Tatopfers A. Ö. von diesem „nicht<br />

rechtmäßig geschieden <strong>und</strong> im Umkehrschluss somit rechtskräftig verheiratet“ gewesen. Zudem hätten sie <strong>und</strong> das<br />

Tatopfer sich nach der Scheidung wieder angenähert <strong>und</strong> sich zuletzt sogar eine gemeinsame größere Wohnung<br />

suchen wollen. Deshalb sei das Anerkennungsverfahren in der Türkei nicht weiterverfolgt worden. Ob hinsichtlich<br />

des rechtskräftigen Scheidungsurteils des Familiengerichts Nürnberg eine Anerkennungsentscheidung durch ein<br />

türkisches Gericht, wie die Antragstellerin vorträgt, bisher nicht ergangen ist, kann dahinstehen. Denn im vorliegenden<br />

Fall ist auch bei - hier gegebener - Anwendbarkeit materiellen türkischen Rechts bereits mit der Rechtskraft des<br />

deutschen Scheidungsurteils von einem Fehlen der Ehegatteneigenschaft der Antragstellerin im Sinne der § 395 Abs.<br />

2 Nr. 1 StPO in Verbindung mit § 406g Abs. 3 Satz 1 Nr. 1, § 397a Abs. 1 Nr. 2 StPO auszugehen.<br />

aa) Nach einhelliger Auffassung in Rechtsprechung <strong>und</strong> Literatur sind geschiedene Ehegatten nicht nebenklageberechtigt<br />

(siehe nur BVerfG, NJW 1993, 3316, 3317; Hilger in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 395 Rn. 11; Senge<br />

in KK-StPO, 6. Aufl., § 395 Rn. 8; Meyer-Goßner, aaO; Weiner in BeckOK-StPO, Stand: 1. Juni 2012, § 395 Rn.<br />

14a). Demgemäß kann ihnen auch nicht nach § 406g Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StPO in Verbindung mit § 397a Abs. 1 Nr.<br />

2 StPO ein Rechtsanwalt als Beistand bestellt werden.<br />

bb) In Übereinstimmung mit dem Generalb<strong>und</strong>esanwalt ist die Antragstellerin jedenfalls im Rahmen der hier maßgeblichen<br />

Vorschriften der § 406g Abs. 3 Satz 1 Nr. 1, § § 397a Abs. 1 Nr. 2, § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO als geschiedener<br />

Ehegatte anzusehen.<br />

(1) Anders als der Generalb<strong>und</strong>esanwalt unter Berufung auf ein Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main<br />

vom 27. Mai 2003 (FamRZ 2004, 953) meint, folgt dies allerdings nicht bereits aus einer Verweisung in Art. 13 Abs.<br />

1 türk. IPRG (aF) auf das deutsche Recht. Denn diese Vorschrift, nimmt - ebenso wie die im Wesentlichen inhaltsgleiche<br />

Nachfolgeregelung in Art. 14 des türkischen Gesetzes Nr. 5718 vom 27. November 2007 über das internationale<br />

Privat- <strong>und</strong> Zivilverfahrensrecht (türk. IPRG nF) - eine solche Verweisung nur unter bestimmten, hier nicht<br />

gegebenen Voraussetzungen vor. Aufgr<strong>und</strong> der türkischen Staatsangehörigkeit der Antragstellerin <strong>und</strong> des Tatopfers<br />

war für deren Scheidung gemäß Art. 14 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1, Art. 17 Abs. 1 EGBGB materielles türkisches Recht<br />

anzuwenden. Mit der Verweisung auf dieses Recht gemäß den vorgenannten Bestimmungen des EGBGB wird auch<br />

auf das türkische internationale Privatrecht <strong>und</strong> damit auf dessen die Scheidung betreffenden Art. 14 türk. IPRG nF<br />

(<strong>und</strong> zuvor auf die Vorgängerregelung in § 13 türk. IPRG aF) verwiesen (vgl. OLG <strong>Hamm</strong>, FamRZ 2011, 220 Rn.<br />

16; OLG Frankfurt, aaO). Gemäß diesen Vorschriften unterliegen die Gründe <strong>und</strong> Folgen der Scheidung <strong>und</strong> Trennung<br />

- ebenso wie die allgemeinen Wirkungen der Ehe (Art. 13 Abs. 3 türk IPRG nF bzw. § 12 Abs. 2 türk. IPRG<br />

aF) - dem gemeinsamen Heimatrecht der Ehegatten. Nur wenn die Ehegatten - wie hier nicht der Fall - verschiedener<br />

Staatsangehörigkeit sind, wird das Recht des gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts, bei Fehlen eines solchen<br />

türkisches Recht angewandt. Das Scheidungsstatut beurteilt sich mithin, wenn beide Ehegatten - wie hier - bei Zustellung<br />

der Scheidungsklage die türkische Staatsangehörigkeit besitzen, nach türkischem Recht (vgl. BGH, Beschluss<br />

vom 20. Juni 2007 - XII ZB 17/04, NJW 2007, 3347 Rn. 13; OLG <strong>Hamm</strong>, aaO).<br />

(2) Aus dieser Anwendung materiellen türkischen Rechts folgt indes für die Beurteilung der hier in Rede stehenden<br />

strafverfahrensrechtlichen Frage der Nebenklageberechtigung der Antragstellerin nicht, dass dem rechtskräftigen<br />

- 235 -


inländischen Scheidungsurteil nur bei Vorliegen einer Anerkennungsentscheidung durch ein türkisches Gericht Bedeutung<br />

zukäme.<br />

(a) Allerdings bedarf ein Scheidungsurteil eines deutschen Gerichts, um in der Türkei Rechtswirksamkeit zu erlangen,<br />

einer förmlichen Anerkennung durch ein dortiges Gericht (Art. 58 türk. IPRG; BSGE 83, 200, 203; LSG Nordrhein-Westfalen,<br />

Urteil vom 14. Februar 2012 - L 18 R 677/10, juris Rn. 27; Savas, Türkisches Familienrecht in der<br />

anwaltlichen Praxis, 2011, § 11 Rn. 1; Kaplan in Rieck, Ausländisches Familienrecht, Türkei, Stand April 2009, Rn.<br />

42 ff.).<br />

(b) Gleichwohl kann ein solches Scheidungsurteil im Inland Gestaltungswirkung bereits mit seiner Rechtskraft erlangen.<br />

(aa) Zu der Frage, inwiefern das Urteil eines deutschen Gerichts, durch das die Ehe zweier ausländischer Staatsangehöriger<br />

nach deren Heimatrecht geschieden wird, in Deutschland Gestaltungswirkung entfaltet, solange noch eine<br />

nach dem betreffenden Heimatrecht erforderliche Anerkennung durch eine Stelle dieses Staates fehlt, werden in der<br />

Literatur unterschiedliche Auffassungen vertreten (zum Meinungsstand vgl. BSGE, aaO). Die höchstrichterliche<br />

Rechtsprechung sieht insoweit, ohne dass bisher die hier gegebene Fallkonstellation hinsichtlich der Nebenklageberechtigung<br />

entschieden worden wäre, eine differenzierte Betrachtungsweise als sachgerecht an <strong>und</strong> differenziert nach<br />

dem rechtlichen Zusammenhang, in welchem sich die (Vor-) Frage der Gestaltungswirkung eines deutschen Scheidungsurteils<br />

stellt. So hat der B<strong>und</strong>esgerichtshof bei der Prüfung von nach ausländischem Recht zu beurteilenden<br />

Ehehindernissen auf die Anerkennung des Scheidungsurteils nach dem betreffenden Recht abgestellt (BGH, Beschlüsse<br />

vom 12. Februar 1964 - IV AR (VZ) 39/63, BGHZ 41, 136, 145 ff.; vom 19. April 1972 - IV AR (VZ) 7/72,<br />

NJW 1972, 1619 unter II). Bei der Anwendung ausländischen Erbrechts hingegen hat er dem Fehlen einer Anerkennung<br />

des deutschen Scheidungsurteils im Ausland keine Bedeutung beigemessen (BGH, Urteil vom 12. März 1981 -<br />

IVa ZR 111/80, NJW 1981, 1900 unter II). Auch bei der Beurteilung der Frage einer Ehenichtigkeit wegen angeblichen<br />

Fortbestehens der ersten Ehe hat der B<strong>und</strong>esgerichtshof dem Fehlen einer (dort allerdings durch das ausländische<br />

Recht wegen Unauflöslichkeit der Ehe ausgeschlossenen) Anerkennung des deutschen Scheidungsurteils im<br />

Ausland keine entscheidende Bedeutung beigemessen <strong>und</strong> die erste Ehe letztlich aus der Sicht des deutschen Rechts<br />

durch rechtskräftiges Scheidungsurteil eines deutschen Gerichts für aufgelöst erachtet (BGH, Urteil vom 27. November<br />

1996 - XII ZR 126/95, NJW 1997, 2114 unter 2 c bis e; vgl. auch KG, NJW-RR 1994, 774, 775 - zum Fall<br />

der Feststellung der Nichtehelichkeit durch ein rechtskräftiges deutsches Statusurteil ohne Vorliegen einer türkischen<br />

Anerkennungsentscheidung; vgl. hierzu auch LG Bonn, StAZ 1988, 354). Das B<strong>und</strong>essozialgericht hat in dem bereits<br />

erwähnten Urteil vom 13. Januar 1999 einen Witwenrentenanspruch angesichts des Vorliegens eines rechtskräftigen<br />

deutschen Scheidungsurteils trotz Fehlens einer türkischen Anerkennungsentscheidung verneint (BSGE, aaO S.<br />

205). Es hat im Rahmen der auch von ihm für sachgerecht erachteten differenzierten Betrachtungsweise (BSGE, aaO<br />

S. 203) angenommen, dass die somit vorzunehmende Abwägung bei der Auslegung der für die Hauptfrage maßgeblichen<br />

Norm anzusetzen habe, in deren Zusammenhang sich die Vorfrage des Bestehens einer gültigen Ehe stelle<br />

(BSGE, aaO S. 204). Hierbei hat das B<strong>und</strong>essozialgericht auch auf den Gesichtspunkt eines Inlands- bzw. Auslandsbezugs<br />

der Rechtsangelegenheit abgestellt <strong>und</strong> ausgeführt, das dort zugr<strong>und</strong>e liegende Verfahren weise einen starken<br />

Inlandbezug auf, da es eine Leistungsgewährung aus dem inländischen System der gesetzlichen Rentenversicherung<br />

betreffe. Zudem hätten der verstorbene Versicherte <strong>und</strong> dessen geschiedene Ehefrau im Zeitpunkt seines Todes im<br />

Inland gewohnt. Beide hätten im Hinblick auf die von ihnen selbst betriebene Ehescheidung durch ein deutsches<br />

Gericht auch nicht davon ausgehen können, dass sie weiterhin in einer gültige Ehe lebten (BSGE, aaO S. 205).<br />

(bb) Im vorliegenden Fall führt die vorzunehmende differenzierte Betrachtungsweise zu dem Ergebnis, dass die<br />

Antragstellerin auch im Falle des Fehlens der Anerkennungsentscheidung durch ein türkisches Gericht nicht (mehr)<br />

als Ehegatte des Tatopfers A. Ö. anzusehen ist. Dabei kann dahinstehen, ob dem vom B<strong>und</strong>essozialgericht verwendeten<br />

Gesichtspunkt des Inlands- bzw. Auslandsbezug (vgl. hierzu auch LSG Nordrhein-Westfalen, aaO Rn. 30) auch<br />

bei der Beurteilung des Vorliegens einer Nebenklageberechtigung gemäß § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO maßgebliche<br />

Bedeutung zukommt oder ob diesem Gesichtspunkt hier die Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts entgegensteht,<br />

wonach die in § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO bestimmte Regelung insofern Rechtssicherheit <strong>und</strong> auch Praktikabilität<br />

besorge, indem sie die Feststellung der Nebenklagebefugnis eindeutig treffen lasse <strong>und</strong> verhindere, dass zur<br />

Bestimmung des Kreises der Nebenklageberechtigten erst umfangreiche Aufklärungsbemühungen des Gerichts entwickelt<br />

werden müssten, um über die Nebenklagebefugnis zu entscheiden (BVerfG, aaO). Denn auch unabhängig<br />

vom Vorliegen eines - hier schon wegen des langjährigen Aufenthalts der Antragstellerin <strong>und</strong> des Tatopfers in der<br />

B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland sowie des Umstands, dass beide sich mit ihrem Scheidungsbegehren an ein deutsches<br />

- 236 -


Gericht gewandt haben <strong>und</strong> es vorliegend um die Beteiligung als Nebenklägerin an einem im Inland geführten Strafverfahren<br />

geht, zu bejahenden - starken Inlandsbezugs führt bereits die Auslegung der für die Hauptfrage maßgeblichen<br />

Norm (vgl. hierzu BSGE, aaO S. 204) zu dem Ergebnis, dass die Antragstellerin nicht (mehr) als Ehegatte des<br />

Getöteten anzusehen ist. Mit der Vorschrift des § 395 Abs. 1 Nr. 2 StPO soll den nahen Angehörigen des durch eine<br />

rechtwidrige Tat Getöteten (wie Ehegatten, Kindern <strong>und</strong> Geschwistern) ein Recht zur Nebenklage zugesprochen<br />

werden, um einen Anspruch auf Genugtuung <strong>und</strong> Entschädigung durch Beteiligung am Strafverfahren durchzusetzen<br />

(BVerfG, aaO mwN). Die Nebenklage schafft hierfür eine umfassende Beteiligungsbefugnis. Dem Nebenkläger wird<br />

Gelegenheit gegeben, im Verfahren seine persönlichen Interessen auf Genugtuung zu verfolgen (BGH, Urteil vom<br />

23. Januar 1979 - 5 StR 748/78, BGHSt 28, 272, 273; Senge in KK-StPO, 6. Aufl., vor § 395 Rn. 1), insbesondere<br />

durch aktive Beteiligung das Verfahrensergebnis zu beeinflussen <strong>und</strong> sich gegen die Leugnung oder Verharmlosung<br />

der Verletzung des Tatopfers zu wehren (vgl. Meyer-Goßner, aaO, vor § 395 Rn. 1; Weiner, aaO Rn. 1 f.). Der Sinn<br />

<strong>und</strong> Zweck des § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO sowie der § 406g Abs. 3 Satz 1 Nr. 1, § 397a Abs. 1 Nr. 2 StPO lässt es<br />

demnach nicht sachgerecht erscheinen, ein Genugtuungsinteresse der Antragstellerin <strong>und</strong> deren Möglichkeit einer<br />

aktiven Beteiligung am Strafverfahren noch über den Zeitpunkt der Rechtskraft des - hier bereits 14 Jahre zurückliegenden<br />

- inländischen Scheidungsurteils hinaus bis zu dem - unbestimmten - Zeitpunkt des Vorliegens einer türkischen<br />

Anerkennungsentscheidung anzunehmen. Durch das - hier sogar von der Antragstellerin selbst […] beantragte<br />

- Scheidungsverfahren vor einem inländischen statt vor einem türkischen Gericht haben die Ehegatten, die zu diesem<br />

Zeitpunkt schon seit vielen Jahren in Deutschland lebten <strong>und</strong> arbeiteten, deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie<br />

das Scheidungsurteil des deutschen Gerichts für sich als maßgebend erachten <strong>und</strong> künftig nicht mehr von einem<br />

rechtlichen Fortbestand ihrer Ehe ausgehen wollten. Dem entsprechend hat auch die Antragstellerin selbst, wie sich<br />

aus ihren nach der Ermordung des Tatopfers erfolgten polizeilichen Vernehmungen ergibt <strong>und</strong> vom Generalb<strong>und</strong>esanwalt<br />

in seiner Stellungnahme mit Recht hervorgehoben wird, ihre Ehe als geschieden angesehen.<br />

(c) Ob im Einzelfall besondere Umstände es bei einer Konstellation wie der vorliegenden ausnahmsweise rechtfertigen<br />

können, im Rahmen der § 406g Abs. 3 Satz 1 Nr. 1, § 397a Abs. 1 Nr. 2, § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO nicht auf die<br />

Rechtskraft des inländischen Scheidungsurteils, sondern auf die türkische Anerkennungsentscheidung abzustellen<br />

oder ob einer solchen Beurteilung der vom B<strong>und</strong>esverfassungsgericht in Bezug auf die letztgenannte Vorschrift angeführte<br />

Gesichtspunkt der Rechtssicherheit <strong>und</strong> der Praktikabilität (BVerfG, aaO) entgegensteht, bedarf keiner<br />

Entscheidung. Denn solche Umstände hat die Antragstellerin weder vorgetragen noch sind sie sonst ersichtlich. Die<br />

von der Antragstellerin in ihren polizeilichen Vernehmungen <strong>und</strong> in der Begründung des vorliegenden Antrags geschilderten<br />

Umstände einer späteren Wiederannäherung der geschiedenen Ehegatten rechtfertigen eine Ausnahme in<br />

dem vorstehend genannten Sinne jedenfalls nicht.<br />

StPO § 414 Abs. 1 Unterbringung vertikale Teilrechtskraft<br />

BGH, Beschl. v. 09.04.2013 - 5 StR 120/13 - NJW 2013, 2043<br />

LS: Vertikale Teilrechtskraft im Sicherungsverfahren.<br />

Der 5. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat am 9. April 2013 beschlossen:<br />

1. Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Kiel vom 9. November 2012 nach § 349<br />

Abs. 4 StPO mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.<br />

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere<br />

Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat gegen den 37-jährigen Beschuldigten im Sicherungsverfahren die Unterbringung in einem psychiatrischen<br />

Krankenhaus angeordnet. Die hiergegen gerichtete, auf die Sachrüge gestützte Revision des Beschuldigten<br />

hat Erfolg. Die Unterbringungsentscheidung ist nicht tragfähig begründet.<br />

1. Nach den Feststellungen leidet der Beschuldigte seit vielen Jahren an einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie.<br />

Seit seiner Jugend wurde er immer wiederkehrend in teilweise kurzen Abständen in psychiatrischen Krankenhäusern<br />

– oft auch in geschlossenen Unterbringungsformen – behandelt; im Übrigen lebte er weitgehend in<br />

Übergangs- oder Rehabilitationseinrichtungen. Aufgr<strong>und</strong> seiner Psychose trat der Beschuldigte im Zeitraum Juli<br />

2011 bis Februar 2012 in elf Fällen in E. <strong>und</strong> R. in der Öffentlichkeit Personen weitgehend gr<strong>und</strong>los in aggressiver,<br />

- 237 -


edrohlicher Weise gegenüber. Dabei kam es in drei Fällen zu Beleidigungen der Zeugen, in einem Fall in Tateinheit<br />

mit Hausfriedensbruch, in einem weiteren Fall zu einer Nötigungshandlung, in deren Zusammenhang der Beschuldigte<br />

einen Krummdolch hervorzog. In zwei Fällen verletzte der Beschuldigte einen Fre<strong>und</strong>, von dem er sich beleidigt<br />

fühlte (Wurf einer Bierflasche in Richtung des Zeugen, die diesen an der Stirn traf; Faustschlag ins Gesicht). Bei<br />

fünf von der Antragsschrift zum Verfahrensgegenstand gemachten Vorfällen konnte letztlich kein tatbestandsmäßiges<br />

Verhalten festgestellt werden. Das Landgericht ist zu dem Schluss gekommen, dass der Beschuldigte bei allen<br />

Taten im Zustand der Schuldunfähigkeit handelte, „da jeweils nicht ausgeschlossen werden konnte“, dass die Einsichtsfähigkeit<br />

des Beschuldigten aufgehoben war (UA S. 29). Es stützt sich dabei auf das Gutachten eines forensisch-psychiatrischen<br />

Sachverständigen, der ebenfalls nicht ausgeschlossen hat, dass die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten<br />

wahnbedingt aufgehoben gewesen sei. Dies sei bei fünf der festgestellten Vorfälle „hochwahrscheinlich“<br />

so gewesen; sie „schienen mit paranoidem Erleben zusammenzuhängen“. Eine große Rolle würden „zusätzlich die<br />

erheblichen affektiven <strong>und</strong> Impulskontrollstörungsaspekte der Erkrankung“ spielen; dadurch seien letztlich alle festgestellten<br />

Vorfälle „psychosebedingt“ (UA S. 32). Der Sachverständige sieht „ein hohes Risiko für erneute, mindestens<br />

schwere Körperverletzungsdelikte mit Drohungen <strong>und</strong> Beleidigungen“, wobei auch eine Eskalation hin zu Delikten<br />

gegen das Leben möglich erscheine (UA S. 35). Der Beschuldigte habe sich im Februar 2012 erstmals bewaffnet.<br />

Falls er nicht behandelt werde <strong>und</strong> „der Wahn weitergehe“, sei der Einsatz eines Messers oder einer anderen<br />

Waffe in zukünftig von dem Beschuldigten wiederum als bedrohlich empf<strong>und</strong>enen Situationen hochwahrscheinlich<br />

(UA S. 36). Ob es dann zu Körperverletzungs- <strong>und</strong> Bedrohungsdelikten komme, hänge von Zufälligkeiten ab, insbesondere<br />

von der Reaktion der konfrontierten Personen.<br />

2. Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hält sachlich-rechtlicher Überprüfung<br />

nicht stand.<br />

a) Die Unterbringung nach § 63 StGB setzt die zweifelsfreie Feststellung der Voraussetzungen der § 20 oder § 21<br />

StGB voraus. Bereits dies ist unzulänglich belegt. Das Landgericht hat die Voraussetzungen des § 20 StGB nur für<br />

„nicht ausschließbar“ gehalten. Es ist nicht einmal zwingend, dass wenigstens in den Fällen, in denen der Sachverständige<br />

die Aufhebung der Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten als „hochwahrscheinlich“ beurteilt hat, jedenfalls<br />

die Voraussetzungen des § 21 StGB in der Form erheblicher Einschränkung der Steuerungsfähigkeit sicher vorlagen.<br />

Zudem beträfe dies nur zwei der Vorfälle, die einen Straftatbestand erfüllten, aber lediglich als Beleidigung, Hausfriedensbruch<br />

oder Nötigung einzuordnen waren. Die einzig schwereren, in den Bereich der mittleren Kriminalität<br />

hineinreichenden Taten hat der Beschuldigte zu Lasten seines Fre<strong>und</strong>es, des Zeugen H., begangen. Es ist aus dem<br />

Urteil nicht ersichtlich, dass diese auf paranoidem Erleben beruhen. Zwar mag naheliegen, dass sie durch die mit der<br />

Erkrankung des Beschuldigten einhergehende Impulskontrollstörung mitbedingt sind <strong>und</strong> insoweit eine – zumindest<br />

– erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten in Frage kommt. Hiermit setzt sich jedoch das<br />

Urteil nicht auseinander.<br />

b) Die Anordnung der Maßregel ist auch unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten (§ 62 StGB) nicht rechtsbedenkenfrei.<br />

Da die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus den Betroffenen wegen ihrer unbestimmten<br />

Dauer außerordentlich beschwert, darf sie nur angeordnet werden, wenn die Gesamtwürdigung des Täters <strong>und</strong> seiner<br />

Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind. Es muss wahrscheinlich<br />

sein, dass der Rechtsfrieden durch neue Taten schwer gestört wird. Die Unterbringung darf nicht angeordnet<br />

werden, wenn sie außer Verhältnis zu der Bedeutung der begangenen <strong>und</strong> zu erwartenden Taten stünde (vgl.<br />

BGH, Beschluss vom 26. Juni 2007 – 5 StR 215/07, NStZ-RR 2007, 300 mwN). Die im Urteil festgestellten Vorfälle<br />

sind – soweit sie überhaupt einen Straftatbestand erfüllen – überwiegend nicht dem Bereich der mittleren Kriminalität<br />

zuzuordnen. Anderes könnte allein für die Taten des Beschuldigten zum Nachteil seines Fre<strong>und</strong>es H. gelten. Bei<br />

der Beurteilung ihres Gewichts ist jedoch zu berücksichtigen, dass diese Taten Folgen von Streitigkeiten nach gemeinsamem<br />

Alkoholkonsum waren <strong>und</strong> der Geschädigte dem Beschuldigten noch in der Hauptverhandlung „fre<strong>und</strong>schaftlich<br />

zugewandt“ war (UA S. 25). Zwar setzt die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus<br />

nicht gr<strong>und</strong>sätzlich voraus, dass die Anlasstaten selbst erheblich sind. Ist dies nicht der Fall, bedarf jedoch<br />

die Gefährlichkeitsprognose besonders sorgfältiger Darlegung (vgl. BGH, Urteile vom 2. März 2011 – 2 StR 550/10,<br />

NStZ-RR 2011, 240, <strong>und</strong> vom 23. Januar 1986 – 4 StR 620/85, NStZ 1986, 237). Daran fehlt es hier. Im Rahmen der<br />

Beurteilung der Gefährlichkeit des Beschuldigten hätte sich das Landgericht auch damit auseinandersetzen müssen,<br />

dass dieser – ungeachtet immer wieder aufgetretenen aggressiven <strong>und</strong> bedrohlichen Verhaltens – neben zwei nicht<br />

näher geschilderten Körperverletzungsdelikten, die einer Verurteilung aus dem Jahr 1995 zugr<strong>und</strong>e liegen, lediglich<br />

im Jahr 2004 wegen einer zum Nachteil eines behandelnden Arztes begangenen gefährlichen Körperverletzung zu<br />

- 238 -


einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde, neben der seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus<br />

angeordnet <strong>und</strong> zur Bewährung ausgesetzt wurde. Im Hinblick auf diese Verurteilung wurde ein weiteres Strafverfahren<br />

wegen Körperverletzung zu Lasten eines Mitbewohners in einer Wohneinrichtung vorläufig eingestellt. Die<br />

Bewährungsstrafe wurde im Februar 2008 erlassen. Damit trat gemäß § 67g Abs. 5 i.V.m. § 68g Abs. 3 Satz 1 StGB<br />

auch die Erledigung der ausgesetzten Maßregel ein. Das im angefochtenen Urteil schon für die damalige Bewährungszeit<br />

geschilderte fortgesetzte regelwidrige <strong>und</strong> aggressive Verhalten des Beschuldigten wurde demnach nicht<br />

als so gravierend beurteilt, dass es zu einem Widerruf oder – jedenfalls soweit ersichtlich – auch nur zu einer Verlängerung<br />

der Bewährungsfrist geführt hätte.<br />

3. Die Frage der Unterbringung bedarf deshalb der nochmaligen Prüfung <strong>und</strong> Entscheidung. Der Senat hat von einer<br />

Aufrechterhaltung der Feststellungen zu dem jeweiligen Geschehen der im Urteil unter II. geschilderten Vorfälle<br />

abgesehen, weil die Begleitumstände zur Feststellung des psychischen Zustandes des Beschuldigten ohnehin neuer<br />

Aufklärung bedürfen. Diejenigen Vorfälle, die Gegenstand der Antragsschrift waren, jedoch im angefochtenen Urteil<br />

als nicht tatbestandsmäßig angesehen worden sind, können indes nicht mehr als Anlasstaten für die Unterbringung<br />

nach § 63 StGB herangezogen werden. Insoweit kann der Beschuldigte nicht schlechter stehen als ein teilfreigesprochener<br />

Angeklagter im Strafverfahren, der sich mit seiner Revision mangels Beschwer gegen den Teilfreispruch<br />

nicht wenden kann (sogenannte vertikale Teilrechtskraft, vgl. zum Begriff Kühne in Löwe/Rosenberg, StPO, 26.<br />

Aufl., Einl. K Rn. 68). Nach § 414 Abs. 1 StPO gelten auch für die Bestimmung des Umfangs der Rechtskraft eines<br />

im selbständigen Sicherungsverfahren ergangenen Urteils die allgemeinen strafverfahrensrechtlichen Regeln. Auch<br />

wenn über die Anordnung der Maßregel oder die Ablehnung des Antrags der Staatsanwaltschaft im Sicherungsverfahren<br />

nur einheitlich entschieden werden kann, handelt es sich bei den einzelnen in der Antragsschrift der Staatsanwaltschaft<br />

geschilderten Vorfällen um selbständige Prozessgegenstände, über die durch das angefochtene Urteil,<br />

soweit sie nicht für tatbestandsmäßig erachtet wurden, abschließend entschieden ist. Allerdings können sie – aufgr<strong>und</strong><br />

neuer Feststellungen – vom neuen Tatgericht bei der Beurteilung der Gefährlichkeit des Beschuldigten mitberücksichtigt<br />

werden.<br />

StPO§ 349 Abs.2 Beschlussfassung 4-(10-)Augen-Prinzip – Kein Anspruch aus Auskunft 1<br />

BGH, Beschl. v. 11.07.2013 - 3 StR 149/13 – Bisher nur in BGH-Datenbank <strong>und</strong> JurionRS 2013, 40983<br />

Nicht amtlicher Leitsatz: Im Verfahren um die von der GBA beantragte Beschlussverwerfung nach<br />

§ 349 Abs. 2, 3 hat die Verteidigung keinen Anspruch auf Auskunft zur senatsinternen Verfahrensweise.<br />

Der 3. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat auf Antrag des Generalb<strong>und</strong>esanwalts <strong>und</strong> nach Anhörung des Beschwerdeführers<br />

am 11. Juli 2013 einstimmig beschlossen:<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 29. November 2012 wird als unbegründet<br />

verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum<br />

Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).<br />

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels <strong>und</strong> die den Nebenklägern im Revisionsverfahren entstandenen<br />

notwendigen Auslagen zu tragen.<br />

Ergänzend bemerkt der Senat:<br />

1 S. dazu auch Fischer/Eschelbach/Krel StV 2013, 395 <strong>und</strong> Appell des DAV-Strafrechtsausschusses<br />

http://anwaltverein.de/downloads/Stellungnahmen-11/DAV-SN16-<br />

13.pdf?PHPSESSID=n605h1os3qld1jupcb1hh1b7n6; Zur Statistik des Einflusses des Berichterstatters auf die Aufhebungs-<br />

bzw. Verwerfungsquote jetzt auch Fischer NStZ 2013 (Heft 8) S. 425 ff. dazu DER SPIEGEL Nr. 31/2013<br />

S. 44. Rosenthal, Legal Tribune Online v. 6.8.2013 http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/strafrechtliche-revision-<br />

aktenkenntnis-richter-berichterstatter/?utm_medium=email&utm_campaign=LTO-<br />

Newsletter+32%2F2013&utm_source=newsletter<br />

- 239 -


Zu der von der Verteidigerin mit Schriftsatz vom 18. Juni 2013 erbetenen Auskunft, ob der Senat nach einem "Vier-<br />

Augen-Prinzip" arbeitet, bestand - unabhängig davon, welche B0edeutung diesem Begriff angesichts der vorgeschriebenen<br />

Besetzung mit fünf Richtern (§ 139 Abs. 1 GVG) überhaupt zukommen sollte - kein Anlass. Darüber,<br />

wie sich die Mitglieder eines kollegialen gerichtlichen Spruchkörpers die für eine Entscheidung erforderlichen tatsächlichen<br />

<strong>und</strong> rechtlichen Gr<strong>und</strong>lagen verschaffen, befinden sie jeweils selbst in richterlicher Unabhängigkeit. Die<br />

Frage des gesetzlichen Richters ist nicht berührt.<br />

Schwerpunktthema Verständigungsgesetz vor <strong>und</strong> nach BVerfG v.<br />

19.03.2013 2<br />

StPO § 257c Verständigungsverfahren<br />

BVerfG, Urt. v. 19.03.2013 - 2 BvR 2628/10 - 2 BvR 2883/10 - 2 BvR 2155/11 –NJW 2013, 1058<br />

1. Das im Gr<strong>und</strong>gesetz verankerte Schuldprinzip <strong>und</strong> die mit ihm verb<strong>und</strong>ene Pflicht zur Erforschung<br />

der materiellen Wahrheit sowie der Gr<strong>und</strong>satz des fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens, die<br />

Unschuldsvermutung <strong>und</strong> die Neutralitätspflicht des Gerichts schließen es aus, die Handhabung der<br />

Wahrheitserforschung, die rechtliche Subsumtion <strong>und</strong> die Gr<strong>und</strong>sätze der Strafzumessung zur<br />

freien Disposition der Verfahrensbeteiligten <strong>und</strong> des Gerichts zu stellen.<br />

2. Verständigungen zwischen Gericht <strong>und</strong> Verfahrensbeteiligten über Stand <strong>und</strong> Aussichten der<br />

Hauptverhandlung, die dem Angeklagten für den Fall eines Geständnisses eine Strafobergrenze<br />

zusagen <strong>und</strong> eine Strafuntergrenze ankündigen, tragen das Risiko in sich, dass die verfassungsrechtlichen<br />

Vorgaben nicht in vollem Umfang beachtet werden. Gleichwohl ist es dem Gesetzgeber<br />

nicht schlechthin verwehrt, zur Verfahrensvereinfachung Verständigungen zuzulassen. Er muss<br />

jedoch zugleich durch hinreichende Vorkehrungen sicherstellen, dass die verfassungsrechtlichen<br />

Anforderungen gewahrt bleiben. Die Wirksamkeit der vorgesehenen Schutzmechanismen hat der<br />

Gesetzgeber fortwährend zu überprüfen. Ergibt sich, dass sie unvollständig oder ungeeignet sind,<br />

hat er insoweit nachzubessern <strong>und</strong> erforderlichenfalls seine Entscheidung für die Zulässigkeit strafprozessualer<br />

Absprachen zu revidieren.<br />

3. Das Verständigungsgesetz sichert die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben in ausreichender<br />

Weise. Der in erheblichem Maße defizitäre Vollzug des Verständigungsgesetzes führt derzeit<br />

nicht zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung.<br />

4. Mit den Vorschriften des Verständigungsgesetzes hat die Zulassung von Verständigungen im<br />

Strafverfahren eine abschließende Regelung erfahren. Außerhalb des gesetzlichen Regelungskonzepts<br />

erfolgende sogenannte informelle Absprachen sind unzulässig.<br />

das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht - Zweiter Senat aufgr<strong>und</strong> der mündlichen Verhandlung vom 7. November 2012 hat<br />

durch Urteil für Recht erkannt:<br />

I. Die Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verb<strong>und</strong>en.<br />

II. 1. Der Beschluss des B<strong>und</strong>esgerichtshofs vom 8. Oktober 2010 - StR 443/10 - <strong>und</strong> das Urteil des Landgerichts<br />

München II vom 9. März 2010 - W5 KLs 70 Js 40038/07 - verletzen den Beschwerdeführer zu I. in seinem Gr<strong>und</strong>recht<br />

aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Gr<strong>und</strong>gesetzes. Der Beschluss des B<strong>und</strong>esgerichtshofs<br />

vom 8. Oktober 2010 - 1 StR 443/10 - wird aufgehoben, soweit er den Beschwerdeführer zu I. betrifft. Die<br />

Sache wird im Umfang der Aufhebung an den B<strong>und</strong>esgerichtshof zurückverwiesen.<br />

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu I. zurückgewiesen.<br />

2 Auswahl aus den zahlreichen Veröffentlichungen dazu: Kudrich NStZ 2013379; Fezer hrrs 2013, 117; Mosbacher<br />

NZWiSt 2013, 201; <strong>Hamm</strong> FAZ http://www.faz.net/aktuell/politik/staat-<strong>und</strong>-recht/staat-<strong>und</strong>-recht-die-normativekraft-des-deals-12123384.html;<br />

Stuckenberg ZIS 2013, 169; Knauer NStZ 2013, 433.<br />

- 240 -


3. Die B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland <strong>und</strong> der Freistaat Bayern haben dem Beschwerdeführer zu I. seine notwendigen<br />

Auslagen jeweils zur Hälfte zu erstatten.<br />

I. – II. ….<br />

III. 1. Der Beschluss des B<strong>und</strong>esgerichtshofs vom 2. November 2010 - 1 StR 469/10 - <strong>und</strong> das Urteil des Landgerichts<br />

München II vom 27. April 2010 - W5 KLs 63 Js 20750/08 - verletzen die Beschwerdeführer zu II. in ihrem<br />

Gr<strong>und</strong>recht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Gr<strong>und</strong>gesetzes. Der Beschluss des<br />

B<strong>und</strong>esgerichtshofs vom 2. November 2010 - 1 StR 469/10 - wird aufgehoben. Die Sache wird an den B<strong>und</strong>esgerichtshof<br />

zurückverwiesen.<br />

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführer zu II. zurückgewiesen.<br />

3. Die B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland <strong>und</strong> der Freistaat Bayern haben den Beschwerdeführern zu II. ihre notwendigen<br />

Auslagen jeweils zur Hälfte zu erstatten.<br />

IV. 1. Der Beschluss des B<strong>und</strong>esgerichtshofs vom 29. August 2011 - 5 StR 287/11 - <strong>und</strong> das Urteil des Landgerichts<br />

Berlin vom 15. März 2011 - (503) 2 St Js 1194/10 KLs (37/10) - verletzen den Beschwerdeführer zu III. in seinen<br />

Gr<strong>und</strong>rechten aus Artikel 1 Absatz 1 <strong>und</strong> Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Gr<strong>und</strong>gesetzes.<br />

Die Entscheidungen werden aufgehoben, soweit sie den Beschwerdeführer zu III. betreffen. In diesem Umfang<br />

wird die Sache an das Landgericht Berlin zurückverwiesen.<br />

2. Die B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland <strong>und</strong> das Land Berlin haben dem Beschwerdeführer zu III. seine notwendigen<br />

Auslagen jeweils zur Hälfte zu erstatten.<br />

Gründe:<br />

A.<br />

1 Die Beschwerdeführer wenden sich gegen ihre strafgerichtliche Verurteilung im Anschluss an eine Verständigung<br />

zwischen Gericht <strong>und</strong> Verfahrensbeteiligten. Mittelbar richten sich die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführer<br />

zu I. <strong>und</strong> II. zudem gegen die Vorschrift des § 257c StPO, die durch das Gesetz zur Regelung der Verständigung<br />

im Strafverfahren vom 29. Juli 2009 (BGBl I S. 2353) - im Folgenden: Verständigungsgesetz - in die Strafprozessordnung<br />

eingefügt wurde <strong>und</strong> seither die rechtliche Gr<strong>und</strong>lage für die Verständigung bildet.<br />

I. ….<br />

B.<br />

52 Die Verfassungsbeschwerden sind begründet, soweit sie sich gegen die angegriffenen Entscheidungen richten; im<br />

Übrigen haben sie keinen Erfolg.<br />

I.<br />

53 1. Das Strafrecht beruht auf dem Schuldgr<strong>und</strong>satz (BVerfGE 123, 267 ), der den gesamten Bereich staatlichen<br />

Strafens beherrscht. Der Schuldgr<strong>und</strong>satz hat Verfassungsrang; er ist in der Garantie der Würde <strong>und</strong> Eigenverantwortlichkeit<br />

des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG <strong>und</strong> Art. 2 Abs. 1 GG) sowie im Rechtsstaatsprinzip verankert (vgl.<br />

BVerfGE 45, 187 ; 86, 288 ; 95, 96 ; 120, 224 ; 130, 1 ).<br />

54 a) Der Gr<strong>und</strong>satz „Keine Strafe ohne Schuld“ (nulla poena sine culpa) setzt die Eigenverantwortung des Menschen<br />

voraus, der sein Handeln selbst bestimmt <strong>und</strong> sich kraft seiner Willensfreiheit zwischen Recht <strong>und</strong> Unrecht entscheiden<br />

kann. Dem Schutz der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen<br />

Wesen zugr<strong>und</strong>e, das darauf angelegt ist, sich in Freiheit selbst zu bestimmen <strong>und</strong> zu entfalten (vgl.<br />

BVerfGE 45, 187 ; 123, 267 ). Auf dem Gebiet der Strafrechtspflege bestimmt Art. 1 Abs. 1 GG die<br />

Auffassung vom Wesen der Strafe <strong>und</strong> das Verhältnis von Schuld <strong>und</strong> Sühne (vgl. BVerfGE 95, 96 ) sowie<br />

den Gr<strong>und</strong>satz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt (vgl. BVerfGE 57, 250 ; 80, 367 ; 90, 145 ;<br />

123, 267 ). Die Strafe ist im Gegensatz zur reinen Präventionsmaßnahme dadurch gekennzeichnet, dass sie -<br />

wenn nicht ausschließlich, so doch auch - auf gerechte Vergeltung für ein rechtlich verbotenes Verhalten abzielt. Mit<br />

der Strafe wird dem Täter ein sozialethisches Fehlverhalten vorgeworfen (vgl. BVerfGE 20, 323 ; 95, 96<br />

; 110, 1 ). Eine solche strafrechtliche Reaktion wäre ohne Feststellung der individuellen Vorwerfbarkeit<br />

mit der Garantie der Menschenwürde <strong>und</strong> dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar (vgl. BVerfGE 20, 323 ; 95,<br />

96 ).<br />

55 b) Das Rechtsstaatsprinzip ist eines der elementaren Prinzipien des Gr<strong>und</strong>gesetzes (BVerfGE 20, 323 ). Es<br />

sichert den Gebrauch der Freiheitsrechte, indem es Rechtssicherheit gewährt, die Staatsgewalt an das Gesetz bindet<br />

<strong>und</strong> Vertrauen schützt (BVerfGE 95, 96 ). Das Rechtsstaatsprinzip umfasst als eine der Leitideen des Gr<strong>und</strong>gesetzes<br />

auch die Forderung nach materieller Gerechtigkeit (vgl. BVerfGE 7, 89 ; 7, 194 ; 45, 187<br />

; 74, 129 ; 122, 248 ) <strong>und</strong> schließt den Gr<strong>und</strong>satz der Rechtsgleichheit als eines der gr<strong>und</strong>legen-<br />

- 241 -


den Gerechtigkeitspostulate ein (vgl. BVerfGE 84, 90 ). Für den Bereich des Strafrechts werden diese rechtsstaatlichen<br />

Anliegen auch im Schuldgr<strong>und</strong>satz aufgenommen (BVerfGE 95, 96 ). Gemessen an der Idee der<br />

Gerechtigkeit müssen Straftatbestand <strong>und</strong> Rechtsfolge sachgerecht aufeinander abgestimmt sein (vgl. BVerfGE 20,<br />

323 ; 25, 269 ; 27, 18 ; 50, 205 ; 120, 224 ; stRspr). Die Strafe muss in einem gerechten<br />

Verhältnis zur Schwere der Tat <strong>und</strong> zum Verschulden des Täters stehen (vgl. BVerfGE 20, 323 ; 45,<br />

187 ; 50, 5 ; 73, 206 ; 86, 288 ; 96, 245 ; 109, 133 ; 110, 1 ; 120, 224<br />

). In diesem Sinne hat die Strafe die Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein (vgl. BVerfGE 45, 187<br />

; 109, 133 ; 120, 224 ).<br />

56 2. Aufgabe des Strafprozesses ist es, den Strafanspruch des Staates um des Schutzes der Rechtsgüter Einzelner <strong>und</strong><br />

der Allgemeinheit willen in einem justizförmigen Verfahren durchzusetzen <strong>und</strong> dem mit Strafe Bedrohten eine wirksame<br />

Sicherung seiner Gr<strong>und</strong>rechte zu gewährleisten. Der Strafprozess hat das aus der Würde des Menschen als<br />

eigenverantwortlich handelnder Person <strong>und</strong> dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Prinzip, dass keine Strafe ohne<br />

Schuld verhängt werden darf (vgl. BVerfGE 80, 244 ; 95, 96 ), zu sichern <strong>und</strong> entsprechende verfahrensrechtliche<br />

Vorkehrungen bereitzustellen. Zentrales Anliegen des Strafprozesses ist die Ermittlung des wahren<br />

Sachverhalts, ohne den sich das materielle Schuldprinzip nicht verwirklichen lässt (vgl. BVerfGE 57, 250 ;<br />

118, 212 ; 122, 248 ; 130, 1 ). Dem Täter müssen Tat <strong>und</strong> Schuld prozessordnungsgemäß nachgewiesen<br />

werden (vgl. BVerfGE 9, 167 ; 74, 358 ). Bis zum Nachweis der Schuld wird seine Unschuld<br />

vermutet (vgl. BVerfGE 35, 311 ; 74, 358 ).<br />

57 a) Der Staat ist von Verfassungs wegen gehalten, eine funktionstüchtige Strafrechtspflege zu gewährleisten, ohne die<br />

der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann (vgl. BVerfGE 33, 367 ; 46, 214 ; 122,<br />

248 ; 130, 1 ). Der Schutz elementarer Rechtsgüter durch Strafrecht <strong>und</strong> seine Durchsetzung im Verfahren<br />

sind Verfassungsaufgaben (vgl. BVerfGE 107, 104 ; 113, 29 ). Das erfordert, dass Straftäter im<br />

Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt <strong>und</strong> einer gerechten, also schuldangemessenen Bestrafung zugeführt<br />

werden (vgl. BVerfGE 33, 367 ; 46, 214 ; 122, 248 ; 129, 208 ). Die verfassungsrechtliche<br />

Pflicht des Staates, eine funktionstüchtige Strafrechtspflege zu gewährleisten, umfasst auch die Pflicht, die<br />

Durchführung eingeleiteter Strafverfahren <strong>und</strong> die Vollstreckung rechtskräftig erkannter (Freiheits-)Strafen sicherzustellen.<br />

Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger <strong>und</strong> deren Vertrauen<br />

in die Funktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen, <strong>und</strong> der Anspruch aller in Strafverfahren Beschuldigten<br />

auf Gleichbehandlung erfordern gr<strong>und</strong>sätzlich, dass der Strafanspruch durchgesetzt, also auch eingeleitete<br />

Verfahren fortgesetzt <strong>und</strong> rechtskräftig verhängte Strafen vollstreckt werden (BVerfGE 46, 214 ; 49, 24<br />

; 51, 324 ).<br />

58 b) Bei alledem darf der Beschuldigte im Rechtsstaat des Gr<strong>und</strong>gesetzes nicht bloßes Objekt des Strafverfahrens sein;<br />

ihm muss die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang <strong>und</strong> das Ergebnis des Verfahrens<br />

Einfluss zu nehmen (vgl. BVerfGE 65, 171 ; 66, 313 ).<br />

59 aa) Als ein unverzichtbares Element der Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens gewährleistet das Recht auf ein<br />

faires Verfahren dem Beschuldigten, prozessuale Rechte <strong>und</strong> Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachk<strong>und</strong>e wahrnehmen<br />

<strong>und</strong> Übergriffe der staatlichen Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können<br />

(vgl. BVerfGE 38, 105 ; 122, 248 ). Dies bedeutet allerdings nicht, dass im Strafverfahren - unter dem<br />

Gesichtspunkt der „Waffengleichheit“ (vgl. BVerfGE 110, 226 ) - in der Rollenverteilung begründete verfahrensspezifische<br />

Unterschiede in den Handlungsmöglichkeiten von Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> Verteidigung in jeder<br />

Beziehung ausgeglichen werden müssten (vgl. BVerfGE 63, 45 ; 63, 380 ; 122, 248 ); vielmehr<br />

sind angesichts der besonderen, zur Objektivität verpflichtenden Stellung der Staatsanwaltschaft Differenzierungen<br />

möglich. Die Bestimmung der verfahrensrechtlichen Befugnisse <strong>und</strong> Hilfestellungen, die dem Beschuldigten nach<br />

dem Gr<strong>und</strong>satz des fairen Verfahrens im Einzelnen einzuräumen <strong>und</strong> die Festlegung, wie diese auszugestalten sind,<br />

ist in erster Linie dem Gesetzgeber <strong>und</strong> sodann - in den vom Gesetz gezogenen Grenzen - den Gerichten bei der<br />

ihnen obliegenden Rechtsauslegung <strong>und</strong> -anwendung aufgegeben. Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren<br />

liegt erst dann vor, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht - auch in seiner Auslegung <strong>und</strong> Anwendung<br />

durch die Gerichte - ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich<br />

Unverzichtbares preisgegeben wurde (vgl. BVerfGE 57, 250 ; 64, 135 ; 122, 248 ). Im<br />

Rahmen dieser Gesamtschau sind auch die Erfordernisse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege in den Blick zu<br />

nehmen (vgl. BVerfGE 47, 239 ; 80, 367 ; 122, 248 ). Verfahrensgestaltungen, die den Erfordernissen<br />

einer wirksamen Strafrechtspflege dienen, verletzen daher nicht schon dann den gr<strong>und</strong>rechtlichen Anspruch<br />

- 242 -


auf ein faires Strafverfahren, wenn verfahrensrechtliche Positionen des Angeklagten oder Beschuldigten dabei eine<br />

Zurücksetzung zugunsten einer wirksameren Strafrechtspflege erfahren (BVerfGE 122, 248 ). Das Beschleunigungsgebot<br />

ist bei der Konkretisierung des Rechts auf ein faires Verfahren ebenfalls zu berücksichtigen (vgl.<br />

BVerfGE 41, 246 ; 63, 45 ; 122, 248 ), denn unnötige Verfahrensverzögerungen stellen nicht nur<br />

die Effektivität des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 60, 253 ; 88, 118 ; 93, 1 ) <strong>und</strong> die Zwecke der<br />

Kriminalstrafe in Frage, sondern beeinträchtigen, da die Beweisgr<strong>und</strong>lage durch Zeitablauf verfälscht werden kann,<br />

auch die Verwirklichung der verfassungsrechtlichen Pflicht zur bestmöglichen Erforschung der materiellen Wahrheit<br />

(vgl. BVerfGE 57, 250 ; 122, 248 ; 130, 1 ).<br />

60 bb) Die Aussagefreiheit des Beschuldigten <strong>und</strong> das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung (nemo tenetur se ipsum<br />

accusare) sind notwendiger Ausdruck einer auf dem Leitgedanken der Achtung der Menschenwürde beruhenden<br />

rechtsstaatlichen Gr<strong>und</strong>haltung (vgl. BVerfGE 38, 105 ; 55, 144 ; 56, 37 ). Der Gr<strong>und</strong>satz der<br />

Selbstbelastungsfreiheit ist im Rechtsstaatsprinzip verankert <strong>und</strong> hat Verfassungsrang (vgl. BVerfGE 38, 105<br />

; 55, 144 ; 56, 37 ; 110, 1 ). Er umfasst das Recht auf Aussage- <strong>und</strong> Entschließungsfreiheit<br />

innerhalb des Strafverfahrens. Dazu gehört, dass im Rahmen des Strafverfahrens niemand gezwungen werden<br />

darf, sich durch seine eigene Aussage einer Straftat zu bezichtigen oder zu seiner Überführung aktiv beizutragen<br />

(vgl. BVerfGE 56, 37 ; 109, 279 ). Der Beschuldigte muss frei von Zwang eigenverantwortlich entscheiden<br />

können, ob <strong>und</strong> gegebenenfalls inwieweit er im Strafverfahren mitwirkt (vgl. BVerfGE 38, 105 ; 56, 37<br />

). Dies setzt voraus, dass er über seine Aussagefreiheit in Kenntnis gesetzt wird.<br />

61 cc) Die Unschuldsvermutung hat als besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips ebenfalls Verfassungsrang<br />

(BVerfGE 74, 358 ). Sie verbietet zum einen, im konkreten Strafverfahren ohne prozessordnungsgemäßen -<br />

nicht notwendiger Weise rechtskräftigen - Schuldnachweis Maßnahmen gegen den Beschuldigten zu verhängen, die<br />

in ihrer Wirkung einer Strafe gleichkommen, <strong>und</strong> ihn verfahrensbezogen als schuldig zu behandeln; zum anderen<br />

verlangt sie den rechtskräftigen Nachweis der Schuld, bevor diese dem Verurteilten im Rechtsverkehr allgemein<br />

vorgehalten werden darf (vgl. BVerfGE 19, 342 ; 74, 358 ). Als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips<br />

enthält die Unschuldsvermutung - wie auch das Recht des Beschuldigten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren -<br />

allerdings keine in allen Einzelheiten bestimmten Ge- <strong>und</strong> Verbote; ihre Auswirkungen auf das Verfahrensrecht<br />

bedürfen vielmehr der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten. Dies ist in erster Linie Sache des<br />

Gesetzgebers (BVerfGE 74, 358 ; vgl. auch BVerfGE 7, 89 ; 57, 250 ; 65, 283 ).<br />

62 3. Das Gr<strong>und</strong>gesetz gewährleistet den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens, vor einem unabhängigen <strong>und</strong><br />

unparteilichen Richter zu stehen, der die Gewähr für Neutralität <strong>und</strong> Distanz gegenüber allen Verfahrensbeteiligten<br />

<strong>und</strong> dem Verfahrensgegenstand bietet (vgl. BVerfGE 4, 412 ; 21, 139 ; 23, 321 ; 82, 286<br />

; 89, 28 ). Neben der sachlichen <strong>und</strong> persönlichen Unabhängigkeit des Richters (Art. 97 Abs.1 <strong>und</strong> 2 GG)<br />

ist es wesentliches Kennzeichen der Rechtsprechung im Sinne des Gr<strong>und</strong>gesetzes, dass die richterliche Tätigkeit von<br />

einem „nicht beteiligten Dritten“ ausgeübt wird (vgl. BVerfGE 3, 377 ; 4, 331 ; 21, 139 ; 27, 312<br />

; 48, 300 ; 87, 68 ; 103, 111 ). Diese Vorstellung von neutraler Amtsführung ist mit den<br />

Begriffen „Richter“ <strong>und</strong> „Gericht“ untrennbar verknüpft (vgl. BVerfGE 4, 331 ; 60, 175 ; 103, 111<br />

). Die richterliche Tätigkeit erfordert daher unbedingte Neutralität gegenüber den Verfahrensbeteiligten<br />

(BVerfGE 21, 139 ; 103, 111 ). Das Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG<br />

gewährt deshalb nicht nur einen Anspruch auf den sich aus dem Gerichtsverfassungsgesetz, den Prozessordnungen<br />

sowie den Geschäftsverteilungs- <strong>und</strong> Besetzungsregelungen des Gerichts ergebenden Richter (vgl. BVerfGE 89, 28<br />

), sondern garantiert auch, dass der Betroffene nicht vor einem Richter steht, der aufgr<strong>und</strong> persönlicher oder<br />

sachlicher Beziehungen zu den Verfahrensbeteiligten oder zum Streitgegenstand die gebotene Neutralität vermissen<br />

lässt (BVerfGE 21, 139 ; 89, 28 ). Dieses Verlangen nach Unvoreingenommenheit <strong>und</strong> Neutralität des<br />

Richters ist zugleich ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit (vgl. BVerfGE 3, 377 ; 37, 57 ).<br />

63 4. Das im Rechtsstaatsprinzip <strong>und</strong> dem allgemeinen Freiheitsrecht verankerte Recht auf ein faires Strafverfahren<br />

umfasst das Recht des Beschuldigten, sich von einem Anwalt seiner Wahl <strong>und</strong> seines Vertrauens verteidigen zu<br />

lassen (BVerfGE 66, 313 ; 110, 226 ). Wenngleich das Recht auf ein faires Verfahren keine in allen<br />

Einzelheiten bestimmten Gebote <strong>und</strong> Verbote enthält, sondern der Konkretisierung durch den Gesetzgeber je nach<br />

den sachlichen Gegebenheiten bedarf, untersagt es jedenfalls eine Ausgestaltung des Strafverfahrens, bei der rechtsstaatlich<br />

unverzichtbare Erfordernisse nicht mehr gewahrt sind (BVerfGE 57, 250 ; 122, 248 ). Angesichts<br />

der besonderen Bedeutung, die dem Vertrauensverhältnis zwischen dem Beschuldigten <strong>und</strong> seinem Verteidiger<br />

unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten zukommt (vgl. BVerfGE 110, 226 ), verbietet es sich, im Strafprozess<br />

- 243 -


Verfahrensweisen vorzusehen, die - etwa aufgr<strong>und</strong> der Schaffung sachwidriger Anreize - erwarten lassen, dass dieses<br />

Vertrauen unterlaufen <strong>und</strong> damit das Recht auf eine effektive Verteidigung entwertet wird.<br />

II.<br />

64 Nach diesen Maßstäben kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung<br />

der Verständigung im Strafverfahren nicht festgestellt werden. Der Gesetzgeber hat Verständigungen im Strafprozess<br />

lediglich in einem begrenzten Rahmen zugelassen <strong>und</strong> sein Regelungskonzept mit spezifischen Schutzmechanismen<br />

versehen, die bei der gebotenen präzisierenden Auslegung <strong>und</strong> Anwendung erwarten lassen, dass die verfassungsrechtlichen<br />

Anforderungen an die Ausgestaltung des Strafprozesses erfüllt werden (1. <strong>und</strong> 2.). Eine das Verständigungsgesetz<br />

in nicht unerheblichem Umfang vernachlässigende Praxis belegt derzeit noch kein verfassungsrechtlich<br />

relevantes Regelungsdefizit (3.). Der Gesetzgeber ist allerdings gehalten, die Wirksamkeit der zur Wahrung eines<br />

verfassungskonformen Strafverfahrens vorgesehenen Vorkehrungen zu beobachten <strong>und</strong> erforderlichenfalls erneut<br />

über die Zulässigkeit sowie die Bedingungen von Verständigungen zu entscheiden (4.).<br />

65 1. Das Verständigungsgesetz statuiert nach dem in seinem Wortlaut <strong>und</strong> Normgefüge zum Ausdruck kommenden<br />

objektivierten Willen des Gesetzgebers (a) kein neues, „konsensuales“ Verfahrensmodell. Vielmehr integriert es die<br />

von ihm zugelassene Verständigung mit dem Ziel in das geltende Strafprozessrechtssystem, weiterhin ein der Erforschung<br />

der materiellen Wahrheit <strong>und</strong> der Findung einer gerechten, schuldangemessenen Strafe verpflichtetes Strafverfahren<br />

sicherzustellen. Der Gesetzgeber hat ausdrücklich klargestellt, dass eine Verständigung als solche niemals<br />

alleinige Urteilsgr<strong>und</strong>lage sein kann, sondern das Gericht weiterhin an die in § 244 Abs. 2 StPO niedergelegte Amtsaufklärungspflicht<br />

geb<strong>und</strong>en ist <strong>und</strong> die rechtliche Würdigung nicht der Disposition der Beteiligten an einer Verständigung<br />

unterliegt (b). Das Verständigungsgesetz regelt die Zulässigkeit einer Verständigung im Strafverfahren abschließend;<br />

es untersagt damit die beschönigend als „informell“ bezeichneten Vorgehensweisen bei einer Verständigung<br />

(c). Der Gesetzgeber hat sein Regelungskonzept mit spezifischen Schutzmechanismen versehen, die eine vollständige<br />

Transparenz <strong>und</strong> Dokumentation des zu einer Verständigung führenden Geschehens sicherstellen <strong>und</strong> so die<br />

vom Gesetzgeber als erforderlich bewertete vollumfängliche Kontrolle des Verständigungsgeschehens durch die<br />

Öffentlichkeit, die Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> das Rechtsmittelgericht ermöglichen sollen (d). Schließlich gewährleistet<br />

das Gesetz über eine Einschränkung der Bindungswirkung einer Verständigung die Neutralität des Gerichts <strong>und</strong> sieht<br />

mit der Pflicht zur Belehrung des Angeklagten über diese Einschränkung eine dessen Belangen dienende Sicherung<br />

vor (e).<br />

66 a) Maßgebend für die Auslegung von Gesetzen ist der in der Norm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des<br />

Gesetzgebers, wie er sich aus dem Wortlaut der Vorschrift <strong>und</strong> dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie hineingestellt<br />

ist (vgl. BVerfGE 1, 299 ; 11, 126 ; 105, 135 ; stRspr). Der Erfassung des objektiven<br />

Willens des Gesetzgebers dienen die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung aus dem Wortlaut der Norm, der<br />

Systematik, ihrem Sinn <strong>und</strong> Zweck sowie aus den Gesetzesmaterialien <strong>und</strong> der Entstehungsgeschichte, die einander<br />

nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig ergänzen. Unter ihnen hat keine einen unbedingten Vorrang vor einer<br />

anderen (vgl. BVerfGE 11, 126 ; 105, 135 ). Ausgangspunkt der Auslegung ist der Wortlaut der Vorschrift.<br />

Er gibt allerdings nicht immer hinreichende Hinweise auf den Willen des Gesetzgebers. Unter Umständen<br />

wird erst im Zusammenhang mit Sinn <strong>und</strong> Zweck des Gesetzes oder anderen Auslegungsgesichtspunkten die im<br />

Wortlaut ausgedrückte, vom Gesetzgeber verfolgte Regelungskonzeption deutlich, der sich der Richter nicht entgegenstellen<br />

darf (vgl. BVerfGE 122, 248 - abw. M.). Dessen Aufgabe beschränkt sich darauf, die intendierte<br />

Regelungskonzeption bezogen auf den konkreten Fall - auch unter gewandelten Bedingungen - möglichst zuverlässig<br />

zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfGE 96, 375 ). In keinem Fall darf richterliche Rechtsfindung das gesetzgeberische<br />

Ziel der Norm in einem wesentlichen Punkt verfehlen oder verfälschen oder an die Stelle der Regelungskonzeption<br />

des Gesetzgebers gar eine eigene treten lassen (vgl. BVerfGE 78, 20 m.w.N.). Für die Beantwortung<br />

der Frage, welche Regelungskonzeption dem Gesetz zugr<strong>und</strong>e liegt, kommt daneben den Gesetzesmaterialien<br />

<strong>und</strong> der Systematik des Gesetzes eine nicht unerhebliche Indizwirkung zu. Die Eindeutigkeit der im Wege der Auslegung<br />

gewonnenen gesetzgeberischen Gr<strong>und</strong>entscheidung wird nicht notwendig dadurch relativiert, dass der Wortlaut<br />

der einschlägigen Norm auch andere Deutungsmöglichkeiten eröffnet, soweit diese Deutungen offensichtlich<br />

eher fern liegen. Anderenfalls wäre es für den Gesetzgeber angesichts der Schwierigkeit, textlich Eindeutigkeit herzustellen,<br />

nahezu unmöglich, sein Regelungsanliegen gegenüber der Rechtsprechung über einen längeren Zeitraum<br />

durchzusetzen (vgl. BVerfGE 122, 248 - abw. M.).<br />

67 b) Der Gesetzgeber hat eine gesetzliche Regelung der Verständigung im Strafverfahren als notwendig erachtet, weil<br />

das in der Praxis entstandene <strong>und</strong> dort bedeutsame, aber stets umstritten gebliebene Institut der Verständigung zur<br />

- 244 -


Herstellung von Rechtssicherheit <strong>und</strong> der Gewährleistung einer gleichmäßigen Rechtsanwendung dringend klarer<br />

gesetzlicher Vorgaben bedürfe. Dabei war dem Gesetzgeber bewusst, dass sich auf das Urteil bezogene Verständigungen<br />

des Gerichts mit den Verfahrensbeteiligten nicht ohne Weiteres mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben für<br />

das Strafverfahren, insbesondere hinsichtlich der Erforschung der materiellen Wahrheit, der Schuldangemessenheit<br />

der Strafe <strong>und</strong> der Verfahrensfairness, würden in Einklang bringen lassen (vgl. Gesetzentwurf der B<strong>und</strong>esregierung,<br />

BTDrucks 16/12310, S. 1). Dementsprechend war es ausdrücklich sein zentrales Ziel, die Verständigung in einer den<br />

verfassungsrechtlichen Vorgaben gerecht werdenden Weise in das geltende Strafverfahrensrecht zu integrieren, ohne<br />

die den Strafprozess dominierenden Gr<strong>und</strong>sätze der richterlichen Sachverhaltsaufklärung <strong>und</strong> Überzeugungsbildung<br />

anzutasten. Die Auslegung <strong>und</strong> Anwendung des Verständigungsgesetzes hat sich zuvörderst an diesem gesetzgeberischen<br />

Konzept zu orientieren. Das gilt auch für das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht, das dann, wenn eine präzisierende<br />

Auslegung eines Gesetzes möglich ist, diese seiner Prüfung zugr<strong>und</strong>e zu legen hat (vgl. zur Bestimmtheit von Strafnormen<br />

BVerfGE 126, 170 ; siehe auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. Dezember<br />

2012 - 1 BvR 1509/10 -). Der Gesetzgeber wollte zwar eine offene, kommunikative Verhandlungsführung<br />

des Gerichts stärken, aber gerade kein neues, „konsensuales“ Verfahrensmodell einführen. Vielmehr war es sein<br />

erklärtes Regelungsziel, weiterhin ein Strafverfahren sicherzustellen, das dem f<strong>und</strong>amentalen <strong>und</strong> verfassungsrechtlich<br />

verankerten Gr<strong>und</strong>satz der Wahrheitsermittlung sowie der Findung einer gerechten, schuldangemessenen Strafe<br />

verpflichtet ist (vgl. dazu Gesetzentwurf der B<strong>und</strong>esregierung, BTDrucks 16/12310, S. 1, 8 f.), weshalb auch in der<br />

Verständigungssituation das Maß der Schuldangemessenheit weder über- noch unterschritten werden darf (vgl.<br />

BGH, Beschlüsse vom 20. Oktober 2010 - 1 StR 400/10 -, NStZ 2011, S. 592 , <strong>und</strong> vom 5. Mai 2011 - 1 StR<br />

116/11 -, juris, Rn. 23; Stuckenberg, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2013, § 257c Rn. 44). Um diese Aufgabenstellung<br />

zu verwirklichen, hat der Gesetzgeber nicht nur den zulässigen Inhalt von Verständigungen <strong>und</strong> das<br />

Verständigungsverfahren „umfassend“ normieren wollen, sondern einen Schwerpunkt seines Regelungskonzepts in<br />

der Herstellung von Transparenz, Öffentlichkeit <strong>und</strong> einer vollständigen Dokumentation des mit einer Verständigung<br />

verb<strong>und</strong>enen Geschehens gesehen, die wiederum die von ihm als erforderlich bewertete „vollumfängliche“ Rechtsmittelkontrolle<br />

ermöglichen <strong>und</strong> wirksam ausgestalten soll (vgl. nur Begründung zum Gesetzentwurf der B<strong>und</strong>esregierung,<br />

BTDrucks 16/12310, S. 1, 8 f., 12, 15, sowie Gegenäußerung der B<strong>und</strong>esregierung zur Stellungnahme des<br />

B<strong>und</strong>esrats, BTDrucks 16/12310, S. 22). Das Verlangen nach umfassender Transparenz des Verständigungsgeschehens<br />

kennzeichnet die gesetzliche Regelung insgesamt (ebenso BGH, Urteil vom 29. November 2011 - 1 StR 287/11<br />

-, NStZ 2012, S. 347 , <strong>und</strong> Beschluss vom 22. Februar 2012 - 1 StR 349/11 -, StV 2012, S. 649 ). Hiernach<br />

muss sich eine Verständigung unter allen Umständen „im Lichte der öffentlichen Hauptverhandlung offenbaren“<br />

(BTDrucks 16/12310, S. 12).<br />

68 aa) Als Ausdruck des gesetzgeberischen Willens, Möglichkeiten einer Verständigung in das geltende Strafprozessrechtssystem<br />

zu integrieren, ist vor allem die Klarstellung des § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO zu verstehen, die in § 244<br />

Abs. 2 StPO niedergelegte Pflicht des Gerichts zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen bleibe „unberührt“.<br />

Der Wortlaut von § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO ist eindeutig; die Norm schließt jede Disposition über Gegenstand<br />

<strong>und</strong> Umfang der dem Gericht von Amts wegen obliegenden Pflicht zur Aufklärung des mit der Anklage vorgeworfenen<br />

Geschehens aus. Damit wird hervorgehoben, dass eine Verständigung niemals als solche die Gr<strong>und</strong>lage<br />

eines Urteils bilden kann, sondern weiterhin allein <strong>und</strong> ausschließlich die - ausreichend f<strong>und</strong>ierte - Überzeugung des<br />

Gerichts von dem von ihm festzustellenden Sachverhalt maßgeblich bleibt (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs der<br />

B<strong>und</strong>esregierung, BTDrucks 16/12310, S. 13). Dem Gesetzgeber waren die Besonderheiten des aufgr<strong>und</strong> einer Verständigung<br />

abgegebenen Geständnisses, insbesondere dessen erhöhte Fehleranfälligkeit infolge der Anreiz- <strong>und</strong><br />

Verlockungssituation, in der sich der Angeklagte wie auch sein Verteidiger befinden können, <strong>und</strong> demzufolge die<br />

Gefahr von „Falschgeständnissen“, bewusst, <strong>und</strong> er hat deshalb die Geltung der Amtsaufklärungspflicht des § 244<br />

Abs. 2 StPO ausdrücklich klargestellt. Dementsprechend bleibt das nach § 244 Abs. 2 StPO erforderliche Maß an<br />

Beweiserhebung stets insoweit unberührt, als ein wirksamer Verzicht auf (weitere) Beweisanträge <strong>und</strong> Beweiserhebungen<br />

sich nicht außerhalb dessen bewegen kann, was durch die unverändert geltende Sachaufklärungspflicht des<br />

Gerichtes bestimmt ist (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs der B<strong>und</strong>esregierung, BTDrucks 16/12310, S. 13; siehe<br />

auch BGH, Beschluss vom 31. Januar 2012 - 3 StR 285/11 -, StV 2012, S. 653 ; BGH, Beschluss vom<br />

7. Februar 2012 - 3 StR 335/11 -, juris, Rn. 5).<br />

69 Die Regelung des § 257c Abs. 4 Satz 1 StPO, nach der die Bindung des Gerichts an eine Verständigung entfällt,<br />

wenn rechtlich oder tatsächlich bedeutsame Umstände übersehen worden sind oder sich neu ergeben haben <strong>und</strong> das<br />

Gericht deswegen zu der Überzeugung gelangt, dass der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat- oder<br />

- 245 -


schuldangemessen ist, baut auf der Amtsaufklärungspflicht des § 244 Abs. 2 StPO auf <strong>und</strong> bestätigt die dargelegte<br />

Gr<strong>und</strong>entscheidung des Gesetzgebers. Entsprechendes gilt für das die Zulässigkeit von Verständigungen nach § 257c<br />

Abs. 1 Satz 1 StPO beschränkende Kriterium der „geeigneten Fälle“, mit dem der Gesetzgeber nicht nur die Anwendung<br />

der Verständigung im Jugendstrafverfahren mit Blick auf den dieses beherrschenden Erziehungsgedanken<br />

einschränken, sondern vor allem auch sicherstellen wollte, dass das Gericht nicht vorschnell auf eine Verständigung<br />

ausweicht, ohne zuvor pflichtgemäß die Anklage tatsächlich <strong>und</strong> rechtlich überprüft zu haben (vgl. Begründung zum<br />

Regierungsentwurf, BTDrucks 16/12310, S. 10, 13; siehe auch BGHSt 50, 40 , sowie BGH, Beschlüsse vom<br />

20. April 2004 - 5 StR 11/04 -, juris, Rn. 14 ff., <strong>und</strong> vom 9. Juni 2004 - 5 StR 579/03 -, juris, Rn. 13 ff.).<br />

70 Aufgr<strong>und</strong> des klarstellenden Hinweises auf § 244 Abs. 2 StPO durch § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO bedurfte es auch<br />

keiner zusätzlichen ausdrücklichen Festlegung der an ein Geständnis zu stellenden „Qualitätsanforderungen“. Vielmehr<br />

genügt dieser Hinweis, um einerseits zu verdeutlichen, dass auch in der Verständigungssituation ein bloßes<br />

inhaltsleeres Formalgeständnis - vor allem, wenn die Beantwortung von Fragen zum Sachverhalt verweigert wird -<br />

oder gar die nicht einmal ein Geständnis darstellende schlichte Erklärung, der Anklage nicht entgegenzutreten, allein<br />

keine taugliche Gr<strong>und</strong>lage der richterlichen Überzeugungsbildung sein können. Andererseits hat es der Gesetzgeber<br />

damit den Gerichten ermöglicht, den Besonderheiten des Einzelfalls Rechnung zu tragen.<br />

71 Vor dem Hintergr<strong>und</strong> des Regelungsziels, die Gr<strong>und</strong>sätze der Amtsaufklärungspflicht des Gerichts <strong>und</strong> der<br />

richterlichen Überzeugungsbildung unangetastet zu lassen, kann § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO zudem nur so verstanden<br />

werden, dass das verständigungsbasierte Geständnis zwingend auf seine Richtigkeit zu überprüfen ist. Diese Überprüfung<br />

hat sich - unter zusätzlicher Berücksichtigung des Gr<strong>und</strong>anliegens des Gesetzgebers, Verständigungen<br />

transparent <strong>und</strong> kontrollierbar zu machen - durch Beweiserhebung in der Hauptverhandlung (vgl. § 261 StPO) zu<br />

vollziehen. Freilich kann dies nicht bedeuten, dass die Überprüfung eines verständigungsbasierten Geständnisses<br />

strengeren Anforderungen unterliegt als sie an eine Beweisaufnahme in der nach herkömmlicher Verfahrensweise<br />

geführten Hauptverhandlung nach Abgabe eines Geständnisses zu stellen wären; so bleiben etwa Vorhalte oder das<br />

Selbstleseverfahren nach den allgemeinen Regeln möglich. Es genügt jedoch nicht, das verständigungsbasierte Geständnis<br />

durch einen bloßen Abgleich mit der Aktenlage zu überprüfen (anders noch BGHSt 50, 40 , in diese<br />

Richtung auch Schmitt, StraFo 2012, S. 386 ), da dies keine hinreichende Gr<strong>und</strong>lage für die erforderliche<br />

Überzeugungsbildung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung (§ 261 StPO) darstellt <strong>und</strong> mit einem solchen Verständnis<br />

dem Transparenzanliegen des Verständigungsgesetzes <strong>und</strong> der Ermöglichung einer wirksamen Kontrolle<br />

verständigungsbasierter Urteile gerade nicht Rechnung getragen werden könnte.<br />

72 Dieses Verständnis des § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass hiernach der Raum für<br />

Verständigungen - insbesondere mit Blick auf das Ausmaß der ermöglichten Verfahrensabkürzung - spürbar eingeengt<br />

wird. Diese Wirkung ist nicht etwa Ausdruck einer unauflösbaren inneren Widersprüchlichkeit der Norm, sondern<br />

achtet das ausdrückliche Ziel des Gesetzgebers, die Verständigung mit den Gr<strong>und</strong>sätzen der Amtsaufklärung<br />

nach § 244 Abs. 2 StPO <strong>und</strong> der richterlichen Überzeugungsbildung in Einklang zu bringen. Die Beschränkung des<br />

praktischen Anwendungsbereichs von Verständigungen ist die zwangsläufige Konsequenz der Einfügung von Verständigungsmöglichkeiten<br />

in das System des geltenden Strafprozessrechts.<br />

73 bb) Nach dem Regelungsziel des Gesetzgebers, weiterhin ein der Wahrheitserforschung <strong>und</strong> der Findung einer<br />

gerechten, schuldangemessenen Strafe verpflichtetes Strafverfahren sicherzustellen, bleiben nicht nur die tatsächlichen<br />

Feststellungen, sondern auch deren rechtliche Würdigung der Disposition der an einer Verständigung Beteiligten<br />

entzogen (ebenso BGH, Urteil vom 21. Juni 2012 - 4 StR 623/11 -, juris, Rn. 16). Unmittelbaren Ausdruck findet<br />

das gesetzliche Regelungsanliegen in § 257c Abs. 2 Satz 1 StPO, der den zulässigen Gegenstand von Verständigungen<br />

ausdrücklich auf die „Rechtsfolgen“ beschränkt, ferner in dem von § 257c Abs. 2 Satz 3 StPO ausgesprochenen<br />

Verbot einer Verständigung über den Schuldspruch <strong>und</strong> dem Wegfall der Bindungswirkung einer Verständigung<br />

unter den Voraussetzungen des § 257c Abs. 4 Satz 1 <strong>und</strong> 2 StPO.<br />

74 Aus § 257c Abs. 2 Satz 1 StPO folgt unter Berücksichtigung der Systematik <strong>und</strong> von Sinn <strong>und</strong> Zweck des<br />

gesetzlichen Regelungskonzepts insbesondere, dass eine Strafrahmenverschiebung nicht Gegenstand einer Verständigung<br />

sein darf, <strong>und</strong> zwar auch dann nicht, wenn sie sich auf Sonderstrafrahmen für besonders schwere oder minder<br />

schwere Fälle im Vergleich zum Regelstrafrahmen bezieht. Zwar handelt es sich bei diesen Sonderstrafrahmen nach<br />

herrschender Meinung (vgl. BGHSt 23, 254 ; 26, 104 ; Stree/Kinzig, in: Schönke/Schröder, StGB,<br />

28. Aufl. 2010, Vor §§ 38 ff., Rn. 47; Theune, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2007, Vor §§ 46 ff.<br />

Rn. 18) um gesetzliche Strafzumessungsregeln, die mit Ausnahme von § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB nicht in den Urteilstenor<br />

aufzunehmen sind. Allerdings weist die Regelungstechnik der besonders schweren <strong>und</strong> minder schweren Fälle<br />

- 246 -


eine spezifische Nähe zu Qualifikations- <strong>und</strong> Privilegierungstatbeständen auf. Wesentliche Unterschiede zwischen<br />

diesen Regelungsbereichen sind im Hinblick auf die Schuldangemessenheit des Strafens nicht zu erkennen. So werden<br />

die Regelbeispiele besonders schwerer Fälle als „tatbestandsähnlich“ angesehen (vgl. BGHSt 33, 370 ;<br />

BGH, Beschluss vom 21. Oktober 1997 - 5 StR 328/97 -, NStZ 1998, S. 91 ; Urteil vom 7. August 2001 - 1 StR<br />

470/00 -, NStZ 2001, S. 642 ; Beschluss vom 28. Juli 2010 - 1 StR 332/10 -, NStZ 2011, S. 167). Die Regelungstechnik<br />

unterfällt auch dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG (vgl. BVerfGE 45, 363 ) sowie<br />

dem Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. April 2004 - 3 StR 113/04 -,<br />

NStZ-RR 2004, S. 262, <strong>und</strong> vom 20. Juli 2004 - 3 StR 231/04 -, NStZ-RR 2005, S. 373 ). Nach der Rechtsprechung<br />

des B<strong>und</strong>esgerichtshofs ist ein Fall besonders schwer, wenn er sich nach dem Gewicht von Unrecht <strong>und</strong><br />

Schuld vom Durchschnitt vorkommender Fälle so abhebt, dass die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens geboten<br />

ist (vgl. BGHSt 28, 318, ; BGH, Urteil vom 26. Juni 1991 - 3 StR 145/91 -, NStZ 1991, S. 529 ); für<br />

das Vorliegen eines minder schweren Falls ist zu prüfen, ob das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven<br />

Momente <strong>und</strong> der Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß vorkommenden Fälle in einem so<br />

erheblichen Maß abweicht, dass die Anwendung des milderen Strafrahmens geboten erscheint (vgl. BGH, Beschluss<br />

vom 31. August 2000 - 5 StR 349/00 -, NJW 2000, S. 3580; Urteil vom 13. Februar 2003 - 3 StR 349/02 -, NJW<br />

2003, S. 1679 ; Beschluss vom 26. August 2008 - 3 StR 316/08 -, NStZ 2009, S. 37). Auch die Sonderstrafrahmen<br />

sind daher - wie jeder Strafrahmen - Ausdruck des Unwert- <strong>und</strong> Schuldgehalts, den der Gesetzgeber einem<br />

unter Strafe gestellten Verhalten beigemessen hat. Mit der Normierung von Sonderstrafrahmen bringt der Gesetzgeber<br />

- nicht anders als bei Qualifikationen <strong>und</strong> Privilegierungen - zum Ausdruck, innerhalb eines Deliktstypus eine<br />

Differenzierung schon auf der Ebene der Strafrahmenwahl für geboten zu erachten. Bei umfassender Würdigung des<br />

dem Verständigungsgesetz zugr<strong>und</strong>eliegenden Regelungskonzepts kann deshalb nicht davon ausgegangen werden,<br />

der Gesetzgeber habe diese Bewertung für den Fall einer Verständigung aufgeben <strong>und</strong> den Begriff der „Rechtsfolge“<br />

in § 257c Abs. 2 Satz 1 StPO auch auf Strafrahmenverschiebungen ausdehnen wollen.<br />

75 c) Mit den Vorschriften des Verständigungsgesetzes hat die Zulassung von Verständigungen im Strafverfahren eine<br />

abschließende Regelung erfahren. Außerhalb des gesetzlichen Regelungskonzepts erfolgende sogenannte informelle<br />

Absprachen sind unzulässig.<br />

76 aa) Bereits aus dem Wortlaut von § 257c Abs. 1 Satz 1 StPO, der Verständigungen nur „nach Maßgabe der<br />

folgenden Absätze“ zulässt, folgt, dass jegliche sonstigen „informellen“ Absprachen, Vereinbarungen <strong>und</strong> „Gentlemen‘s<br />

Agreements“ untersagt sind. Damit wird das Ziel der gesetzlichen Regelung, der Verständigung zur Herstellung<br />

von Rechtssicherheit <strong>und</strong> der Gewährleistung einer gleichmäßigen Rechtsanwendung durch ein „umfassendes<br />

<strong>und</strong> differenziertes Regelungskonzept“ (Gesetzentwurf der B<strong>und</strong>esregierung, BTDrucks 16/12310, S. 7 f., 9) klare<br />

Vorgaben zu setzen, verwirklicht. Hätte die Regelung keinen abschließenden Charakter, könnten die vom Gesetzgeber<br />

als erforderlich erachteten flankierenden Vorschriften, die Transparenz <strong>und</strong> Öffentlichkeit des mit einer Verständigung<br />

verb<strong>und</strong>enen Geschehens sichern, die ihnen zur Ermöglichung einer wirksamen Kontrolle von Verständigungen<br />

zugedachte Funktion von vornherein nicht wirksam erfüllen. Hierin liegt aber gerade ein zentrales Anliegen des<br />

Gesetzgebers. So ist im Gesetzgebungsverfahren die in der Stellungnahme des B<strong>und</strong>esrats kritisierte Regelung des<br />

sogenannten „Negativattests“ in § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO mit dem Argument verteidigt worden, dass mit ihrer<br />

Streichung „eine wichtige Regelung entfiele, die dazu dienen soll, mit höchst möglicher Gewissheit <strong>und</strong> in der Revision<br />

überprüfbar das Geschehen in der Hauptverhandlung zu dokumentieren <strong>und</strong> auszuschließen, dass ‚stillschweigend‘<br />

<strong>und</strong> ohne Beachtung der gesetzlichen Förmlichkeiten eine Verständigung stattgef<strong>und</strong>en hat“ (Gegenäußerung<br />

der B<strong>und</strong>esregierung zur Stellungnahme des B<strong>und</strong>esrats, BTDrucks 16/12310, S. 22). Schließlich findet sich in dem<br />

Anliegen, eine „vollumfängliche“ Kontrolle durch das Rechtsmittelgericht zu gewährleisten, eine Bestätigung des<br />

abschließenden Charakters des gesetzlichen Regelungskonzepts. Diese Kontrolle soll nämlich gerade „einen unterstützenden<br />

Beitrag dazu leisten, dass Verständigungen in erster Instanz wirklich so ablaufen, wie es den Vorgaben<br />

des Gesetzgebers entspricht“ (Begründung des Gesetzentwurfs der B<strong>und</strong>esregierung, BTDrucks 16/12310, S. 9).<br />

77 In Anbetracht der strikten Bindung jeglicher Ausübung hoheitlicher Gewalt an Gesetz <strong>und</strong> Recht (Art. 20 Abs. 3<br />

GG) bedurfte die Absicht des Gesetzgebers, nur solche Verständigungen zuzulassen, die sich innerhalb des vom<br />

Gesetz gezogenen Rahmens bewegen, keiner weiteren ausdrücklichen Hervorhebung.<br />

78 bb) Aus dem gesetzlichen Regelungskonzept zum Inhalt, zum Zustandekommen <strong>und</strong> zu den Folgen einer<br />

Verständigung folgt unter anderem, dass ein wirksamer Rechtsmittelverzicht auch dann ausgeschlossen ist, wenn<br />

sich die Beteiligten unter Verstoß gegen die gesetzlichen Vorschriften verständigt haben (vgl. dazu bereits BVerfG,<br />

Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 5. März 2012 - 2 BvR 1464/11 -, juris, Rn. 21 ff.; ebenso etwa<br />

- 247 -


Jahn/Müller, NJW 2009, S. 2625 ; Schmitt, StraFo 2012, S. 386 ). Eine solche Verständigung unterliegt<br />

zudem der Protokollierungspflicht nach § 273 Abs. 1a Satz 1 StPO. Sollte in letzterem Fall ein Negativattest<br />

nach § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO erteilt werden, wäre dieses falsch <strong>und</strong> könnte den Tatbestand der Falschbeurk<strong>und</strong>ung<br />

im Amt (§ 348 StGB) erfüllen.<br />

79 cc) Ebenso wenig können etwaige Zusagen der Staatsanwaltschaft, andere bei ihr anhängige Ermittlungsverfahren -<br />

etwa nach § 154 Abs. 1 StPO - einzustellen, eine Bindungswirkung oder ein schutzwürdiges Vertrauen auslösen (vgl.<br />

Begründung des Gesetzentwurfs der B<strong>und</strong>esregierung, BTDrucks 16/12310, S. 13; anders noch zur Rechtslage vor<br />

dem Verständigungsgesetz BGHSt 37, 10 ). Aus dem Wortlaut von § 257c Abs. 1 <strong>und</strong> 2 StPO folgt, dass sich<br />

Verständigungen ausschließlich auf das „zugr<strong>und</strong>eliegende Erkenntnisverfahren“ beziehen dürfen, also sogenannte<br />

„Gesamtlösungen“ unter Einbeziehung anderer Verfahren <strong>und</strong> nicht in der Kompetenz des Gerichts liegende Zusagen<br />

unzulässig sind (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2010 - 2 StR 354/10 -, wistra 2011, S. 28; siehe auch<br />

Stuckenberg, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2013, § 257c Rn. 34; Schmitt, StraFo 2012, S. 386 ). Nur<br />

dieses Verständnis entspricht dem Ziel des Gesetzgebers, Verständigungen transparent <strong>und</strong> kontrollierbar zu machen.<br />

Bei Einbeziehung anderer, nicht den Gegenstand der Hauptverhandlung bildender Verfahren ist insoweit eine wirksame<br />

Kontrolle der Verständigung - insbesondere durch die Öffentlichkeit - nicht gewährleistet.<br />

80 d) Einen Schwerpunkt des Regelungskonzeptes des Verständigungsgesetzes bildet die Gewährleistung der vom<br />

Gesetzgeber ausdrücklich als „erforderlich“ bewerteten Transparenz <strong>und</strong> Dokumentation des mit einer Verständigung<br />

verb<strong>und</strong>enen Geschehens als Voraussetzung einer effektiven Kontrolle durch die Öffentlichkeit, die Staatsanwaltschaft<br />

<strong>und</strong> das Rechtsmittelgericht (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs der B<strong>und</strong>esregierung, BTDrucks<br />

16/12310, S. 1, 8 f.). Zur Erreichung dieses Ziels hat der Gesetzgeber spezifische, das Regelungskonzept prägende<br />

Schutzmechanismen vorgesehen.<br />

81 aa) In der Konzeption des Gesetzgebers kommt der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung eine zentrale Bedeutung zu.<br />

Mit dem Gebot, die mit einer Verständigung verb<strong>und</strong>enen Vorgänge umfassend in die Hauptverhandlung einzubeziehen,<br />

gewährleistet der Gesetzgeber nicht nur vollständige Transparenz; er legt zugleich besonderes Gewicht auf<br />

die Kontrollfunktion der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung <strong>und</strong> bekräftigt damit, dass auch im Fall der Verständigung<br />

der Inbegriff der Hauptverhandlung die Gr<strong>und</strong>lage der richterlichen Überzeugungsbildung bleibt (§ 261 StPO).<br />

82 (1) (a) Dem Gesetzgeber kam es maßgeblich darauf an, die Transparenz der strafgerichtlichen Hauptverhandlung <strong>und</strong><br />

die Unterrichtung der Öffentlichkeit in der Hauptverhandlung gerade im Falle einer Verständigung zu bewahren; die<br />

Verständigung müsse sich „im Lichte der öffentlichen Hauptverhandlung offenbaren“ (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs<br />

der B<strong>und</strong>esregierung, BTDrucks 16/12310, S. 8, 12). Dementsprechend hat das Verständigungsgesetz umfassende<br />

Transparenz- <strong>und</strong> Dokumentationspflichten mit Bezug auf die Hauptverhandlung statuiert. Sie zielen darauf,<br />

nicht nur die Verständigung selbst, also den formalen Verständigungsakt des § 257c Abs. 3 StPO, sondern<br />

darüber hinausgehend auch die zu einer Verständigung führenden Vorgespräche in die Hauptverhandlung einzuführen.<br />

Zwar ist nach der Begründung des Regierungsentwurfs die „Vorbereitung“ einer Verständigung auch außerhalb<br />

der Hauptverhandlung möglich. Gegenstand einer Erörterung im Vorfeld der Hauptverhandlung kann es danach auch<br />

sein, Möglichkeit <strong>und</strong> Umstände einer Verständigung zu besprechen (vgl. BTDrucks 16/12310, S. 9, 12). Für alle<br />

Erörterungen außerhalb der Hauptverhandlung verlangt § 243 Abs. 4 StPO eine Mitteilung deren „wesentlichen<br />

Inhalts“. Diese Mitteilung ist gemäß § 273 Abs. 1a Satz 2 StPO zu protokollieren. Demgegenüber sind hinsichtlich<br />

der Verständigung selbst gemäß § 273 Abs. 1a Satz 1 StPO der wesentliche Ablauf <strong>und</strong> Inhalt sowie das Ergebnis<br />

wiederzugeben. Die Protokollierungspflicht hinsichtlich der Verständigung geht also über die Protokollierung der<br />

nach § 243 Abs. 4 StPO vorgeschriebenen Mitteilung hinaus. Dem liegt zugr<strong>und</strong>e, dass die Verständigung als solche<br />

nach § 257c Abs. 1 StPO nur in der Hauptverhandlung erfolgen kann. Die im Vergleich zur Verständigung selbst<br />

reduzierte Pflicht zur Dokumentation der Gespräche zur Vorbereitung einer Verständigung außerhalb der Hauptverhandlung<br />

gemäß § 273 Abs. 1a Satz 2, § 243 Abs. 4 StPO fügt sich in das vom Gesetzgeber verfolgte Konzept der<br />

Stärkung der Transparenz <strong>und</strong> Dokumentation ein, weil die Verständigung selbst erst in der Hauptverhandlung stattfinden<br />

kann <strong>und</strong> § 273 Abs. 1a Satz 1 StPO die Dokumentation der wesentlichen Abläufe, des Inhalts <strong>und</strong> des Ergebnisses<br />

dieser Verständigung gebietet. Alle wesentlichen Elemente einer Verständigung, zu denen angesichts des<br />

vom Gesetzgeber verfolgten Konzepts auch außerhalb der Hauptverhandlung geführte Vorgespräche zählen, sind<br />

zum Gegenstand der Erörterung in der Hauptverhandlung zu machen <strong>und</strong> unterliegen der Protokollierungspflicht<br />

nach § 273 Abs. 1a Satz 1 StPO.<br />

83 (b) Hinsichtlich des Inhalts möglicher Erörterungen des Gerichts mit den Verfahrensbeteiligten <strong>und</strong> der dabei<br />

bestehenden Transparenz- <strong>und</strong> Dokumentationspflichten ist zu unterscheiden:<br />

- 248 -


84 (aa) Möglich sind Gespräche, die ausschließlich der Organisation sowie der verfahrenstechnischen Vorbereitung <strong>und</strong><br />

Durchführung der Hauptverhandlung dienen, etwa die Abstimmung der Verhandlungstermine. Mangels eines Bezugs<br />

auf das Verfahrensergebnis sind diese Gespräche dem Regelungskonzept des Verständigungsgesetzes vorgelagert<br />

<strong>und</strong> von ihm nicht betroffen. Sie unterliegen deshalb nicht der Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 StPO.<br />

85 (bb) In Betracht kommen weiterhin Gespräche, die als Vorbereitung einer Verständigung verstanden werden können<br />

<strong>und</strong> über deren wesentlichen Inhalt deshalb nach § 243 Abs. 4 StPO in der Hauptverhandlung zu informieren ist. Die<br />

Mitteilungspflicht greift ein, sobald bei im Vorfeld oder neben der Hauptverhandlung geführten Gesprächen ausdrücklich<br />

oder konkludent die Möglichkeit <strong>und</strong> die Umstände (vgl. BTDrucks 16/12310, S. 12) einer Verständigung<br />

im Raum stehen. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn Fragen des prozessualen Verhaltens in Konnex zum Verfahrensergebnis<br />

gebracht werden <strong>und</strong> damit die Frage nach oder die Äußerung zu einer Straferwartung naheliegt. Im<br />

Zweifel wird in der Hauptverhandlung zu informieren sein. Zum mitzuteilenden Inhalt solcher Erörterungen gehört,<br />

welche Standpunkte von den einzelnen Gesprächsteilnehmern vertreten wurden, von welcher Seite die Frage einer<br />

Verständigung aufgeworfen wurde <strong>und</strong> ob sie bei anderen Gesprächsteilnehmern auf Zustimmung oder Ablehnung<br />

gestoßen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Oktober 2010 - 3 StR 287/10 -, juris; siehe auch Meyer-Goßner, StPO,<br />

55. Aufl. 2012, § 243 Rn. 18a; Altenhain/Haimerl, JZ 2010, S. 327 ; Schlothauer/Weider, StV 2009, S. 600<br />

). Fehlt im Hauptverhandlungsprotokoll der nach § 273 Abs. 1a Satz 2 StPO vorgeschriebene Hinweis auf eine<br />

Mitteilung nach § 243 Abs. 4 StPO, ergibt sich daraus lediglich, dass eine solche Mitteilung in der Hauptverhandlung<br />

unterblieben ist, nicht aber, dass es keine Erörterungen außerhalb der Hauptverhandlung gegeben hat, weil diese<br />

Tatsache nicht von der negativen Beweiskraft des Protokolls (§ 274 StPO) umfasst ist (a.A. ohne nähere Begründung<br />

Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. 2012, § 243 Rn. 18a a.E.).<br />

86 (cc) Die Verständigung selbst hat zwingend in der Hauptverhandlung stattzufinden, wo die vom Gesetzgeber<br />

verlangte Protokollierung nach § 273 Abs. 1a Satz 1 StPO <strong>und</strong> damit eine Voraussetzung vollumfänglicher Kontrolle<br />

gewährleistet ist. Zum „wesentlichen Ablauf <strong>und</strong> Inhalt“ im Sinne dieser Norm gehört nach Sinn <strong>und</strong> Zweck der<br />

Dokumentationspflicht insbesondere, wer die Anregung zu den Gesprächen gab <strong>und</strong> welchen Inhalt die einzelnen<br />

„Diskussionsbeiträge“ aller Verfahrensbeteiligten sowie der Richter hatten, insbesondere von welchem Sachverhalt<br />

sie hierbei ausgingen <strong>und</strong> welche Ergebnisvorstellungen sie äußerten (vgl. Stuckenberg, in: Löwe-Rosenberg, StPO,<br />

26. Aufl. 2013, § 257c Rn. 71).<br />

87 (2) Darüber hinaus folgt aus dem Ziel des Gesetzgebers, die Verständigung in das Licht der öffentlichen Hauptverhandlung<br />

zu stellen, dass er der Kontrollfunktion der Öffentlichkeit besondere Bedeutung beigemessen hat.<br />

88 Der in § 169 GVG niedergelegte Öffentlichkeitsgr<strong>und</strong>satz soll eine Kontrolle der Justiz durch die am Verfahren nicht<br />

beteiligte Öffentlichkeit ermöglichen <strong>und</strong> ist Ausdruck der demokratischen Idee. Die mit der Möglichkeit einer Beobachtung<br />

der Hauptverhandlung durch die Allgemeinheit verb<strong>und</strong>ene öffentliche Kontrolle der Justiz, die historisch<br />

als unverzichtbares Institut zur Verhinderung obrigkeitlicher Willkür eingeführt wurde (vgl. zum Ganzen Wickern,<br />

in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2010, Vor § 169 GVG Rn. 2 ff. m.w.N.), erhält als demokratisches Gebot<br />

durch die gesetzliche Zulassung der in eine vertrauliche Atmosphäre drängenden Verständigungen zusätzliches Gewicht.<br />

Dem hat der Gesetzgeber durch die Mitteilungspflicht in § 243 Abs. 4 StPO Rechnung getragen (vgl. Begründung<br />

des Gesetzentwurfs der B<strong>und</strong>esregierung, BTDrucks 16/12310, S. 12).<br />

89 Die Öffentlichkeit kann ihre Kontrollfunktion nur ausüben, wenn sie die Informationen erhält, die zur Beurteilung<br />

der Angemessenheit einer etwaigen Verständigung erforderlich sind. Nur so bleibt der gerichtliche Entscheidungsprozess<br />

transparent <strong>und</strong> die Rechtsprechung auch in Verständigungsfällen für die Allgemeinheit durchschaubar. Dies<br />

ist notwendig, damit das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Fähigkeit des Staates, mittels einer wirksamen Strafverfolgung<br />

öffentliche Sicherheit <strong>und</strong> Ordnung zu gewährleisten (vgl. zu dieser Aufgabe des Öffentlichkeitsgr<strong>und</strong>satzes<br />

Wickern, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2010, Vor § 169 GVG Rn. 2 ff.) <strong>und</strong> Gerechtigkeit im Einzelfall<br />

sowie eine gleichmäßige Behandlung aller zu garantieren, uneingeschränkt aufrechterhalten werden kann.<br />

90 (3) Die Einbeziehung des zu einer Verständigung führenden Geschehens in die öffentliche Hauptverhandlung hat<br />

auch die Aufgabe, deren Funktion als alleinige Gr<strong>und</strong>lage richterlicher Überzeugungsbildung zu wahren. Nach dem<br />

Willen des Gesetzgebers soll diese Funktion der öffentlichen Hauptverhandlung unberührt bleiben. In den Materialien<br />

wird ausdrücklich hervorgehoben, dass die Überzeugung des Gerichts von dem festzustellenden Sachverhalt<br />

stets erforderlich bleibt <strong>und</strong> eine Verständigung als solche niemals die Gr<strong>und</strong>lage eines Urteils bilden kann (vgl.<br />

Begründung des Gesetzentwurfs der B<strong>und</strong>esregierung, BTDrucks 16/12310, S. 8, 13). Das Gericht bildet sich seine<br />

Überzeugung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung (vgl. § 261 StPO). Dieser Gr<strong>und</strong>satz ist nicht zuletzt im Hinblick<br />

auf die während der Hauptverhandlung das Richteramt in vollem Umfang <strong>und</strong> mit gleichem Stimmrecht wie<br />

- 249 -


die Berufsrichter ausübenden Schöffen (§§ 30, 77 Abs. 1 GVG) von Bedeutung. Da aus § 257c Abs. 4 StPO folgt,<br />

dass der Gesetzgeber der Verständigung eine - wenn auch nur eingeschränkte - Bindungswirkung für das Gericht<br />

beigemessen hat, musste er zugleich gewährleisten, dass die Schöffen in das zu einer Verständigung führende Geschehen,<br />

soweit es in der Hauptverhandlung stattfindet, unmittelbar eingeb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> im Übrigen nach § 243 Abs. 4<br />

StPO umfassend über dieses unterrichtet sind. Anderenfalls wäre ihnen eine verantwortbare Entscheidung über die<br />

Verständigung - insbesondere die damit verb<strong>und</strong>ene Zusage einer Strafobergrenze <strong>und</strong> Ankündigung einer Strafuntergrenze<br />

- <strong>und</strong> über den Inhalt des nach einer Verständigung oder nach dem Scheitern von Verständigungsbemühungen<br />

ergehenden Urteils nicht möglich. Dementsprechend ermöglicht § 257c StPO es ausschließlich „dem Gericht“<br />

- nicht nur dem Vorsitzenden oder nur den Berufsrichtern -, eine Verständigung mit den Verfahrensbeteiligten<br />

herbeizuführen. Damit ist es ausgeschlossen, dass ohne eine Beteiligung der Schöffen Strafgrenzen mit der Bindungswirkung<br />

des § 257c Abs. 4 StPO in Aussicht gestellt werden.<br />

91 bb) Mit dem Erfordernis ihrer Zustimmung zu einer Verständigung weist der Gesetzgeber der Staatsanwaltschaft<br />

eine aktive Rolle bei der Verwirklichung seines Ziels zu, eine wirksame Kontrolle von Verständigungen zu gewährleisten.<br />

92 Ihr ist die Aufgabe zugewiesen, an der Sicherung der Gesetzmäßigkeit des Verfahrensablaufs <strong>und</strong> -ergebnisses<br />

mitzuwirken. Mit ihrer Verpflichtung zur Objektivität (§ 160 Abs. 2 StPO) ist sie Garantin für Rechtsstaatlichkeit<br />

<strong>und</strong> gesetzmäßige Verfahrensabläufe; als Vertreterin der Anklage gewährleistet sie eine effektive Strafrechtspflege<br />

(vgl. Kühne, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2006, Einl. J Rn. 42). Diese Bedeutung der Staatsanwaltschaft ist<br />

nicht auf die erstinstanzliche Hauptverhandlung beschränkt, sondern setzt sich in ihrer Aufgabenstellung im Rechtsmittelverfahren<br />

fort (vgl. § 296 Abs. 2, § 301 StPO). Ihren Niederschlag hat diese Stellung der Staatsanwaltschaft in<br />

den Bestimmungen der Nr. 127 Abs. 1 Satz 1 <strong>und</strong> Nr. 147 Abs. 1 der Richtlinien für das Strafverfahren <strong>und</strong> das<br />

Bußgeldverfahren (RiStBV) gef<strong>und</strong>en.<br />

93 In der Verständigungssituation kommt der Kontrolle durch die Staatsanwaltschaft herausgehobene Bedeutung zu,<br />

weil sich Angeklagter <strong>und</strong> Gericht hinsichtlich des möglichen Verfahrensergebnisses einer - wenngleich eingeschränkten<br />

- Bindung unterwerfen. Die Einbindung der Staatsanwaltschaft in die Verständigung hat damit vor allem<br />

den Zweck, deren Gesetzmäßigkeit zu sichern (vgl. auch BGH, Beschluss vom 5. Mai 2011 - 1 StR 116/11 -, juris,<br />

Rn. 23 f.; BGH, Beschluss vom 12. Juli 2011 - 1 StR 274/11 -, StV 2011, S. 645 f.; BGH, Urteil vom 9. November<br />

2011 - 1 StR 302/11 -, juris, Rn. 45). Dem Verständigungsgesetz liegt die Erwartung zugr<strong>und</strong>e, dass die Staatsanwaltschaft<br />

- entsprechend ihrer Rolle als „Wächter des Gesetzes“ (vgl. hierzu Promemoria der Staats- <strong>und</strong> Justiz-<br />

Minister von Savigny <strong>und</strong> Uhden über die Einführung der Staats-Anwaltschaft im Kriminal-Prozesse vom<br />

23. März 1846, abgedruckt bei Otto, Die Preußische Staatsanwaltschaft, 1899, S. 40 ff.) - sich gesetzwidrigen Vorgehensweisen<br />

im Zusammenhang mit Verständigungen verweigert. Weisungsgeb<strong>und</strong>enheit <strong>und</strong> Berichtspflichten<br />

ermöglichen es, einheitliche Standards für die Erteilung der Zustimmung zu Verständigungen sowie für die Ausübung<br />

der Rechtsmittelbefugnis aufzustellen <strong>und</strong> durchzusetzen. Die Staatsanwaltschaft ist nicht nur gehalten, ihre<br />

Zustimmung zu einer gesetzwidrigen Verständigung zu versagen. Sie hat darüber hinaus gegen Urteile, die - beispielsweise<br />

von der Staatsanwaltschaft zunächst unerkannt - auf solchen Verständigungen beruhen, Rechtsmittel<br />

einzulegen. In Anbetracht der hohen Bedeutung, die der Gesetzgeber der Wahrung der verfassungsrechtlichen Vorgaben<br />

an den Strafprozess auch in Verständigungsfällen beigemessen hat, werden Verstöße gegen die Vorgaben des<br />

Verständigungsgesetzes in der Regel von wesentlicher Bedeutung (vgl. auch Nr. 147 Abs. 1 Satz 1 RiStBV) <strong>und</strong><br />

deshalb durch die Staatsanwaltschaft einer revisionsgerichtlichen Kontrolle zuzuführen sein. Auch kann es angezeigt<br />

sein, dass sich die Generalstaatsanwaltschaften dieser Aufgabe in besonderer Weise annehmen.<br />

94 cc) Schließlich verfolgen die in dem Regelungskonzept des Verständigungsgesetzes vorgesehenen Schutzmechanismen<br />

das Ziel, eine wirksame „vollumfängliche“ Kontrolle verständigungsbasierter Urteile durch das Rechtsmittelgericht<br />

zu ermöglichen.<br />

95 (1) Diese Kontrolle soll dazu beitragen, dass „Verständigungen in erster Instanz wirklich so ablaufen, wie es den<br />

Vorgaben des Gesetzgebers entspricht“ (Begründung des Gesetzentwurfs der B<strong>und</strong>esregierung, BTDrucks 16/12310,<br />

S. 9). Hiernach verzichtete der Gesetzgeber darauf, nach vorangegangener Verständigung Rechtsmittel auszuschließen<br />

oder einzuschränken, um die Verständigung in einer insbesondere mit dem Gebot schuldangemessenen Strafens<br />

<strong>und</strong> der daraus folgenden Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit in Einklang stehenden Weise in das geltende<br />

Strafverfahren integrieren zu können (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs der B<strong>und</strong>esregierung, BTDrucks<br />

16/12310, S. 1 f., 8 f.; siehe auch Stellungnahme der B<strong>und</strong>esregierung zum Gesetzentwurf des B<strong>und</strong>esrats,<br />

BTDrucks 16/4197, S. 12). Mit dieser Zielsetzung grenzt sich das Regelungskonzept des Verständigungsgesetzes<br />

- 250 -


ausdrücklich von dem vom B<strong>und</strong>esrat vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Regelung von Absprachen im Strafverfahren<br />

(BTDrucks 16/4197) ab, der die Rechtsmittelmöglichkeiten gegen ein verständigungsbasiertes Urteil durch<br />

einen Ausschluss der Berufung sowie eine Beschränkung der Revision auf im Zusammenhang mit der Verständigung<br />

stehende Verfahrensfehler <strong>und</strong> die Revisionsgründe des § 338 StPO wesentlich einschränken wollte (vgl. Gesetzentwurf<br />

<strong>und</strong> Begründung des B<strong>und</strong>esrats, BTDrucks 16/4197, S. 5 f., 7, 11 sowie die Stellungnahme der B<strong>und</strong>esregierung,<br />

BTDrucks 16/4197, S. 12). Die im Gesetzentwurf der B<strong>und</strong>esregierung vorgesehene Möglichkeit eines<br />

Rechtsmittelverzichts nach gesonderter qualifizierter Belehrung hat der Rechtsausschuss des Deutschen B<strong>und</strong>estages<br />

verworfen, um sicherzustellen, dass sich die Berechtigten in Ruhe <strong>und</strong> ohne Druck überlegen können, ob sie<br />

Rechtsmittel einlegen wollen (vgl. Gesetzentwurf der B<strong>und</strong>esregierung, BTDrucks 16/12310, S. 6, 15 sowie Beschlussempfehlung<br />

<strong>und</strong> Bericht des Rechtsausschusses, BTDrucks 16/13095, S. 7, 10). In bewusster Abkehr von den<br />

Entwürfen schränkt das Verständigungsgesetz die Rechtsmittelmöglichkeiten gegen verständigungsbasierte Urteile<br />

nicht ein, sondern schließt - über die dem Regelungskonzept weitgehend zugr<strong>und</strong>eliegende Entscheidung des Großen<br />

Strafsenats des B<strong>und</strong>esgerichtshofs (BGHSt 50, 40 ff.) hinausgehend - einen Rechtsmittelverzicht nach einer Verständigung<br />

generell aus (§ 302 Abs. 1 Satz 2 StPO) <strong>und</strong> sichert die Ermöglichung einer Rechtsmittelkontrolle durch<br />

das Erfordernis einer qualifizierten Belehrung noch zusätzlich ab.<br />

96 (2) Die Wirksamkeit der Kontrolle soll durch umfassende Transparenz- <strong>und</strong> Dokumentationspflichten sichergestellt<br />

werden. Diese Schutzmechanismen können nicht als bloße Ordnungsvorschriften verstanden werden. Die Gewährleistung<br />

einer „vollumfänglichen“ Kontrolle verständigungsbasierter Urteile setzt umfassende Transparenz des Verständigungsgeschehens<br />

in der öffentlichen Hauptverhandlung sowie eine vollständige Dokumentation im Verhandlungsprotokoll<br />

voraus. Dementsprechend kommt im Wortlaut der Normen, in der Systematik des Regelungskonzepts<br />

<strong>und</strong> in den Materialien unmissverständlich zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber eine Verständigung nur bei Wahrung<br />

der Transparenz- <strong>und</strong> Dokumentationspflichten für zulässig hält. Das gesetzliche Regelungskonzept ist damit<br />

als eine untrennbare Einheit aus Zulassung <strong>und</strong> inhaltlicher Beschränkung von Verständigungen bei gleichzeitiger<br />

Einhegung durch die Mitteilungs-, Belehrungs- <strong>und</strong> Dokumentationspflichten zu begreifen. Dabei dienen die Verfahrensnormen<br />

in gleicher Weise wie die den zulässigen Inhalt von Verständigungen beschränkenden Vorschriften <strong>und</strong><br />

der Verweis des § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO auf § 244 Abs. 2 StPO dem Ziel, die mit einer urteilsbezogenen Verständigung<br />

zwischen Gericht <strong>und</strong> Verfahrensbeteiligten verb<strong>und</strong>enen Risiken für die Verwirklichung der verfassungsrechtlichen<br />

Vorgaben an den Strafprozess zu minimieren. Die Vorschriften zur Transparenz des Verständigungsgeschehens<br />

in der öffentlichen Hauptverhandlung, zu dessen Dokumentation <strong>und</strong> zur Ermöglichung einer wirksamen<br />

Kontrolle auch durch das Rechtsmittelgericht zählen zum Kern des gesetzlichen Regelungskonzepts.<br />

97 (3) Ein Verstoß gegen die Transparenz- <strong>und</strong> Dokumentationspflichten führt deshalb gr<strong>und</strong>sätzlich zur Rechtswidrigkeit<br />

einer gleichwohl getroffenen Verständigung. Hält sich das Gericht an eine solche gesetzwidrige Verständigung,<br />

wird ein Beruhen des Urteils auf diesem Gesetzesverstoß regelmäßig schon deshalb nicht auszuschließen sein, weil<br />

die Verständigung, auf der das Urteil beruht, ihrerseits mit einem Gesetzesverstoß behaftet ist. Diese Auslegung<br />

entspricht der Funktion dieser Vorschriften im Konzept des Verständigungsgesetzes. Dass Verstöße gegen die verfahrensrechtlichen<br />

Sicherungen der Verständigung nicht den absoluten Revisionsgründen zugeordnet worden sind,<br />

steht einer Auslegung des § 337 Abs. 1 StPO nicht entgegen, derzufolge das Revisionsgericht ein Beruhen des Urteils<br />

auf einem Verstoß gegen Transparenz- <strong>und</strong> Dokumentationspflichten - die nach dem Willen des Gesetzgebers<br />

gerade zum Kern des dem Verständigungsgesetz zugr<strong>und</strong>e liegenden Schutzkonzepts gehören - nur in besonderen<br />

Ausnahmefällen wird ausschließen können (vgl. zur Verletzung von § 258 Abs. 2 <strong>und</strong> 3 StPO BGHSt 21, 288<br />

; 22, 278 ).<br />

98 (4) Kommt eine Verständigung nicht zustande <strong>und</strong> fehlt es an der gebotenen Negativmitteilung nach § 243 Abs. 4<br />

Satz 1 StPO (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Oktober 2010 - 3 StR 287/10 -, wistra 2011, S. 72 f. = StV 2011, S. 72 f.)<br />

oder dem vorgeschriebenen Negativattest nach § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO, wird nach Sinn <strong>und</strong> Zweck des gesetzlichen<br />

Schutzkonzepts ein Beruhen des Urteils auf einem Verstoß gegen § 257c StPO gr<strong>und</strong>sätzlich ebenfalls nicht<br />

auszuschließen sein (str., im Ergebnis wie hier Kirsch, StraFo 2010, S. 96 ; Schlothauer, StV 2011, S. 205<br />

; in der Tendenz auch Schmitt, StraFo 2012, S. 386 ; anders BGH, Beschluss vom 20. Oktober 2010 -<br />

1 StR 400/10 -, NStZ 2011, S. 592 zu § 243 Abs. 4 StPO), sofern nicht ausnahmsweise zweifelsfrei feststeht,<br />

dass es keinerlei Gespräche gegeben hat, in denen die Möglichkeit einer Verständigung im Raum stand (vgl. OLG<br />

Celle, Beschluss vom 30. August 2011 - 32 Ss 87/11 -, juris, Rn. 11, 13). Bei einem Verstoß gegen Transparenz- <strong>und</strong><br />

Dokumentationspflichten wird sich nämlich in den meisten Fällen nicht sicher ausschließen lassen, dass das Urteil<br />

auf eine gesetzwidrige „informelle“ Absprache oder diesbezügliche Gesprächsbemühungen zurückgeht.<br />

- 251 -


99 e) Aus der in § 257c Abs. 4 StPO getroffenen Regelung ergibt sich zwar einerseits, dass das Gericht (nur) an eine<br />

nach den Vorgaben des Gesetzes entsprechende Verständigung gr<strong>und</strong>sätzlich geb<strong>und</strong>en ist. Andererseits stellt die<br />

Regelung zugleich klar, dass die Bindungswirkung entfällt, wenn das Gericht nach Zustandekommen der Verständigung<br />

zu der Überzeugung gelangt, dass der nach § 257c Abs. 3 Satz 2 StPO in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht<br />

(mehr) tat- <strong>und</strong> schuldangemessen ist. Die Bestimmung des § 257c Abs. 4 StPO ist somit Ausdruck des gesetzgeberischen<br />

Willens, die richterliche Überzeugungsbildung unangetastet zu lassen. Mit dem Verwertungsverbot des<br />

§ 257c Abs. 4 Satz 3 StPO ist dort zudem eine dem Schutz des Angeklagten dienende Vorschrift enthalten, der im<br />

Vertrauen auf den Bestand einer Verständigung ein Geständnis abgegeben <strong>und</strong> damit von seinem Recht, sich nicht<br />

zur Sache einzulassen, keinen Gebrauch gemacht <strong>und</strong> der Verurteilung eine Gr<strong>und</strong>lage verschafft hat. Mit dem Ziel,<br />

dem Angeklagten überhaupt eine autonome Entscheidung über das für ihn mit einer Mitwirkung an einer Verständigung<br />

verb<strong>und</strong>ene Risiko zu ermöglichen, sieht schließlich § 257c Abs. 5 StPO vor, dass der Angeklagte vor der<br />

Verständigung über die Voraussetzungen <strong>und</strong> Folgen einer Abweichung des Gerichts von dem in Aussicht gestellten<br />

Ergebnis zu belehren ist. Hiermit wollte der Gesetzgeber die Fairness des Verständigungsverfahrens sichern <strong>und</strong> -<br />

wie sein Hinweis auf das Ziel der Ermöglichung einer autonomen Einschätzung (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs<br />

der B<strong>und</strong>esregierung, BTDrucks 16/12310, S. 15) bestätigt - zugleich die Autonomie des Angeklagten im<br />

weiten Umfang schützen. Der Angeklagte sieht sich durch die Aussicht, mit der Verständigung eine das Gericht<br />

bindende Zusage einer Strafobergrenze zu erreichen <strong>und</strong> so Einfluss auf den Verfahrensausgang zu nehmen, einer<br />

besonderen Anreiz- <strong>und</strong> Verlockungssituation ausgesetzt. Der hiermit einhergehenden Gefährdung der Selbstbelastungsfreiheit<br />

soll unter anderem durch die Belehrung nach § 257c Abs. 5 StPO Rechnung getragen werden. Bei einem<br />

Verstoß gegen die Belehrungspflicht wird daher im Rahmen der revisionsgerichtlichen Prüfung regelmäßig<br />

davon auszugehen sein, dass das Geständnis <strong>und</strong> damit auch das Urteil auf dem Unterlassen der Belehrung beruht.<br />

Ein Beruhen wird nur dann verneint werden können, wenn sich feststellen lässt, dass der Angeklagte das Geständnis<br />

auch bei ordnungsgemäßer Belehrung abgegeben hätte (vgl. zu dem in seiner Bedeutung für die Selbstbelastungsfreiheit<br />

ähnlich gelagerten Verstoß gegen § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO BGHSt 38, 214 ). Nur so ist gewährleistet,<br />

dass die Schutzfunktion der Belehrungspflicht ihre vorgesehene Wirkung entfaltet.<br />

100 2. Das Verständigungsgesetz ist mit dem Gr<strong>und</strong>gesetz vereinbar. Dieses schließt Verständigungen im Strafprozess<br />

nicht schlechthin aus (a). Der Gesetzgeber hat ausreichende Vorkehrungen getroffen, um zu gewährleisten, dass sich<br />

Verständigungen im Rahmen der verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Strafverfahren halten (b).<br />

101 a) Verständigungen im Strafprozess berühren die verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Strafverfahren (aa),<br />

der Gesetzgeber ist aber nicht gehindert, Verständigungen mit den zur Sicherung der Verfassungsmäßigkeit gebotenen<br />

Vorkehrungen zuzulassen (bb).<br />

102 aa) Der Strafprozess hat das Schuldprinzip zu verwirklichen <strong>und</strong> darf sich von dem ihm vorgegebenen Ziel der<br />

bestmöglichen Erforschung der materiellen Wahrheit <strong>und</strong> der Beurteilung der Sach- <strong>und</strong> Rechtslage durch ein unabhängiges<br />

<strong>und</strong> neutrales Gericht nicht entfernen. Das Fehlen eines nicht an den sachlichen Verfahrenszielen orientierten<br />

eigenen Interesses des Gerichts am Verfahrensausgang bildet im Zusammenwirken mit seiner Bindung an Gesetz<br />

<strong>und</strong> Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) die Gr<strong>und</strong>lage für die bestmögliche Ermittlung des wahren Sachverhaltes <strong>und</strong> die<br />

richtige Anwendung des materiellen Rechts auf den festgestellten Sachverhalt. Dabei trägt das Gebot einer schuldangemessenen<br />

Bestrafung auch im Einzelfall dem Verlangen nach Rechtsgleichheit als einem der gr<strong>und</strong>legenden Gerechtigkeitspostulate<br />

Rechnung. Das Maß der verwirklichten Schuld legitimiert die Differenzierung in den Rechtsfolgen<br />

<strong>und</strong> sichert so zugleich die gebotene Gleichbehandlung der Beschuldigten im Strafverfahren.<br />

103 (1) Das verfassungsrechtliche Schuldprinzip steht nicht zur Disposition des Gesetzgebers (vgl. BVerfGE 123, 267<br />

). Dies schließt es nicht aus, den Strafverfolgungsbehörden Möglichkeiten zu einem Absehen von der Strafverfolgung<br />

zu eröffnen, namentlich in Fällen geringfügiger Kriminalität, in denen der Rechtsfrieden nicht ernsthaft<br />

beeinträchtigt <strong>und</strong> eine Kriminalstrafe zum Schuldausgleich nicht zwingend geboten ist, so dass ein öffentliches<br />

Interesse an einem Schuldspruch nicht besteht oder durch die Erfüllung von Auflagen oder/<strong>und</strong> Weisungen beseitigt<br />

werden kann. Solche Ausnahmen dürfen die Geltungskraft des Schuldprinzips nicht in Frage stellen <strong>und</strong> bedürfen<br />

stets einer gesetzlichen Regelung, wie sie der Gesetzgeber etwa in den §§ 153 ff. StPO getroffen hat. Als Ausnahmen<br />

von der verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zur Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs sind sie fest zu<br />

umgrenzen <strong>und</strong> bedürfen jeweils einer eigenständigen Legitimation (vgl. zu Beschränkungen der Sachverhaltsaufklärung<br />

BVerfGE 33, 367 ; 46, 214 ; 49, 24 ; 51, 324 ; 129, 208 ; BVerfG, Beschluss<br />

der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. August 2000 - 1 BvR 77/96 -, NStZ 2001, S. 43 ).<br />

- 252 -


104 (2) Als unerlässliche Voraussetzung der Verwirklichung des Schuldprinzips unterliegt auch die Pflicht zur<br />

bestmöglichen Erforschung der materiellen Wahrheit nicht der Disposition des Gesetzgebers. Sie ist das bestimmende<br />

Ziel, von dem sich der Strafprozess nicht entfernen darf. Allerdings ist es Sache des Gesetzgebers, darüber zu<br />

befinden, auf welchen Wegen <strong>und</strong> mit welchen Mitteln er die Verwirklichung des Schuldprinzips gewährleistet. Es<br />

ist dem Gesetzgeber auch nicht versagt, unter Wahrung rechtsstaatlicher Gr<strong>und</strong>sätze für Fälle einfach gelagerter <strong>und</strong><br />

eindeutiger Sachverhalte - etwa bei einer sich mit den Ermittlungsergebnissen deckenden geständigen Einlassung<br />

schon im Ermittlungsverfahren oder bei einem auf frischer Tat angetroffenen Beschuldigten - ein vereinfachtes Verfahren<br />

zur Gewinnung der richterlichen Überzeugung von Schuld oder Unschuld des Angeschuldigten <strong>und</strong> der hieraus<br />

zu ziehenden Folgen ohne das Erfordernis einer öffentlichen Hauptverhandlung mit ihrer formalisierten Beweisaufnahme<br />

einzurichten, wie es die Strafprozessordnung mit dem Strafbefehlsverfahren gemäß § 407 Abs. 1 <strong>und</strong><br />

2 StPO vorsieht (vgl. dazu Gössel, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2009, Vor § 407 Rn. 25 f. m.w.N.). Ermöglichen<br />

es die in der Akte befindlichen Unterlagen <strong>und</strong> Beweismittel dem Richter, sich die Überzeugung von der<br />

Richtigkeit des dem Angeschuldigten zur Last gelegten Sachverhalts zu bilden, ist eine öffentliche Hauptverhandlung<br />

zur Gewinnung einer tragfähigen Gr<strong>und</strong>lage für die Schuldfeststellung, die rechtliche Beurteilung <strong>und</strong> die Strafzumessung<br />

von Verfassungs wegen nicht zwingend geboten, sofern es der Angeschuldigte in der Hand hat, durch<br />

einfache Erklärung die Durchführung einer öffentlichen Hauptverhandlung zu erzwingen (vgl. BVerfGE 25, 158<br />

; BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Februar 1995 - 2 BvR 1950/94 -, NJW<br />

1995, S. 2545 <strong>und</strong> vom 4. Juli 2002 - 2 BvR 2168/00 -, NJW 2002, S. 3534 m.w.N.).<br />

105 (3) Das im Gr<strong>und</strong>gesetz verankerte Schuldprinzip <strong>und</strong> die mit ihm verb<strong>und</strong>ene Pflicht zur Erforschung der<br />

materiellen Wahrheit sowie der Gr<strong>und</strong>satz des fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens, die Unschuldsvermutung <strong>und</strong> die<br />

Neutralitätspflicht des Gerichts schließen es jedoch aus, die Handhabung der Wahrheitserforschung, die rechtliche<br />

Subsumtion <strong>und</strong> die Gr<strong>und</strong>sätze der Strafzumessung in der Hauptverhandlung, die letztlich mit einem Urteil zur<br />

Schuldfrage abschließen soll, zur freien Disposition der Verfahrensbeteiligten <strong>und</strong> des Gerichts zu stellen. Dem Gericht<br />

muss es untersagt bleiben, im Wege vertragsähnlicher Vereinbarungen mit den Verfahrensbeteiligten über die<br />

Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit zu verfügen <strong>und</strong> sich von dem Gebot schuldangemessenen Strafens<br />

zu lösen. Es ist Gericht <strong>und</strong> Staatsanwaltschaft untersagt, sich auf einen „Vergleich“ im Gewande des Urteils, auf<br />

einen „Handel mit der Gerechtigkeit“ einzulassen (vgl. schon BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats<br />

vom 27. Januar 1987 - 2 BvR 1133/86 -, NJW 1987, S. 2662 ) <strong>und</strong> mit dem Angeklagten einen bestimmten<br />

Schuldspruch oder auch nur eine konkrete Strafe zu vereinbaren. Der Rechtsanwendungspraxis ist es untersagt, das<br />

vom Gesetzgeber normierte Strafverfahren in einer Weise zu gestalten, die auf solche vertragsähnliche Erledigungsformen<br />

hinausläuft.<br />

106 Demgegenüber steht das Gr<strong>und</strong>gesetz unverbindlichen Erörterungen der Beurteilung der Sach- <strong>und</strong> Rechtslage<br />

zwischen dem Gericht <strong>und</strong> den Verfahrensbeteiligten nicht entgegen. Eine offene, kommunikative Verhandlungsführung<br />

kann der Verfahrensförderung dienlich sein <strong>und</strong> ist daher heute selbstverständliche Anforderung an eine sachgerechte<br />

Prozessleitung. So begegnen etwa Rechtsgespräche <strong>und</strong> Hinweise auf die vorläufige Beurteilung der Beweislage<br />

oder die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Solche<br />

Formen der kommunikativen Verhandlungsführung stellen insbesondere nicht die Unvoreingenommenheit des Gerichts<br />

in Frage, solange sie transparent bleiben <strong>und</strong> kein Verfahrensbeteiligter hiervon ausgeschlossen ist.<br />

107 bb) Verständigungen zwischen Gericht <strong>und</strong> Verfahrensbeteiligten über Stand <strong>und</strong> Aussichten der Hauptverhandlung,<br />

die dem Angeklagten für den Fall eines Geständnisses eine Strafobergrenze zusagen <strong>und</strong> eine Strafuntergrenze ankündigen,<br />

tragen das Risiko in sich, dass die verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht in vollem Umfang beachtet<br />

werden. Gleichwohl ist es dem Gesetzgeber in Anbetracht seiner Gestaltungsmacht von Verfassungs wegen nicht<br />

schlechthin verwehrt, zur Verfahrensvereinfachung Verständigungen zuzulassen. Er muss jedoch zugleich durch<br />

hinreichende Vorkehrungen sicherstellen, dass die verfassungsrechtlichen Anforderungen gewahrt bleiben. Die<br />

Wirksamkeit der vorgesehenen Schutzmechanismen hat der Gesetzgeber fortwährend zu überprüfen. Ergibt sich,<br />

dass sie unvollständig oder ungeeignet sind, hat er insoweit nachzubessern <strong>und</strong> erforderlichenfalls seine Entscheidung<br />

für die Zulässigkeit strafprozessualer Absprachen zu revidieren (vgl. BVerfGE 110, 141 m.w.N.).<br />

108 b) Das Verständigungsgesetz sichert die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben in ausreichender Weise.<br />

109 aa) Nach § 257c Abs. 2 Satz 1 StPO dürfen Gegenstand einer Verständigung nur die Rechtsfolgen sein, die Inhalt des<br />

Urteils <strong>und</strong> der dazugehörigen Beschlüsse sein können, sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen im zugr<strong>und</strong>e liegenden<br />

Erkenntnisverfahren sowie das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten. § 257c Abs. 2 Satz 3 StPO<br />

schließt den Schuldspruch sowie Maßregeln der Besserung <strong>und</strong> Sicherung als Gegenstand einer Verständigung aus.<br />

- 253 -


Das Verständigungsgesetz entbindet das Gericht auch nicht von der Beachtung der Strafzumessungsregeln, wenn es<br />

in § 257c Abs. 3 Satz 2 StPO das Gericht ermächtigt, bei der Bekanntgabe des möglichen Inhalts einer Verständigung<br />

unter freier Würdigung aller Umstände des Falles sowie der allgemeinen Strafzumessungserwägungen auch<br />

eine Ober- <strong>und</strong> Untergrenze der Strafe anzugeben. Damit sind nicht nur, wie vom Schuldgr<strong>und</strong>satz gefordert, Verständigungen<br />

über den Schuldspruch wirksam ausgeschlossen, sondern es ist auch sichergestellt, dass die aus dem<br />

Gebot schuldangemessenen Strafens folgenden Gr<strong>und</strong>sätze der Strafzumessung nicht zur Disposition der Verfahrensbeteiligten<br />

stehen. Dem Gericht ist es nicht gestattet, im Wege der Verständigung seine Wertungen an die Stelle<br />

derjenigen des Strafgesetzgebers zu setzen. Dabei ist zu beachten, dass eine maßgebliche Bedeutung insoweit den<br />

gesetzlichen Strafrahmen zukommt, die mit ihren nach Straftat <strong>und</strong> Strafhöhe gestaffelten Sanktionen die Abstufung<br />

der verschiedenen Straftaten nach ihrem Unrechtsgehalt erst zum Ausdruck bringen (vgl. BVerfGE 27, 18 ).<br />

Tatbestand <strong>und</strong> Rechtsfolge sind wechselseitig aufeinander bezogen <strong>und</strong> müssen - gemessen an der Idee der Gerechtigkeit<br />

- sachgerecht aufeinander abgestimmt sein. Einerseits richtet sich die Strafhöhe nach dem normativ festgelegten<br />

Wert des verletzten Rechtsgutes <strong>und</strong> der Schuld des Täters. Andererseits lässt sich das Gewicht einer Straftat, der<br />

ihr in der verbindlichen Wertung des Gesetzgebers beigemessene Unwertgehalt, in aller Regel erst aus der Höhe der<br />

angedrohten Strafe entnehmen. Insofern ist auch die Strafandrohung für die Charakterisierung, Bewertung <strong>und</strong> Auslegung<br />

des Straftatbestandes von entscheidender Bedeutung (BVerfGE 25, 269 ; 27, 18 ). Erst von einer<br />

differenzierenden Bewertung des Unwertgehaltes der verschiedenen Straftaten her wird die Abstufung der strafrechtlichen<br />

Sanktionen verständlich <strong>und</strong> sachlich gerechtfertigt (BVerfGE 27, 18 ). Innerhalb eines Deliktstypus<br />

kommt die differenzierende Bewertung des Unwertgehaltes vor allem durch Qualifikations- <strong>und</strong> Privilegierungstatbestände<br />

zum Ausdruck. Aber auch die Sonderstrafrahmen für besonders schwere <strong>und</strong> minder schwere Fälle nehmen<br />

an dieser Abstufung teil, auch wenn es sich hierbei nach überwiegender Auffassung um Strafzumessungsregeln handelt<br />

(Nachweise siehe oben unter B. II. 1. b) bb)). Diese Regelungstechnik ist dem Gesetzgeber nicht verwehrt (vgl.<br />

BVerfGK 14, 177 ). Wenn er jedoch mit der Einführung solcher Sonderstrafrahmen zum Ausdruck gebracht<br />

hat, eine Differenzierung schon bei der Strafandrohung für erforderlich zu halten, ist diese Bewertung für die<br />

Rechtsanwendung bindend.<br />

110 bb) Das Verständigungsgesetz wahrt den Schuldgr<strong>und</strong>satz auch insoweit, als eine Verfahrensverkürzung um den<br />

Preis der Erforschung der materiellen Wahrheit ausgeschlossen ist. Wie dargestellt, enthebt die Möglichkeit einer<br />

Verständigung das Gericht nicht von der Pflicht zur Sachverhaltsermittlung von Amts wegen. Ein Geständnis darf<br />

nicht zur „Handelsware“ werden <strong>und</strong> kann als Gr<strong>und</strong>lage der Zusage einer Strafobergrenze nur akzeptiert werden,<br />

wenn es - aus sich heraus oder aufgr<strong>und</strong> der Beantwortung von Fragen - überprüfbar ist. Das im Zusammenhang mit<br />

der Zusage einer Strafobergrenze abgegebene Geständnis in der - die Gr<strong>und</strong>lage der richterlichen Überzeugung über<br />

Schuld oder Unschuld <strong>und</strong> die daran zu knüpfenden Folgen bildenden - Hauptverhandlung ist auf seine Richtigkeit<br />

zu überprüfen, denn eine solche Zusage kann den Angeklagten zur Abgabe eines (teilweise) falschen Geständnisses<br />

veranlassen.<br />

111 cc) Mit den Bestimmungen zum Entfallen der Bindung des Gerichts an eine Verständigung (§ 257c Abs. 4 StPO) hat<br />

der Gesetzgeber ferner die aus dem Schuldprinzip, der Pflicht des Gerichts zur Erforschung der materiellen Wahrheit<br />

<strong>und</strong> seiner Neutralitätspflicht sowie der Unschuldsvermutung zu ziehenden Konsequenzen für die Grenzen der richterlichen<br />

Selbstbindung an gegebene Zusagen konkretisiert. Es ist gewährleistet, dass die der Verständigung beigemessene<br />

Bindung entfällt, wenn sich im Laufe der Hauptverhandlung der in Aussicht gestellte eingegrenzte Strafrahmen<br />

als nicht (mehr) tat- oder schuldangemessen erweist.<br />

112 dd) Der insbesondere im Gr<strong>und</strong>satz der Verfahrensfairness verankerten Forderung, dass der Angeklagte autonom<br />

darüber entscheiden kann, ob er den Schutz der Selbstbelastungsfreiheit aufgibt, sich auf eine Verständigung einlässt<br />

<strong>und</strong> mit einem Geständnis sich seines Schweigerechts begibt, genügt das Verständigungsgesetz ebenfalls. Das Strafverfahrensrecht<br />

trägt dem Anliegen, die Entscheidungsfreiheit des Angeklagten zu wahren, bereits generell in allen<br />

Verfahrensstadien Rechnung. So haben Belehrungspflichten sowie die Freiheit von Willensentschließung <strong>und</strong> Willensbetätigung<br />

in den allgemeinen Vorschriften der §§ 136, 136a StPO <strong>und</strong> - beispielsweise - für das Ermittlungsverfahren<br />

in § 163a Abs. 4 Satz 2 StPO sowie für die Hauptverhandlung in § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO ihren Niederschlag<br />

gef<strong>und</strong>en. Wenn diese Sicherungen schon bei der Entscheidungsfindung über allgemeines Aussageverhalten greifen,<br />

so haben sie eine umso größere Bedeutung, wenn es um die Frage eines Schuldeingeständnisses geht, vor allem in<br />

der für eine Verständigung typischen Anreiz- <strong>und</strong> Verlockungssituation (vgl. oben B. II. 1. e)). Vor diesem Hintergr<strong>und</strong><br />

kommt der in § 257c Abs. 5 StPO vorgesehenen Belehrung über die Reichweite der Bindungswirkung <strong>und</strong> die<br />

- 254 -


Folgen eines Scheiterns der Verständigung besondere Bedeutung zu, der auch revisionsrechtlich Rechnung zu tragen<br />

ist.<br />

113 Von ebenso hohem Gewicht ist, dass der Gr<strong>und</strong>satz der Selbstbelastungsfreiheit es dem Gericht verbietet, dem<br />

Angeklagten eine geständnisbedingte Strafmilderung in Aussicht zu stellen, mit der es den Boden schuldangemessenen<br />

Strafens verließe. Der Angeklagte darf infolgedessen nicht durch ein gesetzlich nicht vorgesehenes Vorteilsversprechen,<br />

aber auch nicht durch Täuschung oder Drohung zu einem Geständnis gedrängt werden. Letzteres hat in<br />

§ 136a StPO bereits seinen Ausdruck gef<strong>und</strong>en (vgl. BVerfG, Vorprüfungsausschuss, Beschluss vom 19. Oktober<br />

1983 - 2 BvR 859/83 -, NStZ 1984, S. 82; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Januar<br />

1987 - 2 BvR 1133/86 -, NJW 1987, S. 2662 ). Erst recht greift dieses Schutzgebot zugunsten eines Angeklagten,<br />

mit dessen Geständnis in der Hauptverhandlung der Ausgang des Verfahrens steht oder fällt.<br />

114 ee) Das Verständigungsgesetz trifft umfangreiche Vorkehrungen dahin, dass das maßgebliche Verständigungsgeschehen<br />

in die Hauptverhandlung einbezogen <strong>und</strong> dokumentiert wird, <strong>und</strong> gibt mit der in § 257c Abs. 3 Satz 4 StPO<br />

vorgesehenen Abhängigkeit der Verständigung von der Zustimmung der Staatsanwaltschaft dieser ein Mittel zur<br />

Wahrung rechtsstaatlicher Standards in die Hand, zu der die effektiv zu handhabende Überprüfung durch Rechtsmittel<br />

hinzutritt (vgl. oben B. II. 1. d)). Der Gesetzgeber begegnet damit der mit der Möglichkeit der Verfahrensverkürzung<br />

durch eine Verständigung einhergehenden Gefahr einer Motivationsverschiebung bei dem erkennenden Gericht<br />

<strong>und</strong> trägt dem mit der Zusage einer wesentlichen Strafmilderung für den Fall eines Geständnisses verb<strong>und</strong>enen Anreiz<br />

für den Angeklagten Rechnung, ein (teilweise) falsches Geständnis abzulegen. Zugleich wirkt er dem Risiko<br />

entgegen, dass sich ein möglicher Interessengleichlauf von Gericht, Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> Verteidigung zum Nachteil<br />

des Angeklagten auswirkt. Die verfahrensrechtlichen Sicherungen lassen jedenfalls in ihrem Zusammenwirken<br />

erwarten, dass die mit Verständigungen verb<strong>und</strong>enen rechtsstaatlichen Risiken beherrscht werden. Dabei kann unentschieden<br />

bleiben, ob bestimmte Vorkehrungen von Verfassungs wegen unverzichtbar sind, solange ein ausreichendes<br />

Gewährleistungsniveau verwirklicht wird.<br />

115 ff) Schließlich hat der Gesetzgeber eindeutig entschieden, dass auf das Strafurteil bezogene „informelle“ Absprachen<br />

unzulässig sind. Ausweislich des § 257c Abs. 1 StPO sind Verständigungen über den weiteren Fortgang <strong>und</strong> das<br />

Ergebnis des Verfahrens nur nach Maßgabe der folgenden Absätze zulässig. Intransparente, unkontrollierbare<br />

„Deals“ sind im Strafprozess wegen der mit ihnen verb<strong>und</strong>enen Gefährdung des Schuldprinzips, der darin verankerten<br />

Wahrheitserforschungspflicht <strong>und</strong> des dem Rechtsstaatsprinzip innewohnenden Prinzips des fairen Verfahrens<br />

bereits von Verfassungs wegen untersagt, <strong>und</strong> der Gesetzgeber hat derartige Vorgehensweisen in unmissverständlicher<br />

Weise verworfen.<br />

116 3. Der in erheblichem Maße defizitäre Vollzug des Verständigungsgesetzes führt derzeit nicht zur Verfassungswidrigkeit<br />

der gesetzlichen Regelung.<br />

117 a) Die repräsentative empirische Erhebung von Prof. Dr. Altenhain, die Anhörung der Auskunftspersonen in der<br />

mündlichen Verhandlung, aber auch die schriftlichen Stellungnahmen zu den Verfassungsbeschwerden <strong>und</strong> die vorliegende<br />

obergerichtliche Rechtsprechung zeigen zwar, dass Gerichte, Staatsanwaltschaften <strong>und</strong> Verteidigung in<br />

einer hohen Zahl von Fällen die gesetzlichen Vorgaben missachten <strong>und</strong> die Rechtsmittelgerichte der ihnen zugewiesenen<br />

Aufgabe der Kontrolle der Verständigungspraxis nicht immer in genügendem Maße nachgekommen sind. Aus<br />

diesem empirischen Bef<strong>und</strong> kann jedoch derzeit noch nicht auf ein in der Norm selbst angelegtes <strong>und</strong> daher zu deren<br />

Verfassungswidrigkeit führendes Versagen der zur Gewährleistung der verfassungsrechtlichen Vorgaben normierten<br />

Schutzmechanismen geschlossen werden.<br />

118 b) Eine gesetzliche Regelung, gegen die in der Rechtsanwendungspraxis in verfassungswidriger Weise verstoßen<br />

wird, verletzt nur dann auch selbst das Gr<strong>und</strong>gesetz, wenn die verfassungswidrige Praxis auf die Vorschrift selbst<br />

zurückzuführen, mithin Ausdruck eines strukturbedingt zu dieser Praxis führenden normativen Regelungsdefizits ist.<br />

Ein solches Defizit kann im vorliegenden Zusammenhang nicht schon darin gesehen werden, dass der Gesetzgeber<br />

urteilsbezogene Verständigungen, welche sich durch ihre Gr<strong>und</strong>struktur für die Verwirklichung des Schuldprinzips<br />

als gefährlich erweisen, überhaupt gestattet hat. Dies ließe unberücksichtigt, dass er ihre Zulassung an umfangreiche<br />

flankierende Schutzmechanismen gekoppelt hat, die die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben an den<br />

Strafprozess sicherstellen sollen (vgl. auch BVerfGE 81, 123 ; 83, 24 ; 118, 212 ). Verfassungswidrig<br />

wäre das gesetzliche Regelungskonzept nur, wenn die vorgesehenen Schutzmechanismen in einer Weise<br />

lückenhaft oder sonst unzureichend wären, die eine gegen das Gr<strong>und</strong>gesetz verstoßende „informelle“ Absprachepraxis<br />

fördert, das Vollzugsdefizit also durch die Struktur der Norm determiniert wäre.<br />

- 255 -


119 c) Ein strukturelles Regelungsdefizit kann gegenwärtig nicht festgestellt werden. Die Gründe für den erheblichen,<br />

keineswegs auf Einzelfälle beschränkten Vollzugsmangel sind vielschichtig <strong>und</strong> finden sich nach gegenwärtiger<br />

Erkenntnis nicht in einer Schutzlücke der gesetzlichen Regelung. Die gesetzliche Regelung traf auf Rahmenbedingungen,<br />

die von immer komplexer werdenden Lebenssachverhalten, einer stetigen Ausweitung des materiellen Strafrechts<br />

sowie immer differenzierteren Anforderungen an den Ablauf des Strafverfahrens geprägt sind, <strong>und</strong> hatte die<br />

schwierige Aufgabe, eine zuvor über drei Jahrzehnte in der Praxis entstandene <strong>und</strong> dort längst verfestigte Entwicklung<br />

in geordnete Bahnen zu lenken. Im Vergleich zu der lang andauernden <strong>und</strong> - wie auch die Entwicklung der<br />

Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs zeigt - immer weiter um sich greifenden Praxis jedenfalls gesetzlich nicht<br />

geregelter Absprachen ist der Zeitraum der bisherigen Geltungsdauer der gesetzlichen Schutzmechanismen noch sehr<br />

kurz, was dafür spricht, dass die Durchsetzung der strikt umgrenzten <strong>und</strong> stark formalisierten Verständigungsform<br />

entsprechend dem gesetzlichen Regelungskonzept noch nicht abgeschlossen ist <strong>und</strong> insbesondere die hohe Bedeutung<br />

der Schutzmechanismen von der Praxis noch nicht vollständig verinnerlicht wurde. Hierfür spricht auch, dass in<br />

der Literatur Stellungnahmen anzutreffen sind, die dahin verstanden werden können, dass die gesetzliche Regelung<br />

nicht abschließend sei <strong>und</strong> die Schutzmechanismen insbesondere des § 273 Abs. 1a <strong>und</strong> des § 302 Abs. 1 Satz 2<br />

StPO nicht für „informelle“ Vorgehensweisen außerhalb der Vorgaben des § 257c StPO gälten (vgl. etwa Peglau,<br />

jurisPR-StrafR 4/2012 Anm. 1; Niemöller, StV 2012, S. 387 ; ders., in: Niemöller/Schlothauer/Weider,<br />

Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, 2010, § 273 Rn. 16, § 302 Rn. 5; Bittmann, wistra 2009, S. 414 ;<br />

Kirsch, StraFo 2010, S. 96 ). Hinzu kommt die nicht selten anzutreffende Bewertung gerade der Schutzmechanismen<br />

als „praxisuntauglich“, welche die Sicherung der verfassungsrechtlichen Vorgaben als zentrale Aufgabenstellung<br />

des Strafverfahrensrechts übergeht. Dies verkennt, dass im Rechtsstaat des Gr<strong>und</strong>gesetzes das Recht<br />

die Praxis bestimmt <strong>und</strong> nicht die Praxis das Recht.<br />

120 d) Weder das Ergebnis der empirischen Erhebung noch die in den Verfassungsbeschwerdeverfahren abgegebenen<br />

Stellungnahmen zwingen zu der Annahme, dass es strukturelle Mängel des gesetzlichen Regelungskonzepts sind, die<br />

zu dem bisherigen Vollzugsdefizit geführt haben könnten. Als Hauptgr<strong>und</strong> für die Nichtbeachtung der gesetzlichen<br />

Regelungen wird in der empirischen Untersuchung vielmehr eine „fehlende Praxistauglichkeit“ der Vorschriften<br />

genannt. Dabei werden als praxisuntauglich oftmals die Begrenzung des zulässigen Inhalts von Verständigungen, die<br />

Transparenz- <strong>und</strong> Dokumentationspflichten - hier vor allem das Negativattest des § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO - sowie<br />

das Verbot eines Rechtsmittelverzichts angeführt, also gerade diejenigen Vorschriften, die die Beachtung der verfassungsrechtlichen<br />

Vorgaben gewährleisten sollen. So gaben viele Verteidiger in der Befragung an, die gesetzliche<br />

Regelung widerspreche dem „Wesen des Deals“; dieser sei informell. Auch dies spricht für ein bisher nur unzureichend<br />

ausgeprägtes Bewusstsein, dass es Verständigungen ohne die Einhaltung der Anforderungen des Verständigungsgesetzes<br />

nicht geben darf. Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung stützen daher nicht die Annahme<br />

eines im gesetzlichen Regelungskonzept verankerten strukturellen Defizits, sondern sprechen für interessengeleitete<br />

Missverständnisse <strong>und</strong> Bestrebungen, die gesetzliche Regelung wegen ihrer - als unpraktisch empf<strong>und</strong>enen -<br />

Schutzmechanismen zu umgehen.<br />

121 4. Auch wenn derzeit aus dem defizitären Vollzug des Verständigungsgesetzes nicht auf eine Verfassungswidrigkeit<br />

der gesetzlichen Regelung geschlossen werden kann, muss der Gesetzgeber die weitere Entwicklung sorgfältig im<br />

Auge behalten. Sollte sich die gerichtliche Praxis weiterhin in erheblichem Umfang über die gesetzlichen Regelungen<br />

hinwegsetzen <strong>und</strong> sollten die materiellen <strong>und</strong> prozeduralen Vorkehrungen des Verständigungsgesetzes nicht<br />

ausreichen, um das festgestellte Vollzugsdefizit zu beseitigen <strong>und</strong> dadurch die an eine Verständigung im Strafverfahren<br />

zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen zu erfüllen, muss der Gesetzgeber der Fehlentwicklung<br />

durch geeignete Maßnahmen entgegenwirken (vgl. zu Beobachtungs- <strong>und</strong> Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers<br />

BVerfGE 25, 1 ; 49, 89 ; 95, 267 ; 110, 141 ; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des<br />

Ersten Senats vom 24. November 2009 - 1 BvR 213/08 -, GRUR 2010, S. 332 ; Beschluss der 2. Kammer des<br />

Ersten Senats vom 27. Januar 2011 - 1 BvR 3222/09 -, NJW 2011, S. 1578 ). Unterbliebe dies, träte ein verfassungswidriger<br />

Zustand ein.<br />

122 5. Das Normgefüge des Verständigungsgesetzes gestattet nach der hier zugr<strong>und</strong>e gelegten Auslegung des einfachen<br />

Rechts keine Verfahrensweise im Strafprozess, die den verfassungsrechtlichen Vorgaben widerspräche. Die durch<br />

das Verständigungsgesetz eingeführten Vorschriften sind deshalb weder für unvereinbar mit dem Gr<strong>und</strong>gesetz zu<br />

erklären noch besteht Anlass, sie im Wege einer verfassungskonformen Auslegung einzugrenzen. Damit ist der Anwendungsbereich<br />

von § 79 BVerfGG nicht eröffnet.<br />

III.<br />

- 256 -


123 Die mit den Verfassungsbeschwerden angefochtenen fachgerichtlichen Entscheidungen sind mit den Vorgaben des<br />

Gr<strong>und</strong>gesetzes für eine Verständigung im Strafprozess nicht zu vereinbaren.<br />

124 1. Die von den Beschwerdeführern zu I. <strong>und</strong> II. angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts München II <strong>und</strong> des<br />

B<strong>und</strong>esgerichtshofs verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren <strong>und</strong><br />

verstoßen gegen die Selbstbelastungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG). Im Anschluss an die in beiden<br />

Fällen unterbliebene Belehrung der Angeklagten über die Voraussetzungen <strong>und</strong> Folgen des Wegfalls der Bindung an<br />

eine Verständigung (§ 257c Abs. 5 StPO) hat der B<strong>und</strong>esgerichtshof im Rahmen der Prüfung, ob die Urteile des<br />

Landgerichts München II auf dem Gesetzesverstoß beruhen, die gr<strong>und</strong>legende Bedeutung der Belehrungspflicht nach<br />

§ 257c Abs. 5 StPO für die Fairness des Verfahrens <strong>und</strong> die Selbstbelastungsfreiheit verkannt.<br />

125 a) Eine Verständigung ist regelmäßig nur dann mit dem Gr<strong>und</strong>satz des fairen Verfahrens zu vereinbaren, wenn der<br />

Angeklagte vor ihrem Zustandekommen über deren nur eingeschränkte Bindungswirkung für das Gericht belehrt<br />

worden ist. Die Belehrungspflicht verliert nicht deshalb an Bedeutung oder wird gar obsolet, weil eine Lösung des<br />

Gerichts von der Verständigung nach § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO das infolge der Verständigung abgegebene Geständnis<br />

unverwertbar macht. Denn die Belehrung hat sicherzustellen, dass der Angeklagte vor dem Eingehen einer<br />

Verständigung, deren Bestandteil das Geständnis ist, vollumfänglich über die Tragweite seiner Mitwirkung an der<br />

Verständigung informiert ist (vgl. auch Begründung zum Regierungsentwurf, BTDrucks 16/12310, S. 15). Nur so ist<br />

gewährleistet, dass er autonom darüber entscheiden kann, ob er von seiner Freiheit, die Aussage zu verweigern, (weiterhin)<br />

Gebrauch macht oder sich auf eine Verständigung einlässt.<br />

126 Zwar muss der Angeklagte unabhängig von der Möglichkeit einer Verständigung darüber befinden, ob <strong>und</strong><br />

gegebenenfalls wie er sich zur Sache einlässt. Mit der Aussicht auf eine Verständigung wird jedoch eine verfahrensrechtliche<br />

Situation geschaffen, in der es dem Angeklagten in die Hand gegeben wird, durch sein Verhalten spezifischen<br />

Einfluss auf das Ergebnis des Prozesses zu nehmen. Anders als in einer nach der herkömmlichen Verfahrensweise<br />

geführten Hauptverhandlung kann er nämlich mit einem Geständnis die das Gericht gr<strong>und</strong>sätzlich bindende<br />

Zusage einer Strafobergrenze <strong>und</strong> damit Sicherheit über den Ausgang des Verfahrens erreichen. Damit ist aus der<br />

Perspektive des Angeklagten das Festhalten an der Freiheit von Selbstbelastung nur noch um den Preis der Aufgabe<br />

der Gelegenheit zu einer das Gericht bindenden Verständigung <strong>und</strong> damit einer (vermeintlich) sicheren Strafobergrenze<br />

zu erlangen. Die Erwartung der Bindung des Gerichts bildet dementsprechend Anlass <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>lage der<br />

Entscheidung des Angeklagten über sein prozessuales Mitwirken; damit entsteht eine wesentlich stärkere Anreiz<strong>und</strong><br />

Verführungssituation als es - mangels Erwartung einer festen Strafobergrenze - etwa in der Situation von § 136<br />

Abs. 1 oder § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO der Fall ist. Der Angeklagte muss deshalb wissen, dass die Bindung keine<br />

absolute ist, sondern unter bestimmten Voraussetzungen - die er ebenfalls kennen muss - entfällt. Nur so ist es ihm<br />

möglich, Tragweite <strong>und</strong> Risiken der Mitwirkung an einer Verständigung autonom einzuschätzen. Die in § 257c<br />

Abs. 5 StPO verankerte Belehrungspflicht ist aus diesem Gr<strong>und</strong> keine bloße Ordnungsvorschrift, sondern eine zentrale<br />

rechtsstaatliche Sicherung des Gr<strong>und</strong>satzes des fairen Verfahrens <strong>und</strong> der Selbstbelastungsfreiheit.<br />

127 b) Die Entscheidungen des B<strong>und</strong>esgerichtshofs verkennen diese besondere Funktion des § 257c Abs. 5 StPO. Eine<br />

Verständigung ohne vorherige Belehrung nach dieser Vorschrift verletzt den Angeklagten gr<strong>und</strong>sätzlich in seinem<br />

Recht auf ein faires Verfahren <strong>und</strong> in seiner Selbstbelastungsfreiheit. Bleibt die unter Verstoß gegen die Belehrungspflicht<br />

zustande gekommene Verständigung bestehen <strong>und</strong> fließt das auf der Verständigung basierende Geständnis in<br />

das Urteil ein, beruht dieses auf der mit dem Verstoß einhergehenden Gr<strong>und</strong>rechtsverletzung, es sei denn eine Ursächlichkeit<br />

des Belehrungsfehlers für das Geständnis kann ausgeschlossen werden, weil der Angeklagte dieses auch<br />

bei ordnungsgemäßer Belehrung abgegeben hätte. Hierzu müssen vom Revisionsgericht konkrete Feststellungen<br />

getroffen werden. Soweit der B<strong>und</strong>esgerichtshof in beiden Fällen damit argumentiert, dass ein Entfallen der Bindung<br />

des Gerichts an die Verständigung nach § 257c Abs. 4 StPO nicht eingetreten sei, führt dies im Hinblick auf die<br />

Frage, ob die Urteile gerade wegen der Verwertung des nach einem Belehrungsmangel abgegebenen Geständnisses<br />

auf einer Verletzung der Autonomie des Angeklagten beruhen, nicht weiter. Wenn der B<strong>und</strong>esgerichtshof im Fall der<br />

Beschwerdeführer zu II. ein Beruhen des Urteils auf dem Verstoß gegen § 257c Abs. 5 StPO darüber hinaus mit der<br />

Erwägung verneint, konkrete, fallbezogene Gründe, die für die auch nur entfernte Möglichkeit sprächen, dass sich<br />

der aufgezeigte Verfahrensmangel auf das Prozessverhalten der Angeklagten ausgewirkt haben könnte, seien weder<br />

vorgetragen noch sonst ersichtlich, verkennt er die gr<strong>und</strong>legende Bedeutung des § 257c Abs. 5 StPO für den Gr<strong>und</strong>satz<br />

des fairen Verfahrens <strong>und</strong> die Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten. Es ist nicht auszuschließen, dass der<br />

B<strong>und</strong>esgerichtshof bei Anwendung des oben genannten Maßstabs in beiden Fällen zu einer anderen Entscheidung<br />

- 257 -


gelangt wäre. Aus diesem Gr<strong>und</strong> sind die angegriffenen Beschlüsse des B<strong>und</strong>esgerichtshofs aufzuheben <strong>und</strong> die<br />

Sachen an diesen zurückzuverweisen.<br />

128 2. Die von dem Beschwerdeführer zu III. angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts Berlin <strong>und</strong> des<br />

B<strong>und</strong>esgerichtshofs verletzen den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 1 Abs. 1 <strong>und</strong> Art. 2 Abs. 1 in Verbindung<br />

mit Art. 20 Abs. 3 GG.<br />

129 a) Das Urteil des Landgerichts Berlin verstößt schon deshalb gegen den verfassungsrechtlichen Schuldgr<strong>und</strong>satz <strong>und</strong><br />

die darin verankerte Pflicht zur bestmöglichen Erforschung der materiellen Wahrheit, weil das Landgericht ein unter<br />

weitgehender Weigerung, Fragen zu beantworten, abgegebenes inhaltsleeres Formalgeständnis als Gr<strong>und</strong>lage einer<br />

Verurteilung akzeptiert hat, ohne es - abgesehen von einer, dann auch beantworteten Frage zum Mitführen <strong>und</strong> Ladezustand<br />

der Dienstwaffen - durch eine weitere, auf eigenständige Spezifizierung seitens des Angeklagten zielende<br />

Beweiserhebung in der Hauptverhandlung zu überprüfen. Ein Geständnis, das sich in einer Bezugnahme auf die<br />

Anklage erschöpft, ist als Gr<strong>und</strong>lage einer Verständigung bereits deshalb ungeeignet, weil es keine Gr<strong>und</strong>lage für<br />

eine Überprüfung seiner Glaubhaftigkeit (§ 257c Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 244 Abs. 2 StPO) bietet. Darüber hinaus<br />

beruht das angegriffene Urteil auf einer Verständigung, die infolge der Kopplung eines Geständnisses „im Sinne der<br />

Anklage“ an den Verzicht auf die Stellung von Beweisanträgen „zur Schuldfrage“ unzulässig über den Schuldspruch<br />

disponiert <strong>und</strong> zudem eine Strafrahmenverschiebung zum Gegenstand hat. Deshalb stellt sich das Urteil als ein vom<br />

Gr<strong>und</strong>gesetz untersagter „Handel mit der Gerechtigkeit“ dar.<br />

130 Hinzu kommt, dass dieser „Handel mit der Gerechtigkeit“ auf einer verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbaren<br />

Beeinträchtigung der Selbstbelastungsfreiheit des Beschwerdeführers beruht. Dabei kommt es nicht darauf an, ob für<br />

den Fall einer Verurteilung ohne vorherige Verständigung für jede der beiden angeklagten schweren Raubtaten eine<br />

Mindeststrafe von drei Jahren in Aussicht gestellt wurde - so die dienstliche Stellungnahme des Vorsitzenden der<br />

Strafkammer im Revisionsverfahren - oder ob eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren im Raum stand, wie der<br />

Beschwerdeführer vorträgt. Entscheidend ist die vor dem Gebot schuldangemessenen Strafens nicht zu rechtfertigende<br />

Spannweite zwischen der zugesagten Strafobergrenze für den Fall einer Verständigung auf der einen Seite <strong>und</strong> der<br />

für den Fall einer Verurteilung in einer nach herkömmlicher Verfahrensweise geführten Hauptverhandlung im Raum<br />

stehenden Straferwartung auf der anderen Seite. Die Frage, wann die Grenze zu einer verfassungswidrigen Beeinträchtigung<br />

der Selbstbelastungsfreiheit überschritten ist, entzieht sich zwar einer exakten mathematischen Berechnung.<br />

Im vorliegenden Fall ist diese Grenze jedoch deutlich überschritten, nachdem eine schon für sich gesehen<br />

übermäßige Differenz zwischen den beiden Strafgrenzen noch zusätzlich mit der Zusage einer Strafaussetzung zur<br />

Bewährung verb<strong>und</strong>en wurde, die überhaupt nur aufgr<strong>und</strong> der ebenfalls zugesagten Strafrahmenverschiebung zu<br />

einem minder schweren Fall (§ 250 Abs. 3 StGB) möglich war.<br />

131 b) Das Urteil des Landgerichts Berlin ist aus diesen Gründen aufzuheben; gleiches gilt für den Beschluss des<br />

B<strong>und</strong>esgerichtshofs, mit dem die Gr<strong>und</strong>rechtsverletzung perpetuiert worden ist. Die Sache ist an das Landgericht<br />

Berlin zurückzuverweisen.<br />

C.<br />

132 Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 <strong>und</strong> Abs. 3 BVerfGG.<br />

StPO § 257c Abs. 5 Beruhen des Urteils auf Geständnis ohne Belehrung<br />

BVerfG, Beschl. v. 30.06.2013 - 2 BvR 85/13 - BeckRS 2013, 53079<br />

Eine Verständigung ohne vorherige Belehrung § 257c Abs. 5 StPO verletzt den Angeklagten gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

in seinem Recht auf ein faires Verfahren <strong>und</strong> in seiner Selbstbelastungsfreiheit. Bleibt die<br />

unter Verstoß gegen die Belehrungspflicht zustande gekommene Verständigung bestehen <strong>und</strong> fließt<br />

das auf der Verständigung basierende Geständnis in das Urteil ein, beruht dieses auf der mit dem<br />

Verstoß einhergehenden Gr<strong>und</strong>rechtsverletzung, es sei denn eine Ursächlichkeit des Belehrungsfehlers<br />

für das Geständnis kann ausgeschlossen werden, weil der Angeklagte dieses auch bei ordnungsgemäßer<br />

Belehrung abgegeben hätte.<br />

hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts durch … am 30. Juni 2013 einstimmig beschlossen:<br />

- 258 -


Der Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock vom 6. Dezember 2012 - 1 Ss 86/12 I 103/12 - <strong>und</strong> das Urteil des<br />

Landgerichts Strals<strong>und</strong> vom 4. Juni 2012 - 25 Ns 44/11 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Gr<strong>und</strong>recht aus<br />

Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Gr<strong>und</strong>gesetzes.<br />

Der Beschluss des Oberlandesgerichts wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.<br />

Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.<br />

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.<br />

Gründe:<br />

A. I.<br />

1 Der Beschwerdeführer wendet sich gegen seine strafgerichtliche Verurteilung im Anschluss an eine Verständigung<br />

zwischen Gericht <strong>und</strong> Verfahrensbeteiligten.<br />

2 1. Er ist in einem vor dem Landgericht Strals<strong>und</strong> geführten Berufungsverfahren am 4. Juni 2012 wegen vorsätzlicher<br />

Gewässerverunreinigung durch Unterlassen nach § 324 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten<br />

verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.<br />

3 Der Verurteilung ging eine zu Beginn des zweiten Verhandlungstages auf Anregung des Verteidigers getroffene<br />

Verständigung nach § 257c StPO voraus. In der Verhandlung vom 4. Juni 2012 sicherte die Strafkammer dem Beschwerdeführer<br />

für den Fall eines umfassenden konkreten Geständnisses zu, das Maß einer zur Bewährung ausgesetzten<br />

Freiheitsstrafe von sechs Monaten nicht zu überschreiten. Zudem sollte die Strafverfolgung auf den Vorwurf<br />

des § 324 StGB beschränkt <strong>und</strong> der Anklagevorwurf einer Tat nach § 326 StGB eingestellt werden. Der Beschwerdeführer<br />

legte ein der Verständigung entsprechendes Geständnis ab. Eine Belehrung nach § 257c Abs. 5 StPO erfolgte<br />

nicht.<br />

4 2. Die gegen das Urteil fristgerecht eingelegte Revision begründete die Bevollmächtigte mit Schriftsatz vom 6.<br />

August 2012 <strong>und</strong> machte mit der Verfahrensrüge insbesondere eine Verletzung der nach § 257c Abs. 5 StPO zum<br />

Schutz des Angeklagten vorgesehenen Belehrung geltend. Der Verstoß habe sich auf das Urteil ausgewirkt, weil der<br />

Beschwerdeführer im Falle einer ordnungsgemäßen Belehrung sich nicht zur Sache eingelassen <strong>und</strong> kein Geständnis<br />

abgegeben hätte.<br />

5 3. Die Generalstaatsanwaltschaft Rostock beantragte in ihrer Gegenerklärung vom 8. November, die Revision gemäß<br />

§ 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen.<br />

6 Zwar sei die nach § 257c Abs. 5 StPO vorgesehene Belehrung nicht erfolgt. Das Urteil beruhe aber nicht auf diesem<br />

Rechtsfehler. Dies sei nur der Fall, wenn es möglich erscheine oder nicht auszuschließen sei, dass das Urteil ohne<br />

den Rechtsfehler anders ausgefallen wäre. Die Entscheidung über das Beruhen hänge insbesondere bei Verfahrensfehlern<br />

von den Umständen des Einzelfalls ab. Deren Betrachtung zeige, dass das Urteil bei einer Belehrung nach<br />

§ 257c StPO nicht anders ausgefallen wäre. Der Beschwerdeführer habe zuvor die Tatvorwürfe bestritten, seine<br />

Aussagebereitschaft sei erst durch die Verständigung geweckt worden. Das Gericht habe genügend Beweismittel<br />

gehabt <strong>und</strong> wäre auch ohne Geständnis zu einer Verurteilung gekommen; es habe für den Beschwerdeführer ein<br />

hohes Verurteilungsrisiko bestanden.<br />

7 4. Mit dem angefochtenen Beschluss vom 6. Dezember 2012 verwarf das Oberlandesgericht Rostock die Revision<br />

gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet, ohne auf das Revisionsvorbringen einzugehen. Die Entscheidung ging<br />

dem Verteidiger am 12. Dezember 2012 zu.<br />

II.<br />

8 Mit der am 11. Januar 2013 eingegangenen Verfassungsbeschwerde wird eine Verletzung des Rechts auf ein faires<br />

Verfahren, der Selbstbelastungsfreiheit <strong>und</strong> des Schuldprinzips gerügt.<br />

9 Die Belehrungspflicht nach § 257c Abs. 5 StPO sei eine Konkretisierung des Rechts auf ein faires Verfahren <strong>und</strong><br />

solle sicherstellen, dass der Angeklagte umfassend über seine prozessuale Situation <strong>und</strong> die Folgen des Abschlusses<br />

einer Verständigung aufgeklärt werde. Das Oberlandesgericht habe die Bedeutung dieses Gr<strong>und</strong>rechts verkannt <strong>und</strong><br />

die Verwerfung der Revision offenbar darauf gestützt, dass das landgerichtliche Urteil nicht auf dem Verstoß beruhe.<br />

10 Die Generalstaatsanwaltschaft gehe zu Unrecht in pauschaler Weise davon aus, dass der Beschwerdeführer auch bei<br />

erfolgter Belehrung ein Geständnis abgelegt hätte. Das Recht der Selbstbelastungsfreiheit sei missachtet worden,<br />

weil der nicht belehrte Beschwerdeführer davon ausgegangen sei, die ausgehandelte Strafobergrenze sei unveränderlich.<br />

Allein im Vertrauen hierauf habe er ein Geständnis abgelegt. Das Schuldprinzip sei durch die Verständigung<br />

verletzt worden, weil der zu beurteilende Sachverhalt nicht weiter aufgeklärt worden sei. Eine der tatsächlichen<br />

Schuld angemessene Strafe könne aber nur festgelegt werden, wenn nicht von der Ermittlung der zugr<strong>und</strong>eliegenden<br />

Tatsachen abgesehen werde.<br />

- 259 -


III.<br />

11 1. Das Justizministerium Mecklenburg-Vorpommern hat von einer Stellungnahme abgesehen.<br />

12 2. Der Generalb<strong>und</strong>esanwalt hält die Verfassungsbeschwerde hinsichtlich der Beanstandungen der Verletzungen des<br />

fairen Verfahrens <strong>und</strong> der Selbstbelastungsfreiheit für begründet.<br />

13 Ein Angeklagter sehe sich durch die Aussicht, mit der Verständigung eine das Gericht bindende Zusage einer<br />

Strafobergrenze zu erreichen <strong>und</strong> so Einfluss auf den Verfahrensausgang zu nehmen, einer besonderen Anreiz- <strong>und</strong><br />

Verlockungssituation ausgesetzt. Mit der in § 257c Abs. 5 StPO vorgesehenen Belehrung habe der Gesetzgeber in<br />

weitem Umfang die Entscheidungsautonomie des Angeklagten ermöglichen <strong>und</strong> schützen sowie die Fairness des<br />

Verständigungsverfahrens sichern wollen.<br />

14 Die Belehrungspflicht sei nach dem Urteil des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom 19. März 2013 - 2 BvR 2628/10 u.a. -<br />

keine bloße Ordnungsvorschrift, sondern eine zentrale rechtsstaatliche Sicherung des Gr<strong>und</strong>satzes des fairen Verfahrens<br />

<strong>und</strong> der Selbstbelastungsfreiheit. Bei einem Verstoß gegen die Belehrungspflicht sei im Rahmen der revisionsgerichtlichen<br />

Prüfung regelmäßig davon auszugehen, dass Geständnis <strong>und</strong> Urteil auf dem Unterlassen beruhen.<br />

15 Der Beschluss des Oberlandesgerichts trage dieser gr<strong>und</strong>legenden Bedeutung der Belehrungspflicht nicht<br />

ausreichend Rechnung. Der Strafsenat habe erkennbar angenommen, die Ratio der Belehrung beschränke sich auf<br />

die konkrete Lösungsbefugnis des Gerichts nach § 257c Abs. 4 Satz 1 <strong>und</strong> Satz 2 StPO. Er habe ferner mit eher allgemein<br />

gehaltenen Erwägungen zum hypothetischen Aussageverhalten des Beschwerdeführers angenommen, es sei<br />

nicht ersichtlich, dass sich die unterbliebene Belehrung auf das Verhalten des Beschwerdeführers ausgewirkt haben<br />

könnte.<br />

16 3. Dem B<strong>und</strong>esverfassungsgericht haben die Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen.<br />

B.<br />

17 Die Kammer nimmt die zulässige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in<br />

§ 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen<br />

des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Entscheidung der<br />

Kammer sind gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht bereits<br />

entschieden.<br />

I.<br />

18 Der Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock vom 6. Dezember 2012 <strong>und</strong> das Urteil des Landgerichts Strals<strong>und</strong><br />

vom 4. Juni 2012 verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren <strong>und</strong><br />

verstoßen gegen die Selbstbelastungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG). Im Anschluss an die durch die<br />

Strafkammer unterbliebene Belehrung des Beschwerdeführers über die Voraussetzungen <strong>und</strong> Folgen des Wegfalls<br />

der Bindung an eine Verständigung (§ 257c Abs. 5 StPO) hat das Oberlandesgericht im Rahmen der Prüfung, ob das<br />

landgerichtliche Urteil auf diesem Gesetzesverstoß beruht, die gr<strong>und</strong>legende Bedeutung der Belehrungspflicht nach<br />

§ 257c Abs. 5 StPO für die Gr<strong>und</strong>sätze der Verfahrensfairness <strong>und</strong> der Selbstbelastungsfreiheit verkannt.<br />

19 1. Mit dem Ziel, dem Angeklagten überhaupt eine autonome Entscheidung über das für ihn mit einer Mitwirkung an<br />

einer Verständigung verb<strong>und</strong>ene Risiko zu ermöglichen, sieht § 257c Abs. 5 StPO vor, dass der Angeklagte vor der<br />

Verständigung über die Voraussetzungen <strong>und</strong> Folgen einer Abweichung des Gerichts von dem in Aussicht gestellten<br />

Ergebnis zu belehren ist. Hiermit wollte der Gesetzgeber die Fairness des Verständigungsverfahrens sichern <strong>und</strong> -<br />

wie sein Hinweis auf das Ziel der Ermöglichung einer autonomen Einschätzung (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs<br />

der B<strong>und</strong>esregierung, BTDrucks 16/12310, S. 15) bestätigt - zugleich die Autonomie des Angeklagten im<br />

weiten Umfang schützen (vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 19. März 2013 - 2 BvR 2628/10, 2 BvR<br />

2883/10, 2 BvR 2155/11; zitiert nach juris, Rn. 99).<br />

20 Eine Verständigung ist folglich regelmäßig nur dann mit dem Gr<strong>und</strong>satz des fairen Verfahrens zu vereinbaren, wenn<br />

der Angeklagte vor ihrem Zustandekommen über deren nur eingeschränkte Bindungswirkung für das Gericht belehrt<br />

worden ist. Die Belehrungspflicht verliert nicht deshalb an Bedeutung oder wird gar obsolet, weil eine Lösung des<br />

Gerichts von der Verständigung nach § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO das infolge der Verständigung abgegebene Geständnis<br />

unverwertbar macht. Denn die Belehrung hat sicherzustellen, dass der Angeklagte vor dem Eingehen einer<br />

Verständigung, deren Bestandteil das Geständnis ist, vollumfänglich über die Tragweite seiner Mitwirkung an der<br />

Verständigung informiert ist (vgl. auch Begründung zum Regierungsentwurf, BTDrucks 16/12310, S. 15). Nur so ist<br />

gewährleistet, dass er autonom darüber entscheiden kann, ob er von seiner Freiheit, die Aussage zu verweigern, (weiterhin)<br />

Gebrauch macht oder eine Verständigung eingeht.<br />

- 260 -


21 Zwar muss der Angeklagte unabhängig von der Möglichkeit einer Verständigung selbständig darüber befinden, ob<br />

<strong>und</strong> gegebenenfalls wie er sich zur Sache einlässt. Mit der Aussicht auf eine Verständigung wird jedoch eine verfahrensrechtliche<br />

Situation geschaffen, in der es dem Angeklagten in die Hand gegeben wird, durch sein Verhalten<br />

spezifischen Einfluss auf das Ergebnis des Prozesses zu nehmen. So kann er anders als in einer nach der herkömmlichen<br />

Verfahrensweise geführten Hauptverhandlung mit einem Geständnis die das Gericht gr<strong>und</strong>sätzlich bindende<br />

Zusage einer Strafobergrenze <strong>und</strong> damit Sicherheit über den Ausgang des Verfahrens erreichen. Damit ist aus der<br />

Perspektive des Angeklagten das Festhalten an der Freiheit von Selbstbelastung nur noch um den Preis der Aufgabe<br />

der Gelegenheit zu einer das Gericht bindenden Verständigung <strong>und</strong> damit einer (vermeintlich) sicheren Strafobergrenze<br />

zu erlangen. Die erwartete Bindung bildet dementsprechend Anlass <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>lage der Entscheidung des<br />

Angeklagten über sein prozessuales Mitwirken; damit entsteht eine wesentlich stärkere Anreiz- <strong>und</strong> Verführungssituation<br />

als es - mangels Erwartung einer festen Strafobergrenze - etwa in der Situation von § 136 Abs. 1 oder § 243<br />

Abs. 5 Satz 1 StPO der Fall ist. Der Angeklagte muss deshalb wissen, dass die Bindung keine absolute ist, sondern<br />

unter bestimmten Voraussetzungen - die er ebenfalls kennen muss - entfällt. Nur so ist es ihm möglich, Tragweite<br />

<strong>und</strong> Risiken der Mitwirkung an einer Verständigung autonom einzuschätzen. Die in § 257c Abs. 5 StPO verankerte<br />

Belehrungspflicht ist aus diesem Gr<strong>und</strong> keine bloße Ordnungsvorschrift, sondern eine zentrale rechtsstaatliche Sicherung<br />

des Gr<strong>und</strong>satzes des fairen Verfahrens <strong>und</strong> der Selbstbelastungsfreiheit.<br />

22 Eine Verständigung ohne vorherige Belehrung nach dieser Vorschrift verletzt den Angeklagten gr<strong>und</strong>sätzlich in<br />

seinem Recht auf ein faires Verfahren <strong>und</strong> in seiner Selbstbelastungsfreiheit. Bleibt die unter Verstoß gegen die<br />

Belehrungspflicht zustande gekommene Verständigung bestehen <strong>und</strong> fließt das auf der Verständigung basierende<br />

Geständnis in das Urteil ein, beruht dieses auf der mit dem Verstoß einhergehenden Gr<strong>und</strong>rechtsverletzung, es sei<br />

denn eine Ursächlichkeit des Belehrungsfehlers für das Geständnis kann ausgeschlossen werden, weil der Angeklagte<br />

dieses auch bei ordnungsgemäßer Belehrung abgegeben hätte. Hierzu müssen vom Revisionsgericht konkrete<br />

Feststellungen getroffen werden (vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 19. März 2013 - 2 BvR 2628/10, 2<br />

BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11; zitiert nach juris, Rn. 125 ff.).<br />

23 2. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Verständigung im Strafverfahren werden die angefochtenen<br />

Entscheidungen nicht gerecht. Sie verkennen die besondere Funktion des § 257c Abs. 5 StPO.<br />

24 Nachdem der landgerichtlichen Verurteilung eine Verständigung vorausgegangen war, die ohne die nach § 257c<br />

Abs. 5 StPO erforderliche Belehrung erfolgte, hat das Oberlandesgericht anlässlich der revisionsrechtlichen Prüfung,<br />

ob das Urteil des Landgerichts auf dem Gesetzesverstoß beruht, der Bedeutung der Belehrungspflicht nach § 257c<br />

Abs. 5 StPO für die verfassungsrechtlichen Gr<strong>und</strong>sätze des fairen Verfahrens <strong>und</strong> der Selbstbelastungsfreiheit nicht<br />

Rechnung getragen. Es ist nicht auszuschließen, dass es bei Anwendung der richtigen Maßstäbe zu einer anderen<br />

Entscheidung gelangt wäre.<br />

25 a) Das Oberlandesgericht hat seinen Beschluss vom 6. Dezember 2012 nicht mit einer eigenen Begründung versehen.<br />

Es hat sich allerdings erkennbar die Rechtsauffassung des Generalstaatsanwalts vom 8. November 2012 zu Eigen<br />

gemacht. In Fällen, in denen der B<strong>und</strong>esgerichtshof dem Verwerfungsantrag des Generalb<strong>und</strong>esanwalts nur im Ergebnis,<br />

nicht aber in der Begründung folgt, entspricht es der allgemeinen Übung der Strafsenate, der Bezugnahme<br />

auf § 349 Abs. 2 StPO die eigene Rechtsauffassung anzufügen; unterbleibt dies, kann davon ausgegangen werden,<br />

dass der Rechtsauffassung des Generalb<strong>und</strong>esanwalts beigetreten werden soll (vgl. BVerfGK 5, 269 ). Einer<br />

Übertragung dieser Spruchpraxis auf Revisionsentscheidungen des Oberlandesgerichts stehen Gründe nicht entgegen.<br />

26 b) Nach den dargestellten verfassungsrechtlichen Maßstäben ist regelmäßig von einem Beruhen des Urteils auf der<br />

mit dem Verstoß einhergehenden Gr<strong>und</strong>rechtsverletzung auszugehen <strong>und</strong> nur ausnahmsweise eine Ursächlichkeit des<br />

Belehrungsfehlers für das Geständnis auszuschließen. Das Oberlandesgericht hätte hierzu konkrete Feststellungen<br />

treffen müssen, was jedoch nicht geschehen ist.<br />

27 Im Anschluss an eine allgemeine Auseinandersetzung mit der Belehrung nach § 257c StPO erfolgen die fallbezogenen<br />

Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft, die sich das Oberlandesgericht zu eigen gemacht hat, zur Frage der<br />

Abgabe eines Geständnisses auch bei ordnungsgemäßer Belehrung in einem nur vier Sätze umfassenden Absatz.<br />

Diese basieren auf pauschal gehaltenen, nicht näher belegten Vermutungen <strong>und</strong> nicht - wie verfassungsrechtlich<br />

geboten - auf konkreten Feststellungen: Die Aussagebereitschaft des Beschwerdeführers sei erst durch die Verständigung<br />

geweckt worden. Ferner hätten dem Gericht genügend Beweismittel vorgelegen, die auch ohne ein Geständnis<br />

zu einer Verurteilung geführt hätten. Das Oberlandesgericht hätte stattdessen eingehend prüfen müssen, ob be-<br />

- 261 -


lastbare Indizien für die Annahme vorgelegen haben, dass der Beschwerdeführer auch nach Belehrung ein Geständnis<br />

abgelegt hätte.<br />

III.<br />

28 1. Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren <strong>und</strong> der Verstoß gegen<br />

die Selbstbelastungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) durch die angefochtenen Entscheidungen des<br />

Oberlandesgerichts <strong>und</strong> des Landgerichts festzustellen. Es kann daher offenbleiben, ob auch ein Verstoß gegen das<br />

aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgende Schuldprinzip vorliegt.<br />

29 2. Für die Feststellung einer Gr<strong>und</strong>rechtsverletzung durch das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht ist allein die objektive<br />

Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung im Zeitpunkt der Entscheidung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />

maßgeblich; es kommt nicht darauf an, ob die Gr<strong>und</strong>rechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist oder<br />

nicht (vgl. BVerfGE 128, 326 ). Es ist folglich unerheblich, dass Land- <strong>und</strong> Oberlandesgericht im Zeitpunkt<br />

ihrer Entscheidungen das Urteil des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom 19. März 2013 noch nicht berücksichtigen<br />

konnten, weil dieses noch gar nicht ergangen war. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock ist daher nach<br />

§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben <strong>und</strong> die Sache zur erneuten Entscheidung an das<br />

Oberlandesgericht zurückzuverweisen.<br />

30 3. Die Anordnung der Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.<br />

StPO § 257c Verständigungsverfahren<br />

BGH, Beschl. v. 21.02.2013 – 1 StR 633/12 – StV 2013, 484 ff.<br />

Entspricht das Prozessverhalten des Angeklagten nicht dem Verhalten, das der Prognose des Gerichts<br />

bei dem Verständigungsvorschlag zugr<strong>und</strong>e gelegt worden ist, entfällt allein dadurch die<br />

Bindung an die Verständigung mit der Folge der Hinweispflicht gemäß § 257c Abs. 4 S. 4 StPO<br />

nicht. Ein Wegfall der Bindung setzt in diesem Fall voraus, dass das Gericht zu der Überzeugung<br />

gelangt, der in Aussicht gestellte Strafrahmen sei nicht mehr tat- oder schuldangemessen.<br />

Der 1. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat am 21. Februar 2013 gemäß § 349 Abs. 2 <strong>und</strong> 4 StPO beschlossen:<br />

I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Land-gerichts Potsdam vom 14. Mai 2012 im Strafausspruch<br />

dahin geändert, dass die Einzelstrafe im Fall II.1.c. der Urteilsgrün-de auf sechs Monate herabgesetzt<br />

wird.<br />

II. Die weitergehende Revision wird verworfen.<br />

III. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.<br />

Gründe:<br />

1 Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betruges in fünf Fällen, Steuerhinterziehung in drei Fällen sowie<br />

wegen falscher Versicherung an Eides Statt zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt,<br />

deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Daneben hat es angeordnet, dass drei Monate der Gesamtfreiheitsstrafe<br />

wegen rechtsstaats-widriger Verfahrensverzögerung als vollstreckt gelten.<br />

2 Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung formellen <strong>und</strong> materiellen Rechts<br />

gestützten Revision. Das Rechtsmittel erzielt mit der Sachrüge nur den aus der Beschlussformel ersichtlichen geringen<br />

Teilerfolg. Im Übrigen ist es unbegründet i.S.v. § 349 Abs. 2 StPO.<br />

3 I. 1. Der Angeklagte war von 1993 bis Oktober 1998 Staatssekretär im B<strong>und</strong>esinnenministerium. Nach dem<br />

Ausscheiden aus dem aktiven Dienst <strong>und</strong> der Versetzung in den einstweiligen Ruhestand bezog er Versorgungsbezüge<br />

nach Maßgabe des Beamtenversorgungsgesetzes (BeamtVG). Daneben war der Angeklagte als Rechtsanwalt<br />

tätig.<br />

4 Ab 13. Oktober 1999 bis Juli 2002 war der Angeklagte Minister der Justiz <strong>und</strong> für Europaangelegenheiten des<br />

Landes Brandenburg. Vom 1. August 2002 bis 31. Juli 2004 bezog er Übergangsgeld nach Maßgabe des Brandenburgischen<br />

Ministergesetzes (BbgMinG).<br />

5 Ab Februar 2003 erzielte der Angeklagte als anwaltlicher Berater verschiedener Unternehmen sowie aus einer<br />

Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglied Einkünfte aus selbständiger Arbeit. Die Betriebseinnahmen beliefen sich im Jahr<br />

2003 auf 69.103,40 €, im Jahr 2004 auf 38.370,68 €, im Jahr 2005 auf 105.378,44 € <strong>und</strong> im Jahr 2006 auf<br />

- 262 -


124.451,55 €. Die Betriebsausgaben hat das Landgericht in Anlehnung an die Angaben des Angeklagten in seinen<br />

Einkommensteuererklärungen geschätzt.<br />

6 Im Zeitraum August 2003 bis März 2004 bezog der Angeklagte zudem monatlich Einnahmen aus nichtselbständiger<br />

Arbeit als Geschäftsführer einer Verlagsgesellschaft mbH in Höhe von 5.000 €. Die angefallenen „Betriebsausgaben“<br />

hat das Landgericht entsprechend den Einkünften aus selbständiger Arbeit geschätzt.<br />

7 Dem Angeklagten war bekannt, dass dieses Erwerbseinkommen auf die Versorgungsbezüge <strong>und</strong> das Übergangsgeld<br />

anzurechnen war. Er wusste auch, dass er den Bezug <strong>und</strong> die Änderung von Erwerbseinkommen gegenüber den<br />

Versorgungsträgern des B<strong>und</strong>es <strong>und</strong> des Landes Brandenburg anzuzeigen hatte. Dieser Verpflichtung kam er jedoch<br />

nicht ordnungsgemäß nach. Dabei beabsichtigte er, sich durch die ungekürzte Auszahlung der Versorgungsbezüge<br />

<strong>und</strong> des Übergangsgeldes eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle von einigem Umfang zu verschaffen.<br />

8 Dabei ging der Angeklagte wie folgt vor: Mit Schreiben vom 28. August 2003 teilte er dem als Zahlstelle<br />

fungierenden B<strong>und</strong>esamt für Finanzen mit, dass er seit Juli 2003 als Berater <strong>und</strong> Aufsichtsratsmitglied sowie als<br />

Geschäftsführer tätig sei. Angaben zur Höhe der von ihm erzielten Einkünfte enthielt das Schreiben nicht. Die Versorgungsbezüge<br />

<strong>und</strong> das Übergangsgeld wurden daher zunächst ohne Anrechnung von Erwerbseinkommen ausgezahlt.<br />

Erst mit Schreiben vom 19. April 2004 legte der Angeklagte dem B<strong>und</strong>esamt für Finanzen eine Aufstellung<br />

über seine monatlichen Einkünfte im Zeitraum Juli 2003 bis März 2004 vor.<br />

9 Um weitere Überzahlungen zu vermeiden, kürzte die Oberfinanzdirektion Nürnberg als zuständige Behörde des<br />

B<strong>und</strong>es die Versorgungsbezüge des An-geklagten mit Wirkung vom 1. Juli 2004. Um eine Anrechnung zu verhindern,<br />

teilte der Angeklagte der Oberfinanzdirektion Nürnberg mit E-Mail vom 21. Mai 2004 wahrheitswidrig mit, er<br />

verfüge seit April 2004 über kein anrechenbares Einkommen mehr. Tatsächlich erzielte der Angeklagte auch im<br />

Zeitraum April 2004 bis Dezember 2006 weiterhin Einkünfte aus selbständiger Arbeit.<br />

10 Bei der Berechnung der überzahlten Versorgungsbezüge <strong>und</strong> des über-zahlten Übergangsgeldes hat das Landgericht<br />

die Anrechnung des Erwerbsein-kommens jeweils im Monat des Zuflusses der Betriebseinnahmen auf den Konten<br />

des Angeklagten vorgenommen. Der Schaden zum Nachteil des B<strong>und</strong>es beläuft sich auf insgesamt 113.261,32 €<br />

(Fälle II.1.a., II.1.c. <strong>und</strong> II.1.d.), der Schaden zum Nachteil des Landes Brandenburg auf insgesamt 9.034,69 € (Fälle<br />

II.1.b. <strong>und</strong> II.1.e.).<br />

11 2. Der Angeklagte kam zudem in den Jahren 2003 bis 2005 seiner Verpflichtung als Unternehmer zur Abgabe von<br />

Umsatzsteuerjahreserklärungen nicht innerhalb der Abgabefrist nach.<br />

12 Für das Jahr 2004 reichte der Angeklagte am 27. März 2006 eine Umsatzsteuerjahreserklärung erst ein, nachdem das<br />

zuständige Finanzamt am 21. Februar 2006 einen Schätzungsbescheid mit erheblicher Zahllast erlassen hatte. In<br />

dieser gab er die von ihm erzielten Umsätze nicht in voller Höhe an. Die aufgr<strong>und</strong> des geänderten Umsatzsteuerbescheids<br />

geschuldeten Umsatz-steuerbeträge entrichtete der Angeklagte. Nachdem seinem Steuerberater im April<br />

2006 Kontrollmitteilungen über nicht in der eingereichten Erklärung enthaltene Umsätze bekannt gegeben worden<br />

waren, reichte der Angeklagte am 7. Juni 2006 eine geänderte Umsatzsteuerjahreserklärung ein. Die Umsatzsteuerhinterziehung<br />

war zu diesem Zeitpunkt bereits entdeckt, womit der Ange-klagte aufgr<strong>und</strong> der Umstände -<br />

insbesondere der Bekanntgabe der Kontrollmit-teilungen an seinen Steuerberater - zumindest rechnen musste. Nachdem<br />

ihm die Einleitung des Steuerstrafverfahrens bekannt gegeben worden war, reichte der Angeklagte am 26. Oktober<br />

2007 <strong>und</strong> 2. Januar 2008 erneut geänderte Umsatzsteuerjahreserklärungen ein. Für die Jahre 2003 <strong>und</strong> 2005<br />

wurden Umsatzsteuerjahreserklärungen erstmals nach Bekanntgabe der Einleitung des Steuerstrafverfahrens abgegeben.<br />

Wie das Landgericht näher darlegt, wurde dadurch Umsatzsteuer im Jahr 2003 in Höhe von 10.618,64 €, im<br />

Jahr 2004 in Höhe von 3.890,09 € <strong>und</strong> im Jahr 2005 in Höhe von 14.359,04 € verkürzt (Fälle II.2.a. bis II.2.c.).<br />

13 3. Weiterhin beantragte der Angeklagte mit Schriftsatz vom 31. Mai 2005 beim Landgericht Hamburg den Erlass<br />

einer einstweiligen Verfügung gegen die Verlagsgesellschaft mbH. Der Antragsgegnerin sollte untersagt werden zu<br />

behaupten, der Angeklagte habe sein Gehalt als ehemaliger Geschäftsführer der Antragsgegnerin bis einschließlich<br />

März 2004 brutto gleich netto ausgezahlt erhalten. Zur Glaubhaftmachung legte der Angeklagte eine eigene eidesstattliche<br />

Versicherung mit folgendem Wortlaut vor: „Ich hatte als Geschäftsführer der Verlagsgesellschaft mbH<br />

einen normalen Geschäftsführeranstellungs-vertrag mit einem Gehalt von 5.000 € brutto. Ich erhielt mein Gehalt<br />

nicht netto gleich brutto. Lediglich in den ersten beiden Monaten wurde mir mein Gehalt brutto ausgezahlt. Die entsprechenden<br />

Abgaben habe ich in diesen Monaten selbst geleistet. Von August 2003 bis März 2004 erhielt ich nur<br />

das Nettogehalt. Das an mich ausgezahlte Gehalt betrug zuletzt 2.244,99 € netto monatlich.“ Tatsächlich war dem<br />

Angeklagten für die Monate August bis November 2003 das Geschäftsführergehalt brutto mit jeweils 5.000 € ausgezahlt<br />

worden. Die darauf entfallenden Steuerbeträge wurden vom Angeklagten nicht abgeführt.<br />

- 263 -


II.<br />

14 1. Die Verfahrensrüge, mit der eine Verletzung von § 257c Abs. 4 Satz 4 StPO sowie des Rechts auf ein faires<br />

Verfahren geltend gemacht wird, ist bereits unzulässig, da sie den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht<br />

genügt.<br />

15 Der Verfahrensrüge liegt folgender Verfahrensgang zugr<strong>und</strong>e:<br />

16 Am ersten Hauptverhandlungstag am 20. März 2012 kam zwischen dem Landgericht <strong>und</strong> den Verfahrensbeteiligten<br />

eine Verständigung i.S.v. § 257c StPO zustande. Danach sollte gegen den Angeklagten eine Gesamtfreiheitsstrafe<br />

verhängt werden, die ein Jahr <strong>und</strong> sechs Monate nicht übersteigt <strong>und</strong> neun Monate nicht unterschreitet. Die Vollstreckung<br />

der Gesamtfreiheitsstrafe sollte zur Bewährung ausgesetzt werden. Bewährungsauflagen in Form von Geldzahlungen<br />

sollten nicht in Betracht kommen. Voraussetzung dafür sollte ein tragfähiges Geständnis des Angeklagten<br />

hinsichtlich der ihm vorgeworfenen Taten sein.<br />

17 Noch am selben Tag gab der Verteidiger Rechtsanwalt Dr. S. na-Menz <strong>und</strong> in Vollmacht des Angeklagten eine<br />

Erklärung zur Sache ab. Danach habe der Angeklagte aufgr<strong>und</strong> seiner Lebenssituation die mit seinen beruflichen<br />

Tätigkeiten zusammenhängenden Einnahmen nicht mehr vollständig überblickt. Es sei daher möglich, dass unzutreffende<br />

Angaben gegenüber den Versorgungsträgern gemacht wurden. Der Angeklagte habe in Kauf genommen, dass<br />

seine Angaben einen Irrtum mit daraus resultierender Überzahlung bei den Adressaten auslösen könnten. Am vierten<br />

Hauptverhandlungstag am 26. April 2012 gab der Verteidiger Rechtsanwalt Dr. S. eine weitere Erklärung für den<br />

Angeklagten ab, mit der der Sachverhalt der Anklageschrift als zutreffend anerkannt wurde.<br />

18 Am fünften Hauptverhandlungstag am 14. Mai 2012 verurteilte das Landgericht den Angeklagten zu einer<br />

Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr <strong>und</strong> sechs Monaten, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Zu<br />

der Bemessung der Gesamtstrafe führt das Landgericht in den Urteilsgründen aus, die Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe<br />

an der unteren vereinbarten Grenze sei nicht angezeigt gewesen. Die Kammer habe sich bei der Verabredung<br />

des Strafrahmens von der Erwartung tragen lassen, der Angeklagte, der um die Verständigung ersucht hatte,<br />

werde zu Beginn der Hauptverhandlung ein Beweiserhebungen im Wesentlichen entbehrlich machendes Geständnis<br />

ablegen. Die Einlassung des Angeklagten habe aber nur als „rudimentäres Teilgeständnis“ gewertet werden können,<br />

das die Anforderungen der getroffenen Absprache nicht erfüllte. Erst als die Beweisaufnahme annähernd abgeschlossen<br />

gewesen sei, habe der Angeklagte die Anklagevorwürfe mit knappen Worten eingeräumt, ohne zusätzliche Angaben<br />

zu machen oder Fragen der Kammer zu beantworten. Diesem späten Geständnis sei nicht mehr die strafmildernde<br />

Wirkung zugekommen, die ein solches zu Beginn der Hauptverhandlung gehabt hätte.<br />

19 Die Revision macht geltend, entweder habe das Landgericht entgegen seiner Verpflichtung aus § 257c Abs. 4 Satz 4<br />

StPO nicht darauf hingewiesen, dass es sich im Hinblick auf die als lediglich „rudimentäres Teilgeständnis“ gewertete<br />

Einlassung des Angeklagten am ersten Hauptverhandlungstag, das die „Anforderungen der getroffenen Absprache<br />

nicht erfüllte“, nicht mehr an die Verständigung geb<strong>und</strong>en fühlte. Oder aber das Landgericht habe zwar an der Verständigung<br />

festgehalten, jedoch unter Verletzung des Rechts des Angeklagten auf ein faires Verfahren (Art. 6<br />

EMRK, Art. 20 Abs. 3 GG) entgegen § 257c Abs. 4 Satz 4 StPO nicht mitgeteilt, dass aufgr<strong>und</strong> des Prozessverhaltens<br />

des Angeklagten eine Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe an der unteren Grenze des Strafrahmens nicht<br />

mehr in Betracht gekommen sei.<br />

20 Es kann dahinstehen, ob es aufgr<strong>und</strong> des alternativ gestalteten Vorbringens bereits an der erforderlichen klaren<br />

Bezeichnung der Angriffsrichtung der Revision fehlt (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Januar 2012 - 1 StR 45/11<br />

mwN). Jedenfalls erweist sich das Revisionsvorbringen in wesentlichen Punkten als unvollständig.<br />

21 Aus der dem Revisionsführer bekannten <strong>und</strong> ohne Widerspruch gebliebenen dienstlichen Erklärung der Vorsitzenden<br />

der Strafkammer ergibt sich, dass dem Angeklagten bereits an dem auf seine Einlassung folgenden zweiten Hauptverhandlungstag<br />

mitgeteilt wurde, dass die Kammer nach Beratung die vom Angeklagten abgegebene Erklärung als<br />

ein „rudimentäres Teilgeständnis“ ansehe, das die Anforderungen der getroffenen Absprache nicht erfülle. Zudem<br />

war dem Verteidiger Rechtsanwalt Dr. S. wiederholt telefonisch mitgeteilt worden, dass die Kammer dem Angeklagten<br />

die Möglichkeit der Nachbesserung seines Geständnisses einräume <strong>und</strong> sich bis auf weiteres an die getroffene<br />

Vereinbarung geb<strong>und</strong>en sehe.<br />

22 Diese für die Beurteilung der Verfahrensrüge wesentlichen Umstände hätte der Revisionsführer mitteilen müssen.<br />

23 2. Die Verfahrensrüge wäre zudem auch unbegründet. Zwar entsprach das Prozessverhalten des Angeklagten<br />

zunächst nicht dem Verhalten, das der Prognose des Landgerichts zugr<strong>und</strong>e gelegt worden ist. Allein dadurch entfiel<br />

die Bindung des Landgerichts an die Verständigung mit der Folge der Hinweis-pflicht gemäß § 257c Abs. 4 Satz 4<br />

StPO jedoch nicht. Ein Wegfall der Bindung setzt darüber hinaus voraus, dass das Gericht zu der Überzeugung ge-<br />

- 264 -


langt, der in Aussicht gestellte Strafrahmen sei nicht mehr tat- oder schuldangemessen. Dies liegt ausweislich der<br />

Urteilsgründe <strong>und</strong> der dienstlichen Erklärung der Vor-sitzenden fern.<br />

24 Die Kammer war auch weder gemäß § 257c Abs. 4 Satz 4 StPO noch im Hinblick auf den Gr<strong>und</strong>satz des fairen<br />

Verfahrens dazu verpflichtet, den An-geklagten darauf hinzuweisen, dass wegen seines späten Geständnisses die<br />

Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe an der unteren Grenze des vereinbarten Strafrahmens nicht in Betracht kam.<br />

25 Die Angabe eines Strafrahmens durch das Gericht führt nicht dazu, dass nur die Strafuntergrenze als Strafe<br />

festgesetzt werden darf. Der Angeklagte kann nur darauf vertrauen, dass die Strafe innerhalb des angegebenen Strafrahmens<br />

liegt. Er muss daher auch damit rechnen, dass die Strafe die Straf-rahmenobergrenze erreicht (BGH, Beschluss<br />

vom 27. Juli 2010 - 1 StR 345/10, BGHR StPO § 257c Abs. 3 Satz 2 Strafrahmen 1). Das Landgericht hat<br />

sich auch nicht in einer Weise unklar oder irreführend verhalten, welche den Ange-klagten über Bedeutung <strong>und</strong><br />

Folgen seines eigenen Prozessverhaltens im Unklaren ließ oder ihn zu letztlich nachteiligem Verhalten veranlasste.<br />

Die Kammer hat vielmehr den Angeklagten bereits an dem auf die Einlassung folgenden zweiten Hauptverhandlungstag<br />

darauf hingewiesen, dass das abgegebene Geständnis die Anforderungen der getroffenen Verständigung<br />

nicht erfülle, <strong>und</strong> dem Angeklagten damit die Möglichkeit gegeben, sein Verteidigungsverhalten anzupassen.<br />

III.<br />

26 Die materiell-rechtliche Prüfung des angefochtenen Urteils führt auf die Sachrüge lediglich zu einer Herabsetzung<br />

der im Fall II.1.c. verhängten Einzelfreiheitsstrafe; die erkannte Gesamtfreiheitsstrafe hat dagegen Bestand.<br />

27 1. Die Verurteilung wegen Betruges hält hinsichtlich des Schuldspruches rechtlicher Nachprüfung stand.<br />

28 Die von der Strafkammer vorgenommene Würdigung des Geschehens als Betrug in fünf Fällen ist nicht zu<br />

beanstanden. Die pflichtwidrig unterbliebe-ne Anzeige des Bezugs <strong>und</strong> der voraussichtlichen Höhe der ab Februar<br />

2003 erzielten Einkünfte aus selbständiger Arbeit ist als Täuschung durch Unterlassen der jeweiligen Entscheidungsträger<br />

der Versorgungsträger des B<strong>und</strong>es <strong>und</strong> des Landes Brandenburg zu werten. Gleiches gilt für die ab August<br />

2003 bezogenen Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Die wahrheitswidrige Behauptung des Angeklagten gegenüber<br />

der Oberfinanzdirektion Nürnberg, er beziehe ab April 2004 kein anrechenbares Erwerbseinkommen mehr,<br />

stellt eine eigen-ständige Täuschung durch aktives Tun dar.<br />

29 Die vom Angeklagten erzielten Einkünfte aus selbständiger <strong>und</strong> nicht-selbständiger Arbeit unterliegen nach<br />

Maßgabe des § 53 Abs. 1 BeamtVG bzw. des § 16 Abs. 2 BbgMinG i.V.m. § 15 Nr. 1 BbgMinG der Anrechnung<br />

auf die Versorgungsbezüge <strong>und</strong> das Übergangsgeld.<br />

30 Gemäß § 62 Abs. 2 Nr. 2 BeamtVG ist der Versorgungsberechtigte verpflichtet, der Regelungsbehörde oder der die<br />

Versorgungsbezüge zahlenden Kasse u.a. den Bezug <strong>und</strong> jede Änderung von Einkünften i.S.v. § 53 BeamtVG unverzüglich<br />

anzuzeigen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Regelungsbehörde von den maßgeblichen Tatsachen<br />

Kenntnis erhält, um die einschlägigen Ruhensregelungen zur Anwendung zu bringen. Der Gesetzgeber hat dem<br />

Beamten eine besondere Verpflichtung auferlegt, die ihre Rechtfertigung in der beamtenrechtlichen Treuepflicht<br />

findet (Hessischer VGH, Urteil vom 18. April 2012 - 1 A 1522/11, NVwZ-RR 2012, 936; Leihkauff in Stegmüller/<br />

Schmalhofer/Bauer, Beamtenversorgungsrecht, 102. Lief., BeamtVG § 62 Rn. 29). Entsprechendes gilt über § 1 Abs.<br />

3 BbgMinG i.V.m. § 53 Landesbeamtengesetz Brandenburg aF auch für nach § 16 Abs. 2 BbgMinG auf das Übergangsgeld<br />

anrechenbares Erwerbseinkommen.<br />

31 Die Revision meint, die Anzeigepflicht gemäß § 62 Abs. 2 Nr. 2 BeamtVG entstehe erst mit Erlass des jeweiligen<br />

Einkommensteuerbescheides. Daher sei die Verpflichtung durch unverzügliche Vorlage erfüllt. Der Senat teilt diese<br />

Auffassung nicht: Durch die unverzügliche Anzeige des Bezugs <strong>und</strong> jeder Änderung von Einkünften sollen Überzahlungen<br />

verhindert werden (vgl. Hessischer VGH, Urteil vom 18. April 2012 - 1 A 1522/11, NVwZ-RR 2012, 936;<br />

Leihkauff in Stegmüller/Schmalhofer/Bauer, Beamtenversorgungsrecht, 102. Lief., BeamtVG § 62 Rn. 29, 44). Dies<br />

könnte nicht erreicht werden, wenn der Einkommensteuerbescheid abzuwarten wäre. Die Versorgungsbezüge bzw.<br />

das Übergangsgeld würden dann nämlich für das gesamte Jahr zunächst ungekürzt ausgezahlt <strong>und</strong> eine Korrektur<br />

würde erst nach Erlass des Einkommen-steuerbescheides erfolgen. Daher sind bereits der Beginn sowie jede Änderung<br />

des Bezuges von Einkünften i.S.v. §§ 53 bis 56 BeamtVG unter Angabe der voraussichtlichen Höhe der Einkünfte<br />

anzuzeigen. So kann aufgr<strong>und</strong> dieser Angaben zunächst eine vorläufige Ruhensregelung getroffen werden.<br />

Die ab-schließende Entscheidung erfolgt dann nach Vorlage des Einkommensteuer-bescheides (vgl. Schachel in<br />

Schütz/Maiwald, Beamtenrecht, § 53 BeamtVG Rn. 34 ).<br />

32 Dieser Verpflichtung aus § 62 Abs. 2 Nr. 2 BeamtVG ist der Angeklagte mit seinem Schreiben an das B<strong>und</strong>esamt für<br />

Finanzen vom 28. August 2003 nicht ausreichend nachgekommen. Die Angaben des Versorgungsempfängers müssen<br />

so konkret sein, dass die Regelungsbehörde den Sachverhalt prüfen, über die Anwendung der Ruhensregelungen<br />

- 265 -


entscheiden <strong>und</strong> hieran Rechtsfolgen - insbesondere die Kürzung der Versorgungsbezüge - knüpfen kann (vgl. OLG<br />

Köln, Urteil vom 11. August 2009 - 83 Ss 54/09, NStZ-RR 2010, 79 zu § 60 Abs. 1 SGB I). Davon ausgehend genügen<br />

die Angaben des Angeklagten, er sei seit Juli 2003 als Berater <strong>und</strong> Aufsichtsratsmitglied sowie als Geschäftsführer<br />

tätig, seiner Anzeigepflicht nicht. Vielmehr ist auch die Höhe der voraus-sichtlichen anrechenbaren Einkünfte<br />

anzuzeigen, da andernfalls eine Anwendung der Ruhensregelungen bzw. eine Anrechnung des Erwerbseinkommens<br />

nicht möglich ist (vgl. BAG, Urteil vom 21. Oktober 2003 - 3 AZR 83/03, ZTR 2004, 386; Plog/Wiedow, B<strong>und</strong>esbeamtengesetz,<br />

BeamtVG § 62 Rn. 16 ).<br />

33 2. Der Strafausspruch erweist sich jedoch im Fall II.1.c. der Urteilsgründe als rechtsfehlerhaft.<br />

34 Zwar ist das Landgericht im Hinblick darauf, dass die Tat auf wiederkehrende Leistungen gerichtet war, rechtsfehlerfrei<br />

von einem gewerbsmäßigen Handeln des Angeklagten i.S.v. § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StGB ausgegangen. Jedoch<br />

hat es aufgr<strong>und</strong> einer unzutreffenden Berechnung der überzahlten Versorgungsbezüge einen zu großen Schadensumfang<br />

zugr<strong>und</strong>e gelegt.<br />

35 a) Im Ausgangspunkt zutreffend ist das Landgericht bei der Berechnung der überzahlten Versorgungsbezüge von<br />

einer umfassenden Anrechnung des Erwerbseinkommens auf die Versorgungsbezüge gemäß § 53 BeamtVG ausgegangen.<br />

36 Entgegen der Auffassung der Revision ist die Anrechnung des Erwerbs-einkommens nicht nach Maßgabe der §§ 53,<br />

53a BeamtVG in der bis zum 31. Dezember 1998 gültigen Fassung durchzuführen, wonach eine Anrechnung nur auf<br />

den nicht erdienten Teil des Ruhegehalts vorzunehmen ist. Dem Ange-klagten war es für die Dauer der Wahrnehmung<br />

des Ministeramtes von Oktober 1999 bis Juli 2002 gemäß Art. 95 Landesverfassung Brandenburg, § 3 Abs. 1<br />

BbgMinG untersagt, neben dem Ministeramt einen anderen Beruf auszuüben. Die von dem Angeklagten ab Februar<br />

2003 erzielten Einkünfte aus anwaltlicher Tätigkeit fließen damit - trotz Fortbestehens der Zulassung - nicht mehr<br />

aus einer seit dem 31. Dezember 1998 andauernden Tätigkeit i.S.v. § 69c Abs. 4 Satz 1 BeamtVG.<br />

37 b) Das Landgericht hat jedoch bei der Ermittlung des anrechenbaren Erwerbseinkommens rechtsfehlerhaft auch<br />

hinsichtlich der Einkünfte aus selbständiger Arbeit auf den Zeitpunkt des Zuflusses der Betriebseinnahmen beim<br />

Angeklagten abgestellt.<br />

38 Gemäß § 53 Abs. 7 Satz 4 BeamtVG erfolgt die Berücksichtigung des Erwerbseinkommens gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

monatsbezogen. Wird das Einkommen nicht in Monatsbeträgen erzielt, ist gemäß Satz 5 das Einkommen des Kalenderjahres<br />

gleichmäßig auf zwölf Monate zu verteilen. Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit, die naturgemäß<br />

Schwankungen in ihrer monatlichen Höhe auf-weisen, werden regelmäßig nicht in Monatsbeträgen erzielt, so dass<br />

bei An-wendung der Ruhensregelungen eine Zwölftelung des Jahreseinkommens zu erfolgen hat (vgl. Kazmaier in<br />

Stegmüller/Schmalhofer/Bauer, Beamtenversorgungsrecht des B<strong>und</strong>es <strong>und</strong> der Länder, 98. Lief.; § 53 Rn. 216;<br />

Schachel in Schütz/Maiwald, Beamtenrecht, § 53 BeamtVG Rn. 34 ; Plog/Wiedow, B<strong>und</strong>esbeamtengesetz,<br />

BeamtVG, § 53 Rn. 183 ; für Einkünfte aus Gewerbebetrieb: OVG Saarland,<br />

Beschluss vom 16. September 2009 - 1 A 435/08).<br />

39 Die unzutreffende Berechnungsmethode hat sich lediglich im Fall II.1.c. der Urteilsgründe zum Nachteil des<br />

Angeklagten ausgewirkt. Dem Angeklagten ist in den Jahren 2003 <strong>und</strong> 2004 nicht in jedem Monat Erwerbseinkommen<br />

zu-geflossen, so dass sich durch die Verteilung auf zwölf Monate für einzelne Kalendermonate ein niedrigerer<br />

anzurechnender Betrag ergibt.<br />

40 Der Senat kann nicht ausschließen, dass sich die fehlerhafte Annahme eines zu großen Schadensumfangs bei der<br />

Bemessung der Einzelstrafe im Fall II.1.c. der Urteilsgründe zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt hat. Daher<br />

hat der Senat die im Fall II.1.c. verhängte Einzelstrafe entsprechend § 354 Abs. 1 StPO auf die Mindeststrafe von<br />

sechs Monaten herabgesetzt (vgl. § 263 Abs. 3 Satz 1 <strong>und</strong> 2 Nr. 1 StGB).<br />

41 3. Die Verurteilung wegen Steuerhinterziehung in drei Fällen lässt keinen Rechtsfehler zum Nachteil des<br />

Angeklagten erkennen.<br />

42 Die Revision meint, die Strafkammer hätte sich mit der Möglichkeit auseinandersetzen müssen, dass der Angeklagte<br />

die Umsatzsteuerjahreserklärungen ohne Vorsatz nicht fristgerecht abgegeben habe. Dies liegt jedoch fern <strong>und</strong> musste<br />

daher nicht erörtert werden. Dagegen spricht schon, dass der Ange-klagte bereits in den Umsatzsteuervoranmeldungen<br />

unzutreffende Angaben gemacht hatte. Eine Aufklärungsrüge zum Beleg des von der Revision für möglich<br />

gehaltenen Sachverhalts erhebt die Revision nicht.<br />

43 4. Auch die Verurteilung wegen falscher Versicherung an Eides Statt ist nicht zu beanstanden.<br />

44 Umfang <strong>und</strong> Grenzen der Wahrheitspflicht bestimmen sich nach dem Verfahrensgegenstand <strong>und</strong> den Regeln, die für<br />

das Verfahren gelten, in dem die eidesstattliche Versicherung abgegeben wird. Bei - wie hier - unverlangt abgegebe-<br />

- 266 -


nen eidesstattlichen Versicherungen kommt es darauf an, welches Beweisthema sich in dieser stellt. Allerdings bedeutet<br />

dies nicht, dass alles, was der Täter zu dem selbstgesetzten Beweisthema erklärt, auch der Wahrheitspflicht<br />

unterliegt. Auszuscheiden sind vielmehr nach dem Schutzzweck der Vorschrift alle Tatsachenbehauptungen, die für<br />

das konkrete Verfahren ohne jede mögliche Bedeutung sind (BGH, Urteil vom 24. Oktober 1989 - 1 StR 504/89,<br />

NStZ 1990, 123, 124; Ruß in Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl., § 156 Rn. 17; Lenckner/Bosch in Schönke/Schröder,<br />

StGB, 28. Aufl., § 156 Rn. 5).<br />

45 Die Feststellung des Landgerichts, dem Angeklagten sei sein Geschäfts-führergehalt für die Monate August bis<br />

November 2003 brutto mit jeweils 5.000 € ausgezahlt worden, wobei die darauf entfallenden Steuerbeträge auch<br />

nicht vom Angeklagten abgeführt worden seien, steht im Widerspruch zu seiner eidesstattlichen Versicherung, ihm<br />

sei das Geschäftsführergehalt lediglich für die ersten beiden Monate brutto ausgezahlt worden, woraufhin er die<br />

darauf entfallenden Abgaben selbst abgeführt habe; von August 2003 bis März 2004 habe er nur das Nettogehalt<br />

erhalten. Diese falsche Erklärung war auch für das konkrete einstweilige Verfügungsverfahren keineswegs ohne jede<br />

Bedeutung. Die eidesstattliche Versicherung hatte zu dem Beweisthema des Antrags auf Erlass einer einstweiligen<br />

Verfügung, mit der der Antragsgegnerin untersagt werden sollte zu behaupten, der Angeklagte habe sein Geschäftsführergehalt<br />

bis einschließlich März brutto gleich netto ausgezahlt erhalten, als Mittel der Glaubhaftmachung unmittelbaren<br />

Bezug. Dies gilt unabhängig davon, ob sich die falsche Versicherung an Eides Statt letztlich im Ausgang des<br />

Rechtsstreits niedergeschlagen hat oder nicht.<br />

IV.<br />

46 1. Die Strafzumessung ist im Übrigen nicht zu beanstanden. Gemäß § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO hat das Tatgericht im<br />

Urteil lediglich die bestimmen-den Strafzumessungsgesichtspunkte mitzuteilen. Es steht nicht zu besorgen, dass die<br />

von der Revision aufgeführten Gesichtspunkte - insbesondere soweit im Urteil dazu Feststellungen getroffen sind -<br />

von der Kammer bei der Strafzumessung außer Acht gelassen worden sind.<br />

47 Die durch das Landgericht vorgenommene Kompensation der rechts-staatswidrigen Verfahrensverzögerung ist nicht<br />

zu beanstanden. Die Kammer hat bereits bei der Strafzumessung die lange Verfahrensdauer strafmildernd bewertet,<br />

so dass darüber hinaus nur noch deren konventionswidrige Verursachung auszugleichen war. Dies führt, von hier<br />

nicht erkennbaren Fallgestaltungen abgesehen, dazu, dass sich eine Kompensation nur noch auf einen eher geringen<br />

Bruchteil der Strafe zu beschränken hat (BGH, Großer Senat für Strafsachen, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt<br />

1/07, BGHSt 52, 124, 146, 147; BGH, Beschluss vom 23. August 2011 - 1 StR 153/11, NStZ 2012, 152; Urteil vom<br />

9. Oktober 2008 - 1 StR 238/08).<br />

48 3. Trotz der Herabsetzung der Einzelstrafe im Fall II.1.c. auf sechs Monate hat der Ausspruch über die Gesamtstrafe<br />

Bestand. Angesichts der Summe der Einzelstrafen schließt der Senat aus, dass das Landgericht bei Festsetzung einer<br />

Einzelstrafe von sechs Monaten im Fall II.1.c. auf eine niedrigere Gesamtfreiheitsstrafe erkannt hätte.<br />

V.<br />

49 Der geringfügige Teilerfolg der Revision rechtfertigt es nicht, den Beschwerdeführer von den durch sein<br />

Rechtsmittel entstandenen Kosten <strong>und</strong> Auslagen auch nur teilweise zu entlasten (§ 473 Abs. 4 StPO).<br />

StPO § 257c; BtMG § 30a Abs. 3 – Verständigung über Anwendung eines Sonderstrafrahmens<br />

BGH, Bechl. v. 25.04.2013 – 5 StR 139/13 - StV 2013, 485<br />

Liegt einem Urteil eine Verfahrensabsprache gem. § 257c StPO zugr<strong>und</strong>e, wonach für den Fall eines<br />

umfassenden Geständnisses ein Strafrahmen unter Annahme eines minder schweren Falles zugesichert<br />

wurde, kann der Schuldspruch zum Gegenstand einer Verfahrensrüge gemacht werden mit<br />

der Beanstandung, dass sich aus der Verfahrensgestaltung im Zuge der Verständigung Anhaltspunkte<br />

für eine die Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten sachwidrig beeinträchtigende Drucksituation<br />

ableiten ließen.<br />

Der 5. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat am 25. April 2013 beschlossen:<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 17. Dezember 2012 wird nach § 349<br />

Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.<br />

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.<br />

- 267 -


G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen – in einem Fall bewaffneten – Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in<br />

nicht geringer Menge in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Hiergegen richtet sich<br />

die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte <strong>und</strong> mit der allgemeinen Sachrüge geführte Revision des Angeklagten.<br />

Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.<br />

Der Erörterung bedarf nur Folgendes:<br />

1. Dem Urteil liegt – bei eindeutiger Beweislage – eine Verfahrensabsprache gemäß § 257c StPO zugr<strong>und</strong>e. Ausweislich<br />

der Urteilsgründe (UA S. 5) wurde dem Angeklagten dabei „für den Fall eines umfassenden Geständnisses<br />

unter Annahme eines minder schweren Falles des bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer<br />

Menge eine Gesamtfreiheitsstrafe zwischen zwei Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten <strong>und</strong> drei Jahren <strong>und</strong> drei Monaten<br />

zugesichert“. Dies führt auch im Lichte des Urteils des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom 19. März 2013 (NJW 2013,<br />

1058) nicht zu revisionsgerichtlicher Beanstandung. a) Zwar sind nach Meinung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />

Strafrahmenverschiebungen selbst im Fall unbenannter Strafänderungsgründe wie dem hier in Frage stehenden § 30a<br />

Abs. 3 BtMG von Verfassungs wegen gr<strong>und</strong>sätzlich kein zulässiger Gegenstand von Verfahrensabsprachen (vgl.<br />

BVerfG aaO Rn. 74, 109, 130). Jedoch hat der Angeklagte die Revision wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch<br />

beschränkt. Er kann deshalb durch die Zubilligung des milderen Sonderstrafrahmens unter keinem Gesichtspunkt<br />

beschwert sein.<br />

b) Bei dieser Sachlage kann dahingestellt bleiben, ob das Landgericht – dann unbedenklich – bei der Verständigung<br />

die Annahme eines minder schweren Falles nicht ohnehin vorausgesetzt oder – was nach dem Urteil des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />

durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken erwecken kann – die Annahme des minder schweren<br />

Falles von der Abgabe eines Geständnisses abhängig gemacht hat. Bereits an der Vielgestaltigkeit denkbarer<br />

Verfahrensabläufe erweist sich indessen, dass die revisionsrechtliche Beurteilung von Verfahrensabsprachen die<br />

Kenntnis der Details voraussetzt. Demgemäß muss die Beanstandung bei Anfechtung des Schuldspruchs im Rahmen<br />

einer dahingehenden Verfahrensrüge erfolgen.<br />

c) Der Senat gibt zu bedenken, ob nach dem Gesamtzusammenhang des genannten Urteils des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />

Verfassungsgründe gegen die Einbeziehung von Sonderstrafrahmen in eine Verständigung gemäß § 257c StPO<br />

jedenfalls dann ausgeschlossen werden können, wenn die Zubilligung des Sonderstrafrahmens in nach herkömmlichen<br />

Strafzumessungsregeln nicht zu beanstandender Weise an den aus dem Geständnis abzuleitenden bestimmenden<br />

Strafzumessungsgr<strong>und</strong> anknüpft. Dem stehen als rechtsfehlerhaft zu erachtende Absprachen gegenüber, in denen<br />

sich aus der Verfahrensgestaltung im Zuge der Verständigung Anhaltspunkte für eine die Selbstbelastungsfreiheit<br />

des Angeklagten sachwidrig beeinträchtigende Drucksituation ableiten lassen (vgl. BVerfG aaO insbesondere Rn.<br />

130). 2. Die Annahme nicht fortbestehenden Hangs des Angeklagten im Sinne des § 64 Satz 1 StGB ergibt sich aus<br />

den Urteilsgründen hinreichend klar. Deshalb hält die Nichtanordnung der Maßregel im Ergebnis rechtlicher Prüfung<br />

stand. Demgemäß sind missverständliche Wendungen unschädlich, die darauf hindeuten könnten, die Strafkammer<br />

habe etwa fehlerhaft gemeint, die Anordnung nach § 64 StGB setze eine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit im<br />

Sinne der §§ 20, 21 StGB voraus (vgl. UA S. 10).<br />

- 268 -


StPO § 243 Abs, 4, § 257c § 273 Abs. 1a Anforderungen an die Dokumentation von Verständigungsgesprächen<br />

– Zulässige Protokollrüge<br />

BGH Urteil vom 10.07.2013 - 2 StR 195/12- BeckRS 2013, 13639<br />

1. Die Gr<strong>und</strong>sätze zur Unzulässigkeit einer bloßen Protokollrüge gelten nicht, wenn ein Verfahrensfehler<br />

behauptet wird, der in seinem Kern darin besteht, dass das Hauptverhandlungsprotokoll den<br />

Inhalt außerhalb der Verhandlung geführter Verständigungsgespräche nicht wiedergibt. Insoweit<br />

hat der Gesetzgeber eine Sonderregelung getroffen.<br />

2. Eine entgegen § 273 Abs. 1a StPO fehlende oder inhaltlich unzureichende Dokumentation von<br />

außerhalb der Hauptverhandlung geführten Verständigungsgesprächen im Sinne von § 243 Abs.4<br />

StPO führt in der Regel dazu, dass das Beruhen des Urteils auf dem Rechtsfehler nicht auszuschließen<br />

ist.<br />

Der 2. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat aufgr<strong>und</strong> der Verhandlung vom 3. Juli 2013 in der Sitzung am 10. Juli<br />

2013 für Recht erkannt: Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 6. September<br />

2011 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über<br />

die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Betrugs in zwei Fällen, Gründungschwindels in zwei Fällen,<br />

Bankrotts in sechs Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit falscher Versicherung an Eides statt, <strong>und</strong> wegen<br />

Gläubigerbegünstigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren <strong>und</strong> zehn Monaten verurteilt. Dagegen richtet<br />

sich die Revision des Angeklagten mit der Sachbeschwerde <strong>und</strong> Verfahrensrügen. Das Rechtsmittel hat mit einer<br />

Verfahrensrüge Erfolg, so dass es auf die weiteren Rügen nicht mehr ankommt.<br />

I. Dem Urteil ist eine Verständigung im Sinne von § 257c Abs. 3 StPO vorangegangen. Im Protokoll der Hauptverhandlung<br />

ist ausgeführt: "Der Vorsitzende gab bekannt, dass in der Verhandlungspause eine tatsächliche Verständigung<br />

nach § 257c StPO erörtert worden ist. Das Gericht hat für den Fall eines Geständnisses eine Strafobergrenze<br />

von drei Jahren <strong>und</strong> eine Strafuntergrenze von zwei Jahren <strong>und</strong> zehn Monaten Gesamtfreiheitsstrafe in Aussicht<br />

gestellt. … Die Vertreter der Staatsanwaltschaft stimmten zu. Die Hauptverhandlung wurde von 12.40 Uhr bis 12.46<br />

Uhr unterbrochen. Der Angeklagte <strong>und</strong> der Verteidiger erklärten Zustimmung. …" Der Beschwerdeführer macht<br />

dazu geltend, die "formellen Anforderungen an eine Verständigung" seien nicht eingehalten worden, "da insbesondere<br />

die erforderlichen Protokollierungsanforderungen nicht beachtet" worden seien. Er trägt vor, anhand des Protokolls<br />

müssten zumindest die Fragen beantwortet werden können, von wem die Initiative zur Verständigung ausgegangen<br />

sei, ob alle Verfahrensbeteiligten an dem Gespräch beteiligt gewesen <strong>und</strong> von welchem Sachverhalt sie ausgegangen<br />

seien, ferner welche Vorstellungen sie vom Ergebnis der Verständigung gehabt hätten. Das Protokoll besage<br />

nichts darüber.<br />

II. Diese Verfahrensrüge ist zulässig <strong>und</strong> begründet.<br />

1. Das Vorbringen unterliegt der Auslegung. Soweit der Beschwerdeführer Ausführungen im Protokoll zur Mitteilung<br />

des Inhalts von Gesprächen mit dem Ziel einer Verständigung vermisst, die außerhalb der Hauptverhandlung<br />

geführt worden waren, geht es der Sache nach um die Nichtbeachtung der §§ 243 Abs. 4 Satz 2, 273 Abs. 1a Satz 2<br />

StPO. Nach dem Rechtsgedanken des § 300 StPO, der auf die Auslegung von Verfahrensrügen entsprechend angewendet<br />

wird (vgl. BVerfG, Urteil vom 25. Januar 2005 – 2 BvR 656/99 u.a., BVerfGE 112, 185, 211), schadet es<br />

nicht, dass der Beschwerdeführer nur auf § 257c StPO verweist, denn die Regelungen der §§ 243 Abs. 4 Satz 2, 273<br />

Abs. 1a Satz 2 StPO betreffen das Verfahren auf dem Weg zu einer Verständigung im Sinne von § 257c Abs. 3<br />

StPO. Insoweit ist die Angriffsrichtung des Rügevorbringens eindeutig erkennbar. Das Vorbringen des Beschwerdeführers<br />

genügt den Darlegungsanforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Zwar ist eine Verfahrensrüge im Allgemeinen<br />

unzulässig, wenn sich dem Revisionsvorbringen nicht die bestimmte Behauptung entnehmen lässt, dass ein<br />

Verfahrensfehler vorliegt, sondern nur, dass er sich aus dem Protokoll ergebe (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 13.<br />

Juli 2011 – 4 StR 181/11, StV 2012, 73). Dies kann aber ausnahmsweise dann nicht gelten, wenn ein Verfahrensfehler<br />

behauptet wird, der in seinem Kern gerade darin besteht, dass das Protokoll den Inhalt der Gespräche, die außerhalb<br />

der Hauptverhandlung mit dem Ziel einer Verständigung geführt wurden, nicht mitteilt. Denn dazu hat der Ge-<br />

- 269 -


setzgeber eine Sonderregelung getroffen. Die Herstellung von Transparenz <strong>und</strong> die Dokumentation aller mit dem<br />

Ziel der Verständigung geführten Erörterungen entsprechen dem Sinn <strong>und</strong> Zweck des Gesetzes zur Regelung der<br />

Verständigung im Strafverfahren (VerstStVfÄndG, BGBl. 2009 I, S. 2353; Regierungsentwurf in BT-Drucks.<br />

16/12310). Sie sind Elemente eines einheitlichen Konzepts (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR<br />

2628/10 u.a., NJW 2013, 1058, 1067 f., Tz. 96 f.). Die Einheitlichkeit dieses Regelungskonzepts hat auch Auswirkungen<br />

auf die Darlegungspflichten eines Revisionsführers gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Sein Vorbringen genügt,<br />

wenn Gespräche außerhalb der Hauptverhandlung geführt wurden <strong>und</strong> eine Mitteilung des Vorsitzenden über<br />

deren wesentlichen Inhalt entweder tatsächlich nicht erfolgt ist oder jedenfalls nicht im Protokoll dokumentiert wurde,<br />

bereits dann den Anforderungen an eine hinreichend substantiierte Verfahrensrüge, wenn er nur auf das Fehlen<br />

einer Dokumentation hinweist. Denn ein Protokoll, das alleine die Tatsache einer außerhalb der Hauptverhandlung<br />

geführten Erörterung oder nur deren Ergebnis mitteilt, ist fehlerhaft, <strong>und</strong> schon dieser Verfahrensfehler kann erhebliche<br />

Auswirkungen auf das Prozessverhalten des Angeklagten entfalten (s. unten II.2.b). Mitteilungs- <strong>und</strong> Dokumentationsmängel<br />

im Hinblick auf die Anforderungen an das Verständigungsverfahren aus den §§ 243 Abs. 4, 273 Abs.<br />

1a StPO sind dann aber auch im Sinne der Darlegungsanforderungen nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO gleich zu behandeln.<br />

2. Es liegt ein Verfahrensfehler vor, auf dem das Urteil beruht.<br />

a) Nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO teilt der Vorsitzende nach Verlesung des Anklagesatzes mit, ob Erörterungen im<br />

Sinne der §§ 202a, 212 StPO stattgef<strong>und</strong>en haben, wenn deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung<br />

gewesen ist, <strong>und</strong> gegebenenfalls deren wesentlichen Inhalt (vgl. dazu auch Senat, Urteil vom 10. Juli 2013 – 2 StR<br />

47/13). Diese Mitteilungspflicht ist gemäß § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO weiter zu beachten, wenn Erörterungen erst<br />

nach Beginn der Hauptverhandlung stattgef<strong>und</strong>en haben (vgl. BT-Drucks. 16/12310 S. 12; Meyer-Goßner, StPO, 56.<br />

Aufl. 2013, § 243 Rn. 18c). Das Gesetz will erreichen, dass derartige Erörterungen stets in der öffentlichen Hauptverhandlung<br />

zur Sprache kommen <strong>und</strong> dies auch inhaltlich dokumentiert wird. Gespräche außerhalb der Hauptverhandlung<br />

dürfen kein informelles <strong>und</strong> unkontrollierbares Verfahren eröffnen (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Oktober<br />

2010 – 3 StR 287/10, StV 2011, 72 f.). Alle Verfahrensbeteiligten <strong>und</strong> die Öffentlichkeit sollen nicht nur darüber<br />

informiert werden, ob solche Erörterungen stattgef<strong>und</strong>en haben, sondern auch darüber, welche Standpunkte gegebenenfalls<br />

von den Teilnehmern vertreten wurden, von welcher Seite die Frage einer Verständigung aufgeworfen wurde<br />

<strong>und</strong> ob sie bei anderen Gesprächsteilnehmern auf Zustimmung oder Ablehnung gestoßen ist (vgl. BVerfG aaO<br />

NJW 2013, 1058, 1065, Tz. 85; BGH, Beschluss vom 5. Oktober 2010 – 3 StR 287/10, StV 2011, 72 f.). Zur Gewährleistung<br />

der Möglichkeit einer effektiven Kontrolle ist die Mitteilung des Vorsitzenden hierüber gemäß § 273<br />

Abs. 1a Satz 2 StPO in das Protokoll der Hauptverhandlung aufzunehmen. Das Fehlen der Protokollierung ist ein<br />

Rechtsfehler des Verständigungsverfahrens (vgl. BVerfG aaO NJW 2013, 1058, 1067, Tz. 97); er wird durch das<br />

Protokoll der Hauptverhandlung bewiesen. Der Senat braucht hier nicht zu entscheiden, ob der Dokumentationspflicht<br />

nur dann ausreichend Genüge getan worden wäre, wenn der Protokollvermerk verlesen <strong>und</strong> genehmigt wurde<br />

(vgl. § 273 Abs. 3 Satz 3 StPO), wie es sinnvoll sein kann, weil ein erhebliches Interesse des Angeklagten (vgl. unten<br />

II.2.b) an der Feststellung des Wortlauts der Mitteilung besteht.<br />

b) Ein Mangel des Verfahrens an Transparenz <strong>und</strong> Dokumentation der Gespräche, die mit dem Ziel der Verständigung<br />

außerhalb der Hauptverhandlung geführt wurden, führt – ebenso wie die mangelhafte Dokumentation einer<br />

Verständigung – regelmäßig dazu, dass ein Beruhen des Urteils auf dem Rechtsfehler nicht auszuschließen ist (vgl.<br />

BVerfG aaO NJW 2013, 1058, 1067, Tz. 97). Das Gesetz will die Transparenz der Gespräche, die außerhalb der<br />

Hauptverhandlung geführt werden, durch die Mitteilung ihres wesentlichen Inhalts in der Verhandlung für die Öffentlichkeit<br />

<strong>und</strong> alle Verfahrensbeteiligten, insbesondere aber für den Angeklagten herbeiführen. Der Angeklagte als<br />

eigenverantwortliches Prozesssubjekt soll zuverlässig <strong>und</strong> in nachprüfbarer Form über den Ablauf <strong>und</strong> Inhalt derjenigen<br />

Verständigungsgespräche informiert werden, die außerhalb der Hauptverhandlung – in der Praxis meist in<br />

seiner Abwesenheit – geführt wurden. Durch die Mitteilung nach § 243 Abs. 4 StPO <strong>und</strong> durch deren Protokollierung<br />

gemäß § 273 Abs. 1a StPO wird nicht nur das Ergebnis der Absprache, sondern auch der dahin führende Entscheidungsprozess<br />

festgeschrieben <strong>und</strong> der revisionsgerichtlichen Kontrolle zugänglich gemacht. Die Mitteilung <strong>und</strong><br />

deren Dokumentation sowie die Nachprüfbarkeit in einem einheitlichen System der Kontrolle sind jeweils Gr<strong>und</strong>lage<br />

einer eigenverantwortlichen Entscheidung des Angeklagten darüber, ob er dem Vorschlag des Gerichts gemäß §<br />

257c Abs. 3 Satz 4 StPO zustimmt. Für die Entscheidung des Angeklagten, die meist mit der Frage nach einem Geständnis<br />

in der Hauptverhandlung verb<strong>und</strong>en wird, ist es von besonderer Bedeutung, ob er über die Einzelheiten der<br />

in seiner Abwesenheit geführten Gespräche nur zusammenfassend <strong>und</strong> in nicht dokumentierter Weise von seinem<br />

- 270 -


Verteidiger nach dessen Wahrnehmung <strong>und</strong> Verständnis informiert wird oder ob ihn das Gericht unter Dokumentation<br />

seiner Mitteilungen im Protokoll der Hauptverhandlung unterrichtet. Schon durch das Fehlen der Dokumentation<br />

kann das Prozessverhalten des Angeklagten beeinflusst werden. Es mag nicht ausgeschlossen sein, dass der Angeklagte<br />

im Einzelfall auch bei fehlerhaftem Hauptverhandlungsprotokoll durch eine ebenso zuverlässige Dokumentation<br />

in anderer Weise so unterrichtet wird, dass das Beruhen des Urteils auf dem Protokollierungsfehler ausgeschlossen<br />

werden kann. Anhaltspunkte dafür liegen hier aber nicht vor.<br />

StPO §§ 243 Abs. 4 Satz 1, 344 Abs. 2 Satz 2 – Kein Rechtsfehler bei unterlassener Mitteilung über<br />

Nichtgespräche<br />

BGH Urteil v. 10.07.20143 - 2 StR 47/13 - BeckRS 2013, 13638<br />

1. Einer Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO bedarf es nicht, wenn überhaupt keine oder nur<br />

solche Gespräche stattgef<strong>und</strong>en haben, die dem Regelungskonzept des Verständigungsgesetzes vorgelagert<br />

<strong>und</strong> von ihm nicht betroffen sind.<br />

2. Die Verfahrensrüge, es sei rechtsfehlerhaft keine Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO erfolgt,<br />

setzt den Vortrag voraus, dass tatsächlich Gespräche im Sinne dieser Vorschrift stattgef<strong>und</strong>en<br />

hatten <strong>und</strong> welchen Inhalt sie hatten.<br />

Der 2. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat aufgr<strong>und</strong> der Verhandlung vom 3. Juli 2013 in der Sitzung am 10. Juli<br />

2013 für Recht erkannt:<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 27. September 2012 mit den<br />

Feststellungen aufgehoben im Fall II. 2 c der Urteilsgründe sowie im Gesamtstrafenausspruch.<br />

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

3. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.<br />

Von Rechts wegen<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen sowie<br />

wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit versuchtem schweren sexuellen Missbrauch von Kindern<br />

zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Dagegen wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner<br />

auf die Sachrüge <strong>und</strong> auf Verfahrensrügen gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat auf die Sachrüge hin den aus<br />

der Urteilsformel ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist es unbegründet.<br />

I. Die Verfahrensrügen bleiben aus den Gründen der Antragsschrift des Generalb<strong>und</strong>esanwalts ohne Erfolg. Der<br />

näheren Erörterung bedarf lediglich die Verfahrensrüge, das Landgericht habe gegen § 243 Abs. 4 StPO verstoßen.<br />

1. Die Revision hat ausgeführt, der Vorsitzende habe entgegen § 243 Abs. 4 StPO weder zu Beginn der Hauptverhandlung<br />

noch zu einem späteren Zeitpunkt mitgeteilt, ob <strong>und</strong> gegebenenfalls in welcher Form im Vorfeld der<br />

Hauptverhandlung Verständigungsgespräche stattgef<strong>und</strong>en hätten. Zwar sei es weder zu einer Verständigung nach §<br />

257c StPO noch zu einer unzulässigen "informellen Verständigung" gekommen. Dies schließe jedoch nicht aus, dass<br />

ohne Wissen des Angeklagten darauf abzielende Gespräche stattgef<strong>und</strong>en hätten. Hätte der Angeklagte den vom<br />

Gesetz vorgesehenen Hinweis erhalten, hätte er sein Einlassungsverhalten entsprechend einrichten können. Das gelte<br />

auch, wenn keine Gespräche stattgef<strong>und</strong>en haben sollten.<br />

2. Die Rüge ist bereits deshalb unzulässig, weil die Revision keinen bestimmten Rechtsfehler behauptet:<br />

a) Nach dem Wortlaut des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO teilt der Vorsitzende mit, ob Erörterungen nach den §§ 202a,<br />

212 StPO stattgef<strong>und</strong>en haben, wenn deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c StPO) gewesen<br />

ist <strong>und</strong> wenn ja, deren wesentlichen Inhalt. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass eine Mitteilungspflicht nicht besteht,<br />

wenn keine auf eine Verständigung hinzielende Gespräche stattgef<strong>und</strong>en haben (vgl. BGH, Beschluss vom 5.<br />

Oktober 2010 - 3 StR 287/10 = StV 2011, 72, 73 sowie Beschluss vom 20. Oktober 2010 - 1 StR 400/10 = StV 2011,<br />

202, 203; Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl., § 243 Rn. 18 a; a.A. ohne nähere Begründung Becker in Löwe-Rosenberg,<br />

StPO, 26. Aufl., § 243 Rn. 52 c <strong>und</strong> Mosbacher NZWiSt 2013, 201, 206). Das erklärt sich auch aus dem Sinn <strong>und</strong><br />

Zweck der Mitteilungs- <strong>und</strong> Dokumentationspflichten. Diese bilden einen Schwerpunkt des Verständigungsgesetzes<br />

- 271 -


<strong>und</strong> sollen die zentrale Vorschrift des § 257c StPO flankieren <strong>und</strong> die Transparenz der Verständigung sowie die<br />

Möglichkeit einer effektiven Kontrolle durch die Öffentlichkeit, die Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> das Rechtsmittelgericht<br />

gewährleisten (BT-Drucks. 16/12310 S. 8 f.). Erfasst werden dabei nicht nur der formale Verständigungsakt selbst,<br />

sondern auch die auf eine Verständigung abzielenden Vorgespräche. Die Gewährleistung einer "vollumfänglichen"<br />

Kontrolle verständigungsbasierter Urteile setzt umfassende Transparenz des Verständigungsgeschehens in der öffentlichen<br />

Hauptverhandlung voraus. Die Mitteilungs- <strong>und</strong> Dokumentationspflichten dienen der "Einhegung" der den<br />

zulässigen Inhalt von Verständigungen beschränkenden Vorschriften (BVerfG NJW 2013, 1058 ff, 1064 Rn. 82 <strong>und</strong><br />

1066 Rn. 96). Wenn aber überhaupt keine auf eine Verständigung abzielende Gespräche stattgef<strong>und</strong>en haben, ist das<br />

Regelungskonzept des § 257c StPO nicht tangiert. Soweit die Gesetzesmaterialien zur Änderung des § 78 Abs. 2<br />

OWiG (BT-Drucks. 16/12310 S. 16) darauf hindeuten, § 243 Abs. 4 StPO habe die Pflicht statuieren sollen, auch<br />

eine Nichterörterung mitzuteilen, hat dies im Gesetzestext letztlich keinen Ausdruck gef<strong>und</strong>en. Entgegen Frister (in<br />

SK-StPO 4. Aufl., § 243 Rn. 43) geht der Senat nicht davon aus, dass dies auf einem bloßen Redaktionsversehen des<br />

Gesetzgebers beruht. Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom<br />

19. März 2013 (aaO). Zwar führt das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht - ohne auf den entgegenstehenden Wortlaut des §<br />

243 Abs. 4 Satz 1 StPO einzugehen - aus, wenn zweifelsfrei feststehe, dass überhaupt keine Verständigungsgespräche<br />

stattgef<strong>und</strong>en haben, könne ausnahmsweise (lediglich) ein Beruhen des Urteils auf dem Unterbleiben einer Mitteilung<br />

nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO ausgeschlossen werden (BVerfG aaO, S. 1067 Rn. 98; so auch in einem obiter<br />

dictum BGH, Beschluss vom 22. Mai 2013 - 4 StR 121/13). Gleichzeitig betont das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht jedoch,<br />

dass die Mitteilungspflicht nur dann eingreift, wenn bei im Vorfeld oder neben der Hauptverhandlung geführten<br />

Gesprächen ausdrücklich oder konkludent die Möglichkeit <strong>und</strong> die Umstände einer Verständigung im Raum<br />

standen (BVerfG aaO, S. 1065 Rn. 85 unter Hinweis auf BT-Drucks. 16/12310 S. 12 <strong>und</strong> auf BGH, Beschluss vom<br />

5. Oktober 2010 - 3 StR 287/10). Die Annahme des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts, beim Fehlen von Vorgesprächen<br />

entfalle das Beruhen des Urteils auf dem Fehlen einer Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO ist daher einfachrechtlich<br />

nicht schlüssig, da nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift in diesem Fall bereits kein Rechtsfehler<br />

vorliegt. Nach alledem bedarf es einer Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO nicht, wenn überhaupt keine oder<br />

nur solche Gespräche stattgef<strong>und</strong>en haben, die dem Regelungskonzept des Verständigungsgesetzes vorgelagert <strong>und</strong><br />

von ihm nicht betroffen sind; das "Ob" der Handlung steht unter dem Vorbehalt des "Wenn". Soweit das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht<br />

den Begriff "Negativmitteilung" verwendet hat, bezieht sich dieser nur auf gescheiterte Gespräche<br />

(BVerfG aaO, S. 1067 Rn. 98 unter Bezugnahme auf BGH, Beschluss vom 5. Oktober 2010 - 3 StR 287/10).<br />

b) Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> muss ein Revisionsführer, der eine Verletzung des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO rügen will, -<br />

gegebenenfalls nach Einholung von Erk<strong>und</strong>igungen beim Instanzverteidiger (vgl. Meyer-Goßner, aaO, § 344 Rn. 22<br />

mwN) - bestimmt behaupten <strong>und</strong> konkret darlegen, in welchem Verfahrensstadium, in welcher Form <strong>und</strong> mit welchem<br />

Inhalt Gespräche stattgef<strong>und</strong>en haben, die auf eine Verständigung abzielten (vgl. BGHSt 56, 3). Denn das<br />

bloße Fehlen einer Mitteilung reicht nach dem oben Ausgeführten nicht aus, um einen - vom Revisionsführer darzulegenden<br />

- Rechtsfehler zu begründen. An einem solchen Vortrag fehlt es vorliegend, was gemäß § 344 Abs. 2 StPO<br />

zur Unzulässigkeit der Verfahrensrüge führt.<br />

II. Auf die Sachrüge hin war das Urteil in Fall II. 2 c der Urteilsgründe aufzuheben, weil das Landgericht seiner<br />

Prüfung eines Rücktritts vom Versuch des schweren sexuellen Missbrauchs in diesem Fall einen unzutreffenden<br />

Maßstab zugr<strong>und</strong>e gelegt hat.<br />

1. Insoweit hat das Landgericht festgestellt, der Angeklagte habe die Geschädigte aufgefordert, den Oralverkehr an<br />

ihm auszuüben. Dies habe sie abgelehnt. Der Angeklagte habe sie ein weiteres Mal zum Oralverkehr aufgefordert.<br />

Als sie dieses Ansinnen erneut zurückwies, habe er erkannt, "dass ihm auf Gr<strong>und</strong> der Weigerung der Zeugin L. sowie<br />

mangels zur Verfügung stehender Möglichkeiten zur Einflussnahme auf die Zeugin in seinem Sinne - etwa durch<br />

weiteres Zureden <strong>und</strong>/oder Versprechungen zur Duldung des Oralverkehrs - sowie auf Gr<strong>und</strong> der von ihm abgelehnten<br />

Anwendung von Gewalt eine Vollendung nicht mehr möglich war" (UA S. 11). Er habe daher von seinem Vorhaben<br />

abgelassen, habe masturbiert <strong>und</strong> schließlich auf die Oberbekleidung des Mädchens ejakuliert. Das Landgericht<br />

hat den Angeklagten insoweit wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit versuchtem sexuellen<br />

Missbrauch von Kindern verurteilt. Einen Rücktritt vom Versuch der Qualifikation des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB<br />

hat es mit der Begründung abgelehnt, der Angeklagte habe in der konkreten Situation keine Möglichkeit mehr gesehen,<br />

sein Ziel, den Oralverkehr durch das Kind an ihm ausüben zu lassen, noch zu erreichen. Dies beruhe "auf den<br />

geständigen, den Feststellungen entsprechenden Angaben des Angeklagten, der insbesondere abgestritten hat, Gewalt<br />

… angewandt zu haben oder … zu irgendeinem Zeitpunkt anwenden zu wollen" (UA S. 13).<br />

- 272 -


2. Diese Würdigung begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Der Angeklagte war im Fall II. 2 c der Urteilsgründe<br />

wegen sexueller Nötigung unter Anwendung von Gewalt (§ 177 Abs. 1 Nr. 1) angeklagt. Dies konnte ihm<br />

nach den Ausführungen des Landgerichts nicht nachgewiesen werden, denn "dem Angeklagten, der jegliche Gewaltanwendung<br />

abgestritten hat, war seine diesbezügliche Einlassung nicht zu widerlegen" (UA S. 16). Die Begründung<br />

für einen Fehlschlag des Versuchs der Qualifikation nach § 176a StGB ist insoweit rechtsfehlerhaft, als der Gesichtspunkt<br />

der Gewalt für diesen Tatbestand keine Rolle spielt; § 176a Abs. 1 Nr. 1 setzt ein Nötigungsmittel nicht<br />

voraus. Die Ausführung, der Angeklagte habe eine Vollendung nicht mehr für möglich gehalten, "insbesondere" weil<br />

er den Einsatz von Gewalt ablehnte, ist daher fehlerhaft <strong>und</strong> zeigt, dass das Landgericht insoweit von einem unzutreffenden<br />

rechtlichen Maßstab ausgegangen ist. Im Übrigen wäre - vor dem Hintergr<strong>und</strong> der Ausführungen zur<br />

angeklagten sexuellen Nötigung - zu erörtern gewesen, dass die Einlassung des Angeklagten, den Einsatz von Gewalt<br />

nicht in Erwägung gezogen zu haben, ersichtlich der Verteidigung gegen den Vorwurf der Gewaltnötigung<br />

diente; in der Argumentation des Landgerichts wird diese Einlassung hingegen zum Hauptargument ("insbesondere")<br />

gegen einen Rücktritt vom Qualifikationsversuch ohne Gewalt. Der Senat kann auf Gr<strong>und</strong>lage dieser Urteilsausführungen<br />

nicht ausschließen, dass der Entscheidung insgesamt ein fehlerhafter Maßstab für die Frage zugr<strong>und</strong>e liegt,<br />

unter welchen Voraussetzungen der Angeklagte hier freiwillig vom Versuch des Oralverkehrs zurücktreten konnte.<br />

Der Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Falls II. 2 c insgesamt. Damit ist auch dem Gesamtstrafenausspruch die<br />

Gr<strong>und</strong>lage entzogen.<br />

StPO §§ 257c; 261, 267 Abs. 3 Satz 5 Deal zu Lasten Dritter<br />

BGH, Beschl. v. 06.03.2013 – 5 StR 423/12 - NJW 2013, 1316<br />

LS: Verfahrensrechtliche Beanstandung mangelnder Berücksichtigung einem Mitangeklagten im<br />

Rahmen von Verständigungsgesprächen erteilter Rechtsfolgenprognosen bei der Würdigung von<br />

dessen belastenden Angaben (im Anschluss an BGHSt 48, 161; 52, 78).<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 6. Dezember 2011 wird nach § 349<br />

Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.<br />

G r ü n d e<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten N. wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in<br />

zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren <strong>und</strong> zehn Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete,<br />

auf eine Verfahrensrüge <strong>und</strong> auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten ist im Sinne des § 349 Abs. 2<br />

StPO unbegründet.<br />

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts verabredeten der Angeklagte <strong>und</strong> der Mitangeklagte T. mit einem türkischen<br />

Heroinlieferanten den Transport von 75 kg Heroin von Istanbul nach Berlin. Als Gegenleistung für den Transport<br />

sollten der Angeklagte <strong>und</strong> T. 2.000 € je Kilogramm erhalten. Entsprechend der zuvor mit dem Lieferanten<br />

getroffenen Absprache wurde das Heroin in einen von T. eigens für Rauschgifttransporte angeschafften Jeep eingebaut.<br />

Anschließend übergab der Angeklagte den Jeep absprachegemäß an eine Bekannte des Mitangeklagten, die das<br />

Heroin als Kurierfahrerin nach Berlin bringen sollte. Bei einer Routinekontrolle an der türkisch-bulgarischen Grenze<br />

wurde das Rauschgift von bulgarischen Beamten entdeckt <strong>und</strong> sichergestellt. Nach einem erfolgreich durchgeführten,<br />

indes nicht verfahrensgegenständlichen Geschäft mit einer Menge von 6 ½ kg Heroin, die der Angeklagte mit<br />

anderen Mittätern in Italien erworben hatte <strong>und</strong> in Berlin verkaufen ließ, bemühten sich der Angeklagte <strong>und</strong> der<br />

Mitangeklagte intensiv bei verschiedenen potentiellen Lieferanten um den Erwerb größerer Mengen (mindestens<br />

etwa 30 kg) Kokain. Da sich hierbei lediglich die Möglichkeit einer Lieferung gegen sofortige Bezahlung abzeichnete,<br />

versuchten T. <strong>und</strong> der Angeklagte auf verschiedenen Wegen, Geldgeber zu gewinnen. Einer der potentiellen<br />

Geldgeber, bei dem es sich um eine Vertrauensperson des B<strong>und</strong>eskriminalamts handelte, stellte konkret die Bereitstellung<br />

einer erheblichen Summe in Aussicht. Schließlich kündigte der Angeklagte einem in Paris lebenden Fre<strong>und</strong>,<br />

der in Kontakt zu einem Lieferanten stand, den Erhalt des Geldes binnen einer Woche an <strong>und</strong> forderte ihn auf, für die<br />

Lieferung zu sorgen. Diesen Termin mussten die Angeklagten jedoch kurzfristig absagen, weil sie bis zu diesem<br />

Zeitpunkt – wie auch in der Folgezeit – keinerlei Geld hatten beschaffen können, so dass das Kokaingeschäft letztlich<br />

scheiterte.<br />

- 273 -


2. Der Erörterung bedarf nur die mit der Verfahrensrüge erhobene Beanstandung, das Landgericht habe die mehrfach<br />

gescheiterten Verständigungsgespräche <strong>und</strong> insbesondere den dem Mitangeklagten T. unterbreiteten Verständigungsvorschlag<br />

nicht mitgeteilt. Das Landgericht habe „eine als Strafrahmenobergrenze genannte Prognose gestellt<br />

<strong>und</strong> durchgehalten“, so dass § 267 Abs. 3 Satz 5 StPO aus Gründen der Transparenz entsprechend hätte zur Anwendung<br />

kommen müssen. Das Unterlassen habe möglichen Einfluss auf die Beweiswürdigung.<br />

a) Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugr<strong>und</strong>e: Nachdem sich der Mitangeklagte T. bereits im Ermittlungsverfahren<br />

geständig eingelassen hatte, kam es im Zwischenverfahren zu einem Verständigungsgespräch der<br />

Verfahrensbeteiligten mit der Strafkammer, in dem die Staatsanwaltschaft ihre Strafvorstellungen zu erkennen gab.<br />

Für den Angeklagten N. beliefen sich diese für den Fall eines Geständnisses ohne Aufklärungshilfe auf zwölf bis<br />

dreizehn Jahre, für den Mitangeklagten T. wegen der bereits geleisteten Aufklärungshilfe auf sieben bis acht Jahre<br />

Freiheitsstrafe. Im Falle noch zu leistender Aufklärungshilfe wurde für N. eine Freiheitsstrafe von etwa zehn Jahren<br />

in Aussicht gestellt. Zudem wurde vereinbart, dass eine etwa nach der Eröffnung geleistete Aufklärungshilfe im<br />

Ergebnis wie eine solche vor Eröffnung behandelt werden solle. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens erklärte der<br />

Verteidiger des Mitangeklagten T. gegenüber der Staatsanwaltschaft, sein Mandant hoffe, sich durch seine weitere<br />

Aussagebereitschaft eine Freiheitsstrafe „mit einer Vier vor dem Komma“ zu verdienen, die eine Vollstreckung im<br />

offenen Vollzug <strong>und</strong> eine etwaige Haftverschonung am Ende der Hauptverhandlung ermögliche. Der Staatsanwalt<br />

äußerte hierzu, im Falle weiterführender Angaben sehe er noch Raum für eine Absenkung der indes bereits sehr<br />

milde bemessenen ursprünglichen Strafvorstellungen, die erhoffte „Vier vor dem Komma“ sehe er aber skeptisch;<br />

Zusagen zur Haftfrage lehnte er ab. Daraufhin erfolgte wenige Tage später eine erneute polizeiliche Vernehmung des<br />

Mitangeklagten, in der dieser unter anderem Aufklärungshilfe hinsichtlich anderer Personen aus dem Drogenmilieu<br />

leistete. Nach einer Vielzahl von Verhandlungstagen fand vor einem weiteren Hauptverhandlungstermin erneut ein<br />

Rechtsgespräch zwischen der Strafkammer <strong>und</strong> den Verfahrensbeteiligten statt. In diesem stellte die Strafkammer für<br />

den Fall von Geständnissen eine Beschränkung des Schuldspruchs auf die Lieferung der 75 kg Heroin sowie eine<br />

Vorgehensweise gemäß § 154a StPO in Aussicht, nach der die Verwendung einer Waffe „rechtlich <strong>und</strong> tatsächlich“<br />

<strong>und</strong> eine bandenmäßige Begehungsweise „als rechtlicher Gesichtspunkt“ ausgeschieden werden sollten. Zudem<br />

wurden an der bisherigen Einlassung des T. orientierte konkrete Vorgaben zum Inhalt der abzulegenden Geständnisse<br />

gemacht. Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage wurde für T. eine Strafobergrenze von r<strong>und</strong> sechs Jahren Freiheitsstrafe angekündigt,<br />

für den Angeklagten N. eine solche von acht Jahren <strong>und</strong> neun Monaten. Über dieses Gespräch fertigte der Vorsitzende<br />

einen Vermerk, der im folgenden Hauptverhandlungstermin den Beteiligten im Rahmen eines erneuten<br />

Rechtsgesprächs ausgehändigt wurde. Nachdem in einem weiteren Termin der Verteidiger des Beschwerdeführers<br />

den Vorschlag abgelehnt hatte, gab die Strafkammer bekannt, dass sie sich für den Angeklagten N. an eine vorgeschlagene<br />

Strafobergrenze nicht mehr geb<strong>und</strong>en fühle. Nach Fortführung der Verhandlung erfolgten in einem mehrere<br />

Monate später stattfindenden Hauptverhandlungstermin erneute Verständigungsgespräche, nach denen die Erwartungen<br />

an den Inhalt der abzulegenden Geständnisse weiter reduziert <strong>und</strong> Strafobergrenzen von jeweils vier Jahren<br />

<strong>und</strong> neun Monaten für den Mitangeklagten T. <strong>und</strong> von sechs Jahren <strong>und</strong> neun Monaten für den Angeklagten N. angekündigt<br />

wurden. Ferner prognostizierte die Strafkammer außerhalb einer Verständigung, dass bei deren Durchführung<br />

den Angeklagten mit Urteilserlass Haftverschonung gewährt werden könne. Am selben Tag rief der Verteidiger<br />

des Mitangeklagten T. den Vorsitzenden an <strong>und</strong> erklärte diesem, sein Mandant habe sich über den Verständigungsvorschlag<br />

erfreut gezeigt. Im Falle eines entsprechenden Urteils werde dieser auf Rechtsmittel verzichten; nach Abtrennung<br />

stünde er als Zeuge zur Verfügung. Nachdem die Staatsanwaltschaft den Verständigungsvorschlag außerhalb<br />

der Hauptverhandlung schriftlich abgelehnt hatte, erklärte der Vorsitzende in einem späteren Verhandlungstermin,<br />

dass sich die Kammer an den Vorschlag nicht mehr geb<strong>und</strong>en sehe, nachdem N. nicht darauf eingegangen sei<br />

<strong>und</strong> die Staatsanwaltschaft die vorgeschlagene Verständigung ausdrücklich ablehne. In Bezug auf T. stellte er indessen<br />

klar, dass die Kammer zwar formell ebenfalls nicht an ihren letzten Vorschlag geb<strong>und</strong>en sei, nachdem die Staatsanwaltschaft<br />

auch insoweit den Strafvorschlag abgelehnt habe, dass ihre Prognose aber weiterhin den genannten<br />

Rahmen (Strafobergrenze von r<strong>und</strong> vier Jahren <strong>und</strong> neun Monaten) nicht überschreite. Der Mitangeklagte T. wiederholte<br />

<strong>und</strong> ergänzte im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung seine unter anderem den Beschwerdeführer belastenden<br />

Angaben.<br />

b) Die Rüge ist letztlich unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt begründet.<br />

aa) Eine entsprechende Anwendung des § 267 Abs. 3 Satz 5 StPO auf nicht zustande gekommene oder informelle<br />

Absprachen kommt nicht in Betracht.<br />

- 274 -


(1) Nach dem Wortlaut der Vorschrift ist diese nur auf Fälle anwendbar, in denen dem Urteil eine Verständigung –<br />

<strong>und</strong> nicht nur ein Verständigungsversuch – vorangegangen ist. Die Beschränkung des Anwendungsbereichs der<br />

Norm auf Fälle tatsächlich zustande gekommener Verständigungen kann auch nicht als planwidrige Regelungslücke<br />

angesehen werden, weil einem Verständigungsversuch – namentlich, sofern es um die Verständigung mit dem jeweiligen<br />

Revisionsführer selbst geht – regelmäßig nicht die gleiche Bedeutung zukommt wie einer zustande gekommenen<br />

Verständigung, die zumeist Gr<strong>und</strong>lage des Prozessverhaltens der Beteiligten <strong>und</strong> der verhängten Rechtsfolge ist.<br />

Gegen eine derartige Ausweitung der Vorschrift des § 267 Abs. 3 Satz 5 StPO spricht auch der Umstand, dass sich<br />

hierdurch Unklarheiten über ihren Anwendungsbereich ergäben. Abgesehen davon läge ein Beruhen des Urteils auf<br />

einem unterstellten Verstoß gegen die Vorschrift des § 267 Abs. 3 Satz 5 StPO, die der Transparenz des Verständigungsverfahrens<br />

dient, fern (vgl. BGH, Beschluss vom 19. August 2010 – 3 StR 226/10, StV 2011, 76).<br />

(2) Eine womöglich zu einer erweiternden Beurteilung der Beruhensfrage führende Auslegung der Vorschrift, wonach<br />

auch Inhalt <strong>und</strong> Zustandekommen der Verständigung darzulegen wären, kommt nicht in Betracht. Sie ist entgegen<br />

der Ansicht der Revision nicht im Hinblick auf die mit der Einführung des § 267 Abs. 3 Satz 5 StPO verfolgte –<br />

indes letztlich nur sehr formal gewährte – Transparenz <strong>und</strong> die Ermöglichung einer effektiven revisionsgerichtlichen<br />

Kontrolle (vgl. BT-Drucks. 16/12310, S. 9, 15) geboten. Sofern Inhalt <strong>und</strong> Begleitumstände einer Verständigung –<br />

wie etwa bei einer Verständigung mit einem Mitangeklagten – für die Beweiswürdigung relevant sein können, ergibt<br />

sich die Notwendigkeit einer Berücksichtigung in der Hauptverhandlung stattgef<strong>und</strong>ener Verständigungsgespräche<br />

bereits aus § 261 StPO. Fehlt es an einer entsprechenden Erörterung in den Urteilsgründen, ist demgemäß die Inbegriffsrüge<br />

eröffnet. Finden Verständigungsbemühungen außerhalb der Hauptverhandlung statt <strong>und</strong> werden diese trotz<br />

sich aufdrängender Relevanz für die Beweisführung nicht in die Beweisaufnahme eingeführt, kann dies mit der Aufklärungsrüge<br />

gemäß § 244 Abs. 2 StPO geltend gemacht werden. Die Vorschrift des § 267 Abs. 3 Satz 5 StPO wäre<br />

für den revisionsrechtlichen Schutz eines Angeklagten, der von einem Mitbeschuldigten im Rahmen einer mit diesem<br />

getroffenen Verfahrensabsprache belastet wird, mangels Anwendbarkeit der Norm auf Fälle gesonderter Aburteilung<br />

des von der Absprache betroffenen Mittäters von vornherein nur eingeschränkt geeignet.<br />

bb) Entsprechend der im letztgenannten Sinn geführten Stoßrichtung der Revision liegt aber eine verfahrensrechtlich<br />

zulässig gerügte Verletzung des § 261 StPO vor. Die Strafkammer hat sich im Rahmen der Beweiswürdigung nicht<br />

nur nicht ausdrücklich mit den Auswirkungen der Verständigungsversuche auf die Glaubhaftigkeit der eine wesentliche<br />

Gr<strong>und</strong>lage der Verurteilung bildenden Angaben des Mitangeklagten T. auseinandergesetzt, sondern diese Umstände<br />

im Urteil nicht einmal erwähnt, obwohl die Verständigungsbemühungen jedenfalls zu einem erheblichen Teil<br />

Gegenstand der Hauptverhandlung waren. Bei der Verurteilung eines Angeklagten aufgr<strong>und</strong> des Geständnisses eines<br />

Mitangeklagten, das Gegenstand einer verfahrensbeendenden Absprache war, muss die Glaubhaftigkeit dieses Geständnisses<br />

aber in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise gewürdigt werden. Dazu gehört insbesondere<br />

die Erörterung von Zustandekommen <strong>und</strong> Inhalt der Absprache. Denn bei dieser Sachlage besteht auch die Gefahr,<br />

dass der Mitangeklagte den Nichtgeständigen zu Unrecht belastet, weil er sich dadurch für die eigene Verteidigung<br />

Vorteile verspricht. In einem solchen Fall hat das Tatgericht das Geständnis des anderen Angeklagten kritisch zu<br />

würdigen. Maßgeblich für die Bewertung ist die Entstehungs- <strong>und</strong> Entwicklungsgeschichte des Geständnisses. Dies<br />

schließt auch das Zustandekommen, den Inhalt, einschließlich der Zusagen der Staatsanwaltschaft zur Anwendung<br />

von § 154 StPO (auch betreffend nicht zur eigentlichen Hauptverhandlung gehörende Verfahrensgegenstände) oder §<br />

154a StPO, <strong>und</strong> gegebenenfalls das Scheitern einer verfahrensbeendenden Absprache ein (vgl. BGH, Beschluss vom<br />

6. November 2007 – 1 StR 370/07, BGHSt 52, 78 mwN).<br />

cc) Auf dem Verfahrensverstoß beruht das Urteil jedoch nicht. Zwar sind sowohl die anfangs geführten Verständigungsgespräche<br />

als auch der letzte Verständigungsvorschlag der Strafkammer <strong>und</strong> die nach dem Scheitern der Absprache<br />

abgegebene Erklärung, dass ihre Prognose der gegen den Mitangeklagten T. zu verhängenden Strafe die in<br />

Aussicht gestellten vier Jahre <strong>und</strong> neun Monate weiterhin nicht überschreite, wegen der mit ihnen verb<strong>und</strong>enen<br />

Hoffnung des Mitangeklagten auf eine mildere Bestrafung gr<strong>und</strong>sätzlich geeignet, ein Motiv für eine Falschbelastung<br />

darzustellen. Auch ist T. nach dem Verständigungsangebot zu seinen früheren, den Beschwerdeführer belastenden<br />

Angaben zurückgekehrt, die er zwischenzeitlich in einigen Teilen revidiert hatte; darüber hinaus hat er diesen<br />

betreffend einige zusätzliche Umstände offengelegt. Damit bestand in erheblichem Maße Anlass, der Frage besonders<br />

nachzugehen, ob sich der geständige Mitangeklagte, der sich durch sein Geständnis ersichtlich eigene Vorteile<br />

verschaffen wollte, zu diesem Zweck etwa nicht zutreffend eingelassen haben könnte (vgl. BGH aaO sowie Beschluss<br />

vom 15. Januar 2003 – 1 StR 464/02, BGHSt 48, 161). Wenngleich sich die Strafkammer mit diesem sich<br />

aus den Verständigungsgesprächen ergebenden Falschbelastungsmotiv in den Urteilsgründen nicht ausdrücklich<br />

- 275 -


auseinandersetzt, erörtert sie jedoch eingehend mögliche Gründe, die T. zu einer unwahren Belastung des Beschwerdeführers<br />

veranlasst haben könnten. Insbesondere hat sie ausdrücklich die Möglichkeit erwogen, T. könne den Angeklagten<br />

wegen der Aussicht auf eine mildere Bestrafung gemäß § 31 BtMG, § 46b StGB infolge geleisteter Aufklärungshilfe<br />

zu Unrecht belastet haben; dies hat sie mit schlüssiger Begründung verneint. Das auf diese Weise in die<br />

Beweiswürdigung eingestellte Falschbelastungsmotiv deckt sich im Kern mit demjenigen, das sich aus den Verständigungsgesprächen<br />

ergibt. Denn auch insoweit geht es um nichts anderes als um die Aussicht auf eine mildere Bestrafung,<br />

die allerdings durch die Strafmaßprognose des Landgerichts eine zusätzliche Konkretisierung erfahren hat.<br />

Dafür, dass deren gesonderte Erörterung die Überzeugung der Strafkammer von der Täterschaft des Beschwerdeführers<br />

durchgreifend in Frage gestellt hätte, sind indessen keine Anhaltspunkte ersichtlich. Die in den Urteilsgründen<br />

genannten maßgeblichen Argumente – der Mitangeklagte habe eine realistische Möglichkeit ungenutzt gelassen, die<br />

Falschbelastung auf breiter Front auszubauen, er habe sich selbst erheblich belastet <strong>und</strong> zugleich den Beschwerdeführer<br />

entlastet, indem er bekannt habe, dass er diesen dazu gebracht habe, in den Drogenhandel einzusteigen, <strong>und</strong><br />

dass der Angeklagte sich im Laufe des Jahres 2009 aus weiteren Planungen zurückgezogen habe – lassen die Beweiswürdigung<br />

des Landgerichts als hochgradig nachvollziehbar erscheinen. Auch mit den Schwankungen im Aussageverhalten<br />

des Mitangeklagten hat sich die Strafkammer auseinandergesetzt <strong>und</strong> diese in revisionsrechtlich nicht<br />

zu beanstandender Weise erklärt. Entscheidend fällt zudem ins Gewicht, dass seine Angaben – wie sich aus der sehr<br />

ausführlichen Beweiswürdigung ergibt – durch zahlreiche weitere Indizien, insbesondere die Protokolle der Telekommunikationsüberwachung,<br />

sowie darüber hinaus durch gravierende Widersprüche in der Einlassung des Revisionsführers<br />

<strong>und</strong> durch deren Unvereinbarkeit mit Zeugenaussagen gestützt werden. Das Landgericht hat insoweit<br />

eingehend die wechselseitigen Bezüge der verschiedenen Anhaltspunkte dargelegt <strong>und</strong> sich mit allen Einzelheiten<br />

der Einlassung des Angeklagten sowie mit in Betracht kommenden Alternativerklärungen für die sich aus den Telefongesprächsprotokollen<br />

ergebenden Äußerungen auseinandergesetzt. Hierbei hat es nachvollziehbar dargelegt,<br />

weshalb danach zu ihrer Überzeugung ein von den auf den Angaben des Mitangeklagten beruhenden Feststellungen<br />

abweichender Geschehensablauf ausscheidet. Insgesamt wird die Würdigung des Landgerichts demgemäß durch den<br />

Mangel einer ausdrücklichen Erörterung der gescheiterten Verfahrensabsprache in der Gedankenführung nicht maßgeblich<br />

beeinflusst <strong>und</strong> in ihrer Gewichtung der gegenläufigen Gesichtspunkte auch nicht etwa derart nachhaltig<br />

verschoben, dass sie im Ergebnis durch die unvollständige Auswertung relevanten Verfahrensgeschehens durchgreifend<br />

in Frage zu stellen wäre.<br />

StPO §§ 302 Abs. 1 S. 2, 257 c – Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts nach informeller Verständigung<br />

OLG München, Beschl v. 31.05.2013 – 1 Ws 469/13- StV 2013, 493<br />

Leitsatz:<br />

1. § 302 Abs. 1 S. 2 StPO gilt auch - erst recht – für informelle Verständigungen.<br />

2. Zu den Voraussetzungen <strong>und</strong> zum Nachweis einer informellen Verständigung.<br />

Aus den Gründen: I. Der Bf. wendet sich gegen den Beschluss des LG- ]ugK- Traunstein v. 24.04.2013, mit dem<br />

seine Berufung gegen das Urt. des AG-]ugSchöG- Traunstein v. 30.01.2013<br />

als unzulässig verworfen worden ist. Dem liegt das Folgende zugr<strong>und</strong>e:Dem Bf. liegt zur Last, als Mitglied einer<br />

litauischen Bande, die in Deutschland lebenden Menschen durch »Schockanrufe« Geld entlocke, <strong>und</strong> in der Absicht,<br />

sich eine Einnahmequelle von einigem Umfang <strong>und</strong> einiger Dauer zu verschaffen, am 02.05.2012 den Mitangekl. B.<br />

zur Geschädigten W. in Traunstein gefahren zu haben. Die Geschädigte habe dann dem Mitangekl. Insgesamt<br />

10.000,- Euro in bar übergeben, nachdem ihr durch »Schockanruf


es interessiert sie nicht, dass ich nicht wusste, warum ich diese Person « -den Mitangekl. -»fuhr, ich wurde zum Mittäter<br />

<strong>und</strong> das war's. Nur eins verstehe ich nicht, warum die Polizisten behaupten, dass angeblich 5 Personen die Menschen<br />

betrogen haben, unter denen auch ich. Angeblich haben sie 6 Wochen lang den Telefonanschluss abgehört ( ...<br />

). Nun verstehe ich nicht, was ich damit zu tun habe, ich war doch in der Zeit nicht in Deutschland. Und sie wollen<br />

mir anhängen, dass ich ein Mitglied einer Bande bin, <strong>und</strong> lassen außer Acht, dass ich nichts gemacht habe, <strong>und</strong> wollen<br />

mir 5 Fälle anhängen. ( ... ) Wenn diese Person, die ich gefahren habe«- der Mitangekl. - »mir gesagt hätte, dass<br />

er wegen solcher Sachen fährt« scil. den Betrügereien durch »Schockanrufe« -, »dann hätte ich ihn mit Gewissheit<br />

nicht gefahren. Ich weiß aber nicht, was diese Person sagt, wenn er die Wahrheit sagen wird, dann ist es gut ( ... ).<br />

Aber der Anwalt hat mir gesagt, dass ich mir nicht zu viele Hoffnungen machen soll, weil diese Person mit Gewissheit<br />

nicht die Wahrheit sagen <strong>und</strong> versuchen wird, die Schuld von sich auf mich zu schieben.«<br />

In der Anklageschrift der StA Traunstein v. 28.08.2012 heißt es, der Bf. sei nur hinsichtlich des äußeren Sachverhalts<br />

- dass er Fahrer gewesen sei - geständig. Er lasse sich dahingehend ein, er habe zu Verwandten nach Italien fahren<br />

wollen <strong>und</strong> lediglich Mitfahrgelegenheiten angeboten. Auf diese Weise habe er den Mitangekl. B. zufällig kennengelernt.<br />

Das werde aber durch die ausgewerteten T eiefangespräche <strong>und</strong> Kurznachrichten widerlegt. Es bestehe in vier<br />

anderweitig verfolgten weiteren Fällen mit demselben modus operandi dringender Tatverdacht gegen die Angekl.<br />

Hinsichtlich dieser vier weiteren Fälle hat der Wahlverteidiger des Bf., RA E.-B., am 21.01.2013 Auskünfte der laut<br />

Anklageschrift verfahrensführenden StA vorgelegt, wonach gegen den Bf. Mit Stand Januar 2013 keine Ermittlungsverfahren<br />

anhängig oder be:kannt sind.<br />

Kurz vor Beginn der Hauptverhandlung, die am 30.01.2013 um 09 Uhr 00 begann, fand im Dienstzimmer des Vors.,<br />

Richter am AG X., ein Treffen statt, an dem der Vors., der Sitzungsvertreter der StA [ ... ],<strong>und</strong> die Pflichtverteidiger<br />

teilnahmen. In unmittelbarem Anschluss hieran fanden im Verteidigerzimmer Einzelgespräche zwischen den Pflichtverteidigern<br />

<strong>und</strong> ihren jeweiligen Angekl. statt.<br />

Die Hauptverhandlung, die ins Litauische gedolmetscht wurde, dauerte bis 11 Uhr 00. Das Hauptverhandlungsprotokoll<br />

enthält nichts zu einer Verständigung (§ 273 Abs. 1a S. 1 StPO), auch nicht den Vermerk, dass eine Verständigung<br />

nicht stattgef<strong>und</strong>en hat (§ 273 Abs. 1a S. 3 StPO). Nach Verlesung des Anklagesatzes erklärten die Angekl.:<br />

»Wir machen Angaben.« Der Pflichtverteidiger des Bf. gab dann die Erklärung ab, dass die angeklagte Tat »von<br />

meinem Mandanten, so wie sie in der Anklage beschrieben ist, verübt« worden sei, <strong>und</strong> erklärte weiterhin: »Er ist<br />

mit dem Mitangekl. mit dem Auto unterwegs gewesen, es wurde eine Adresse bekannt gegeben, wohin sie sich begeben<br />

sollten. Mein Mandant hat das Fahrzeug gesteuert, er blieb im Auto zurück, als der Mitangekl. zur bekannten<br />

Anschrift ging. Danach kam Herr B. zurück mit einer größeren Menge Geld. Später wurde nochmals telefoniert,<br />

wobei dann Herr B. nochmals in das Haus ging. Der Herr B. hatte die gesamte Summe dabei gehabt, wie hoch die<br />

Summe war, wusste mein Mandant nicht, er merkte aber, dass es eine größere Summe war. Danach sind sie zurückgefahren,<br />

mein Mandant hat das Auto gesteuert. Kurz darauf wurden sie von der Polizei festgenommen.« Der Bf.<br />

erklärte dann auf Befragen: »Das stimmt so, ich war der Fahrer des Fahrzeugs. Über die Bezahlung wurde nicht<br />

gesprochen, eine Summe wurde nicht genannt, mir wurde nur aufgetragen, zu fahren.« Daraufhin erklärte der Verteidiger,<br />

»dass weitere Nachfragen vermieden werden sollten«.<br />

Auch der Mitangekl. erklärte zur Sache: »Das stimmt schon so, wie es der Herr L. darstellt, er war nur der Fahrer.<br />

Das weitere stimmt so nicht, ich will dazu aber nichts sagen.« Auf Befragen seines Pflichtverteidigers erklärte der<br />

Mitangekl. dann noch: »Ich wusste aber nicht, warum ich das Geld holen sollte. [ ... ] Ich habe nicht darüber nachgedacht,<br />

dass das Geld unrechtmäßig abgeholt wurde.«<br />

Daraufhin wurde auf die Vernehmung der 3 geladenen Zeugen »im allseitigen Einverständnis« verzichtet, <strong>und</strong> die<br />

Zeugen wurden entlassen. Die folgende Beweisaufnahme beschränkte sich im Wesentlichen auf die Verlesung der<br />

B<strong>und</strong>eszentralregisterauskünfte. Der Vertreter der StA beantragte für die Angekl. jeweils eine unbedingte Freiheitsstrafe<br />

von 3 ]., die Pflichtverteidiger beantragten jeweils eine unbedingte Freiheitsstrafe von 2 J. Das Gericht verurteilte<br />

die Angekl. jeweils wegen gewerbs- <strong>und</strong> bandenmäßigen Betrugs zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 2 J.<br />

6 M. In den schriftlichen Urteilsgründen heißt es: »Beide Angekl. waren geständig. « Nachdem jeweils mündliche<br />

Rechtsmittelbelehrung erteilt <strong>und</strong> übersetzt worden war, erklärten zuerst der Bf. sowie dessen Pflichtverteidiger <strong>und</strong><br />

sodann der Mitangekl. sowie dessen Pflichtverteidiger zum Hauptverhandlungsprotokoll: »Auf Einlegung eines<br />

Rechtsmittels wird verzichtet.«, was ihnen vorgelesen, übersetzt <strong>und</strong> von ihnen genehmigt wurde. Auch der Vertreter<br />

der StA verzichtete bezüglich beider Angekl. auf Rechtsmittel.<br />

Am 01.02.2013 legte der Wahlverteidiger des Bf., der an der Hauptverhandlung nicht teilgenommen hatte, gegen das<br />

Urt. Berufung ein. Der Rechtsmittelverzicht sei unwirksam, da dem Urt. eine informelle Verständigung vorausge-<br />

- 277 -


gangen sei <strong>und</strong> dem Bf. nicht ausreichend Zeit eingeräumt worden sei, um die Rechtsmittelbelehrung zu verstehen<br />

<strong>und</strong> über die Tragweite des Rechtsmittelverzichts nachzudenken. Der Bf. habe Schwierigkeiten gehabt, dem V erfahren<br />

zu folgen <strong>und</strong> es zu verstehen.<br />

Das LG - ]ugK- Traunstein hat daraufhin Stellungnahmen der Beteiligten eingeholt.<br />

Der Vors. hat dienstlich erklärt, eine Verständigung i.S.v. § 257c StPO habe nicht stattgef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> es hätten keine<br />

Anhaltspunkte für Verständigungsprobleme mit dem Bf. bestanden.<br />

Der Sitzungsvertreter der StA hat dienstlich erklärt, kurz vor der Hauptverhandlung habe ein Gespräch im Büro des<br />

Vors. stattgef<strong>und</strong>en, an dem dieser, er, der Sitzungsvertreter, sowie die Pflichtverteidiger teilgenommen hätten. Auf<br />

Frage einer ihm nicht mehr erinnerlichen Person habe er, der Sitzungsvertreter, gesagt, er werde für den Fall einer<br />

Verurteilung nach Anklage eine nicht unerhebliche unbedingte Freiheitsstrafe beantragen. Der Vors. habe gesagt, er<br />

habe für den Fall einer Verurteilung nach Anklage ein Strafmaß von 2 J. <strong>und</strong> 6 M. ins Auge gefasst. Er, der Sitzungsvertreter,<br />

habe erwidert, ein solches Strafmaß sei für die StA akzeptabel. Die beiden Pflichtverteidiger hätten<br />

erklärt, dieses Strafmaß sei für sie ebenfalls akzeptabel <strong>und</strong> sie würden mit ihren Mandanten Rücksprache halten.<br />

Der Pflichtverteidiger des Bf. hat erklärt, der Bf. habe zu keinem Zeitpunkt geäußert, dass er der Verhandlung<br />

sprachlich nicht habe folgen können. Der Bf. habe bereits im Vorfeld der Hauptverhandlung ihm gegenüber erklärt,<br />

er werde sich in der Hauptverhandlung geständig zeigen. Im Hinblick hierauf sei vor der Hauptverhandlung ein »unverbindliches<br />

Rechtsgespräch« mit dem Vors., dem StA <strong>und</strong> dem Verteidiger des weiteren Angekl. geführt worden,<br />

in dem die Bereitschaft des Bf. zur Abgabe eines Geständnisses mitgeteilt <strong>und</strong> das weitere Vorgehen in der Hauptverhandlung<br />

erörtert worden sei. Weder der Vors. noch der StA hätten für den Fall eines Geständnisses eine Strafobergrenze<br />

zugesagt. Der Mitangekl. habe über seinen Verteidiger angekündigt, den Sachverhalt aus der Anklage in<br />

vollem Umfang zu bestreiten. Danach hätten Einzelgespräche der Verteidiger mit den jeweiligen Angekl. stattgef<strong>und</strong>en.<br />

Der Pflichtverteidiger des Bf. habe dessen ausdrückliche Zustimmung zur Abgabe eines Geständnisses i.S.d.<br />

Anklage eingeholt. Dabei habe der Bf. auch seine Bereitschaft zur Erklärung eines Rechtsmittelverzichts in Aussicht<br />

gestellt, falls die Strafe deutlich unterhalb von drei J. Freiheitsstrafe liege.<br />

Der Pflichtverteidiger des Mitangekl. hat erklärt, der Bf. wäre mit einer Verständigung einverstanden gewesen. Sein<br />

Mandant – der Mitangekl. B.- habe sich aber vehement gegen eine Verständigung gesträubt, so dass es zu keiner<br />

Verständigung gekommen sei, auch nicht informell. Erst nach der geständigen Erklärung des Bf. Habe auch sein<br />

Mandant ein Geständnis abgelegt. Der Bf. habe der Hauptverhandlung sehr wohl folgen können.<br />

Mit dem angefochtenen Beschl. v. 24.03.2013 hat das LG-]ugKTraunstein die Berufung kostenfällig als unzulässig<br />

verworfen. Der Rechtsmittelverzicht sei wirksam. Es sei zu keiner Verständigung i.S.v. § 257c StPO gekommen. [<br />

...]<br />

II. Die sofortige Beschwerde ist gern. § 322 Abs. 2 StPO statthaft <strong>und</strong> zulässig, insbes. fristgerecht eingelegt, § 311<br />

Abs. 2 StPO. Sie hat auch in der Sache Erfolg, weil die von dem Bf. eingelegte Berufung statthaft <strong>und</strong> zulässig, insbes.<br />

form- <strong>und</strong> fristgerecht eingelegt worden ist <strong>und</strong> der am 30.01.2012 erklärte Rechtsmittelverzicht des Bf. gern. §<br />

302 Abs. 1 S. 2 StPO unwirksam war.<br />

Der Senat schließt sich der Rechtsauffassung des 2. Strafsenatsdes hiesigen OLG an (Beschl. v. 17.05.2013 - 2 Ws<br />

1149, 150/12, UmdruckS. 15 f. [= StV 2013, 495]), dass § 302 Abs. 1 S. 2 StPO auch - erst recht - für informelle<br />

Verständigungen gilt (ebenso- obiter- OLG Celle, Beschl. v. 27.09.2011 - 1 Ws 381/11, StV 2012, 141, 142, Juris<br />

Rn. 24 ff.; ]ahn!Müller NJW 2009, 2625, 2630; Kudlich, Gutachten zum 68. Deutschen Juristentag, 2010, C 55 f.;<br />

Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 302 Rn. 26c; offengelassen in BGH, Beschl. v. 27.10.2010- 5 StR 419/10, NStZ<br />

2011, 473, Juris Rn. 5). Der in der Lit. vertretenen Gegenauffassung (u.a. Niemöller StV 2012, 387, 388 f.) hat das<br />

BVerfG (Urt. v. 19.03.2013-2 BvR 2628/10, [= StV 2013, 353] Rn. 119) eine Absage erteilt.<br />

In Bezug auf den Bf. ist dem Urt. des AG-]ugSchöG- Traunstein v. 30.01.2013 eine informellen Verständigung zwischen<br />

Gericht, StA, Verteidigung <strong>und</strong> Bf. vorausgegangen, wonach der Bf. Im Falle eines Geständnisses der angeklagten<br />

Tat <strong>und</strong> daraufhin im Wesentlichen entfallender Beweisaufnahme zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 2<br />

J. 6 M. verurteilt werde, wie es dann auch geschehen ist.<br />

Eine informelle Verständigung muss den Fortgang <strong>und</strong> das Ergebnis des Verfahrens betreffen (vgl. § 257c Abs. 1 S.<br />

1 StPO) <strong>und</strong> kommt zustande, wenn StA <strong>und</strong> Angekl. Dem Vorschlag des Gerichts über Fortgang <strong>und</strong> Ergebnis<br />

zustimmen (vgl. § 257cAbs. 3 S. 4 StPO), was bei informellen Verständigungen auch durch schlüssiges Verhalten<br />

möglich ist.<br />

- 278 -


Ob eine solche Verständigung zustande gekommen ist, muss in Verfahren gegen mehrere Angekl. für jeden von<br />

ihnen gesondert <strong>und</strong> freibeweislieh ermittelt werden, wenn das Hauptverhandlungsprotokoll - wie vorliegend - weder<br />

Angaben nach§ 273 Abs. 1a S. 1, 2 StPO noch das »Negativattest « nach§ 273 Abs. 1a S. 3 StPO enthält (siehe nur<br />

OLG Celle a.a.O. Juris Rn. 13 m.w.N.). Neben den Stellungnahmen der Beteiligten ist insbes. zu würdigen, ob der<br />

tatsächliche Ablauf der Hauptverhandlung mit der Annahme einer informellen Verständigung vereinbar ist, was nahe<br />

liegt, wenn deren typisches Bild - Gespräch zwischen Gericht, StA <strong>und</strong> Verteidigung vor bzw. außerhalb der Hauptverhandlung;<br />

mehr oder weniger formales Geständnis des Angekl.; weitgehender Verzicht auf eine Beweisaufnahme;<br />

Rechtsfolgenausspruch wie vom Gericht in Aussicht gestellt; allseitiger Rechtsmittelverzicht noch in der Hauptverhandlung<br />

gegeben ist. Zwar gehen durch Sachaufklärung nicht zu beseitigende Zweifel am Vorliegen von Verfahrenstatsachen<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich zulasten des Angekl.; dieses Risiko der Unaufklärbarkeit des Sachverhalts findet jedoch<br />

dort seine Grenze, wo die Zweifel ihre Ursache in einem Verstoß gegen eine gesetzlich angeordnete Dokumentationspflicht<br />

haben (BVerfG, Beschl. v. 05.03.2012-2 BvR 1464/11, NJW 2012, 1136, 1137, Juris [= StV 2012, 385]<br />

Rn. 26; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 31.07.2012 1 Ws 169/12, NJW 2012, 3193, 3194, Juris [= StV 2012, 656] Rn.<br />

12). Nach diesen Maßstäben ergibt sich vorliegend: Mit seiner kurz vor der Hauptverhandlung in seinem Dienstzimmer<br />

gegenüber dem Sitzungsvertreter der StA <strong>und</strong> den Pflichtverteidigern getätigten Äußerung, er habe für den<br />

Fall einer Verurteilung nach Anklage ein Strafmaß von 2 J. <strong>und</strong> 6 M. ins Auge gefasst, schlug der Vors. schlüssig<br />

vor, eine solche Strafe zu verhängen, wenn die Angekl. ein eine Beweisaufnahme im Wesentlichen erübrigendes<br />

Geständnis ablegen. Allerdings gehen die dienstlichen Stellungnahmen des Vors.<br />

<strong>und</strong> des Sitzungsvertreters der StA nicht darauf ein, ob es -bei dem Gespräch im Dienstzimmer auch um die Frage<br />

eines Geständnisses ging. Jedoch hat der Pflichtverteidiger des Bf. überzeugend dargelegt, das Gespräch sei im Hinblick<br />

auf die vom Bf. bereits bek<strong>und</strong>ete Geständnisbereitschaft geführt worden, was den anderen Beteiligten mitgeteilt<br />

worden sei, woraufhin das weitere Vorgehen in der Hauptverhandlung erörtert worden sei. Weiterhin spricht der<br />

Umstand, dass die Pflichtverteidiger im unmittelbaren Anschluss an das Gespräch Einzelgespräche mit den Angekl.<br />

führten, dafür, dass ein Geständnis Geschäftsgr<strong>und</strong>lage der<br />

vom Vors. in Aussicht gestellten Strafe war. Zwar musste der Vors. selbstverständlich den - mindestens unausgesprochenen<br />

- V erbehalt machen, dass sich die Schöffen - die, so unterstellt der Senat, vom Vors. nicht vorab unterrichtet<br />

worden waren - seinem Strafvorschlag anschlössen. Das steht der Annahme einer informellen Verständigung<br />

aber nicht entgegen, sofern sich die Schöffen - wie hier – im Ergebnis einverstanden erklären.<br />

Mit seiner Äußerung, das ins Auge gefasste Strafmaß sei für die StA akzeptabel, stimmte der Sitzungsvertreter der<br />

Staatsanwaltschaft dem Vorschlag zu. Dem steht nicht entgegen, dass der Sitzungsvertreter im Schlussantrag eine<br />

höhere Strafe, nämlich 3 J. Freiheitsstrafe, beantragt hat. Es ist durchaus üblich, dass Gerichte geringere Strafen als<br />

von der StA beantragt ausurteilen. In der Tat liegt die vorliegend ausgeurteilte Strafe genau in der Mitte zwischen<br />

den Schlussanträgen der StA <strong>und</strong> der Verteidigung, die in ihrem Schlussantrag eine unbedingte Freiheitsstrafe von 2<br />

J. forderte. Dass der Sitzungsvertreter der StA mit der ausgeurteilten Strafe von 2 J. 6 M. rechnete <strong>und</strong> hiermit einverstanden<br />

war, belegt sein Rechtsmittelverzicht noch in der Hauptverhandlung. Entsprechendes gilt für den Pflichtverteidiger.<br />

Der Bf. stimmte dem Vorschlag des Vors. zunächst im Einzelgespräch mit seinem Pflichtverteidiger zu, indem er<br />

diesen zur Abgabe eines Geständnisses i.S.d. Anklage ermächtigte <strong>und</strong> auch Bereitschaft zur Erklärung eines<br />

Rechtsmittelverzichts in Aussicht stellte, falls die Strafe deutlich unterhalb von 3 J. Freiheitsstrafe liege, falls also die<br />

in Aussicht gestellte Strafe verhängt werde. Diese Zustimmung erklärte er sodann schlüssig gegenüber StA <strong>und</strong> Gericht,<br />

indem er seinen Pflichtverteidiger gewähren ließ. [ ... ]<br />

111. Mit der Aufhebung des Verwerfungsbeschlusses nimmt das anhängige Berufungsverfahren seinen Fortgang.<br />

[...]<br />

StPO §§ 302 Abs. 1 S. 2, 257c, 261 – Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts nach informeller<br />

Verständigung <strong>und</strong> Nichtigkeit des Urteils<br />

OLG München, Beschl. v. 17.05.2013 – 2 Ws 1149, 1150/12 – StV 2013, 495 m. Anm. Förscher<br />

LS: Ein Urteil, das auf einer informellen Verständigung außerhalb der hierfür vorgesehenen Regeln<br />

nach § 257c StPO beruht, kann ausnahmsweise dann nicht nur rechtsfehlerhaft, sondern gänzlich<br />

- 279 -


nichtig <strong>und</strong> unwirksam sein, wenn das Gericht über die Außerachtlassung der formellen Offenlegungs-,<br />

Dokumentations-, Hinweis<strong>und</strong> Belehrungspflichten hinaus trotz offensichtlich erforderlicher<br />

weiterer Aufklärung die getroffene Verständigung allein auf der Gr<strong>und</strong>lage der erkennbar<br />

ungenügenden Erklärung des Angeklagten in Urteilsform umsetzt, ohne sich über deren sachliche<br />

Richtigkeit ein »eigenes Urteil« gebildet zu haben. (amtl. Leitsatz) Ein Urteil, das auf einer informellen<br />

Verständigung außerhalb der hierfür vorgesehenen Regeln nach § 257c StPO beruht, kann<br />

ausnahmsweise dann nicht nur rechtsfehlerhaft, sondern gänzlich nichtig <strong>und</strong> unwirksam sein,<br />

wenn das Gericht über die Außerachtlassung der formellen Offenlegungs-, Dokumentations-, Hinweis<strong>und</strong><br />

Belehrungspflichten hinaus trotz offensichtlich erforderlicher weiterer Aufklärung die<br />

getroffene Verständigung allein auf der Gr<strong>und</strong>lage der erkennbar ungenügenden Erklärung des<br />

Angeklagten in Urteilsform umsetzt, ohne sich über deren sachliche Richtigkeit ein »eigenes Urteil«<br />

gebildet zu haben.<br />

Aus den Gründen:<br />

I. Die Staatsanwaltschaft München II erhob geben den Angekl., einen niedergelassenen Neurochirurgen, mit Anklagesehr1ft<br />

v. 21.01.2011 Anklage zum SchöG beim AG Weilheim wegen gewerbsmäßig begangenen Betrugs in 13<br />

Fällen, weil er zwischen August 2005 <strong>und</strong> Juli 2008 für die jeweils vorausgegangenen Quartale gegenüber der Kassenärztlichen<br />

Vereinigung Bayern (künftig: KVB) jeweils bewusst unzutreffende Leistungsabrechnungen eingereicht<br />

<strong>und</strong> hierdurch insgesamt - wie beabsichtigt – unberechtigt 248.054,07 € erlangt haben soll. Zum Nachweis des Vorsatzes<br />

des Angekl., der den Tatvorwurf durch sein Verteidiger insbes. in subjektiver Hinsicht bestritten hatte, verwies<br />

die StA bereits in der Anklageschrift u.a. darauf, dass der Angekl. der KVB bereits wegen vergleichbarer Falschabrechnungen<br />

für die Quartale 4/2002 bis 2/2004 aufgefallen <strong>und</strong> deshalb im Rahmen eines Disziplinarverfahrens verwarnt<br />

worden sei, da damals noch Fahrlässigkeit angenommen wurde. Mit Verteidigerschriftsatz v. 11.02.2011<br />

räumte der Angekl. zwar die objektive Unrichtigkeit seiner Abrechnungen ein <strong>und</strong> verwies auf die bereits erfolgte<br />

Rückzahlung der zu viel erhaltenen Gebühren, bestritt jedoch weiterhin nachdrücklich, vorsätzlich <strong>und</strong> mit Bereicherungsabsicht<br />

gehandelt zu haben, <strong>und</strong> stellte hierzu verschiedene Beweisanträge. Mit Eröffnungsbeschluss v.<br />

28.04.2011 wurde die Anklage der StA unverändert zur Hauptverhandlung vor dem SchöG zugelassen. Gleichzeitig<br />

bestimmte der Vors. Termin zur Hauptverhandlung auf Dienstag, den 24.05.2011, 14.30 Uhr. Die Ladung von Zeugen<br />

wurde nicht angeordnet. In der Hauptverhandlung v. 24.05.2011 verlas der Verteidiger ausweislich des Protokolls<br />

namens <strong>und</strong> im Auftrag des Angekl. folgende als Anlage zum Protokoll gegebene Erklärung: »Die in der Anklageschrift<br />

der StA München II v. 21.01.2011 als Beweismittel bezeichneten Urk<strong>und</strong>en haben mir vorgelegen. Ich<br />

bin die Unterlagen gemeinsam mit meinem Verteidiger durchgegangen, die Berechnungen sind insofern zutreffend.<br />

Ich habe zwar nicht gewusst, dass meine Abrechnung in den Quartalen II/2005 bis II/2008 unrichtig ist, allerdings<br />

hielt ich es für möglich, überhöht abzurechnen «. Anschließend bestätigte der Angekl. ausweislich des Protokolls die<br />

abgegebene Erklärung. Zum angeklagten Sachverhalt weist das Protokoll darüber hinaus lediglich folgende Erklärung<br />

des Verteidigers (auf Fragen des Gerichts) aus: »Zwei Bände IBM (richtig: EBM = Einheitlicher Bewertungsmaßstab),<br />

16.000 Möglichkeiten abzurechnen, er hat sich verheddert. Er sagte sich (,)rechne ich ab. jeder Arzt bekommt<br />

Honorarbescheid <strong>und</strong> Berichtigungsbescheid « Zur unmittelbar anschließend eröffneten Beweisaufnahme<br />

vermerkt das Protokoll lediglich, dass der Vors. festgestellt habe, dass im BZR-Auszug v. 02.05.2011 kein Eintrag<br />

vorhanden sei <strong>und</strong> keine weiteren Fragen gestellt wurden, so dass die Beweisaufnahme geschlossen wurde. Nach<br />

dem Schlusswort des Verteidigers weist das Protokoll noch folgende Erklärung des Angekl. aus: »Es tut mir leid. Ich<br />

fühle mich von (zu ergänzen: der) kassenärztlichen Vereinigung Bayern im Stich gelassen, wegen der Richtigkeitsbescheinigung.<br />

Ich habe mich darauf verlassen. Immer wenn ich eine Bescheinigung bekam <strong>und</strong> etwas richtig gestellt<br />

wurde, habe ich es nicht mehr abgerechnet. Es tut mir furchtbar leid. Ich habe nie absichtlich betrogen. « Nach dem<br />

letzten Wort des Angekl. erging sodann das Urteil, wonach der Angekl. wegen 13 Fällen des Betruges zu einer Gesamtfreiheitsstrafe<br />

von 1 J. <strong>und</strong> 9 M. verurteilt wurde, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Des<br />

Weiteren verkündete der Vors. noch einen Bewährungsbeschluss, wonach die Bewährungszeit auf 3 J. festgesetzt<br />

<strong>und</strong> dem Angekl. auferlegt wurde, binnen 3 M. nach Rechtskraft des Urt. insgesamt 30.000,00 € an 3 im Einzelnen<br />

aufgeführte karitative Organisationen zu bezahlen. Abschließend vermerkt das Protokoll: Eine Rechtsmittelbelehrung<br />

wurde erteilt. Vordruck wurde ausgehändigt. D. Angekl. <strong>und</strong> sein Verteidiger erklärten: »Ich nehme das Urt. an<br />

<strong>und</strong> verzichte auf Rechtsmittel.« D. Vertreter der StA erklärte: »Ich verzichte auf Rechtsmittel.« Vorgelesen <strong>und</strong><br />

- 280 -


Genehmigt. Hinweise auf vorausgegangene oder während der Hauptverhandlung geführte Besprechungen über eine<br />

mögliche einvernehmliche Beendigung des Verfahrens oder deren Inhalt enthält das Hauptverhandlungsprotokoll<br />

ebenso wenig wie auf die Erteilung entsprechender Belehrungen. Umgekehrt ist dort jedoch auch nicht vermerkt,<br />

dass keine derartigen Besprechungen stattgef<strong>und</strong>en haben. Mehr als ein Jahr später legte der Angekl. mit Schriftsatz<br />

seines neuen Verteidigers v. 15.06.2012 gegen das Urt. v. 24.05.2011 Berufung ein <strong>und</strong> beantragte seine Wiedereinsetzung<br />

in den vorherigen Stand bezüglich der versäumten Berufungsfrist. Das Urt. beruhe auf einer tatsächlich erfolgten<br />

Verständigung, die unter bewusster Umgehung der gesetzlichen Vorgaben zustande gekommen sei. Hintergr<strong>und</strong><br />

sei eine vom Gericht angekündigte Sanktionsschere, wonach der Angekl. ohne Geständnis mit einer Vollzugsstrafe<br />

von 3 bis 3 ½ J., mit Geständnis mit einer Bewährungsstrafe von nicht mehr als 2 J. zu rechnen habe. Es sei<br />

keine der gesetzlich vorgeschriebenen Belehrungen, insbes. keine qualifizierte Rechtsmittelbelehrung nach § 35a<br />

StPO erfolgt. Der erklärte Rechtsmittelverzicht sei daher nach § 302 Abs. 1 S. 2 StPO unwirksam. Die Frist zur Berufungseinlegung<br />

habe der Angekl. ohne eigenes Verschulden versäumt. Wie durch die vorgelegte eidesstattliche<br />

Versicherung [ ... ] glaubhaft gemacht, habe der Angekl. Sowohl unmittelbar nach der Hauptverhandlung als auch in<br />

der darauffolgenden Woche aus Unzufriedenheit mit dem Urt. seinen damaligen Verteidiger mehrmals befragt, ob es<br />

möglich sei, das Urt. anzufechten, was dieser jedoch jeweils unter Verweis auf die eingetretene Rechtskraft verneint<br />

habe. Erst durch die Erlangung der Akteneinsicht am 08.06.2012 <strong>und</strong> anschließende Prüfung der Sachlage durch den<br />

neuen Verteidiger sei die unzutreffende Rechtsauskunft korrigiert <strong>und</strong> damit das bestehende Hindernis für die Berufungseinlegung<br />

entfallen. Das LG München II verwarf mit Beschl. v. 23.08.2012 die Berufung des Angekl. als unzulässig,<br />

weil die Rechtsmittelverzichtserklärungen des Angekl. sowie der StA wirksam gewesen seien <strong>und</strong> damit<br />

Rechtskraft eingetreten sei. Eine Verständigung i.S.d. § 257c StPO habe nicht stattgef<strong>und</strong>en. Auf andere Fälle der<br />

Verständigung sei § 302 Abs. 1 S. 2 StPO weder unmittelbar noch analog anwendbar. Gegen diesen Beschluss, der<br />

dem Verteidiger am 26.09.2012 zugestellt worden ist, hat der Angekl. mit Verteidigerschriftsatz v. 28.09.2012, eingegangen<br />

am 01.10.2012, sofortige Beschwerde eingelegt, in der er seine Auffassung aufrechterhält <strong>und</strong> präzisiert.<br />

Freibeweislieh ergaben sich folgende Erkenntnisse: Auf Initiative des damaligen Verteidigers des Angekl. fand am<br />

07.04.2011 im Dienstzimmer des Vors. des SchöG eine Besprechung zwischen diesem, dem damaligen Verteidiger<br />

des Angekl. sowie dem zuständigen StA statt. Zu dessen Verlauf <strong>und</strong> Inhalt äußerten sich die beteiligten Personen im<br />

Nachhinein wie folgt:<br />

- RA Y. als damaliger Verteidiger des Angekl. im Schreiben v. 13.06.2012 an den neuen Verteidiger des Angekl.<br />

(vorgelegt als Anlage 1 zum Berufungsschriftsatz v. 15.06.2012): Am 07.04.2011 wurde dann im Richterzimmer des<br />

AG Weilheim ein nach meiner Erinnerung ca. 30- bis 40-minütiges Gespräch zwischen Herrn W (zu ergänzen: Vors.<br />

des SchöG), Herrn B. (zu ergänzen: StA) <strong>und</strong> mir geführt. Herr W gab anknüpfend an die bereits geführten Telefonate<br />

zu verstehen, dass nach seiner Spruchpraxis Herrn Dr. X eine Freiheitsstrafe von ca. 3 bis 3 1/2 drohen würde.<br />

Sollte allerdings ein Geständnis abgegeben werden, so käme eine Bewährungsstrafe in Betracht. Anzumerken ist,<br />

dass eine wirkliche Diskussion über die von mir vorgebrachten Argumente nicht stattfand, da sowohl Herr W als<br />

auch Herr B. die Sache für eindeutig erachteten. Ich hatte den Eindruck, dass Herr W mit den Einzelheiten unserer<br />

Argumentation auch gar nicht vertraut war. Als ich darauf hinwies, dass zahlreiche Indizien gegen ein vorsätzliches<br />

Handeln von Herrn Dr. X sprechen, äußerte Herr W, dass natürlich auch eine streitige Hauptverhandlung durchgeführt<br />

<strong>und</strong> die von uns benannten Zeugen vernommen werden könnten, allerdings müsse sich Herr Dr. X dann eben<br />

auf die besagte Freiheitsstrafe einstellen. Herr W wurde dann konkreter <strong>und</strong> äußerte, dass er sich im Falle eines<br />

Geständnisses eine Bewährungsstrafe zwischen 1 J. <strong>und</strong> 9 M. <strong>und</strong> 2 J. vorstellen könne. Dies entsprach auch den<br />

Vorstellungen von Herrn B. Hinsichtlich der Bewährungsauflage schwebte Herrn B. nach meiner Erinnerung zunächst<br />

ein Betrag in Höhe der Schadenssumme vor. Ich habe sofort deutlich gemacht, dass Herrn Dr. X schlicht die<br />

Mittel fehlen, eine Bewährungsauflage von mehreren h<strong>und</strong>erttausend Euro zu zahlen. Wir einigten uns dann aufeinen<br />

Betrag von 30.000,00 €. Schließlich kam ich auf das Anliegen von Herrn Dr. X zu sprechen, die Hauptverhandlung<br />

ohne große Publizität durchzuführen. Es wurde dann lange gemeinsam beratschlagt, wie es bewerkstelligt werde<br />

könne, dass die Gerichtsreporterin möglichst keine Kenntnisse vom Verfahren erhält <strong>und</strong> beim Termin nicht anwesend<br />

ist - dies alles natürlich nur im Falle eines Geständnisses. Herr W betonte dann abschließend, dass es sich<br />

bei unserer Absprache nicht um eine Verständigung i.S.d. StPO handeln würde, »so etwas gibt es bei mir nicht«.<br />

Gleichwohl könne man sich absolut auf ihn verlassen. Zusagen pflege er einzuhalten. Diese Aussage hat mich natürlich<br />

überrascht, da es sich ja offensichtlich um ein Verständigungsgespräch handelte. Ich habe dann zugesagt, mit<br />

Herrn Dr. X das Angebot zu besprechen.<br />

- 281 -


- Dienstliche Stellungnahme vom StA als Gruppenleiter B. v. 27.06.2012: Richtig ist, dass es am 07.04.2011 in den<br />

Räumen des AG Weilheim zu einer Besprechung zwischen Direktor des AG W, dem Verteidiger <strong>und</strong> mir kam. Die<br />

Initiative für eine solche Besprechung ging meiner Erinnerung nach, wie bereits im Ermittlungsverfahren, vom Verteidiger<br />

aus, der Kontakt zur mündlichen Erörterung der wesentlichen Fragen sttchte. Hinsichtlich des Inhalts der<br />

Besprechung, die aus meiner Perspektive eine Erörterung i.S.v. § 202a StPO darstellte, verweise ich auf den hierüber<br />

gefertigten Vermerk (siehe Anlage). Konkrete Festlegungen hinsichtlich der zu erwartenden Strafhöhe bei einem<br />

Geständnis habe ich selbst für die StA formuliert, wie im Vermerk niedergelegt <strong>und</strong> wohl auch, dass aus meiner<br />

Sicht ohne die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses eine Vollzugsstrafe im Raum steht. Herr Direktor am AG<br />

W hat auf die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses hingewiesen <strong>und</strong> meiner Erinnerung nach aus seiner<br />

Sicht auch die Möglichkeit einer Vollzugs- oder Bewährungsstrafe erörtert. Ob seitens des Vors. eine konkrete Strafhöhe<br />

genannt wurde, kann ich heute nicht mehr sicher sagen. jedenfalls wurde nach meiner Erinnerung seitens des<br />

Vors. zu jedem Zeitpunkt darauf hingewiesen, dass eine Zusage bzw. ein »Deal« mangels Anwesenheit der Schöffen<br />

nicht möglich sei. In der Hauptverhandlung habe ich ausweislich des mir vorliegenden Sitzungsberichts eine Gesamtfreiheitsstrafe<br />

von 2 J./Bewährung beantragt. Das entsprach meinen bereits vorher formulierten Vorstellungen<br />

im Falle eines Geständnisses. Die vom Gericht ausgesprochene Gesamtfreiheitsstrafe von I J <strong>und</strong> 9 M. blieb dahinter<br />

nicht so weit zurück, dass ein Rechtsmittel der StA zwingend veranlasst gewesen wäre.<br />

- Der in der dienstlichen Stellungnahme angesprochene <strong>und</strong> ihr als Anlage beigefügte (in Kopie aus den Handakten<br />

der StA entnommene) Vermerk datiert v. 07.04.2011, ist von StA als Gruppenleiter B. unterschrieben <strong>und</strong> lautet wie<br />

folgt: Heute fand eine Vorbesprechung beim AG Weilheim bzgl. des o.g. Verfahrens zwischen Verteidigung, DiRAG<br />

W <strong>und</strong> mir statt. Von Seiten der StA wurde die Vorstellung dahingehend geäußert, dass im Falle eines vollumfiinglichen<br />

Geständnisses, das einer Verurteilung zugr<strong>und</strong>e gelegt werden kann, eine weitere Beweisaufnahme unterbleiben<br />

könnte <strong>und</strong> eine Gesamtfreiheitsstrafe von 2 J./Bewährung <strong>und</strong> eine Geldauflage in Höhe von 30.000,00 € in<br />

Betracht kommt. DiRAG W legte dar, welche Einlassungen notwendig würden, um eine kurze Hauptverhandlung<br />

ohne Zeugen zu ermöglichen. Dabei wurde als Termin der I0.05.20II ins Auge gefasst. Gleichzeitig wurde dargelegt,<br />

dass ein »Deal« bei dieser Besprechung schon mangels Anwesenheit der Schöffen nicht vereinbart werden könne.<br />

- Der frühere Verteidiger [ ... ] äußerte sich im Anschluss an diese dienstliche Stellungnahme mit Schreiben v.<br />

16.07.2012 an den neuen Verteidiger (vorgelegt als Anlage zum Schriftsatz v. 17.07.2012) ergänzend wie folgt: Es<br />

kann gut sein, dass Herr W in unserer Besprechung darauf hinwies, einem »Deal« stehe auch die Abwesenheit der<br />

Schöffen entgegen. Ich kann mich allerdings noch sehr genau an die Außerung von Herrn W erinnern, wonach es<br />

einen »Deal« i.S.d. StPO bei ihm auch gr<strong>und</strong>sätzlich nicht gebe. Diese Bemerkung ist mir deshalb so in Erinnerung<br />

geblieben, weil ich sie als im völligen Widerspruch zur anschließenden Versicherung von Herrn W stehend empfand,<br />

wonach die Zusage der Strafobergrenze gleichwohl verbindlich sei <strong>und</strong> wir uns auf ihn verlassen könnten. Seine<br />

Zusagen pflege er einzuhalten. Mit anderen Worten hatte ich den Eindruck, der »Deal« sollte nicht so heißen. Nach<br />

meiner Erinnerung wurde für den Fall eines Geständnisses eine Bewährungsstrafe zwischen 1. J. <strong>und</strong> 9 M. <strong>und</strong> 2 J.<br />

zugesagt. Sollten sich die Vorwürfe der Anklage in einer streitigen Hauptverhandlung bestätigen, so stellte Herr W<br />

die Verhängung einer Vollzugsstrafe von 3 bis 3 ½ J in Aussicht.<br />

- In Kenntnis der vorgenannten bereits bei den Akten befindlichen Äußerungen der übrigen Besprechungsteilnehmer<br />

äußerte sich der Vors. des SchöG mit dienstlicher Stellungnahme v. 18.07.2012 wie folgt: Am 07.04.2011 fand in<br />

den Räumen des AG Weilheim – auf Wunsch der Verteidigung - eine Besprechung statt zwischen dem Verteidiger des<br />

Angeschuldigten [ .. ],Herrn StA als Gruppenleiter B. <strong>und</strong> mir als den zuständigen Richter. Hierbei wurde entsprechend<br />

§ 202a StPO der Verfahrensstand <strong>und</strong> der mögliche Verfahrensgang besprochen. Ich habe hierbei zum Ausdruck<br />

gebracht, dass aus derzeitiger Sicht wohl eine Verurteilung entsprechend der Anklage in Betracht kommen<br />

könnte. Es wurde auch erörtert, dass bei dem angeklagten Sachverhalt bei einem vollumfiinglichen Schuldspruch<br />

ohne Geständnis auch eine Freiheitsstrafe von ca. 3 bis 3 ½ J. in Betracht kommen könnte. Als Herrn RA Y. dies im<br />

Hinblick auf die Spruchpraxis in München sehr hoch erschien, habe ich ihm gesagt, dass sich die Spruchpraxis im<br />

Bereich München !I auch beim hiesigen AG eben von München I unterscheiden würde. Ebenfalls besprochen wurde,<br />

dass gerade bei einem solch aufwändigen Verfahren <strong>und</strong> unabhängig davon, dass es mir persönlich egal wäre, ob<br />

ein kurzes oder ein aufwändiges Verfahren durchzuführen wäre, ein Geständnis - wie üblich -großen Einfluss auf die<br />

Strafhöhe hätte <strong>und</strong> diese dann möglicherweise 2 J nicht überschreiten würde. Auch bei einer möglichen Freiheitsstrafe<br />

bis zu 2 J. könnte ohne Berücksichtigung eines Geständnisses <strong>und</strong> der Folgen einer Verurteilung für den Angeschuldigten<br />

eher eine Bewährung begründet werden. Auf die Fragen des Verteidigers mit welcher Auflage sein<br />

Mandant im Falle einer Bewährungsstrafe zu rechnen habe, wurde seitens der StA mitgeteilt, dass diese üblicher-<br />

- 282 -


weise dem Schadensbetrag entsprechen würde. Der Verteidiger meinte hierauf, dass dies für seinen Mandanten wohl<br />

finanziell nicht möglich sei. Herr StA als Gruppenleiter B. teilte dann mit, dass die StA wohl nicht über 30. 000, 00 €<br />

fordern würde. Ich habe deutlich gemacht, dass eine Verständigung i.S.d. § 257c StPO hier nicht möglich sei, da die<br />

Schöffen nicht beteiligt wären. Auf Frage des Verteidigers, welche Sicherheit sein Mandant dann bei einem Geständnis<br />

habe, habe ich gesagt, dass eine solche nicht bestehe, er müsse sich hier eben darauf verlassen, dass bei der<br />

Urteilsberatung kein anderes Ergebnis (Bewährungsstrafe) herauskommen würde. Eine verbindliche Einhaltung<br />

einer Strafobergrenze konnte ich gar nicht zusagen, da ich ja problemlos von meinen Schöffen in der Hauptverhandlung<br />

hätte überstimmt werden können. Es wurde auch darüber gesprochen, inwieweit bei einem Geständnis eine<br />

Einlassung oder eine umfangreiche Beweisaufnahme mit Zeugen eiforderlich wäre. Das Interesse des Verteidigers<br />

ging dahin, eine kurze Verhandlung möglichst an einem Nachmittag durchzuführen. Ich habe dann gesagt, dass m.E.<br />

eine Erklärung des Verteidigers ausreichend sei, diese Erklärung aber von dem Angekl. selbst bestätigt werden müsse.<br />

Herr RA Y. erklärte, dass er die Sache mit seinem Mandanten besprechen <strong>und</strong> dann hierher mitteilen würde, ob<br />

in der Verhandlung ein Geständnis eifolgen werde, damit auch entsprechend terminiert werden könne. Nachdem<br />

seitens des Verteidigers die Mitteilung erfolgte, dass sein Mandant ein vollumfängliches Geständnis abgeben würde,<br />

wurde am 28.04.2011 die Anklage zugelassen <strong>und</strong> Termin auf den 24.05.2011, 14.30 Uhr bestimmt. Dem Urt. v.<br />

24.05.2011 ging keine Verständigung i.S.d § 257c StPO voraus.<br />

- RA Y. als damaliger Verteidiger des Angekl. teilte diesem mit Schreiben v. 08.04.2011 (vorgelegt als Anlage 2<br />

zum Schriftsatz des neuen Verteidigers v. 05.11.2012) folgendes zusammengefasstes Ergebnis der Besprechung mit.<br />

Trotz intensiver Diskussionen <strong>und</strong> nochmaligem Vorbringen unserer Argumente äußerten StA <strong>und</strong> Richter der Auffassung,<br />

dass nach ihrer vorläufigen Einschätzung eine Strafbarkeit gegeben ist. Der Richter gab zu verstehen, dass<br />

angesichts der hohen Schadensumme eine Freiheitsstrafe von 3 bis 3 ½ J. ohne Bewährung zu erwarten sei. Allerdings<br />

betonte er, handele es sich naturgemäß um eine vorläufige Einschätzung, da erst die Zeugen vernommen werden<br />

müssten. Hierzu sei voraussichtlich eine Verhandlungsdauer von 3 bis 4 Tagen erforderlich. Sollten sie, sehr<br />

geehrter Herr Dr. X, allerdings gegenüber dem Gericht einräumen, dass Sie bei ihrer Abrechnung in Kauf nahmen,<br />

dass einzelne Ziffern falsch seien (da Sie sich nicht so gut auskannten), so würde sich dies erheblich strafmildernd<br />

auswirken. Das Gericht sichert ihnen in diesem Fall zu, dass die abgeurteilte Strafe 2 J. nicht übersteigt <strong>und</strong> zudem<br />

zur Bewährung ausgesetzt wird (bei Bewährungsauf Iage von 30.000,00 €). Zudem könnte in diesem Fall das Verfahren<br />

erheblich abgekürzt werden, so dass bei einer mutmaßlichen Verhandlungsdauer von einer St<strong>und</strong>e wohl auch<br />

die Presse keine Kenntnis vom Verfahren erhält, was indessen naturgemäß nicht garantiert werden kann.<br />

- Anknüpfend an den ausweislich der dienstlichen Stellungnahme von StA als Gruppenleiter B. ins Auge gefassten<br />

Hauptverhandlungstermin am 10.05.2011 bat der damalige Verteidiger des Angekl. den Vors. mit Fax-Schreiben v.<br />

27.04.2011 (Bl. 88 d.A.) um dessen Rückruf. Auf demselben Aktenblatt 88 findet sich zudem neben der Bleistiftnotiz<br />

der Telefonnummer des StAB. die weitere Bleistiftnotiz »24.05., 14.30 Uhr«.<br />

- Hierzu teilte RA Y. als damaliger Verteidiger des Angekl. Diesem mit Schreiben v. 29.04.2011 (vorgelegt als Anlage<br />

3 zum Schriftsatz des neuen Verteidigers v. 05.11.2012) folgendes mit: Gestern rief mich nun der Vors. Richter,<br />

Herr W, an, um das weitere Vorgehen abzustimmen. Bezüglich des von uns ins Auge gefassten Verhandlungstermins<br />

am Dienstag, 10.05.2011 gab der Richter zu bedenken, dass Ihre Verhandlung nur die Einzige wäre, so dass ein<br />

gewissen Risiko besteht, dass die Presse von der Verhandlung Kenntnis nehmen wird Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> bin<br />

ich mit dem Richter übereingekommen, doch noch einen alternativen Termin zu finden. Herr W bot mir hier einen<br />

Nachmittagstermin am Dienstag, 24.05.2011, an (Uhrzeit 14.30 Uhr), da parallel ein anderes »interessanteres«<br />

Verfahren terminiert ist. Nach Einschätzung des Richters besteht somit eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass in diesem<br />

Termin Ihr Verfahren relativ unbemerkt von statten gehen kann. Nach unseren zuletzt gefohrten Telefonaten habe ich<br />

dem Richter auch noch einmal unser Anliegen überbracht, außerhalb der formliehen Hauptverhandlung die Angelegenheit<br />

im »persönlichen Gespräch« zu erörtern. Der Richter hielt dies zwar für »nicht üblich«, war aber angesichts<br />

der ihm von mir näher erläuterten besonderen Umstände dieses Verfahrens einverstanden, dass wir uns bereits um<br />

14.00 Uhr im »Richterzimmer« vorstellen. Der Richter geht nun davon aus, dass die Verhandlung tatsächlich dergestalt<br />

abgekürzt wird, dass Sie im Rahmen einer (von mir vorbereiteten) Erklärung einräumen, dass Sie bei der Abrechnung<br />

in Kauf nahmen, dass diese unrichtig ist. Im Gegenzug ist abgesprochen, dass Sie in jedem Fall eine Bewährungsstrafe<br />

erhalten werden. [ .. ]<br />

II. Die sofortige Beschwerde des Angekl. gegen die Verwerfung seiner Berufung durch Beschl. v. 23.08.2012 ist<br />

nach §§ 322 Abs. 2, 311 Abs. 2 StPO zulässig. Sie ist auch in der Sache begründet <strong>und</strong> führt nicht nur zur Aufhe-<br />

- 283 -


ung des angefochtenen Beschlusses v. 23.08.2012 (I.), sondern auch zur Feststellung, dass das Urt. v. 24.05.2011<br />

unwirksam ist, so dass über die zugelassene Anklage der StA München II von neuem entschieden werden muss (2.).<br />

1. Die Berufung des Angekl. gegen das Urt. des SchöG beim AG Weilheim v. 24.05.2011 war entgegen der Auffassung<br />

des LG jedenfalls nicht deshalb unzulässig, weil sowohl der Angekl. als auch die StA unmittelbar im Anschluss<br />

an die Verkündung des Urt. <strong>und</strong> die erteilte - standardmäßige - Rechtsmittelbelehrung auf Rechtsmittel verzichtet<br />

haben, so dass noch in der Hauptverhandlung Rechtskraft eingetreten wäre. Denn das Urt. beruht auf einer vorausgegangenen<br />

Verständigung zwischen dem Gericht <strong>und</strong> den Verfahrensbeteiligten, wonach der Angekl. im Falle eines<br />

Geständnisses hinsichtlich der angeklagten Sachverhalte mit der Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe von nicht<br />

mehr als 2 J. rechnen konnte, die gegen eine Zahlungsauflage in Höhe von 30.000,00 € zur Bewährung ausgesetzt<br />

werden würde, während er für den Fall einer nicht geständigen Einlassung bei einem vollen Nachweis der Tatvorwürfe<br />

mit einer Vollzugsstrafe von 3 bis 3 ½ J. rechnen müsse. Dies ergibt sich im Ergebnis eindeutig aus den freibeweislieh<br />

zu würdigenden Darstellungen des Vors., des sachbearbeitenden StA sowie des damaligen Verteidigers<br />

des Angekl. über Ablauf, Inhalt <strong>und</strong> Ergebnis der entscheidenden Besprechung zwischen diesen 3 Personen am<br />

07.04.2011, die in ihrem Kern übereinstimmen. So wird die Darstellung des damaligen Verteidigers in dessen<br />

Schreiben an den Angekl. v. 08.04.2011, wonach der Vors. das nach Aktenlage (zu ergänzen: ohne Geständnis) zu<br />

erwartende Strafmaß angesichts der hohen Schadenssumme mit 3 bis 3 ½ J. beziffert, für den Fall des Einräumens<br />

der Falschabrechnung wegen dessen erheblich strafmildernder Wirkung aber eine Strafe von nicht mehr als 2 J. sowie<br />

deren Aussetzung zur Bewährung gegen eine Zahlungsauflage von 30.000,00 € zugesichert habe, durch den<br />

Vermerk des beteiligten StA v. 07.04.2011 wie auch auf die späteren dienstlichen Äußerungen des StA wie des Vors.<br />

In seinen Eckpunkten bestätigt. So bestätigte der Vors. in seiner dienstlichen Äußerung ausdrücklich, dass er darauf<br />

hingewiesen habe, dass bei dem angeklagten Sachverhalt bei einem vollumfänglichen Schuldspruch ohne Geständnis<br />

auch eine Freiheitsstrafe von 3 bis 3 ½ J. in Betracht kommen könne. Auf den Einwand des Verteidigers, dass dies<br />

im Hinblick auf die Spruchpraxis in München sehr hoch erscheine, habe er erklärt, dass sich die Spruchpraxis im<br />

Bereich (des LG) München 11 <strong>und</strong> auch beim hiesigen AG (Weilheim) eben von (der Spruchpraxis beim LG) München<br />

I unterscheiden würde. Gerade diese erklärende Begründung macht deutlich, dass es sich bei der für den Fall<br />

des Ausbleibens eines Geständnisses in Aussicht gestellten Vollzugsstrafe von 3 bis 3 ½ J. um die eigene Vorstellung<br />

des Vors. handelte. Auch hinsichtlich des für den alternativen Fall eines ausbleibenden Geständnisses avisierten<br />

Strafmaßes bestätigte der Vors. in seiner dienstlichen Erklärung im Wesentlichen die Darstellung des damaligen<br />

Verteidigers des Angekl. Und machte lediglich bei der damit verb<strong>und</strong>enen Sicherheit für den Angekl. Einschränkungen.<br />

So bestätigte er, dass er den großen Einfluss eines Geständnisses auf die Strafhöhe betont habe, die dann möglicherweise<br />

2 J. nicht überschreiten würde. Auch könne unter Berücksichtigung eines Geständnisses <strong>und</strong> der Folgen<br />

einer Verurteilung für den Angekl. dann eher eine Bewährung begründet werden. Darüber hinaus bestätigte der Vors.<br />

in seiner dienstlichen Erklärung, dass die Gesprächsteilnehmer nach anfänglich höheren Vorstellungen des StA für<br />

den Fall einer Strafaussetzung zur Bewährung übereinstimmend von einer Zahlungsauflage in Höhe von 30.000,00 €<br />

ausgegangen sind. Schließlich bestätigte der Vors. in seiner dienstlichen Erklärung auch, dass auf ausdrückliche<br />

Frage des Verteidigers hin auch darüber gesprochen wurde, mit welcher Sicherheit der Angekl. Im Falle eines Geständnisses<br />

von der tatsächlichen Verhängung einer (bloßen) Bewährungsstrafe ausgehen könne. Hierauf habe er<br />

geantwortet, dass eine solche Sicherheit nicht bestehe, er müsse sich hier eben darauf verlassen, dass bei der Urteilsberatung<br />

kein anderes Ergebnis (Bewährungsstrafe) herauskommen würde. Auch der an der Besprechung am<br />

07.04.2011 beteiligte StA hat in seinem Vermerk vom selben Tag ausdrücklich festgehalten, dass er sich dahingehend<br />

geäußert habe, dass im Falle eines vollumfänglichen Geständnisses, das einer Verurteilung zugr<strong>und</strong>e gelegt<br />

werden könne, eine weitere Beweisaufnahme unterbleiben <strong>und</strong> eine Gesamtfreiheitsstrafe von 2 J. mit Bewährung<br />

<strong>und</strong> einer Geldauflage in Höhe von 30.000,00 € in Betracht kommen könne, <strong>und</strong> in der dienstlichen Stellungnahme<br />

v. 27.06.2012 diesbezüglich sogar von einer konkreten Festlegung hinsichtlich der zu erwartenden Strafhöhe gesprochen.<br />

Damit kann als gesichert gelten, dass zwischen dem Vors., dem sachbearbeitenden StA <strong>und</strong> dem Verteidiger<br />

des Angekl. Einigkeit darüber bestand, dass der Angekl. für den Fall eines Geständnisses mit einer Bewährungsstrafe<br />

von nicht mehr als 2 J. verb<strong>und</strong>en mit einer Zahlungsauflage in Höhe von 30.000,00 €, anderenfalls jedoch mit einer<br />

Vollzugsstrafe in der Größenordnung von 3 bis 3 ½ J. zu rechnen hatte. Diese Übereinkunft sollte ausschließlich<br />

unter dem - selbstverständlichen - Vorbehalt stehen, dass der Vors. des SchöG nicht durch die beiden Schöffen überstimmt<br />

wird. Abschließend wurde ausweislich der dienstlichen Stellungnahme des Vors. am 18.07.2012 auch darüber<br />

gesprochen, in wie weit bei einem Geständnis eine umfangreiche Beweisaufnahme mit Zeugen erforderlich<br />

würde, wobei das Interesse des Verteidigers dahinging, eine kurze Verhandlung möglichst an einem Nachmittag<br />

- 284 -


durchzuführen. Hierbei habe er als Vors. erklärt, dass seines Erachtens eine Erklärung des Verteidigers ausreichend<br />

sei, diese müsse aber vom Angekl. selbst bestätigt werden. In der Gesamtschau ergibt sich somit nach dem sachlichen<br />

Inhalt eindeutig eine Absprache unter den berufsmäßigen Prozessbeteiligten, wonach der Angekl. für den Fall<br />

eines Geständnisses hinsichtlich des angeklagten Sachverhalts mit einer Bewährungsstrafe von nicht mehr als 2 J.<br />

unter gleichzeitiger Auferlegung einer Zahlungsauflage in Höhe von 30.000,00 € zu rechnen hatte. Diese Absprache<br />

sollte lediglich unter dem - selbstverständlichen - Vorbehalt stehen, dass der Vors. von den beiden Laienrichtern<br />

nicht überstimmt wird. Auch wenn hierzu schon wegen der Außerachtlassung sämtlicher gesetzlich vorgeschriebener<br />

Formalien keine Verständigung im Sinne § 257c StPO liegen konnte, so handelte es sich ihrem Inhalt nach dennoch<br />

um eine verfahrensbeendende Absprache (Geständnis gegen bloße Bewährungsstrafe ohne detaillierte Beweisaufnahme).<br />

Die gewollte Verbindlichkeit der getroffene Absprache ergibt sich schließlich auch aus dem Urteil, das in<br />

allen wesentlichen Einzelheiten der Absprache entsprach, wobei entscheidend hinzukommt, dass eine ergänzende<br />

Beweisaufnahme zur Überprüfung der vom Verteidiger vorgetragenen <strong>und</strong> vom Angekl. bestätigten Erklärung, die<br />

das Gericht als Geständnis angesehen hat, offensichtlich von vornherein nicht beabsichtigt war. Denn zur Hauptverhandlung<br />

waren vom Vors. angeordnet - keinerlei Zeugen geladen. Da das Urt. somit auf einer verbindlichen Absprache<br />

zwischen dem Vors., der StA <strong>und</strong> der Verteidigung beruht, wenn auch unter Außerachtlassung sämtlicher<br />

Offenlegungs-, Dokumentations-, Hinweis- <strong>und</strong> Belehrungspflichten nach §§ 243 Abs. 4, 257c, 273 Abs. 1a StPO,<br />

war der im Anschluss an die Urteilsverkündung erklärte Rechtsmittelverzicht des Angekl. wie auch der StA analog §<br />

302 Abs. 1 S. 2 StPO unwirksam. Die entsprechende Anwendung des durch das Verständigungsgesetz v. 29.07.2009<br />

konstituierten Rechtsmittelverzichtsverbots nach § 302 Abs. 1 S. 2 StPO auch auf Fälle informeller Absprachen<br />

außerhalb des dem § 257 c zugr<strong>und</strong>e liegenden Regelungskonzepts ist sachlich geboten. Denn mit den Vorschriften<br />

des Verständigungsgesetzes hat die Zulassung von Verständigungen im Strafverfahren eine abschließende Regelung<br />

erfahren. Außerhalb dieses gesetzlichen Regelungskonzepts erfolgende sog. informelle Absprachen sind unzulässig<br />

(vgl. BVerfG- 2 BvR 2628/10, Rn. 75 bei juris [= StV 2013, 353]). Hätte die Regelung keinen abschließenden Charakter,<br />

könnten die vom Gesetzgeber als erforderlich erachteten flankierenden Vorschriften, die Transparenz <strong>und</strong><br />

Öffentlichkeit des mit einer Verständigung verb<strong>und</strong>enen Geschehens sichern, die ihnen zur Ermöglichung einer<br />

wirksamen Kontrolle von Verständigungen zugedachte Funktion von vornherein nicht wirksam erfüllen (vgl. a.a.O.<br />

Rn. 76). Aus dem gesetzlichen Regelungskonzept zum Inhalt, zum Zustandekommen <strong>und</strong> zu den Folgen einer Verständigung<br />

folgt u.a., dass ein wirksamer Rechtsmittelverzicht auch dann ausgeschlossen ist, wenn sich die Beteiligten<br />

unter Verstoß gegen die gesetzlichen Vorschriften verständigt haben (BVerfG a.a.O. Rn. 78). Auch vor der Entscheidung<br />

des BVerfG v. 19.03.2013 war eine entsprechende Anwendung des § 302 Abs. 1 S. 2 StPO auf informelle<br />

Absprachen außerhalb des Regelungsgefüges nach § 257c StPO sachlich geboten. Denn wenn zum Schutz der Angekl.<br />

vor übereilter Zustimmung zur Verständigung im Strafverfahren, aber auch zur Sicherung der Kontrolle der<br />

jeweils anzuwendenden Verfahrensregeln bereits bei regelkonformen Verständigungen ein Rechtsmittelverzichtsverbot<br />

gilt, so muss dies erst recht für diejenigen Fälle gelten, in denen die vom Gesetz hierfür vorgesehenen Verfahrensregeln<br />

unbeachtet geblieben sind oder - wie im vorliegenden Fall- bewusst umgangen wurden (vgl. hierzu das<br />

obiter dieturn in OLG Celle StV 2012, 141 ff.). Die gegenteilige Auffassung, wonach die gesetzlichen Verfahrensregeln<br />

für Verständigungen im Strafprozess nach § 257 c StPO nicht abschließend sein <strong>und</strong> deshalb die Schutzmechanismen<br />

insbes. des § 273 Abs. 1a StPO <strong>und</strong> des § 302 Abs. 1 S. 2 StPO für »informelle« Vorgehensweisen außerhalb<br />

der Vorgaben des§ 257c StPO nicht gelten sollen (vgl. Peglau, jurisPR-StrafR 4/2012 Anm. 1; Niemöller StV 2012,<br />

387 f.; ders. NStZ 2013, 19 ff.) wurde vom BVerfG in seiner genannten Entscheidung v. 19.03.2013 ausdrücklich<br />

verworfen (a.a.O. Rn. 119). Zwar ist trotz der Unwirksamkeit der Rechtsmittelverzichtserklärung des Angekl. sowie<br />

der StA im vorliegenden Fall durch Ablauf der Berufungsfrist mit dem 31.05.2011 zunächst Rechtskraft eingetreten.<br />

Dem Angekl. wäre jedoch gern. §§ 44 ff. StPO Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungseinlegungsfrist zu<br />

gewähren, da er glaubhaft gemacht hat, ohne eigenes Verschulden an deren Einhaltung gehindert gewesen zu sein.<br />

Aus der vorgelegten eidesstattlichen Versicherung der Zeugin N. v. 12.06.2012 ergibt sich, dass der Angekl. nach<br />

der Hauptverhandlung v. 24.05.2011 mit deren Verlauf <strong>und</strong> dem ergangenen Urt. sehr unzufrieden war <strong>und</strong> seinen<br />

damaligen Verteidiger, RA Y., nach Möglichkeiten, das Urt. anzufechten gefragt hat, was dieser jedoch unter Hinweis<br />

auf die eingetretene Rechtskraft verneint habe. Auch in den Folgetagen habe der Angekl. Immer wieder sein<br />

Unverständnis mit dem Verfahrensablauf geäußert, einige Tage später aber berichtet, dass ihm Y. auf nochmalige<br />

Frage hin erklärt habe, dass man gegen das Urt. nicht mehr vorgehen könne. Dies bestätigt im Übrigen der frühere<br />

Verteidiger des Angekl., RA Y., auch selbst unter Ziff. 8 seines Schreibens v. 13.06.2012 an den nunmehrigen Verteidiger<br />

des Angekl. (Anlage 1 zum Berufungsschriftsatz v. 15.06.2012). Schließlich wird die Darstellung des An-<br />

- 285 -


gekl., dass er von einer Unabänderlichkeit des ergangenen Urt. ausgegangen sei, auch dadurch gestützt, dass er in der<br />

Folgezeit die ihm auferlegten Zahlungsauflagen vollständig erfüllt hat. Da der Angekl. als juristischer Laie keine<br />

Veranlassung hatte, an der Richtigkeit der ihm vom eigenen Verteidiger erteilten Rechtsauskunft zu zweifeln, ist<br />

unter diesen Umständen hinreichend glaubhaft gemacht, dass er von der Unabänderlichkeit des ergangenen Urt.<br />

ausgegangen ist, bis er von seinem neuen Verteidiger aufgr<strong>und</strong> der diesem am 08.06.2012 gewährten Akteneinsicht<br />

eines Besseren belehrt wurde. Der danach zusammen mit der Berufungseinlegung am 15.06.2012 beim AG Weilheim<br />

eingegangene Antrag auf Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungseinlegungsfrist ist somit auch innerhalb<br />

der Wochenfrist nach§ 45 Abs. 1 StPO gestellt worden. Das LG hätte somit jedenfalls Wiedereinsetzung gewähren<br />

müssen <strong>und</strong> hätte die Berufung des Angekl. nicht nach § 322 Abs. 1 S. 1 StPO als unzulässig verwerfen dürfen. Der<br />

Beschl. v. 23.08.2012 war somit auf die sofortige Beschwerde des Angekl. aufzuheben.<br />

2. Der Erfolg der sofortigen Beschwerde führt im vorliegenden Fall jedoch ausnahmsweise nicht zur Zurückverweisung<br />

des Verfahrens an das LG zur Durchführung des Berufungsverfahrens, sondern zur Zurückverweisung an die I.<br />

Instanz, weil das zugr<strong>und</strong>e liegende Ausgangsurteil v. 24.05.2011 an derart schwerwiegenden Mängeln leidet, dass<br />

es nicht nur rechtlich fehlerhaft, sondern nichtig <strong>und</strong> damit unwirksam <strong>und</strong> unbeachtlich ist. Die Möglichkeit der<br />

Nichtigkeit <strong>und</strong> völliger Unwirksamkeit von Urt. <strong>und</strong> anderen gerichtlichen Entscheidungen wird zwar in einem Teil<br />

der Lit. abgelehnt, weil derartig beschaffene Urt. in einem Rechtsstaat nicht vorstellbar seien (vgl. Meyer-Goßner,<br />

StPO, 55. Aufl., Einl. Rn. 105a ff, LR-Kühne, 26. Aufl. Einl. Abschn. K 116, jew. m.w.N.). Aus Gründen der<br />

Rechtssicherheit könne es keine schlechthin für jedermann unbeachtliche gerichtliche Entscheidung geben, auf deren<br />

Unwirksamkeit sich jedermann berufen könne, ohne dass es einer förmlichen prozessordnungsgemäßen Entscheidung<br />

eines anderen Gerichts bedürfte. Für Zwischenentscheidungen passe die Lehre von der möglichen Nichtigkeit<br />

gerichtlicher Entscheidungen ohnehin nicht, da sie im weiteren Verfahrensverlauf korrigiert werden könnten (vgl.<br />

Meyer-Goßner JR 1981, 380). Bei bereits eingetretener Rechtskraft können Urteile, die an schwersten Mängeln leiden,<br />

jedenfalls im Wege der Wiederaufnahme nach §§ 359 ff. StPO korrigiert oder nach § 458 StPO für nicht vollstreckbar<br />

erklärt werden (vgl. Meyer-Goßner a.a.O. Rn. 105b; LR-Kühne a.a.O.). Demgegenüber hält die Rspr. nichtige<br />

Rechtsentscheidungen gr<strong>und</strong>sätzlich zumindest in Ausnahmefällen für möglich, wenn sie an einem derart<br />

schweren Mangel leiden, dass es bei Berücksichtigung der Belange der Rechtssicherheit <strong>und</strong> des Rechtsfriedens vom<br />

Standpunkt der Gerechtigkeit aus schlechthin unerträglich wäre, sie als verbindlichen Richterspruch anzunehmen<br />

<strong>und</strong> gelten zu lassen (BVerfG NJW 1985, 125; BGHSt 33, 126 f.). Dies kann aber auch nach dieser Auffassung nur<br />

·in seltenen Ausnahmefällen dann in Betracht kommen, wenn die Anerkennung einer vorläufigen Gültigkeit wegen<br />

des Ausmaßes <strong>und</strong> des Gewichts der Fehlerhaftigkeit für die Rechtsgemeinschaft geradezu unerträglich wäre, weil<br />

die Entscheidung ihrerseits dem Geist der StPO <strong>und</strong> wesentlichen Prinzipien der rechtsstaatlichen Ordnung krass<br />

widerspricht, <strong>und</strong> wenn eine derartig schwerwiegende Fehlerhaftigkeit offenk<strong>und</strong>ig ist (BGHSt 10, 278, 281; 29, 351<br />

ff.; BGHNStZ 2009, 579-581). Das folgt aus den Erfordernissen der Rechtssicherheit <strong>und</strong> der ihr dienenden Autorität<br />

gerichtlicher Entscheidungen sowie aus der Gesamtstruktur des Strafverfahrens mit seinem zur Korrektur fehlerhafter<br />

Entscheidungen bestimmten Rechtsmittelsystem. Denn die Annahme rechtlicher Unbeachtlichkeit einer richterlichen<br />

Entscheidung führt dazu, dass jedermann sich in jeder Verfahrenslage, auch nach Rechtskraft der Entscheidung,<br />

auf deren Unwirksamkeit berufen kann, <strong>und</strong> zwar auch außerhalb der Ordnung, die das Strafverfahrensrecht mit den<br />

ihm eigenen Kontrollmechanismen darstellt (BGHSt 29, 351 ff. m.w.N.). Ob die Fehlerhaftigkeit einer gerichtlichen<br />

Entscheidung in diesem Sinne noch hinnehmbar ist, bestimmt sich nach der Rspr. schließlich nicht allein nach der<br />

Schwere des Fehlers <strong>und</strong> der Offenk<strong>und</strong>igkeit seines Vorliegens, sondern nach der sachlichen Bedeutung der gerichtlichen<br />

Entscheidung für das Verfahren. Ein <strong>und</strong> derselbe Verfahrensfehler hat deshalb nicht bei jeder von ihm betroffenen<br />

Entscheidung dieselbe Folge (BGHSt 29, 351, 355), weshalb jedenfalls die Bewertung gerichtlicher Zwischenentscheidungen<br />

als nichtig wegen der nicht hinnehmbaren Folgen, die dies für die Rechtssicherheit im Verfahren<br />

<strong>und</strong> die geordnete Rechtspflege begründen würde, generell ausscheidet (BGHSt 29, 351, 355; 45, 58, 61 f.; BGH<br />

NStZ 2009, 579 ff.). Auch unter Berücksichtigung der dargestellten sehr einschränkenden Maßstäbe der Rspr. des<br />

BGH ist im vorliegenden Fall von einer Nichtigkeit des Urt. des AG Weilheim v. 24.05.2011 auszugehen. Im Gegensatz<br />

zu den vom BGH entschiedenen Fällen handelt es sich hier nicht um eine bloße Zwischenentscheidung,<br />

sondern um ein gr<strong>und</strong>sätzlich verfahrensabschließendes Urteil, das- bei unterstellter Gültigkeit <strong>und</strong> von der Möglichkeit<br />

der Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand abgesehen - durch Ablauf der Rechtsmittelfrist in Rechtskraft<br />

erwachsen wäre. Dieses Urt. beruht auf einer informellen Verständigung zwischen Gericht, StA <strong>und</strong> Verteidigung,<br />

bei der bewusst sämtliche formellen <strong>und</strong> inhaltlichen Gr<strong>und</strong>regeln einer zulässigen verfahrensbeendenden Verständigung<br />

im Strafverfahren nach dem Regelungskonzept des Verständigungsgesetzes v. 29.07.2009 missachtet wurden<br />

- 286 -


<strong>und</strong> die deshalb unzulässig ist. Denn die Zulassung von Verständigungen im Strafverfahren hat danach eine abschließende<br />

Regelung erfahren, die außerhalb des gesetzlichen Regelungskonzepts erfolgende sog. informelle Absprachen<br />

unzulässig macht (vgl. BVerfG, Urt. v. 19.03.2013 - 2 BvR 2628/10, Rn. 75 bei juris [= StV 2013, 353]).<br />

Die im Rahmen einer Erörterung des Verfahrensstandes im Zwischenverfahren nach§ 202a StPO durchgeführte<br />

Besprechung wurde entgegen S. 2 dieser Regelung schon als solche nicht aktenk<strong>und</strong>ig gemacht, erst recht nicht die<br />

hierbei erzielte verfahrensbeendende Verständigung <strong>und</strong> deren Inhalt. Auch in der Hauptverhandlung wurde entgegen§<br />

243 Abs. 4 StPO weder die Tatsache einer erzielten Verständigung noch deren Inhalt mitgeteilt, was nach § 273<br />

Abs. 1a StPO protokollierungspflichtig gewesen wäre. Damit ist nicht einmal sicher, ob die beteiligten Schöffen von<br />

der Tatsache der getroffenen Vereinbarung <strong>und</strong> deren Inhalt Kenntnis erlangt haben. Des Weiteren kam das Gericht<br />

auch seiner Belehrungspflicht nach § 257c Abs. 5 StPO ausweislich des Protokolls, das hierzu trotz der Protokollierungspflichten<br />

nach § 273 Abs. 1a S. 2 StPO keine Feststellung enthält, nicht nach. Schließlich unterblieb in Konsequenz<br />

dieses Verhaltens auch die nach § 35a S. 3 StPO vorgeschriebene qualifizierte Rechtsmittelbelehrung des<br />

Angekl. Somit ließ das Gericht sämtliche Pflichten zur Offenlegung <strong>und</strong> Dokumentation der Gr<strong>und</strong>lagen seines Urt.<br />

sowie zur umfassenden Belehrung des Angekl. sowohl vor Abgabe seiner vereinbarten Erklärung, als auch nach dem<br />

Urt. außer Acht <strong>und</strong> unterband selbst die nach § 302 Abs. 1 S. 2 StPO ausdrücklich für unzulässig erklärte Rechtsmittelverzichtserklärung<br />

im Anschluss des ergangenen Urt. nicht. Auch der Vertreter der StA kam seiner vom<br />

BVerfG (BVerfG a.a.O. Rn. 91 ff. bei juris) besonders hervorgehobenen, aber zuvor bereits in gleicher Weise gültigen<br />

Aufgabe als »Wächter des Gesetzes« nicht nach <strong>und</strong> gab seinerseits unzulässiger Weise eine Rechtsmittelverzichtserklärung<br />

ab, so dass das Urt. formal in Rechtskraft erwuchs. Sämtliche dieser vorgenannten Verfahrensfehler<br />

verletzen jedoch lediglich Verfahrensregeln, die der Absicherung der - auch im Rahmen verfahrensbeendender Verständigungen<br />

gültigen- zentralen Aufgabe des Gerichts dienen, den wahren Sachverhalt aufzuklären <strong>und</strong> ein schuldangemessenes<br />

Urt. zu finden. Sie hätten daher für sich genommen lediglich die Rechtswidrigkeit, nicht die gänzliche<br />

Unwirksamkeit des ergangenen Urt. zur Folge. Zur Annahme der Nichtigkeit <strong>und</strong> damit gänzlichen Unwirksamkeit<br />

führt erst der zusätzliche Umstand, dass das Gericht im vorliegenden Fall erkennbar seiner für den Strafprozess<br />

gr<strong>und</strong>legenden Pflicht zur Aufklärung des wahren Sachverhalts <strong>und</strong> der Schuld des Angekl. erkennbar bewusst nicht<br />

nachgekommen <strong>und</strong> sich hierzu tatsächlich keine eigene Überzeugung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung nach<br />

§ 261 StPO, also kein »eigenes Urteil« gebildet hat, sondern lediglich die bereits im Zwischenverfahren getroffene<br />

»Verständigung« ohne jegliche Nachkontrolle ihrer inhaltlichen Richtigkeit in ein formales Urt. umgesetzt hat, wobei<br />

- wie ausgeführt – nicht einmal sicher ist, dass die beteiligten Schöffen über die tatsächlichen Hintergründe informiert<br />

worden sind. Mit dem Verständigungsgesetz wollte der Gesetzgeber zwar eine offene, kommunikative Verhandlungsführung<br />

des Gerichts stärken, aber gerade kein neues, »konsensuales« Verfahrensmodell einführen. Vielmehr<br />

war es sein erklärtes Regelungsziel, weiterhin ein Strafverfahren sicherzustellen, das dem f<strong>und</strong>amentalen <strong>und</strong><br />

verfassungsrechtlich verankerten Gr<strong>und</strong>satz der Wahrheitsermittlung sowie der Findung einer gerechten schuldangemessenen<br />

Strafe verpflichtet ist (BVerfG a.a.O. Rn. 67 unter Hinweis auf den Gesetzentwurf der B<strong>und</strong>esregierung,<br />

BT-Drucks. 16/12310, 1, 8 f.). Die Klarstellung in § 257c Abs. 1 S. 2 StPO, wonach die in§ 244 Abs. 2 StPO niedergelegte<br />

Pflicht des Gerichts zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen »unberührt« bleibt, ist eindeutig. Die<br />

Norm schließt jede Disposition<br />

über Gegenstand <strong>und</strong> Umfang der dem Gericht von Amts wegen obliegenden Pflicht zur Aufklärung des mit der<br />

Anklage vorgeworfenen Geschehens aus. Damit wird hervorgehoben, dass eine Verständigung niemals als solche die<br />

Gr<strong>und</strong>lage eines Urt. bilden kann, sondern weiterhin allein <strong>und</strong> ausschließlich die - ausreichende f<strong>und</strong>ierte – Überzeugung<br />

des Gerichts von dem von ihm festzustellenden Sachverhalt maßgeblich bleibt (vgl. BVerfG a.a.O. Rn. 68).<br />

Der klarstellende Hinweis in § 257c Abs. 1 S. 2 StPO auf die Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO verdeutlicht,<br />

dass auch in der Verständigungssituation ein bloßes inhaltsloses Formalgeständnis oder gar die nicht einmal ein<br />

Geständnis darstellende schlichte Erklärung, der Anklage nicht entgegenzutreten, allein keine taugliche Gr<strong>und</strong>lage<br />

der richterlichen Überzeugungsbildung sein können (BVerfG a.a.O. Rn. 70). § 257c Abs. 1 S. 2 StPO kann zudem<br />

nur so verstanden werden, dass das verständigungsbasierte Geständnis zwingend auf seine Richtigkeit zu überprüfen<br />

ist. Diese Überprüfung hat sich- unter zusätzlicher Berücksichtigung des Gr<strong>und</strong>anliegens des Gesetzgebers, Verständigung<br />

transparent <strong>und</strong> kontrahierbar zu machen- durch Beweiserhebung in der Hauptverhandlung (vgl. § 261 StPO)<br />

zu vollziehen (BVerfG a.a.O. Rn. 71). Diesen Anforderungen an eine eigene Überzeugungsbildung von der Richtigkeit<br />

des Tat- <strong>und</strong> Schuldvorwurfs gegen den Angekl. als Gr<strong>und</strong>lage seines Urt. genügte das Gericht im vorliegenden<br />

Fall nicht ansatzweise. Die vom Verteidiger vorgetragene <strong>und</strong> vom Angekl. bestätigte Erklärung stellt ihrem Inhalt<br />

nach schon in objektiver Hinsicht, erst recht jedoch in subjektiver Hinsicht kein Geständnis hinsichtlich des ange-<br />

- 287 -


klagten Abrechnungsbetrugs dar. Insbesondere enthält sie keinerlei Aussage zur für den Tatvorsatz, selbst in dessen<br />

bedingter Form, erforderlichen Willenskomponente. Erst recht gilt dies für die tatbestandlieh erforderliche Bereicherungsabsicht.<br />

Stattdessen beschränkt sich die Erklärung darauf, dass er nicht gewusst, aber für möglich gehalten<br />

habe, überhöht abzurechnen. Ob <strong>und</strong> in wie weit er dies billigend in Kauf genommen oder aber beabsichtigt hat, lässt<br />

sich dieser Aussage nicht entnehmen. Auch die auf Frage des Gerichts ergänzend nachgeschobene Erklärung des<br />

Verteidigers ändert hieran nichts, sondern deutet eher eine Überforderung <strong>und</strong> die Vorstellung des Angekl. an, sich<br />

darauf verlassen zu haben, dass die KVB sich im Falle einer Unrichtigkeit der Abrechnung von sich aus melden<br />

werde (»16.000 Möglichkeiten .... hat sich verheddert. Jeder Arzt bekommt Honorarbescheid <strong>und</strong> Berichtigungsbescheid«).<br />

Dies- als zutreffend unterstellt- spräche gerade dafür, dass der Angekl. aus seiner Sicht nicht falsch abrechnen<br />

wollte <strong>und</strong> dies auch nicht billigend in Kauf genommen, sondern darauf vertraut hat, seitens der KVB ggf. einen<br />

Korrekturbescheid zu bekommen. Diese Erklärung des Angekl. Erfüllt somit selbst unter Berücksichtigung der ergänzenden<br />

Erklärung seines Verteidigers nicht einmal die Anforderungen an ein Formalgeständnis <strong>und</strong> hätte somit<br />

keinesfalls als Geständnis bezüglich des angeklagten Abrechnungsbetrugs gewertet werden dürfen. Darüber hinaus<br />

kam das Gericht seiner Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO auch zu den näheren Einzelheiten <strong>und</strong> Hintergründen,<br />

insbes. Zur Frage, ob der Angekl. -wie in der Anklage erwähnt <strong>und</strong> unter Beweis gestellt - bereits wegen<br />

vergleichbarer Falschabrechnungen abgemahnt <strong>und</strong> disziplinarisch geahndet worden war, nicht nach, obwohl dies für<br />

den Tat- wie Schuldvorwurf von offenk<strong>und</strong>ig entscheidender Bedeutung war. Trotz dieses offensichtlichen Klärungsbedarfs<br />

führte das Gericht zum Tatvorwurf keinerlei Beweisaufnahme durch <strong>und</strong> vernahm insbes. nicht die zu<br />

Art <strong>und</strong> Umfang der früheren Vorfälle in der Anklage benannte Zeugin. Dies war offensichtlich auch von vornherein<br />

so beabsichtigt, da zur Hauptverhandlung keinerlei Zeugen geladen wurden. Spätestens nach dem letzten Wort des<br />

Angekl., mit dem er seine ohnehin schon für ein Geständnis unzureichende Erklärung noch weiter entwertete (»Fühle<br />

mich von der KVB im Stich gelassen wegen der Richtigkeitsbescheinigung, habe mich darauf verlassen, immer,<br />

wenn ich eine Bescheinigung bekam <strong>und</strong> etwas richtiggestellt wurde, habe ich es nicht mehr abgerechnet, ( ... ) habe<br />

nie absichtlich betrogen«) wäre das Gericht nach § 257c Abs. 1 S. 2, Abs. 4 StPO gehalten gewesen, die gef<strong>und</strong>ene<br />

Verständigung für erledigt zu betrachten <strong>und</strong> stattdessen den tatsächlichen Geschehensablauf zur Bewertung des Tat<strong>und</strong><br />

Schuldvorwurfs zu klären. Da das Gericht dennoch die gänzlich inhaltslose Erklärung als Geständnis gewertet<br />

<strong>und</strong> keinerlei Anstrengungen zur Klärung des tatsächlichen Geschehensablaufs unternommen hat, hat es seine f<strong>und</strong>amentale<br />

Aufgabe, sich nach § 261 StPO aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung eine eigene Überzeugung über<br />

das wahre Tatgeschehen <strong>und</strong> den Schuldumfang des Angekl. als Gr<strong>und</strong>lage seines Urt. zu bilden, nicht erfüllt, sondern<br />

lediglich die ohnehin rechtswidrig getroffene Vereinbarung mit StA <strong>und</strong> Verteidigung in die äußerliche Form<br />

eines Urt. umgesetzt. Diese Verweigerung der Kernaufgabe des Gerichts wiegt angesichts des Umstands, dass eine<br />

Überprüfung der angekündigten Erklärung des Angekl. - wie ausgeführt - erkennbar von vorne herein nicht beabsichtigt<br />

war, nach Ausmaß <strong>und</strong> Gewicht so schwer, dass eine Gültigkeit dieser nur formal in Urteilsform gekleideten<br />

Entscheidung für die Rechtsgemeinschaft unerträglich wäre, weil die Entscheidung dem Geist der StPO <strong>und</strong> wesentlichen<br />

Prinzipien der rechtsstaatliehen Ordnung- offenk<strong>und</strong>ig - krass widerspricht. Angesichts des offenk<strong>und</strong>igen<br />

krassen Widerspruchs der Entscheidung zu gr<strong>und</strong>legenden Prinzipien der rechtsstaatliehen Ordnung <strong>und</strong> des zusätzlichen<br />

Umstands, dass an ihr auch die StA entgegen ihrer Rolle als »Wächter des Gesetzes « (vgl. BVerfG a.a.O. Rn.<br />

93) an ihr mitgewirkt <strong>und</strong> sie nicht verhindert hat, stehen der Annahme ihrer rechtlichen Unbeachtlichkeit auch die<br />

Erfordernisse der Rechtssicherheit <strong>und</strong> der Autorität gerichtlicher Entscheidungen sowie die Gesamtstruktur des<br />

Strafverfahrens mit seinem zur Korrektur fehlerhafter Entscheidungen bestimmten Rechtsmittelsystem nicht durchschlagend<br />

entgegen. Denn das hierfür angeführte Argument, dass sich dann jedermann in jeder Verfahrenslage, auch<br />

nach Rechtskraft der Entscheidung, auf deren Unwirksamkeit berufen könne, <strong>und</strong> zwar auch außerhalb der Ordnung,<br />

die das Strafverfahrensrecht mit den ihm eigenen Kontrollmechanismen darstellt (BGHSt 29, 351 ff. m.w.N.), überzeugt<br />

letztlich nicht. Denn auch bei formal eingetretener Rechtskraft kann diese - wie der vorliegende Fall zeigtunter<br />

Umständen selbst nach langer Zeit im Wege der Wiedereinsetzung durchbrachen werden. Wirkliche Rechtssicherheit<br />

ist in diesen Fällen krass rechtsstaatswidriger Entscheidungen somit auch bei Verneinung der Nichtigkeit<br />

nicht gewährleistet. Im Übrigen lässt sich nur durch die Annahme der Nichtigkeit von Urt., die auf derart krass<br />

rechtsstaatswidrigen Verständigungen wie im vorliegenden Fall beruhen, verhindern, dass ein Angekl. <strong>und</strong> mit Hilfe<br />

seines Verteidigers unter Ausnutzung eines parallelen, aber fehlgeleiteten Interesses von StA <strong>und</strong> Gericht an einer<br />

Verfahrensabkürzung auf Kosten der gebotenen Sachaufklärung zunächst ein rechtswidriges Verständigungsurteil<br />

mit entsprechender herabgesetzter Strafe möglichst unter Bewilligung von Strafaussetzung zur Bewährung anstrebt,<br />

nach dessen Rechtskraft aber mit Hilfe eines neuen Verteidigers <strong>und</strong> unter entsprechender Glaubhaftmachung, die<br />

- 288 -


nicht zu widerlegen ist, Wiedereinsetzung in die versäumte Rechtsmittelfrist <strong>und</strong> die Fortsetzung des Verfahrens mit<br />

der Gewissheit erlangt, dass die ausgesprochene Strafe wegen des Verbots der reformatio in peius allenfalls noch<br />

weiter ermäßigt werden kann. Dadurch entstünde eine unsachgemäße Begünstigung des Angekl., weil die StA ihrerseits<br />

keine Wiedereinsetzung in die versäumte Rechtsmittelfrist erlangen kann, weil ihr als Institution sowohl die<br />

Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts nach § 302 Abs. 1 S. 2 StPO als auch die Dauer der Rechtsmittelfrist bekannt<br />

ist. Hiergegen kann auch nicht mit Erfolg eingewandt werden, dass die StA ihrerseits an dem krass rechtsstaatwidrigen<br />

Verständigungsurteil mitgewirkt hat. Denn gerade im Hinblick auf die vom BVerfG besonders betonte<br />

Rolle der StA als »Wächter des Gesetzes« (BVerfG a.a.O. Rn. 93) darf das gezielte Ausnutzen ihres Fehlverhaltens<br />

in der Vorinstanz nicht zu einer weiteren Privilegierung des Angekl. in der Folgeinstanz führen. Im Ergebnis war<br />

somit festzustellen, dass das Urt. des SchöG beim AG Weilheim v. 24.05.2011 nichtig <strong>und</strong> damit unwirksam <strong>und</strong><br />

unbeachtlich ist. Als Folge der Nichtigkeit des ergangenen Urt. ist erneut über die bereits zugelassene Anklage der<br />

StA München II v. 21.01.2011 zu verhandeln <strong>und</strong> zu entscheiden. Analog§ 210 Abs. 3 StPO wird das Verfahren<br />

hierzu an das SchöG beim AG Garmisch-Partenkirchen zurückgegeben, um die Entscheidung eines von den bisherigen<br />

Vorgängen völlig unbelasteten Gerichts zu gewährleisten. [ ... ]<br />

VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 3, § 133 Abs. 6 – Keine Bindungswirkung rechtswidrig ausgedealtes Strafurteil<br />

im Disziplinarbverfahren<br />

BVerwG Beschluss vom 1. März 2013 - 2 B 78.12<br />

LS: Ein Strafurteil, das auf einem inhaltsleeren Formalgeständnis beruht <strong>und</strong> deshalb nach der<br />

Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs für die richterliche Überzeugungsbildung nicht ausreicht,<br />

entfaltet im beamtenrechtlichen Disziplinarverfahren keine Bindungswirkung.<br />

Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 20. Juni 2012 wird aufgehoben. Der<br />

Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.<br />

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.<br />

G r ü n d e :<br />

Die Beschwerde des Beklagten hat mit der Maßgabe Erfolg, dass der Rechtsstreitgemäß § 133 Abs. 6 VwGO, § 67<br />

Satz 1 LDG NRW zur anderweitigen Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen<br />

ist. Die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen vor, weil das Berufungsurteil auf der vom<br />

Beklagten geltend gemachten Verletzung des§ 56 Abs. 1 Satz 2 LDG NRW beruht. Das Oberverwaltungsgericht<br />

hätte die Lösung von den tatsächlichen Feststellungen des rechtskräftigen Strafurteilsbeschließen <strong>und</strong> den Sachverhalt<br />

selbst aufklären müssen. Dagegen ist die Gr<strong>und</strong>satzrüge nicht begründet.<br />

1. Der 1945 geborene Beklagte stand als Studiendirektor im Dienst des Klägers. Auf seinen Antrag hin wurde der<br />

Beklagte mit dem Ende des Monats Juli2008 in den Ruhestand versetzt. Im Mai 2009 wurde der Beklagte wegen<br />

sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von elf Monaten verurteilt. Im sachgleichen<br />

Disziplinarverfahren hat das Verwaltungsgericht dem Beklagten das Ruhegehalt aberkannt. Das Oberverwaltungsgericht<br />

hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:<br />

Das rechtskräftige Strafurteil binde die für das Disziplinarverfahren zuständigen Gerichte. Die Voraussetzungen für<br />

eine Lösung von den Feststellungen des Strafurteils seien nicht gegeben. Das vom Beklagten in der Hauptverhandlung<br />

abgelegte Geständnis sei kein bloßes „abnickendes“ Geständnis, das für eine Verurteilung nicht ausgereicht<br />

habe. Der Beklagte habe sich durch den sexuellen Missbrauch eines Kindes in zwei Fällen eines einheitlichen sehr<br />

schweren Dienstvergehens schuldig gemacht. Das außerdienstliche Dienstvergehen sei bereits wegen der Verurteilung<br />

zu einer Freiheitsstrafe disziplinarwürdig. Die Gesamtbewertung des Dienstvergehens, sämtlicher für <strong>und</strong> gegen<br />

ihn sprechenden Umstände sowie seine aus den Akten ersichtliche <strong>und</strong> in der Berufungsverhandlung erkennbar gewordene<br />

Persönlichkeit führe zu der Prognoseentscheidung, dass das Vertrauen des Dienstherrn <strong>und</strong> der Allgemeinheit<br />

in den Beklagten unwiederbringlich zerstört sei. Die durch sein Verhalten verursachte Beeinträchtigung des<br />

Ansehens des Berufsbeamtentums sei bei einer Fortdauer des Beamtenverhältnisses nicht wieder gut zu machen.<br />

2. Die gr<strong>und</strong>sätzliche Bedeutung der Rechtssache sieht die Beschwerde in der Frage, „ob ... strafrechtliche Urteile,<br />

die im vermeintlichen ‚Erledigungsinteresse ’aller Beteiligten in offensichtlich rechtswidriger Weise zustande ge-<br />

- 289 -


kommen sind, an der Bindungswirkung des § 56 Abs. 1 Satz 1 LDG NRW teilnehmen sollen <strong>und</strong> dürfen. „Gr<strong>und</strong>sätzliche<br />

Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, § 67 Satz 1 LDG NRW)hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie<br />

eine - vom Beschwerdeführer zu bezeichnende- gr<strong>und</strong>sätzliche, bisher höchstrichterlich nicht beantwortete Rechtsfrageaufwirft,<br />

die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder einer Weiterentwicklung des Rechts<br />

revisionsgerichtlicher Klärung bedarf <strong>und</strong> die für die Entscheidung des Revisionsgerichts erheblich sein wird<br />

(stRspr., u.a. Beschluss vom 2. Oktober 1961 - BVerwG 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 ). Die in der Beschwerde<br />

aufgeworfene Frage der Bindungswirkung von „in offensichtlich rechtswidriger Weise zustande“ gekommenen<br />

Urteilen für das Disziplinarverfahren vermag die Zulassung der Revision nicht zu rechtfertigen, weil sie in<br />

der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esverwaltungsgerichts bereits geklärt<br />

ist.<br />

Nach § 56 Abs. 1 LDG NRW sind die tatsächlichen Feststellungen eines rechtskräftigen Urteils im Strafverfahren im<br />

Disziplinarverfahren, das denselben Sachverhalt zum Gegenstand hat, für das Gericht bindend. Das Gericht hat jedoch<br />

die erneute Prüfung solcher Feststellungen zu beschließen, die offenk<strong>und</strong>ig unrichtig sind. Diese gesetzliche<br />

Bindungswirkung dient der Rechtssicherheit. Sie soll verhindern, dass zu ein- <strong>und</strong> demselben Geschehensablauf<br />

unterschiedliche Tatsachenfeststellungen getroffen werden. Der Gesetzgeber hat die Aufklärung eines sowohl strafrechtlich<br />

als auch disziplinarrechtlich bedeutsamen Sachverhalts sowie die Sachverhalts- <strong>und</strong> Beweiswürdigung den<br />

Strafgerichten übertragen.<br />

Dementsprechend sind die Verwaltungsgerichte nur dann berechtigt <strong>und</strong> verpflichtet, sich von den Tatsachenfeststellungen<br />

eines rechtskräftigen Strafurteils zu lösen <strong>und</strong> den disziplinarrechtlich bedeutsamen Sachverhalt eigenverantwortlich<br />

zu ermitteln, wenn sie ansonsten „sehenden Auges“ auf der Gr<strong>und</strong>lageeines unrichtigen oder aus rechtsstaatlichen<br />

Gründen unverwertbaren Sachverhaltsentscheiden müssten. Dies ist etwa der Fall, wenn die Tatsachenfeststellungen<br />

des Strafurteils in Widerspruch zu Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen stehen oder aus<br />

sonstigen Gründen offenbar unrichtig sind.<br />

Darüber hinaus kommt eine Lösung in Betracht, wenn neue Beweismittel vorgelegt werden, die dem Strafgericht<br />

nicht zur Verfügung standen <strong>und</strong> nach denen die Tatsachenfeststellungen jedenfalls auf erhebliche Zweifel stoßen.<br />

Die Bindungswirkung entfällt aber auch bei Strafurteilen, die in einem ausschlaggebenden Punkt unter offenk<strong>und</strong>iger<br />

Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriftenzustande gekommen sind (Urteile vom 29. November 2000 -<br />

BVerwG 1 D13.99 - BVerwGE 112, 243 = Buchholz 235 § 18 BDO Nr. 2 S. 5 f. <strong>und</strong> vom 14. März 2007 -<br />

BVerwG 2 WD 3.06 - BVerwGE 128, 189 = Buchholz450.2 § 84 WDO 2002 Nr. 3 Rn. 25; Beschlüsse vom<br />

24. Juli 2007 -BVerwG 2 B 65.07 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 4 Rn. 11 <strong>und</strong> vom 26.August 2010 - BVerwG<br />

2 B 43.10 - Buchholz 235.1 § 57 BDG Nr. 3 Rn. 5).3. Begründet ist aber die Verfahrensrüge, das Oberverwaltungsgericht<br />

sei zu Unrecht von der Bindung an die tatsächlichen Feststellungen des rechtskräftigen Strafurteils ausgegangen<br />

<strong>und</strong> habe deshalb den Sachverhalt nicht selbstaufgeklärt.<br />

Dem Strafurteil kommt keine Bindungswirkung im Sinne von § 56 Abs. 1 Satz 1LDG NRW zu, weil es in einem<br />

ausschlaggebenden Punkt unter offenk<strong>und</strong>iger Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften zustande gekommen<br />

ist. Das Amtsgericht hat die tatsächlichen Feststellungen seines nicht nach § 267 Abs. 4StPO abgekürzten Urteils<br />

ausschließlich auf das inhaltsleere Formalgeständnis des Beklagten in der Hauptverhandlung gestützt. Nach den<br />

Gr<strong>und</strong>sätzen des B<strong>und</strong>esgerichtshofs zur Bewertung von Geständnissen, der sich der Senat anschließt, konnte die<br />

Verurteilung des Beklagten aber nicht allein auf dessen Erklärungen in der Hauptverhandlung gegründet werden.<br />

Das Strafgericht hat auf der Gr<strong>und</strong>lage des nach § 244 Abs. 2 StPO von Amtswegen aufzuklärenden Sachverhalts<br />

den Schuldspruch zu treffen <strong>und</strong> die entsprechenden Rechtsfolgen festzusetzen. § 244 Abs. 1 <strong>und</strong> § 261 StPO schließen<br />

es aber nach der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs nicht aus, eine Verurteilung allein auf ein in der<br />

Hauptverhandlung abgegebenes Geständnis des Angeklagten zu stützen, sofern dieses dem Gericht die volle Überzeugung<br />

von der Tatbestandsmäßigkeit <strong>und</strong> Rechtswidrigkeit der Tat sowie der Schuld des Angeklagten zu vermitteln<br />

vermag (BGH, Urteil vom 22. Januar 1986 - 3StR 474/85 - StV 1987, 378; Beschluss vom 19. August 1993 - 4<br />

StR 627/92 -BGHSt 39, 291 ). Aber selbst wenn der Angeklagte im Rahmen einer Verfahrensabsprache geständig<br />

ist, ist es unzulässig, dem Urteil einen Sachverhalt zugr<strong>und</strong>e zu legen, der nicht auf einer Überzeugungsbildung<br />

unter vollständiger Ausschöpfung des Materials beruht. Die Bereitschaft eines Angeklagten, wegen eines bestimmten<br />

Sachverhalts eine Strafe hinzunehmen, die das gerichtlich zugesagte Höchstmaß nicht überschreitet, entbindet<br />

das Gericht nicht von der Pflicht zur Aufklärung <strong>und</strong> Darlegung des Sachverhalts, soweit dies für den Tatbestand<br />

der dem Angeklagten vorgeworfenen Gesetzesverletzung erforderlich ist. Danach muss auch bei Fällen, bei<br />

denen das Gericht eine Strafobergrenze in Aussicht gestellt hat, das abgelegte Geständnis auf seine Zuverlässigkeit<br />

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hin überprüft werden. Das Gericht muss von der Richtigkeit des Geständnisses überzeugt sein. Es hat zu prüfen, ob<br />

das abgelegte Geständnismit dem Ermittlungsergebnis zu vereinbaren ist, ob es in sich stimmig ist <strong>und</strong> ob es die<br />

getroffenen Feststellungen trägt. Das Geständnis muss demnach wenigstens so konkret sein, dass geprüft werden<br />

kann, ob es derart mit der Aktenlage in Einklang steht, dass sich hiernach keine weitergehende Sachverhaltsaufklärung<br />

aufdrängt. Ein bloßes inhaltsleeres Formalgeständnis reicht dagegen nicht aus (BGH, Großer Senat für Strafsachen,<br />

Beschluss vom 3. März2005 - GSSt 1/04 - BGHSt 50, 40 S. 49 f.; BGH, Beschlüsse vom 20. April 2004- 5 StR<br />

11/04 - NJW 2004, 1885 f. <strong>und</strong> vom 25. Januar 2006 - 1 StR 438/05 -NStZ-RR 2007, 20 f., Urteil vom 26. Januar<br />

2006 - 3 StR 415/02 - NStZ-RR2006, 187 f., Beschlüsse vom 13. Juni 2007 - 3 StR 162/07 - NStZ-RR 2007,307<br />

<strong>und</strong> vom 11. Dezember 2008 - 3 StR 21/08 - NStZ 2009, 467 f.).<br />

Die Erklärungen des Beklagten, die er nach der Niederschrift über die Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht abgegeben<br />

hat, reichen danach als Gr<strong>und</strong>lage für eine Verurteilung nicht aus. Denn sie räumen die Tat nur formal ein,<br />

haben aber keine inhaltliche Substanz, die dem Amtsgericht die Prüfung ermöglicht hätte, ob das Geständnis des<br />

Beklagten mit der Aktenlage, insbesondere mit der Aussage der Geschädigten in ihrer richterlichen Vernehmung,<br />

übereinstimmt. Der Beklagte hat zunächst seinen Verteidiger lediglich die - inhaltsleere- Erklärung abgeben lassen,<br />

er räume „die Taten - wie in der Anklage geschrieben- ein“. Der Beklagte ist zwar anschließend vom Vorsitzenden<br />

befragt worden.<br />

Ausweislich der Niederschrift über die Hauptverhandlung hat der Beklagte aber auch dabei keine Angaben zur Sache<br />

gemacht, sondern lediglich „die Tatenzugegeben“. Das Amtsgericht hat zwar noch aufgr<strong>und</strong> des Strafregisters festgestellt,<br />

dass der Beklagte nicht vorbestraft ist. Auch im Anschluss an diese tatsächliche Feststellung hat der Beklagte<br />

keinerlei Angaben zum Tatgeschehen gemacht. Dies gilt auch für das ihm zustehende letzte Wort (§ 258 Abs.<br />

2StPO). Zu der Vernehmung der präsenten Zeugen kam es nicht mehr, weil auch der Beklagte (vgl. § 245 Abs. 1<br />

Satz 2 StPO) hierauf verzichtet hat. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 VwGO,<br />

§ 67 Satz 1 LDG NRW).<br />

Schwerpunktthema §§ 244 ff. StPO, Beweisantragsrecht<br />

StPO § 244 Abs. 2 StPO – Aufklärungsrüge erfolgreich<br />

BGH Beschl. v. 19.03.2013 - 5 StR 79/13 - BeckRS 2013, 05860<br />

Nicht amtlicher Leitsatz: Das Tatgericht muss in Fällen sogenannten wiederholten Wiedererkennens<br />

in den Urteilsgründen darlegen, dass es sich des eventuell verringerten Beweiswerts bewusst gewesen<br />

ist. Der Antrag auf Vernehmung eines weiteren Zeugen mit der Begründung, zwei bereits vernommene<br />

Zeugen seien sich 100%ig sicher, dass der Angeklagte der Täter ist, verletzt die Aufklärungspflicht.<br />

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 24. Oktober 2012 gemäß § 349<br />

Abs. 4 StPO mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben<br />

a) im Schuldspruch zu den Taten II.2. <strong>und</strong> 3. der Urteilsgründe,<br />

b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.<br />

2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.<br />

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des<br />

Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe<br />

1 Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen<br />

(Taten II.2. <strong>und</strong> 3. der Urteilsgründe), gefährlicher Körperverletzung (Tat II.1. der Urteilsgründe) sowie wegen versuchter<br />

gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung (Tat II.4. der Urteilsgründe) zu einer<br />

Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren <strong>und</strong> zehn Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf Verfahrensrügen<br />

<strong>und</strong> die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Diese hat mit einer Aufklärungsrüge im Umfang der Beschlussformel<br />

Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO) <strong>und</strong> ist im Übrigen im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO unbegründet.<br />

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2 1. Nach den landgerichtlichen Feststellungen zu den Taten II.2. <strong>und</strong> 3. der Urteilsgründe hielten sich die späteren<br />

Tatopfer D. <strong>und</strong> B. des Nachts - gemeinsam mit den Zeugen L. <strong>und</strong> P. Bier trinkend - vor einem 'Spätkauf" auf. Dort<br />

schlug der Angeklagte den ihm unbekannten Geschädigten D. zu Boden, trat ihn mehrmals <strong>und</strong> nahm dessen Handy<br />

an sich. Währenddessen schlug ein unbekannt gebliebener Mittäter aufgr<strong>und</strong> eines zuvor mit dem Angeklagten gefassten<br />

Tatentschlusses den Geschädigten B. ebenfalls nieder. Anschließend traten er <strong>und</strong> der Angeklagte, der inzwischen<br />

'mit dem Zeugen D. 'fertig' war", gemeinsam gegen den Kopf des am Boden liegenden B. , so dass dieser bewusstlos<br />

wurde, <strong>und</strong> nahmen dessen Goldketten an sich. Die entwendeten Gegenstände wollten sie für sich behalten<br />

oder verwerten.<br />

3 Der Angeklagte hat diese Taten bestritten <strong>und</strong> ein Alibi behauptet. Dieses hat das Landgericht als widerlegt angesehen<br />

<strong>und</strong> sich von der Täterschaft des Angeklagten im Wesentlichen deshalb überzeugt, weil die Zeugen D. <strong>und</strong> B.<br />

ihn in der Hauptverhandlung 'zu einh<strong>und</strong>ert Prozent" bzw. 'ohne zu zögern" als einen der Täter wiedererkannt hätten.<br />

Im Urteil wird nicht mitgeteilt, ob auch der ebenfalls als Zeuge vernommene L. den Angeklagten hat identifizieren<br />

können.<br />

4 2. Die Revision macht mit einer (§ STPO § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) erhobenen Aufklärungsrüge geltend, das<br />

Landgericht hätte den zumindest beim Beginn beider Angriffe am Tatort anwesenden, in der Anklageschrift als Beweismittel<br />

bezeichneten P. als Zeugen vernehmen müssen. Dieser hätte anhand näher beschriebener physiognomischer<br />

Merkmale bek<strong>und</strong>et, „dass der Angeklagte ... nicht mit den Tätern identisch war". Die Rüge greift durch <strong>und</strong><br />

führt zur Aufhebung der Schuldsprüche betreffend die Taten II.2. <strong>und</strong> 3. der Urteilsgründe nebst den zugehörigen<br />

Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO).<br />

5 a) § 244 Abs. 2 StPO gebietet es, allen erkennbaren <strong>und</strong> sinnvollen Möglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhalts<br />

nachzugehen (vgl. BGH, Urteil vom 10. November 1992 - 1 StR 685/92, BGHR StPO § 244 Abs. 6 Beweisantrag<br />

23). Deshalb hätte sich das Landgericht bei der bestehenden Beweislage gedrängt sehen müssen, den Genannten als<br />

Zeugen zu vernehmen.<br />

6 aa) Diese war dadurch geprägt, dass die beiden Geschädigten den Angeklagten in der Hauptverhandlung zwar als<br />

einen der Täter identifiziert hatten. Auch im Rahmen ihrer jeweiligen polizeilichen Vernehmung hatten sie den Angeklagten<br />

bei einer - im Vergleich zu einer Wahlgegenüberstellung allerdings weniger zuverlässigen - Wahllichtvorlage<br />

wiedererkannt. Die Bilder waren ihnen hierbei aber nicht - was wegen des höheren Beweiswertes vorzugswürdig<br />

gewesen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 14. April 2011 - 4 StR 501/10, NStZ 2011, 648, 649) - sequentiell, sondern<br />

nebeneinander vorgelegt worden. Es handelte sich um lediglich sechs Fotos, während eine Anzahl von acht Vergleichspersonen<br />

sachgerecht gewesen wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 9. November 2011 - 1 StR 524/11, NStZ<br />

2012, 283, 284). Beiden Zeugen waren zudem dieselben Bilder in identischer Anordnung, der Angeklagte als 'Nr. 4",<br />

gezeigt worden, <strong>und</strong> zwar dem Zeugen B. am 14. Dezember 2011 <strong>und</strong> dem Zeugen D. am 29. Dezember 2011. Dieses<br />

Foto des Angeklagten war auch für einen Fahndungsaushang verwendet worden, den der Zeuge B. vor Beginn<br />

seiner Vernehmung im polizeilichen Wartebereich wahrgenommen hatte. Die Revision trägt darüber hinaus vor, der<br />

Zeuge habe im Rahmen dieser Vernehmung angegeben, er habe den Angeklagten bereits im Vorfeld auf einem in der<br />

Zeitung 'Lichtenberger Kurier" veröffentlichten Fahndungsfoto wiedererkannt.<br />

7 Bei diesem Ablauf der Identifizierungsmaßnahmen bestand somit die Möglichkeit, dass beim Zeugen B. die<br />

originäre Erinnerung durch das (einzelne) Fahndungsfoto 'überschrieben" worden war (vgl. BGH, Beschluss vom<br />

21. Juli 2009 - 5 StR 235/09, NStZ 2010, 53, 54; s. auch Urteil vom 27. Oktober 2005 - 4 StR 234/05), <strong>und</strong> es war<br />

nicht einmal ausgeschlossen, dass der Zeuge D. mit ihm vor seiner eigenen Einsichtnahme über die zu erwartende<br />

Anordnung der Fotos gesprochen, möglicherweise gar auch das Fahndungsfoto gesehen hatte.<br />

8 bb) Angesichts dessen musste sich dem Landgericht die zeugenschaftliche Vernehmung P. s aufdrängen. Je weniger<br />

gesichert ein Beweisergebnis erscheint <strong>und</strong> je gewichtiger die Unsicherheitsfaktoren sind, desto größer ist der Anlass<br />

für das Gericht, trotz der (an sich) erlangten Überzeugung weitere erkennbare Beweismöglichkeiten zu nutzen (vgl.<br />

BGH, Urteil vom 5. Dezember 1995 - 1 StR 580/95, StV 1996, 249). Dem steht hier nicht entgegen, dass in der von<br />

der Revision vorgetragenen Strafanzeige vermerkt ist, der Zeuge hätte geäußert, ein Wiedererkennen der Täter sei<br />

nicht möglich. Denn diese Einschätzung war im Laufe der Ermittlungen nicht überprüft worden. Sie lässt im Übrigen<br />

die Möglichkeit offen, dass er den Angeklagten als Täter ausschließen kann.<br />

9 b) Danach erscheint es dem Senat als möglich, dass das Landgericht hinsichtlich der Taten II.2. <strong>und</strong> 3. der Urteilsgründe<br />

zu einer anderen Beweiswürdigung gelangt wäre, hätte es den Zeugen P. zum Tatgeschehen gehört <strong>und</strong> dessen<br />

Angaben in seine Gesamtbetrachtung einbezogen.<br />

- 292 -


10 3. Der dadurch bedingte Wegfall der Einsatzstrafe (drei Jahre Freiheitsstrafe für die Tat II.3. der Urteilsgründe) sowie<br />

der für die Tat zu II.2. der Urteilsgründe festgesetzten Einzelstrafe zieht die Aufhebung der Gesamtstrafe nach sich.<br />

11 Die für die Taten II.1. <strong>und</strong> 4. der Urteilsgründe verhängten Einzelstrafen haben dagegen Bestand; der Senat schließt<br />

aus, dass deren Zumessung durch die aufgehobenen Fälle zum Nachteil des Angeklagten beeinflusst worden ist.<br />

12 4. Für die neu zu treffende Entscheidung weist der Senat auf Folgendes hin:<br />

13 a) Das Tatgericht muss in Fällen sogenannten wiederholten Wiedererkennens in den Urteilsgründen darlegen, dass<br />

es sich des eventuell verringerten Beweiswerts bewusst gewesen ist (s. schon BGH, Urteil vom 28. Juni 1961 - 2 StR<br />

194/61, BGHSt 16, 204, 206). Dabei wird vorliegend das Augenmerk auch auf die im angefochtenen Urteil nicht<br />

erörterte Frage zu legen sein, ob schon das Wiedererkennen des Angeklagten seitens des Zeugen B. bei der polizeilichen<br />

Wahllichtbildvorlage durch das vorherige Betrachten des in der Zeitung <strong>und</strong> auf dem Fahndungsaushang veröffentlichten<br />

Fotos beeinflusst worden sein könnte. In diesem Zusammenhang wird gegebenenfalls auch darzustellen<br />

sein, wie sich der Zeuge L. zum Wiedererkennen des Angeklagten geäußert hat.<br />

14 b) § 249 StGB setzt einen finalen Zusammenhang zwischen dem eingesetzten Nötigungsmittel <strong>und</strong> der Wegnahme<br />

voraus (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Juni 2001 - 3 StR 176/01). Hierfür genügt die bloße Feststellung, ein Täter<br />

habe das Opfer geschlagen oder getreten, 'um ihm Schmerzen zuzufügen" (UA S. 11), nicht.<br />

StPO § 244 Abs. 3 Beweisantrag aufs Gratewohl gestellt?<br />

BGH Beschl. v. 11.04.2013 - 2 StR 504/12 –<br />

Zu den Anforderungen an die Beurteilung des Vorliegens eines aufs Geratewohl gestellten Beweisantrags<br />

Auf die Revision der Angeklagten P. M. wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 23. April 2012,<br />

soweit es sie betrifft,<br />

a) mit den zugehörigen Feststellungen in den Fällen II. 1-14, 19-23, 26-33, 35-131, 133-142, 147-160, 164-<br />

253, 255-267, 273-289, 295-303, 307-319, 322-393 <strong>und</strong> 397-472 der Urteilsgründe sowie im Ausspruch<br />

über die Gesamtstrafe <strong>und</strong> über die Feststellung gemäß § 111i Abs. 2 StPO aufgehoben,<br />

b) in den Fällen II. 15-18, 24, 25, 34, 132, 143-146, 161-163, 254, 268-272, 290-294, 304-306, 320, 321, 394-<br />

396 <strong>und</strong> 473 der Urteilsgründe im Schuldspruch dahin abgeändert, dass die Angeklagte jeweils des Betruges<br />

schuldig ist, im Fall 132 in Tateinheit mit Urk<strong>und</strong>enfälschung.<br />

Ihre weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.<br />

2. Auf die Revision des Angeklagten M. M. wird das vorgenannte Urteil, soweit es ihn betrifft, mit den Feststellungen<br />

aufgehoben.<br />

3. Im Umfang der Aufhebungen wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der<br />

Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

1 Das Landgericht hat die Angeklagte P. M. wegen Untreue in 473 Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit<br />

Urk<strong>und</strong>enfälschung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren <strong>und</strong> den Angeklagten M. M. wegen Beihilfe zur<br />

Untreue zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr <strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt. Weiter hat das Landgericht festgestellt,<br />

dass bei der Angeklagten P. M. hinsichtlich eines Betrages von 21.505 € <strong>und</strong> bei dem Angeklagten M. M.<br />

hinsichtlich eines Betrages von 39.190 € Ansprüche des Verletzten der Anordnung des Verfalls entgegenstehen. Die<br />

Beschwerdeführer rügen die Verletzung formellen <strong>und</strong> materiellen Rechts. Das Rechtsmittel der Angeklagten P. M.<br />

hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349<br />

Abs. 2 StPO. Das Rechtsmittel des Angeklagten M. M. hat in vollem Umfang Erfolg.<br />

I.<br />

2 1. Nach den Feststellungen war die Angeklagte P. M. ab Mai 2009 als Sachbearbeiterin beim H. kreis im Fachbereich<br />

Soziale Dienste tätig. Dort war sie als persönliche Ansprechpartnerin für Langzeitarbeitslose eingesetzt <strong>und</strong><br />

damit zuständig für die nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) zu gewährenden Leistungen zur Eingliederung<br />

in Arbeit. Sie hatte Eingliederungsvereinbarungen mit Leistungsberechtigten abzuschließen <strong>und</strong> in diesem Rahmen<br />

über die Teilnahme an Fördermaßnahmen zu entscheiden. Hierzu war die Angeklagte ermächtigt, über ein Budget<br />

von 5.000 € je Eingliederungsmaßnahme allein zu entscheiden. Sie konnte sowohl die Maßnahme als auch den aus-<br />

- 293 -


führenden Träger frei bestimmen. Die Kostenbeträge für die Eingliederungsmaßnahmen, die von den persönlichen<br />

Ansprechpartnern bewilligt worden waren, wurden von ihnen nach Leistungserbringung <strong>und</strong> Rechnungsstellung in<br />

ein Datenverarbeitungsprogramm eingegeben <strong>und</strong> an die Maßnahmeträger per Überweisung ausgezahlt.<br />

3 Die Angeklagte entschloss sich, zur Aufbesserung ihrer Einkünfte die ihr eingeräumten Entscheidungsbefugnisse<br />

auszunutzen. Auf ihren Vorschlag hin gründete ihr Ehemann, der Angeklagte M. M. , Anfang Juni 2009 ein Einzelunternehmen<br />

unter dem Namen "B. I. H. " (BIH), für das er unter seiner Wohnanschrift ein Gewerbe anmeldete <strong>und</strong><br />

ein Konto einrichtete. Danach beauftragte die Angeklagte im Namen des Kreisausschusses des H. kreises das Unternehmen<br />

mit der Durchführung von Schulungen für Langzeitarbeitslose. Der Angeklagte M. M. hielt bis Ende September<br />

2009 in eigens dafür angemieteten Räumen Deutsch- <strong>und</strong> Mathematik-Kurse ab.<br />

4 Um ihre Einkünfte weiter zu steigern, wies die Angeklagte P. M. in der Zeit vom 16. Juni 2009 bis zum 23. März<br />

2010 in 438 Fällen Zahlungen auch für nicht erbrachte Leistungen zu Lasten des H. kreises an (Fälle II. 1-14, 19-23,<br />

26-33, 35-131, 133-142, 147-160, 164-253, 255-267, 273-289, 295-303, 307-319, 322-393 <strong>und</strong> 397-472 der Urteilsgründe).<br />

Sie erstellte in diesem ersten Tatkomplex zunächst für fiktive Leistungen des Unternehmens des Angeklagten<br />

M. M. zur Verschleierung ihres Vorgehens im Namen des Kreisausschusses Kostenübernahmen <strong>und</strong> heftete diese<br />

in die Fallakten der Leistungsempfänger. Dort legte die Angeklagte ebenfalls die im Zusammenwirken mit dem<br />

Angeklagten M. M. aufgesetzten Scheinrechnungen ab, deren Beträge sie an die BIH überweisen ließ. Einige der<br />

insgesamt 74 im gesamten Tatzeitraum an die BIH geleisteten Zahlungen wies sie aufgr<strong>und</strong> sog. Vorschussrechnungen<br />

an, für die nachfolgend Gegenleistungen nicht erbracht wurden; teilweise veranlasste sie Zahlungen an die BIH<br />

auch ohne Rechnungen. Außerdem meldete die Angeklagte P. M. im August 2009 selbst ein Gewerbe für<br />

"Coaching" an <strong>und</strong> gründete in der Folgezeit fünf eigene Scheinunternehmen. Deren Namen verwendete sie ab August<br />

2009 ebenfalls, um Zahlungen für angeblich gegenüber Leistungsempfängern erbrachte Fortbildungsmaßnahmen<br />

auf ihre eigenen Konten veranlassen zu können. Auch hier erstellte sie zur Verschleierung ihres Vorgehens<br />

Kostenübernahme-Erklärungen des Kreisausschusses <strong>und</strong> Scheinrechnungen über fiktive Leistungen.<br />

5 Weiterhin buchte die Angeklagte P. M. in einem zweiten Tatkomplex in der Zeit vom 3. Juli 2009 bis zum 19. März<br />

2010 in 35 Fällen über Datenverarbeitungsprogramme auch Bar-Auszahlungen für Leistungsempfänger (Fälle II. 15-<br />

18, 24, 25, 34, 132, 143-146, 161-163, 254, 268-272, 290-294, 304-306, 320, 321, 394-396 <strong>und</strong> 473 der Urteilsgründe).<br />

Den Sachbearbeitern des Fachbereichs Soziale Dienste war die Möglichkeit derartiger Geldauszahlungen zur<br />

Beseitigung dringender Notlagen eingeräumt. Die entsprechenden Auszahlungsanordnungen waren nach einem Vier-<br />

Augen-Prinzip von einem Sachbearbeiter mit Feststellungsbefugnis <strong>und</strong> einem Sachbearbeiter mit Anordnungsbefugnis<br />

zu unterzeichnen. Die Angeklagte hatte selbst keine der beiden Befugnisse. Aufgr<strong>und</strong> falscher Angaben zur<br />

Notwendigkeit der Auszahlungen <strong>und</strong> einer nur oberflächlichen Plausibilitätsprüfung auf sachliche <strong>und</strong> rechnerische<br />

Richtigkeit erlangte die Angeklagte jeweils die beiden erforderlichen Unterschriften. Zur Verschleierung ihres wahren<br />

Vorhabens erstellte die Angeklagte auch Aktenvermerke über die angeblich wichtigen Gründe. Die Auszahlungsbeträge<br />

wurden jeweils auf Chipkarten aufgeladen, die regulär an die Leistungsempfänger gegen Quittung auszuhändigen<br />

gewesen wären. Mit den entsprechend aufgeladenen Karten zog die Angeklagte selbst das Bargeld an<br />

den hierfür vorgesehenen Kassenautomaten, die in den Räumen der Dienststelle videoüberwacht aufgestellt waren.<br />

Um ihre Vorgehensweise plausibel zu machen, bat sie Ende Juni 2009 ihren Vorgesetzten unter einem Vorwand um<br />

die Erlaubnis, selbst anstelle der Hilfeempfänger das Bargeld ziehen zu dürfen. Ihr Vorgesetzter durchschaute ihre<br />

wahre Absicht nicht <strong>und</strong> erhob keine Einwände. Außerdem sorgte sie jeweils für Unterschriften, mit denen sie auf<br />

den Auszahlungsanordnungen eine Quittung der angeblichen Zahlungsempfänger über einen Erhalt der Chipkarte<br />

vortäuschte. Im Fall 132 fälschte sie hierzu die Unterschrift des betreffenden Leistungsempfängers.<br />

6 Durch die von der Angeklagten P. M. durchgeführten Überweisungen <strong>und</strong> Barauszahlungen im Rahmen vorgetäuschter<br />

Betreuungsmaßnahmen bei insgesamt 120 Leistungsbeziehern entstand in den 473 Fällen dem H. kreis ein<br />

Gesamtschaden in einer Höhe von 514.736 €. Dabei betrug der Schaden in den 74 Fällen, in denen die Angeklagte<br />

Überweisungen an die BIH auf das Konto des Angeklagten M. M. für nicht erbrachte Leistungen veranlasste, insgesamt<br />

39.190 €.<br />

7 2. Die Angeklagte P. M. hatte sich in der Hauptverhandlung zu den von ihr veranlassten Überweisungen dahin<br />

eingelassen, schon kurz nach ihrem Dienstantritt ihrem Vorgesetzten, dem Zeugen Ha. , eine Verbesserung der Fördermaßnahmen<br />

vorgeschlagen <strong>und</strong> ihm die Durchführung von Schulungen <strong>und</strong> Coachings durch das Unternehmen<br />

ihres Mannes <strong>und</strong> durch ein eigenes Unternehmen angeboten zu haben. Anschließend habe ihr der Zeuge Ha. am<br />

8. Juni 2009 per E-Mail bestätigt, dass ein Pilotprojekt durchgeführt werden solle. Die Kosten für die von ihren Firmen<br />

noch zu erbringenden Leistungen sollten vorab bis spätestens zum 1. Quartal 2010 zur Abrechnung gebracht<br />

- 294 -


werden, um ein befristet zur Verfügung stehendes Budget ausschöpfen zu können. Alle Maßnahmen seien mit dem<br />

Zeugen Ha. abgesprochen worden. Sie habe die als Vorschuss in Rechnung gestellten Leistungen nicht mehr wie<br />

vorgesehen bis November 2010 erbringen können, weil sie zuvor vom Dienst freigestellt worden sei.<br />

8 Das Landgericht hat diese Darstellung insbesondere aufgr<strong>und</strong> der sie bestreitenden Aussage des Zeugen Ha. als<br />

widerlegt erachtet <strong>und</strong> eine von der Angeklagten am achten Hauptverhandlungstag vorgelegte Mehrfachkopie einer<br />

angeblich durch den Zeugen Ha. versandten E-Mail vom 8. Juni 2009 unter anderem wegen ihres äußeren Erscheinungsbildes<br />

als Fälschung angesehen.<br />

II.<br />

9 1. Beide Beschwerdeführer beanstanden mit einer Verfahrensrüge zu Recht eine Verletzung des § 244 Abs. 3 <strong>und</strong><br />

Abs. 4 Satz 1 StPO. Dies führt hinsichtlich des Angeklagten M. M. zu einer Aufhebung des Urteils insgesamt; die<br />

Revision der Angeklagten P. M. hat hinsichtlich ihrer Verurteilung wegen Untreue in den 438 im Tenor benannten<br />

Fällen im ersten Tatkomplex Erfolg.<br />

10 a) Der Verfahrensrüge liegt folgender Verfahrensgang zugr<strong>und</strong>e: Im Hauptverhandlungstermin vom 21. Februar 2012<br />

hatte die Angeklagte P. M. die Einholung eines Sachverständigengutachtens unter anderem bezüglich des sicherzustellenden<br />

<strong>und</strong> technisch zu untersuchenden Dienstcomputers des Zeugen Ha. zum Beweis für die Tatsache beantragt,<br />

dass auf diesem Dienstcomputer eine von dem Zeugen an die Angeklagte gerichtete E-Mail vom 8. Juni 2009<br />

gespeichert oder gespeichert gewesen sei, aber inzwischen gelöscht worden sei. Das Landgericht wies diesen Beweisantrag<br />

mit der Begründung zurück, dass "das Beweisthema auf bloßen Vermutungen beruht". Im Hauptverhandlungstermin<br />

vom 5. April 2012 wandte sich der Verteidiger mit einem erneuten Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens<br />

zur technischen Untersuchung des Dienstcomputers des Zeugen Ha. gegen diese Ablehnungsbegründung<br />

des Landgerichts <strong>und</strong> wiederholte der Sache nach den ersten Beweisantrag. Das Landgericht wies den<br />

Antrag erneut zurück, nunmehr mit der Begründung, dass "die Kammer die Beweisfrage aus eigener Sachk<strong>und</strong>e<br />

beurteilen kann".<br />

11 b) Die Verfahrensrüge ist jeweils zulässig erhoben.<br />

12 Die Revisionen haben die Beweisanträge der Angeklagten P. M. <strong>und</strong> ihres Verteidigers sowie die Ablehnungsentscheidungen<br />

des Landgerichts mitgeteilt <strong>und</strong> damit die zur Nachprüfung des Verfahrensmangels erforderlichen Tatsachen<br />

im Sinne des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO angegeben. Für die Rüge der fehlerhaften Ablehnung von Beweisanträgen<br />

genügen dieser Darlegungslast gr<strong>und</strong>sätzlich schon eine Wiedergabe des Antrags <strong>und</strong> des Ablehnungsbeschlusses<br />

sowie eine Mitteilung der Tatsachen, aus denen sich die Fehlerhaftigkeit des Beschlusses ergibt (vgl. BGH,<br />

Urteil vom dem 24. Juli 1998 - 3 StR 78/98, NJW 1998, 3284; Becker in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., §<br />

244 Rn. 372).<br />

13 Da sich hier die Fehlerhaftigkeit der gerichtlichen Ablehnungsbeschlüsse schon aus deren Begründung ergab,<br />

bedurfte es der Darlegung weiterer Tatsachen nicht. Insbesondere war zur Nachprüfung der Ablehnungsbeschlüsse<br />

eine Kenntnis einer E-Mail vom 29. Juni 2009 <strong>und</strong> eines Beweisantrags Nr. 10 vom 22. März 2012 nicht erforderlich,<br />

deren Inhalte die Revision zur Begründung der Beweisantragsrüge in Bezug genommen, aber in ihrem unmittelbaren<br />

Kontext nicht mitgeteilt hat. Entgegen der Auffassung des Generalb<strong>und</strong>esanwalts verletzt es auch nicht die<br />

strengen Formerfordernisse des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, dass von den Beschwerdeführern die angeblich von dem<br />

Zeugen Ha. an die Angeklagte gesandte E-Mail vom 8. Juni 2009, auf die sich die Beweisanträge beziehen, unter<br />

Wiedergabe ihres genauen Wortlauts <strong>und</strong> äußeren Erscheinungsbildes lediglich in einem gesonderten Schriftsatz als<br />

Anlage zu den Revisionsbegründungsschriften mitgeteilt wird. Denn die von den Beweisanträgen in Bezug genommene<br />

Kopie einer E-Mail vom 8. Juni 2009, deren Inhalt ohnehin sinngemäß in dem von der Revision im unmittelbaren<br />

Zusammenhang mit der Beweisantragsrüge mitgeteilten Beweisantrag Nr. 1 vom 21. Februar 2012 wiedergegeben<br />

worden ist, hat Bedeutung allein für die Frage des Beruhens nach § 337 Abs. 1 StPO. Zum Beruhen des Urteils<br />

auf der fehlerhaften Ablehnung muss die Revision jedoch regelmäßig nicht vortragen (vgl. BGH, Urteil vom 24. Juli<br />

1998 - 3 StR 78/98, aaO; Beschluss vom 24. Januar 2010 - 1 StR 587/09; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., §<br />

344 Rn. 27; Becker, aaO).<br />

14 c) Die Verfahrensrüge ist auch begründet. Die Anträge genügen den an einen Beweisantrag zu stellenden Anforderungen.<br />

Ihre Ablehnung durch die Strafkammer hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.<br />

15 Zwar muss einem in die Form eines Beweisantrags gekleideten Beweisbegehren nach bisheriger Rechtsprechung<br />

ausnahmsweise nicht oder allenfalls nach Maßgabe der Aufklärungspflicht nachgegangen werden, wenn die Beweisbehauptung<br />

ohne jeden tatsächlichen Anhaltspunkt <strong>und</strong> ohne jede begründete Vermutung aufs Geratewohl ins Blaue<br />

hinein aufgestellt wurde, so dass es sich nur um einen nicht ernstlich gemeinten, zum Schein gestellten Beweisantrag<br />

- 295 -


handelt. Für die Beurteilung, ob ein aufs Geratewohl gestellter Antrag vorliegt, ist die Sichtweise eines verständigen<br />

Antragstellers entscheidend. Es kommt nicht darauf an, ob das Tatgericht eine beantragte Beweiserhebung für erforderlich<br />

hält (vgl. Senat, Beschlüsse vom 5. März 2003 - 2 StR 405/02, NStZ 2003, 497; vom 23. März 2008 - 2 StR<br />

549/07, NStZ 2008, 474; BGH, Beschlüsse vom 10. November 1992 - 5 StR 474/92, NStZ 1993, 143; vom<br />

2. Februar 2002 - 3 StR 482/01, StV 2002, 233; Urteil vom 13. Juni 2007 - 4 StR 100/07, NStZ 2008, 52, 53; Meyer-<br />

Goßner, aaO, § 244 Rn. 20 mwN; ein Festhalten an der bisherigen Rechtsprechung offen lassend BGH, Beschlüsse<br />

vom 19. September 2007 - 3 StR 354/07, StV 2008, 9, vom 20. Juli 2010 - 3 StR 218/10, Strafo 2010, 466, <strong>und</strong> vom<br />

3. November 2010 - 1 StR 497/10, NJW 2011, 1239, 1240; kritisch gegenüber der bisherigen Rechtsprechung auch<br />

Becker, aaO, Rn. 112; Fischer in Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl., § 244 Rn. 72).<br />

16 Jedoch lässt sich selbst nach den Maßstäben der bisherigen Rechtsprechung entgegen der Auffassung des Generalb<strong>und</strong>esanwalts<br />

die Beweisbehauptung nicht als aufs Geratewohl aufgestellt ansehen. Die Anträge knüpften an eine<br />

zur Akte gereichte Kopie der in Frage stehenden E-Mail vom 8. Juni 2009 an. Die Beweisbehauptung hatte somit<br />

einen tatsächlichen Anhaltspunkt <strong>und</strong> konnte schon deshalb ungeachtet der zahlreichen Umstände, die vom Landgericht<br />

auch erst nach Würdigung des gesamten Beweisergebnisses in den Urteilsgründen gegen die Authentizität der<br />

E-Mail angeführt worden sind, nicht als nicht ernstlich gemeint gewertet werden. Jedenfalls hat das Landgericht mit<br />

seiner zur Begründung des ersten Ablehnungsbeschlusses angeführten Erwägung, dass das Beweisthema auf bloßen<br />

Vermutungen beruhe, die Grenzen der vorgenannten Rechtsprechung missachtet. Danach kann es dem Antragsteller<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich nicht verwehrt sein, auch solche Tatsachen zum Gegenstand eines Beweisantrags zu machen, deren<br />

Richtigkeit er lediglich vermutet oder für möglich hält (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 3. August 1966 - 2 StR<br />

242/66, BGHSt 21, 118, 125; vom 17. September 1982 - 2 StR 139/82, NJW 1983, 126, 127; Beschlüsse vom<br />

10. November 1992 - 5 StR 474/92, aaO; vom 2. Februar 2002 - 3 StR 482/01, aaO; vom 4. April 2006 - 4 StR<br />

30/06, NStZ 2006, 405; Fischer, aaO, Rn. 73 mwN).<br />

17 Auch soweit das Landgericht den der Sache nach wiederholten Beweisantrag mit seiner zweiten Entscheidung unter<br />

Berufung auf eigene Sachk<strong>und</strong>e zurückgewiesen hat, hat es sich, worauf bereits der Generalb<strong>und</strong>esanwalt in seiner<br />

Antragsschrift zutreffend hingewiesen hat, auf einen untauglichen Ablehnungsgr<strong>und</strong> gestützt. Dem Senat ist nicht<br />

bekannt, ob überhaupt eine technische Untersuchung des betreffenden Computers erfolgte <strong>und</strong> hierdurch entsprechende<br />

Bef<strong>und</strong>tatsachen festgestellt wurden. Schon deshalb ist nicht zu erkennen, dass die Beurteilung der Beweisbehauptung<br />

nicht mehr als Allgemeinwissen erfordert hätte. Da im Übrigen schon die Feststellung, ob sich bestimmte<br />

Daten bzw. deren Spuren auf den Speichermedien eines Computers befinden, spezifisches Fachwissen erfordert,<br />

das nicht Allgemeingut von Richtern ist, hätte die eigene Sachk<strong>und</strong>e einer näheren Darlegung bedurft (vgl. BGH,<br />

Urteil vom 10. Juli 1958 - 4 StR 211/58, BGHSt 12, 18, 20; Beschluss vom 26. April 2000 - 3 StR 152/00, StV 2001,<br />

665). Eine solche ist auch den Urteilsgründen nicht zu entnehmen.<br />

18 d) Auf der danach rechtsfehlerhaften Ablehnung der Beweisanträge können die Verurteilung der Angeklagten P. M.<br />

wegen Untreue in den 438 im Tenor benannten Fällen im ersten Tatkomplex <strong>und</strong> die Verurteilung des Angeklagten<br />

M. M. wegen Beihilfe zur Untreue beruhen. Das Landgericht hat der Tatsache, dass der Zeuge Ha. bestritten hat, die<br />

fragliche E-Mail vom 8. Juni 2009 geschrieben zu haben, <strong>und</strong> dem Umstand, dass es sich bei der von der Verteidigung<br />

vorgelegten E-Mail-Kopie offensichtlich um eine Fälschung gehandelt habe, maßgebliche Bedeutung für die<br />

Widerlegung der Einlassung der Angeklagten P. M. beigemessen. Der Senat kann daher nicht ausschließen, dass das<br />

Landgericht zu einer abweichenden Überzeugungsbildung gelangt wäre, wenn es den beantragten Beweis erhoben<br />

<strong>und</strong> sich dabei die Beweisbehauptung bestätigt hätte. In diesem Fall wäre ein tragendes Argument der Beweiswürdigung<br />

der Kammer entfallen.<br />

19 2. Die Aufhebung der Verurteilung der Angeklagten P. M. in den vorgenannten Fällen zieht die Aufhebung des<br />

Ausspruchs über die Gesamtstrafe <strong>und</strong> über die Feststellung gemäß § 111i Abs. 2 StPO nach sich.<br />

20 3. Weiterhin führt die Revision der Angeklagten P. M. mit der Sachrüge in den 35 im Tenor benannten Fällen im<br />

zweiten Tatkomplex zu einer Änderung des Schuldspruchs.<br />

21 a) Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen insoweit nicht die Verurteilung der Angeklagten wegen<br />

Untreue.<br />

22 Das Landgericht hat zwar rechtsfehlerfrei dargelegt, dass die Angeklagte in ihrer Funktion als persönliche Ansprechpartnerin<br />

für Langzeitarbeitslose ihrem Dienstherrn gegenüber vermögensbetreuungspflichtig im Sinne von §<br />

266 StGB war, soweit es um die ihr zur eigenständigen Entscheidung übertragene Zuweisung von Langzeitarbeitslosen<br />

in Eingliederungs- <strong>und</strong> Fördermaßnahmen ging. Insoweit bildete die fremdnützige Vermögensfürsorge einen<br />

Hauptgegenstand ihres Dienstauftrags, bei dessen Wahrnehmung sie bis zu der Betragsgrenze von 5.000 € die Mög-<br />

- 296 -


lichkeit zur verantwortlichen Entscheidung innerhalb eines Ermessensspielraums hatte (vgl. zu den Voraussetzungen<br />

einer Vermögensbetreuungspflicht nach st. Rspr.; BGH, Beschlüsse vom 13. September 2010 - 1 StR 220/09, BGHSt<br />

55, 288, 297 f. mwN <strong>und</strong> vom 3. Mai 2012 - 2 StR 446/11, NStZ 2013, 40).<br />

23 Zu dem Bereich der von der Angeklagten selbstständig <strong>und</strong> eigenverantwortlich wahrgenommenen Aufgaben zählten<br />

jedoch nicht die für akute Notfälle vorgesehenen Bargeldauszahlungen an Langzeitarbeitslose, <strong>und</strong> zwar auch nicht<br />

hinsichtlich der rein technischen Abwicklung der Auszahlungen durch die allein bei den Sachbearbeitern liegende<br />

Aushändigung der Chip-Geldkarten an die Leistungsempfänger, die das Landgericht bei seiner rechtlichen Bewertung<br />

in den Blick genommen hat. Für solche Auszahlungen hatte die Angeklagte weder eine Feststellungs- noch eine<br />

Anordnungsbefugnis, sondern sie benötigte die Unterschriften von zwei hierzu ermächtigten Sachbearbeitern bzw.<br />

Teamleitern, die aufgr<strong>und</strong> ihrer Angaben zur Notwendigkeit einer Barauszahlung deren sachliche <strong>und</strong> rechnerische<br />

Richtigkeit zu prüfen hatten. Nur durch Täuschung dieser Dienststellenmitarbeiter erlangte die Angeklagte die von<br />

ihnen unterzeichneten Auszahlungsanordnungen, auf deren Gr<strong>und</strong>lage sie über ein elektronisches Zahlungssystem<br />

jeweils die Aufladungen der Geldkarten vornehmen konnte. Mit der erschlichenen Aufladung der Geldkarten, mit<br />

denen sie unmittelbar die zugewiesenen Beträge abheben konnte, war der Vermögensschaden des H. kreises auch<br />

bereits eingetreten.<br />

24 b) Diese Täuschungen gegenüber den feststellungs- <strong>und</strong> anordnungsbefugten Sachbearbeitern über angeblich bei<br />

Leistungsbeziehern aufgetretene Notfälle <strong>und</strong> die hierdurch bewirkte Unterzeichnung der Anordnung von Bargeldauszahlungen,<br />

die sie anschließend für sich selbst vereinnahmte, begründen stattdessen eine Strafbarkeit der<br />

Angeklagten wegen Betruges nach § 263 Abs.1, Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 <strong>und</strong> 4 StGB.<br />

25 Der Senat hat daher in analoger Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO den Schuldspruch entsprechend geändert. § 265<br />

Abs. 1 StPO steht nicht entgegen. Der Senat schließt aus, dass die Angeklagte sich bei Erteilung eines entsprechenden<br />

rechtlichen Hinweises in tatsächlicher Hinsicht anders verteidigt hätte.<br />

StPO § 244 Abs. 3 S. 2 – Beweisantrag -Ungeeignetheit des Beweismittels – Konnexität<br />

BGH, Beschl. 04.12.2012 - 4 StR 372/12 - StV 2013, 374 = StraFo 2013, 117 = NStZ 201, 477<br />

Die völlige Ungeeignetheit eines Beweismittels nach § 244 Abs. 3 Satz 2 3. Alt. StPO darf nur aus<br />

dem Beweismittel selbst in Beziehung zu der Beweisbehauptung ohne Rückgriff auf das bisherige<br />

Beweisergebnis abgeleitet werden.<br />

Der 4. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalb<strong>und</strong>esanwalts <strong>und</strong> des Beschwerdeführers<br />

am 4. Dezember 2012 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen: Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des<br />

Landgerichts Magdeburg vom 16. Mai 2012 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung<br />

<strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts<br />

zurückverwiesen.<br />

Gründe:<br />

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit besonders schwerem Raub <strong>und</strong> in<br />

weiterer Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu der Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Hiergegen<br />

richtet sich die auf mehrere Verfahrensbeanstandungen <strong>und</strong> die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten.<br />

Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.<br />

I. Nach den Feststellungen ließ sich der Angeklagte am frühen Abend des 2. Januar 2012 von dem Geschädigten R.<br />

in dessen Pkw VW Golf auf einem unbeleuchteten Feldweg bis in unmittelbare Nähe des Saaleufers fahren. Spätestens<br />

nachdem beide Männer aus dem Fahrzeug ausgestiegen waren, fasste der Angeklagte den Entschluss, den Geschädigten<br />

gewaltsam zu Boden zu bringen <strong>und</strong> ihm unter Einwirkung von Gewalt das Fahrzeug abzunehmen. Der<br />

Angeklagte versetzte dem Tatopfer zahlreiche kräftige Faustschläge insbesondere gegen den Kopf, schlug ihm mit<br />

solcher Wucht eine fast leere, 0,7 Liter fassende, gläserne Mineralwasserflasche von oben nach unten auf den Kopf,<br />

dass diese zerbrach, <strong>und</strong> nahm dem Geschädigten den Fahrzeugschlüssel <strong>und</strong> die Funkfernbedienung sowie im weiteren<br />

Verlauf auch den ebenfalls von R. mitgeführten Ersatzschlüssel nebst zweiter Fernbedienung ab, um sich in<br />

den Besitz des Fahrzeugs zu bringen. Des Weiteren würgte der Angeklagte den Geschädigten zweimal, indem er<br />

jeweils hinter R. stehend einen Arm um dessen Hals legte <strong>und</strong> kräftig zudrückte, band die Hände des Geschädigten<br />

hinter dessen Rücken mit einem Gürtel fest zusammen, fesselte später auch die Füße des Geschädigten mit einem<br />

- 297 -


weiteren Gürtel <strong>und</strong> sperrte den Geschädigten wiederholt kurzzeitig in den Kofferraum des Fahrzeugs. Schließlich<br />

führte der Angeklagte, der nunmehr entschlossen war, den Tod des R. herbeizuführen, um endgültig dessen Pkw zu<br />

erlangen, das aufgr<strong>und</strong> der Fesselung nur mit kleinen Schritten gehende <strong>und</strong> teilweise hüpfende Tatopfer zum Saaleufer.<br />

Etwa auf halbem Weg löste sich – vom Angeklagten <strong>und</strong> dem Geschädigten unbemerkt – der Gürtel an den<br />

Füßen des Geschädigten <strong>und</strong> fiel zu Boden. Am Ufer der Saale angekommen stieß der Angeklagte dem mit den Füßen<br />

schon im Wasser stehenden R. von hinten kräftig gegen den Oberkörper, sodass dieser in den ca. 6°C kalten<br />

Fluss fiel, der an dieser Stelle jedenfalls nicht in der gesamten Breite von etwa 60 bis 70 Metern für Menschen begehbar<br />

ist. Der Geschädigte, der nicht mit dem ganzen Körper ins Wasser fiel <strong>und</strong> anfangs noch stehen konnte, ging<br />

aus Angst vor dem Angeklagten, um sich in Sicherheit zu bringen, weiter in den Fluss hinein <strong>und</strong> versuchte zu<br />

schwimmen, wobei sich der Gürtel löste, mit dem seine Hände gefesselt waren. Während der Angeklagte dem Geschädigten<br />

folgend an der Saale in Fließrichtung des Flusses entlangging, gelang es dem Geschädigten unter Mühen,<br />

durch den Fluss zu schwimmen <strong>und</strong> das gegenüberliegende Ufer zu erreichen. Nachdem er sich ca. zehn Minuten<br />

ausgeruht hatte, um seine Kräfte zu sammeln, raffte er sich auf <strong>und</strong> schleppte sich an dem Fluss entlang zu einem<br />

ihm bekannten Seniorenpflegeheim, das er schließlich blutüberströmt, völlig durchnässt, stark zitternd <strong>und</strong> nur mit T-<br />

Shirt <strong>und</strong> Unterhose bekleidet erreichte.<br />

II. Die Revision dringt mit einer Verfahrensbeanstandung durch, mit der die fehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrages<br />

geltend gemacht wird.<br />

1. Der Rüge liegt das folgende Verfahrensgeschehen zugr<strong>und</strong>e: Zu der Beweisbehauptung, der Geschädigte habe bei<br />

seinem Eintreffen am Pflegeheim gegenüber einer Pflegekraft u.a. mitgeteilt, er sei von sich aus in die Saale gesprungen,<br />

um vor dem Angeklagten zu flüchten, <strong>und</strong> der Angeklagte habe den Autoschlüssel weggeworfen, vernahm<br />

die Strafkammer – einem Beweisantrag des Verteidigers folgend – einen Bewohner des Pflegeheims sowie die dort<br />

tätige Altenpflegerin D. als Zeugen. Nach dem Vorbringen der Revision ergab sich aus den Bek<strong>und</strong>ungen der Zeugin<br />

D., dass am Tatabend als Pflegepersonal auch die Pflegekräfte W. <strong>und</strong> O. vor Ort waren. Im Rahmen der sich an die<br />

Vernehmung anschließenden Erörterung über den weiteren Verfahrensablauf erklärte der Verteidiger, dass er die<br />

Vernehmung der Frau W. für erforderlich halte, <strong>und</strong> kündigte einen entsprechenden Antrag an. Ohne dass zuvor ein<br />

diesbezüglicher Beweisantrag angebracht worden war, wurde daraufhin Frau W. als Zeugin vernommen. Im Anschluss<br />

daran beantragte der Verteidiger zum Beweis der Tatsache, dass der Geschädigte beim Eintreffen am Pflegeheim<br />

gegenüber der Zeugin O. angegeben gehabt habe, dass er von sich aus in die Saale gesprungen sei, um vor dem<br />

Angeklagten zu flüchten, <strong>und</strong> der Angeklagte den Autoschlüssel weggeworfen habe, die Vernehmung der Zeugin O..<br />

Diesen Antrag hat das Landgericht abgelehnt. In der Begründung des Ablehnungsbeschlusses hat es ausgeführt, dass<br />

es sich bei dem Beweisbegehren um einen Beweisermittlungsantrag gehandelt habe, dem die Strafkammer nach<br />

pflichtgemäßem Ermessen nicht habe nachgehen müssen. Zu der behaupteten Beweistatsache habe der Angeklagte<br />

keine eigenen Wahrnehmungen angegeben. Die Strafkammer habe zu dem Beweisthema neben weiteren Zeugen<br />

insbesondere die Zeugin W. vernommen, welche lediglich bek<strong>und</strong>et habe, ihre Arbeitskollegin O. sei ebenfalls vor<br />

Ort gewesen. Die Zeugin W. habe aber nicht ausgesagt, dass Frau O. weiter gehende Wahrnehmungen als sie selbst<br />

oder die Zeugin D. getroffen habe. Nach partieller Mitteilung des Inhalts der Aussage des Geschädigten in der<br />

Hauptverhandlung zum Tatablauf hat die Strafkammer weiter ausgeführt, dass es weder in dem Antrag des Verteidigers<br />

dargelegt noch sonst ersichtlich sei, dass der Geschädigte bei seiner Ankunft beim Pflegeheim etwas anderes<br />

gesagt habe. Der Verteidiger habe auf Nachfrage des Gerichts keinen Gr<strong>und</strong> angeben können, warum die Zeugin O.<br />

Wahrnehmungen zu etwaigen Angaben des Geschädigten im Pflegeheim bek<strong>und</strong>en können sollte, die über dessen<br />

Zeugenaussage im Hauptverhandlungstermin hinausgehe, bzw. dazu, dass der Geschädigte sogar gegenteilige Angaben<br />

gemacht haben könnte. Es handele sich im Ergebnis in Wahrheit um einen nicht ernst gemeinten, zum Schein<br />

gestellten "Beweisantrag" aufs Geratewohl. Die hier erforderliche Konnexität zwischen Beweismittel <strong>und</strong> Beweisbehauptung<br />

liege daher nicht vor.<br />

2. Die Antragsablehnung begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Mit der gegebenen Begründung durfte<br />

das Landgericht das Beweisbegehren des Verteidigers nicht als bloßen nach Maßgabe der Amtsaufklärungspflicht<br />

des § 244 Abs. 2 StPO zu berücksichtigenden Beweisermittlungsantrag behandeln. Die Qualität des Beweisbegehrens<br />

als Beweisantrag wird weder durch fehlende Ausführungen zur Konnexität zwischen Beweismittel <strong>und</strong> Beweisbehauptung<br />

in Frage gestellt, noch hat die Strafkammer tragfähig dargetan, dass dem Antrag lediglich eine "ins<br />

Blaue hinein" aufgestellte Beweisbehauptung zugr<strong>und</strong>e gelegen hat.<br />

a) Ein Beweisantrag im Sinne des § 244 Abs. 3 bis 6 StPO setzt die konkrete <strong>und</strong> bestimmte Behauptung einer Tatsache<br />

<strong>und</strong> die Benennung eines bestimmten Beweismittels voraus, mit dem der Nachweis der Tatsache geführt wer-<br />

- 298 -


den soll. Bei einem Antrag auf Vernehmung eines Zeugen kommen als Beweisbehauptung nur solche Tatsachen in<br />

Betracht, die der benannte Zeuge aus eigener Wahrnehmung bek<strong>und</strong>en kann (vgl. BGH, Urteil vom 6. Juli 1993 – 5<br />

StR 279/93, BGHSt 39, 251, 253 f.). Ist aus dem Inhalt des Beweisbegehrens ein verbindender Zusammenhang zwischen<br />

der Beweisbehauptung <strong>und</strong> dem benannten Zeugen nicht ohne weiteres erkennbar, ist für das Vorliegen eines<br />

Beweisantrages weiterhin erforderlich, dass der Antragsteller näher darlegt, weshalb der Zeuge überhaupt etwas zu<br />

dem Beweisthema bek<strong>und</strong>en können soll (vgl. BGH, Beschlüsse vom 3. November 2010 – 1 StR 497/10, NStZ 2011,<br />

169 Tz. 11 ff.; vom 17. November 2009 – 4 StR 375/09, BGHR StPO § 244 Abs. 6 Beweisantrag 47; vom 22. Juni<br />

1999 – 1 StR 205/99, NStZ 1999, 522; Urteil vom 28. November 1997 – 3 StR 114/97, BGHSt 43, 321, 329 f.; zweifelnd<br />

Urteil vom 14. August 2008 – 3 StR 181/08, NStZ 2009, 171 Tz. 13). Die Ausführungen zur Konnexität im<br />

weiteren Sinne (zur Terminologie vgl. Schneider, Festschrift Eisenberg 2009, S. 609, 618 ff.) sollen dem Gericht<br />

eine sachgerechte Prüfung <strong>und</strong> Anwendung der Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 3 StPO ermöglichen (vgl. BGH,<br />

Urteil vom 15. Dezember 2005 – 3 StR 201/05, NStZ 2006, 585, 586; Beschluss vom 22. Juni 1999 – 1 StR 205/99<br />

aaO), wobei hier – anders als bei der Bestimmtheit der von dem benannten Zeugen wahrgenommenen Beweistatsache<br />

– der Ablehnungsgr<strong>und</strong> der völligen Ungeeignetheit des Beweismittels nach § 244 Abs. 3 Satz 2 3. Alt. StPO im<br />

Vordergr<strong>und</strong> steht (vgl. BGH, Urteil vom 23. Oktober 1997 – 5 StR 317/97, NStZ 1998, 97; Schneider aaO). Durch<br />

den Bezug auf die völlige Ungeeignetheit, die nur aus dem Beweismittel selbst in Beziehung zu der Beweisbehauptung<br />

ohne Rückgriff auf das bisherige Beweisergebnis abgeleitet werden darf (vgl. Becker in Löwe/Rosenberg,<br />

StPO, 26. Aufl., § 244 Rn. 232 mwN), werden die unter dem Gesichtspunkt der Konnexität im weiteren Sinne erforderlichen<br />

Angaben zugleich auf solche beschränkt, die die Wahrnehmungssituation des benannten Zeugen betreffen.<br />

Ausführungen zur inhaltlichen Plausibilität der Beweisbehauptung können dagegen vom Antragsteller in diesem<br />

Zusammenhang nicht verlangt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 17. November 2009 – 4 StR 375/09 aaO). Der<br />

Antrag auf Vernehmung der Zeugin O. trägt entgegen der Ansicht des Landgerichts dem Konnexitätserfordernis<br />

hinreichend Rechnung. Aus dem Inhalt des Antrags ergibt sich ohne weiteres, dass die benannte Zeugin zu Äußerungen<br />

vernommen werden sollte, die der Geschädigte ausweislich der aufgestellten Beweisbehauptung im Anschluss<br />

an sein Eintreffen beim Pflegeheim der Zeugin als Gesprächspartnerin gegenüber gemacht haben soll. Auch die<br />

Strafkammer geht in ihrem Ablehnungsbeschluss aufgr<strong>und</strong> der Bek<strong>und</strong>ungen der Zeugin W. davon aus, dass die<br />

Zeugin O. ebenso wie die Zeugin W. zum fraglichen Zeitpunkt vor Ort gewesen war. Da das weitere vom Landgericht<br />

mitgeteilte Ergebnis der vorangegangenen Beweisaufnahme die Wahrnehmungsmöglichkeit der benannten<br />

Zeugin nicht in Frage gestellt, sondern lediglich nicht bestätigt hat, waren zusätzliche ergänzende Ausführungen zur<br />

Konnexität im weiteren Sinne nicht erforderlich.<br />

b) Nach der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs fehlt einem Antrag, mit dem zum Nachweis einer bestimmten<br />

Beweistatsache ein bestimmtes Beweismittel bezeichnet wird, die Eigenschaft eines nach § 244 Abs. 3 bis 6 StPO zu<br />

bescheidenden Beweisantrages, wenn die Beweisbehauptung ohne jeden tatsächlichen Anhaltspunkt <strong>und</strong> ohne begründete<br />

Vermutung für ihre Richtigkeit aufs Geratewohl ins Blaue hinein aufgestellt wurde (vgl. BGH, Beschluss<br />

vom 3. November 2010 – 1 StR 497/10, NStZ 2011, 169 Tz. 7 f.; Urteil vom 4. Dezember 2008 – 1 StR 327/08,<br />

NStZ 2009, 226, 227; Beschluss vom 12. März 2008 – 2 StR 549/07, NStZ 2008, 474; Urteil vom 13. Juni 2007 – 4<br />

StR 100/07, NStZ 2008, 52, 53; Beschlüsse vom 4. April 2006 – 4 StR 30/06, NStZ 2006, 405; vom 5. März 2003 –<br />

2 StR 405/02, BGHR StPO § 244 Abs. 6 Beweisantrag 39; vom 5. Februar 2002 – 3 StR 482/01, NStZ 2002, 383;<br />

Urteil vom 12. Juni 1997 – 5 StR 58/97, NJW 1997, 2762, 2764; Beschlüsse vom 10. November 1992 – 5 StR<br />

474/92, NStZ 1993, 143, 144; vom 31. März 1989 – 3 StR 486/88, BGHR StPO § 244 Abs. 6 Beweisantrag 8 mwN<br />

zur früheren Rspr.; offen gelassen in BGH, Beschlüsse vom 19. September 2007 – 3 StR 354/07, StV 2008, 9; vom<br />

20. Juli 2010 – 3 StR 218/10, StraFo 2010, 466). Ob eine solche nicht ernstlich gemeinte Beweisbehauptung gegeben<br />

ist, beurteilt sich aus der Sicht eines verständigen Antragstellers auf der Gr<strong>und</strong>lage der von ihm selbst nicht in Frage<br />

gestellten Tatsachen (vgl. BGH, Beschluss vom 3. November 2010 – 1 StR 497/10 aaO), wobei zu beachten ist, dass<br />

es dem Antragsteller gr<strong>und</strong>sätzlich nicht verwehrt sein kann, auch solche Tatsachen unter Beweis zu stellen, die er<br />

lediglich für möglich hält oder nur vermutet (vgl. BGH, Beschlüsse vom 4. April 2006 – 4 StR 30/06 aaO, vom 31.<br />

März 1989 – 3 StR 486/88 aaO). Nicht ausreichend ist, dass die bisherige Beweisaufnahme keine Anhaltspunkte für<br />

die Richtigkeit der Beweisbehauptung ergeben hat (BGH, Beschluss vom 5. Februar 2002 – 3 StR 482/01 aaO) oder<br />

dass die unter Beweis gestellte Tatsache objektiv ungewöhnlich oder unwahrscheinlich erscheint oder eine andere<br />

Möglichkeit näher gelegen hätte (BGH, Beschluss vom 12. März 2008 – 2 StR 549/07 aaO). Vielmehr wird für erforderlich<br />

gehalten, dass die Bestätigung der Beweisbehauptung aufgr<strong>und</strong> gesicherter bisheriger Beweisaufnahme<br />

offensichtlich unwahrscheinlich sein muss, was etwa anzunehmen sein soll, wenn eine Mehrzahl neutraler Zeugen<br />

- 299 -


eine Tatsache übereinstimmend bek<strong>und</strong>et hat <strong>und</strong>, ohne Beleg für entsprechende tatsächliche Anhaltspunkte, das<br />

Gegenteil in das Wissen eines völlig neu benannten Zeugen oder eines Zeugen gestellt wird, dessen Zuverlässigkeit<br />

naheliegenden Zweifeln begegnet (BGH, Beschlüsse vom 12. Juni 1997 – 5 StR 58/97 aaO; vom 5. Februar 2002 – 3<br />

StR 482/01 aaO). Von diesen Maßstäben ausgehend erweist sich die Begründung der Strafkammer, mit welcher sie<br />

das Vorliegen eines förmlichen Beweisantrages verneint hat, als nicht tragfähig. Der Umstand, dass die Zeugin W.<br />

nicht ausgesagt hat, dass die in dem Antrag benannte Zeugin O. weiter gehende Wahrnehmungen als die beiden zum<br />

selben Beweisthema bereits vernommenen Zeuginnen gemacht habe, belegt lediglich, dass die vorangegangene Beweisaufnahme<br />

keine Anhaltspunkte für die Richtigkeit der in das Wissen der Zeugin gestellten Beweisbehauptung<br />

erbracht hat. Darüber hinausgehende Beweisergebnisse, die geeignet sind, die Beweisbehauptung als offensichtlich<br />

haltlose Vermutung erscheinen zu lassen, hat das Landgericht nicht mitgeteilt. Dass der Geschädigte das Tatgeschehen<br />

im Rahmen seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung abweichend von der unter Beweis gestellten Äußerung<br />

gegenüber der Zeugin O. geschildert hat, reicht für die Verneinung eines Beweisantrags ebenfalls nicht aus, weil die<br />

Beweisbehauptung gerade darauf abzielt, die Glaubhaftigkeit der Bek<strong>und</strong>ungen des Geschädigten zu erschüttern<br />

(vgl. BGH, Beschluss vom 3. Juli 2007 – 5 StR 272/07, StraFo 2007, 378).<br />

c) Der Beweisantrag des Verteidigers hätte somit vom Landgericht nach Maßgabe des § 244 Abs. 3 <strong>und</strong> 6 StPO<br />

beschieden werden müssen, was unterblieben ist. Da die Verurteilung des Angeklagten maßgeblich auf die als<br />

glaubhaft bewerteten Angaben des Geschädigten in der Hauptverhandlung gestützt ist, vermag der Senat nicht auszuschließen,<br />

dass das Urteil auf der fehlerhaften Behandlung des Antrages beruht.<br />

StPO § 244 Abs. 3 S. 2 – Beweisantrag – Beweistatsache ohne Bedeutung – Widerspruch zu Urteil<br />

BGH Beschl. v. 23.03.2013 – 5 StR 145/13 – NStZ 2013, 478<br />

Eine im Beweisbeschluss als tatsächlich bedeutungslos eingestufte Tatsache darf die Beweiswürdigung<br />

im Urteil nicht in Frage stellen. Demgemäß muss das Tatgericht auf die solchermaßen abgehandelte<br />

Beweistatsache im Urteil eingehen, wenn die Beweislage hierzu mit Blick auf den Fortbestand<br />

der ursprünglichen Einschätzung ihres Stellenwertes drängt.<br />

Das LG hat den Angekl. wegen 8 Vergehen der Körperverletzung <strong>und</strong> Nötigung zum Nachteil der Nebenklägerinnen,<br />

seiner Ehefrau <strong>und</strong> seiner 2003 <strong>und</strong> 2007 geborenen Töchter, darunter 5 Fälle der gefährlichen Körperverletzung, zu<br />

einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren <strong>und</strong> 2 Monaten verurteilt. Die Ehefrau hat den Angekl. am Morgen nach der<br />

schwersten, in der Nacht zu ihrem Nachteil begangenen, mit der Einsatzstrafe von 2 Jahren Freiheitsstrafe geahndeten<br />

Tat angezeigt. Bei dieser presste er sie nach den auf ihren Angaben beruhenden Urteilsfeststellungen unter Todesdrohungen<br />

bis zur Bewusstlosigkeit auf die Matratze des Ehebettes. Seitdem lebt sie mit ihren Töchtern getrennt<br />

von dem 2 Wochen später in U-Haft genommenen Angekl. Dessen Revision hat mit einer Verfahrensrüge, die Ablehnung<br />

eines Beweisantrages betreffend, Erfolg.<br />

1. Die Verteidigung hat die Vernehmung der Leiterinnen der von den Töchtern des Angekl. besuchten Kindertagesstätte<br />

beantragt <strong>und</strong> u.a. in ihr Wissen gestellt, die Ehefrau des Angekl. habe ihnen den nächtlichen Übergriff geschildert,<br />

der sie zur Anzeige veranlasst hatte, <strong>und</strong> dabei berichtet, der Angekl. habe ihr unter Tötungsdrohung ein<br />

Messer an den Hals gehalten. Das LG hat den Antrag nach § 244 Absatz III 2 StPO wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit<br />

abgelehnt; selbst wenn die Nebenklägerin den Zeuginnen einen teilweise abweichenden Geschehensablauf<br />

geschildert haben sollte, würde es aufgr<strong>und</strong> der Qualität ihrer polizeilichen Aussagen nicht den Schluss ziehen, dass<br />

sie insgesamt die Unwahrheit gesagt habe. Im Urteil erwägt das LG, ob die Ehefrau des Angekl. vor dem Hintergr<strong>und</strong><br />

ihres Trennungswunsches versucht gewesen sein könne, durch partiell falsche mehrbelastende Angaben eine<br />

härtere Strafe gegen ihn zu erreichen, verwirft dies aber angesichts des Detailreichtums <strong>und</strong> der Konstanz ihrer Angaben<br />

<strong>und</strong> mangelnder Erkennbarkeit auffälligen Belastungseifers vor dem Hintergr<strong>und</strong> der Verneinung eines sexuellen<br />

Übergriffs.<br />

a) Die Behandlung des Beweisantrages erweist sich als fehlerhaft, weil sie die Beweiswürdigung im Urteil inhaltlich<br />

in Frage stellt. Wenn das LG die Beweisbehauptung einer nachhaltig übertriebenen Darstellung dieses gewichtigsten<br />

Vergehens durch die für dieses Tatgeschehen einzige Belastungszeugin („Aussage-gegen-Aussage”-Konstellation)<br />

gegenüber Dritten als für die Glaubhaftigkeit der Angaben bedeutungslos erachtete <strong>und</strong> eine Beweiserhebung zu<br />

diesem Punkt <strong>und</strong> eine ergänzende Befragung der Nebenklägerin hierzu ablehnte, musste es die behaupteten wesent-<br />

- 300 -


lich widersprüchlichen Angaben der Nebenklägerin gegenüber Dritten folglich in der Aussageanalyse unterstellen.<br />

Dann war es aber unerlässlich, eine solche Auffälligkeit, deren Unerheblichkeit für die Beurteilung der Zuverlässigkeit<br />

ihrer Schilderung des Schwerpunktgeschehens sich nicht von selbst versteht, im Zusammenhang mit der erwähnten,<br />

hiermit zu hinterfragenden Beweiswürdigung ausdrücklich zu erörtern. Solches ist weder in dem den Antrag<br />

ablehnenden Beschluss noch im Urteil ausreichend geschehen. …<br />

c) Die verfahrensfehlerhafte Behandlung des Beweisantrages führt zur Aufhebung des Urteils insgesamt. Angesichts<br />

des Einflusses der Ehefrau des Angekl. auf ihre Töchter müsste die Zuverlässigkeit von deren Angaben für den Fall<br />

einer nicht tragfähigen Beweisgr<strong>und</strong>lage für den schwersten Tatvorwurf ebenfalls neu geprüft werden. …<br />

d) Der Senat weist ferner darauf hin, dass auch die Ablehnung des Beweisantrags auf Vernehmung des Zeugen Mo.<br />

wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit Bedenken begegnet, wenn die Nebenklägerin den Bruch des Lattenrostes<br />

des Ehebettes als Beleg für die Gewalttätigkeit des Angekl. angeführt hat, dieser aber zuvor schon gebrochen gewesen<br />

wäre. …<br />

StPO § 244 Abs. 3 Anforderungen an die Begründung der Ablehnung eines Beweisantrags wegen<br />

tatsächlicher Bedeutungslosigkeit<br />

BGH, Beschl. v. 05.02.2013 - 1 StR 553/12 - NJW 2013, 2044 = NStZ 2013, 352<br />

Eine Hilfstatsache ist in tatsächlicher Hinsicht (auch) dann bedeutungslos ist, wenn nicht erkennbar<br />

ist, warum die Beweisbehauptung den behaupteten Schluss auf den Beweiswert zulässt, wenn also<br />

letztlich ein Zusammenhang zwischen der Beweisbehauptung einerseits <strong>und</strong> dem Anklagevorwurf<br />

andererseits fehlt.<br />

In einem Beschluss, durch den ein Beweisantrag als aus tatsächlichen Gründen bedeutungslos abgelehnt<br />

wird, sind die hierfür maßgeblichen Erwägungen zumindest in ihrem Kern konkret darzulegen,<br />

um dem Antragsteller zu ermöglichen, sein weiteres Prozessverhalten entsprechend einzurichten.<br />

Der 1. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat am 5. Februar 2013 beschlossen:<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Freiburg vom 11. Juni 2012 mit den Feststellungen<br />

aufgehoben.<br />

Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere<br />

Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe<br />

I.<br />

1 Der Angeklagte wurde wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung unter Einbeziehung früher<br />

verhängter Strafen zu einer nachträglichen Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.<br />

2 Seine Revision hat mit einer Verfahrensrüge, mit der sie die nicht rechtsfehlerfreie Ablehnung eines Beweisantrages<br />

geltend macht, Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).<br />

3 1. Folgendes ist festgestellt:<br />

4 Der Angeklagte arbeitete im Nachtclub seiner geschiedenen Frau in W . . In einer nicht mehr genau feststellbaren<br />

Nacht im April oder Mai 2009 hielten sich dort die Tochter des Angeklagten <strong>und</strong> deren damals 17 Jahre alte Fre<strong>und</strong>in<br />

O. auf; es war vorgesehen, dass diese in B. in der Wohnung der geschiedenen Frau des Angeklagten schlafen<br />

sollte. Die beiden jungen Frauen gingen nach ihrem Aufenthalt im Nachtclub zunächst mit zwei jungen Männern in<br />

die Wohnung eines dieser jungen Männer im nahegelegenen Frankreich <strong>und</strong> tranken dort Kaffee. Danach rief die<br />

Tochter den Angeklagten an, er solle O. <strong>und</strong> sie mit dem Pkw abholen. Nach einem Zwischenaufenthalt im<br />

Nachtclub brachte er die beiden zum Haus seiner geschiedenen Frau <strong>und</strong> ordnete dort an, seine Tochter solle aussteigen,<br />

mit der Fre<strong>und</strong>in habe er noch zu reden. Anschließend verriegelte er die Beifahrertür <strong>und</strong> erklärte der Fre<strong>und</strong>in,<br />

er wolle mit ihr "ficken". Obwohl diese deutlich machte, dass sie dies alles nicht wolle, brachte er sie wieder in den<br />

Nachtclub. Dabei vermittelte er ihr den Eindruck, sie könne nicht weglaufen. Er verschloss die Tür des Nachtclubs,<br />

in dem niemand mehr war <strong>und</strong> führte sie in ein Zimmer mit einem Bett. Aus Furcht entkleidete sie sich <strong>und</strong> legte<br />

- 301 -


sich aufs Bett, er legte sich über sie. Als sie sich herauswinden wollte, hielt er sie fest, sie ließ dann den Geschlechtsverkehr<br />

über sich ergehen. Danach brachte er sie wieder in die Wohnung seiner geschiedenen Frau.<br />

5 2. Die Feststellungen beruhen im Wesentlichen auf den Angaben von O. , die die Strafkammer nach sachverständiger<br />

Beratung als glaubwürdig angesehen hat.<br />

6 Der Angeklagte hat die Tat bestritten, die Beschuldigung sei eine Erfindung von O. . Eine Autofahrt von Frankreich<br />

bzw. der französischen Grenze nach B. habe es nie gegeben. Er habe lediglich einmal die beiden auf ihren Wunsch<br />

vom Nachtclub zur Grenze gefahren. Vielleicht ginge die Anzeige darauf zurück, dass er seiner Tochter den Kontakt<br />

mit O. verboten habe, weil er erfahren habe, dass deren Bruder Rauschgift konsumiere.<br />

7 3. Nicht unerhebliche Teile der Beweisaufnahme bezogen sich auf Hilfstatsachen, die die Glaubwürdigkeit von O.<br />

hätten möglicherweise in Frage stellen können.<br />

8 Ohne dass hier die Urteilsgründe in allen Einzelheiten nachzuzeichnen wären, ging es dabei etwa um Folgendes:<br />

9 O. hat die Tat erst mit zeitlicher Verzögerung bei der Polizei angezeigt. Ihre Fre<strong>und</strong>in M. hat sie zur Polizei begleitet.<br />

Diese hat (u.a.) darüber ausgesagt, was ihr O. von der Tat erzählt habe. Im Unterschied zu ihren der Verurteilung zu<br />

Gr<strong>und</strong>e gelegten Angaben habe sie, so die Zeugin M. , erzählt, sie sei vom Angeklagten in dessen Pkw vor der Einfahrt<br />

ihres ( O. s) Wohnhauses vergewaltigt worden.<br />

10 Diese Schilderung, so legt die Strafkammer näher dar, sei unzutreffend, O. habe M. nicht alles, "sondern nur den<br />

Beginn" <strong>und</strong> die Tatsache der Vergewaltigung erzählt. Sie habe auch gesagt, dass der Angeklagte sie "heimgefahren"<br />

habe. Damit habe sie gemeint, er habe sie zur Wohnung ihrer Fre<strong>und</strong>in in B. gebracht. M. habe sich daraus jedoch<br />

"zusammengereimt", dass die Tat im Pkw vor dem Wohnhaus von O. stattgef<strong>und</strong>en habe.<br />

11 Gegenüber ihrem Bruder, der faktisch den Vater ersetzt habe, hat O. nach dessen Aussage angegeben, der Angeklagte<br />

habe sie bei sich (dem Angeklagten) zu Hause vergewaltigt.<br />

12 Dies, so die Strafkammer, erkläre sich aus dem "soziokulturellen, eher konservativen Hintergr<strong>und</strong>" der Familie O. .<br />

Daher habe sie dem Bruder nicht gesagt, dass die Tat in einem Nachtclub stattgef<strong>und</strong>en habe, sondern "bei ihm", was<br />

der Bruder als "bei dem Angeklagten zu Hause" verstanden habe.<br />

II.<br />

13 Vor dem Hintergr<strong>und</strong> der nach alledem ersichtlich nicht einfachen Beweislage erweist sich folgender Beweisantrag<br />

als nicht rechtsfehlerfrei behandelt:<br />

14 In das Wissen einer Zeugin, einer langjährigen Fre<strong>und</strong>in von O. war gestellt, dass diese im Sommer 2009, also<br />

mehrere Wochen nach der (terminlich nicht genau feststehenden) Tat auf einem Spielplatz in W . ihr gegenüber<br />

behauptet habe, ihr Bruder habe sie vergewaltigt. Neige die Zeugin, so ist zur Begründung des Antrags näher ausgeführt,<br />

dazu, andere sexueller Übergriffe zu bezichtigen, könne dies die Beurteilung ihrer Aussage beeinflussen, wobei<br />

auch eine "weitere psychologisch/psychiatrische Glaubwürdigkeitsbegutachtung" genannt ist.<br />

15 Die Strafkammer hat den Antrag wegen Bedeutungslosigkeit abgelehnt <strong>und</strong> zur Begründung ausgeführt:<br />

16 "Mit der Aussage der Zeugin soll eine Hilfstatsache bewiesen werden. Es ist aber nicht ersichtlich, welche Schlüsse<br />

aus dieser Hilfstatsache für die Bewertung der Aussage der Zeugin O. gezogen werden könnten, zumal die Kammer<br />

eine weitere Glaubwürdigkeitsbegutachtung nicht beabsichtigt, weil deren Voraussetzungen nicht vorliegen".<br />

17 Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.<br />

18 1. Ohne dass dies näherer Ausführung bedürfte, ist die Strafkammer zutreffend davon ausgegangen, dass der<br />

Beweisantrag auf eine Hilfstatsache gerichtet war.<br />

19 Zutreffend ist auch der Ansatz, dass eine Hilfstatsache in tatsächlicher Hinsicht - um anderes geht es hier nicht -<br />

(auch) dann bedeutungslos ist, wenn nicht erkennbar ist, warum die Beweisbehauptung (Zeugin O. behauptet, von<br />

ihrem Bruder vergewaltigt worden zu sein) den behaupteten Schluss auf den Beweiswert einer anderen Aussage<br />

dieser Zeugin (der Angeklagte habe sie vergewaltigt) zulässt, wenn also letztlich ein Zusammenhang zwischen der<br />

Beweisbehauptung einerseits <strong>und</strong> dem Anklagevorwurf andererseits fehlt (vgl. zusammenfassend Becker in LR-<br />

StPO, 26. Aufl., § 244 Rn. 220 Fn. 1134 mwN).<br />

20 2. Allgemein-abstrakte Gr<strong>und</strong>sätze darüber, in welcher Beziehung die Beweistatsache zu dem Verfahrensgegenstand<br />

stehen muss, wenn sie für seine Beurteilung Bedeutung haben soll, lassen sich kaum aufstellen. Auch Vorfälle, die<br />

dem angeklagten Vorwurf zeitlich nachfolgen, <strong>und</strong> an denen der Angeklagte nicht beteiligt war, können im Einzelfall<br />

auf die Beurteilung des konkreten Falles wichtige Schlüsse zulassen <strong>und</strong> dadurch Bedeutung erhalten.<br />

21 Im Kern kommt es darauf an, ob im konkreten Fall nach allgemeiner - oder jedenfalls richterlicher - Erfahrung der<br />

aufgezeigte Zusammenhang erkennbar ohne weiteres sicher zu verneinen ist (vgl. Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag<br />

im Strafprozess, 5. Aufl., S. 587 f).<br />

- 302 -


22 3. Gründe, aus denen sich eine solche Bedeutungslosigkeit ergibt, teilt die Strafkammer nicht mit. In einem Beschluss,<br />

durch den ein Beweisantrag als aus tatsächlichen Gründen bedeutungslos abgelehnt wird (§ 244 Abs. 6<br />

StPO), sind die hierfür maßgeblichen Erwägungen aber zumindest in ihrem Kern konkret darzulegen, um dem Antragsteller<br />

zu ermöglichen, sein weiteres Prozessverhalten entsprechend einzurichten (st. Rspr., vgl. zusammenfassend<br />

Fischer in KK-StPO, 6. Aufl., § 244 Rn. 145 mwN). Dementsprechend hat der Senat, dem im Übrigen eine<br />

eigene Beweiswürdigung verwehrt ist, nicht darüber zu befinden, ob <strong>und</strong> gegebenenfalls wie hier die Annahme einer<br />

solchen Bedeutungslosigkeit zu begründen wäre.<br />

23 4. Der Senat hat erwogen, ob hier - ausnahmsweise - eine nähere Begründung für die Zurückweisung eines Beweisantrags<br />

wegen Bedeutungslosigkeit entbehrlich sein könnte. Dies ist dann der Fall, wenn die hierfür maßgeblichen<br />

Gründe evident auf der Hand liegen (st. Rspr., vgl. zusammenfassend Fischer aaO Rn. 147 mwN).<br />

24 Dies ist hier nicht der Fall:<br />

25 O. hat sowohl gegenüber M. als auch gegenüber ihrem Bruder Angaben gemacht, die nach der Bewertung der<br />

Strafkammer bei beiden Zeugen Fehlvorstellungen ausgelöst haben. Es ist unter diesen Umständen nicht völlig<br />

selbstverständlich, dass von vorneherein keinerlei Schlussfolgerungen daraus gezogen werden könnten, wenn sie in<br />

zeitlicher Nähe zu der Anzeige der verfahrensgegenständlichen Vergewaltigung behauptet hat, auch noch von einer<br />

anderen Personen vergewaltigt worden zu sein.<br />

26 5. Es mag dahinstehen, ob der nicht näher erläuterte Hinweis der Strafkammer, eine erneute Begutachtung sei nicht<br />

beabsichtigt, daneben auch zum Ausdruck bringen soll, dass jedenfalls nach den konkreten Umständen des Falles<br />

selbst bei Gelingen des Beweises ein Schluss auf die Glaubhaftigkeit der Aussage von O. nicht gezogen würde,<br />

selbst wenn ein solcher Schluss (doch) möglich sein sollte. Auch dann fehlte aber in gleicher Weise die notwendige<br />

konkrete Begründung.<br />

27 6. Auch sonst ist dieser Hinweis nicht ganz klar.<br />

28 Es versteht sich von selbst, dass alle vor dem Urteil angefallenen Erkenntnisse zu berücksichtigen <strong>und</strong> zu bewerten<br />

sind. Ist der Richter nach seiner Auffassung hierzu selbst nicht in der Lage, sondern bedarf er hierzu sachverständiger<br />

Beratung, muss er sie - erforderlichenfalls ergänzend - einholen. Jedenfalls könnte auf eine Beweiserhebung zu<br />

einer Frage, die möglicherweise für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der zentralen Aussage eines Zeugen bedeutsam<br />

sein kann, nicht deshalb verzichtet werden, weil dessen Begutachtung bereits erfolgt ist.<br />

III.<br />

29 Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, ohne dass es auf das weitere Revisionsvorbringen<br />

noch ankäme.<br />

30 Der Senat bemerkt jedoch, dass gegebenenfalls die nicht völlig klare nachträgliche Gesamtstrafenbildung zu<br />

verdeutlichen wäre. Einbezogen ist hier jeweils die Strafe aus Verurteilungen vom 5. Mai 2010 <strong>und</strong> 14. März 2011.<br />

Die Tatzeiten sind nicht mitgeteilt. Durch ein Urteil vom 8. Juni 2011 wurde aus der dort verhängten Strafe <strong>und</strong> den<br />

genannten Strafen eine nachträgliche Gesamtstrafe gebildet. Diese hat die Strafkammer ohne weitere Ausführungen<br />

aufgelöst. Die Strafe für die am 8. Juni 2011 abgeurteilte Tat - es ist weder ihre Höhe noch die Tatzeit mitgeteilt - ist<br />

hier nicht einbezogen.<br />

StPO § 244 Abs. 3 Ablehnung eines Beweisantrags wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit<br />

BGH, Beschl. v. 27.11.2012 - 5 StR 426/12 - NStZ-RR 2013, 117<br />

An der im Zurückweisungsbeschluss angenommene tatsächlicher Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache<br />

muss sich das Gericht festhalten lassen; es darf sich nicht im Urteil zu der Ablehnungsbegründung in Widerspruch<br />

setzen, insbesondere die Urteilsgründe nicht auf das Gegenteil der unter Beweis gestellten Tatsache<br />

stützen<br />

Der 5. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat am 27. November 2012 beschlossen:<br />

Auf die Revisionen der Angeklagten E. <strong>und</strong> K. wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 23. Februar 2012, soweit<br />

es sie betrifft, gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.<br />

Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere<br />

Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe<br />

- 303 -


1 Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht<br />

geringer Menge in 16 Fällen zu Gesamtfreiheitsstrafen von sechs Jahren <strong>und</strong> neun Monaten (E. ) <strong>und</strong> sechs Jahren<br />

<strong>und</strong> sechs Monaten (K. ) verurteilt. Die hiergegen gerichteten Revisionen der Angeklagten haben mit inhaltsgleichen<br />

Verfahrensrügen Erfolg.<br />

2 Die Strafkammer hat zwei von beiden Angeklagten gestellte Beweisanträge wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit<br />

abgelehnt. Mit diesen haben sie die Vernehmung der Zeugen O. <strong>und</strong> L. - ersteren als Zeugen vom Hörensagen, letzteren<br />

als unmittelbaren Zeugen - zum Beweis der Tatsache begehrt, dass der Mitangeklagte P. in der Justizvollzugsanstalt<br />

T. , in der er als Vollzugsbeamter tätig war, mit Drogen gehandelt habe. Zur Begründung hat das Tatgericht<br />

ausgeführt, die Beweistatsache lasse keine zwingenden Schlüsse auf die "Glaubwürdigkeit" des Mitangeklagten zu.<br />

Sie beträfe lediglich einen Randbereich seiner Aussage. Im Übrigen hätten die Angeklagten selbst eine Tatbeteiligung<br />

eingeräumt.<br />

3 Dies genügt nicht den Anforderungen, die an die Begründung der Ablehnung eines auf eine Indiztatsache gerichteten<br />

Beweisantrags zu stellen sind. Der Beschluss, mit dem die Erhebung eines Beweises wegen Unerheblichkeit der<br />

Beweistatsache abgelehnt wird, ist mit konkreten Erwägungen zu begründen, warum das Tatgericht aus der Beweistatsache<br />

keine entscheidungserheblichen Schlussfolgerungen ziehen will. Die Anforderungen an diese Begründung<br />

entsprechen gr<strong>und</strong>sätzlich denjenigen, denen das Gericht genügen müsste, wenn es die Indiz- oder Hilfstatsache<br />

durch Beweiserhebung festgestellt <strong>und</strong> sodann in den schriftlichen Urteilsgründen darzulegen hätte, warum sie auf<br />

seine Entscheidungsbildung ohne Einfluss blieb (BGH, Urteil vom 7. April 2011 - 3 StR 497/10, NStZ 2011, 713<br />

mwN). Dies nötigt zu einer Einfügung der Beweistatsache in das bisher gewonnene Beweisergebnis (vgl. BGH,<br />

Beschluss vom 10. November 2011 - 5 StR 397/11, NStZ-RR 2012, 82).<br />

4 Dem werden die die Anträge auf Vernehmung der Zeugen O. <strong>und</strong> L. zurückweisenden Beschlüsse nicht gerecht. Der<br />

schlagwortartige Hinweis darauf, dass die in Frage stehenden Angaben des Mitangeklagten P. - auf denen die Urteilsfeststellungen<br />

überwiegend beruhen - lediglich das Randgeschehen beträfen <strong>und</strong> die Angeklagten im Übrigen<br />

eine Tatbeteiligung eingeräumt hätten, berücksichtigt nicht ausreichend die Besonderheiten des vorliegenden Falles<br />

<strong>und</strong> lässt eine ausreichende Gesamtwürdigung nicht erkennen. Träfe die Beweistatsache nämlich zu, so läge - insbesondere<br />

hinsichtlich des auf Vernehmung des Zeugen L. gerichteten Beweisantrags, in welchem der behauptete Handel<br />

des Mitangeklagten P. ausdrücklich den Tatzeitraum einbezieht - die Annahme äußerst nahe, dass es sich hierbei<br />

um den Absatz eines Teils der durch die abgeurteilten Anbauhandlungen erzielten Erträge gehandelt habe. Der eine<br />

eigene Verkaufstätigkeit in Abrede stellende P. hätte in diesem Fall seinen eigenen Beitrag zu den verfahrensgegenständlichen<br />

Taten heruntergespielt, wodurch nicht nur seine Glaubwürdigkeit im allgemeinen, sondern auch die<br />

Glaubhaftigkeit seiner Angaben zum konkreten Tatgeschehen, durch die er die Beschwerdeführer erheblich belastet<br />

hat, berührt wäre. Hieran vermag auch das jeweilige Teilgeständnis der Beschwerdeführer nichts zu ändern, da diese<br />

erheblich hinter den auf den Angaben P. s beruhenden Feststellungen zurückbleiben <strong>und</strong> der Beweisantrag gerade<br />

darauf abzielte, die von den Einlassungen der Beschwerdeführer abweichenden Angaben des unter Berücksichtigung<br />

seiner getätigten Aufklärungshilfe zu einer zweijährigen, zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe verurteilten<br />

Mitangeklagten P. in Zweifel zu ziehen.<br />

5 Die Ablehnung der Beweisanträge erweist sich zudem aus einem weiteren Gr<strong>und</strong> als rechtsfehlerhaft. An der dem<br />

Ablehnungsbeschluss zugr<strong>und</strong>e liegenden Annahme tatsächlicher Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache muss sich<br />

das Gericht festhalten lassen; es darf sich nicht im Urteil zu der Ablehnungsbegründung in Widerspruch setzen,<br />

insbesondere die Urteilsgründe nicht auf das Gegenteil der unter Beweis gestellten Tatsache stützen (BGH, Beschluss<br />

vom 20. Juli 2010 - 3 StR 250/10, StraFo 2010, 466; Urteil vom 19. September 2007 - 2 StR 248/07, StraFo<br />

2008, 29; Beschluss vom 20. August 1996 - 4 StR 373/96, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Bedeutungslosigkeit<br />

22). Gegen diesen Gr<strong>und</strong>satz hat das Landgericht verstoßen, indem es im Rahmen der Beweiswürdigung ausgeführt<br />

hat, die Behauptung, der Mitangeklagte P. habe Drogen in die JVA "eingeschmuggelt", habe sich nach Vernehmung<br />

des Leiters der Personalabteilung der JVA "als völlig haltlos erwiesen" (UA S. 22).<br />

6 Auf dem Verfahrensfehler beruht das Urteil. Da die seitens der Beschwerdeführer eingeräumten Teile des Tatgeschehens<br />

untrennbar mit den darüber hinausgehenden, auf die Angaben P. s gestützten Feststellungen verb<strong>und</strong>en<br />

sind, können die Urteilsfeststellungen insgesamt keinen Bestand haben.<br />

7 Für die neue Verhandlung weist der Senat darauf hin, dass zwar bei mehreren selbständigen Erntevorgängen<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich die Annahme selbständiger Taten des Handeltreibens naheliegt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 15. Oktober<br />

2008 - 2 StR 352/08, <strong>und</strong> vom 20. April 2005 - 3 StR 106/05, NStZ 2005, 650), dies indessen für jeden Beteiligten<br />

die Feststellung auf die einzelnen Ernten bezogener Tatbeiträge voraussetzt, da das Konkurrenzverhältnis für<br />

- 304 -


jeden Beteiligten gesondert nach seinem Tatbeitrag zu bewerten ist (vgl. Fischer, StGB, 59. Aufl., Vor § 52 Rn. 34<br />

mwN).<br />

StPO § 244 Abs. 3 Ablehnung eines Beweisantrags wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit<br />

BGH, Beschl v. 14.05.2013 - 5 StR 143/13 - JurionRS 2013, 37198<br />

Der Beschluss, mit dem die Erhebung eines Beweises wegen Unerheblichkeit der Beweistatsache abgelehnt<br />

wird, ist mit konkreten Erwägungen zu begründen, warum das Tatgericht aus der Beweistatsache keine entscheidungserheblichen<br />

Schlussfolgerungen ziehen will. Die Anforderungen an diese Begründung entsprechen<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich denjenigen, denen das Gericht genügen müsste, wenn es die Indiz- oder Hilfstatsache durch<br />

Beweiserhebung festgestellt <strong>und</strong> sodann in den schriftlichen Urteilsgründen darzulegen hätte, warum sie auf<br />

seine Entscheidungsbildung ohne Einfluss blieb. Dies nötigt zu einer Einfügung der Beweistatsache in das<br />

bisher gewonnene Beweisergebnis.<br />

Der 5. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat am 14. Mai 2013 beschlossen:<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bautzen vom 13. Dezember 2012 gemäß § 349<br />

Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.<br />

Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere<br />

Schwurgerichtskammer des Landgerichts Görlitz zurückverwiesen.<br />

Gründe<br />

1 Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren<br />

<strong>und</strong> sechs Monaten verurteilt. Seine hiergegen gerichtete Revision hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.<br />

2 1. Folgendes Geschehen liegt zugr<strong>und</strong>e:<br />

3 a) Die Schwurgerichtskammer hat einen Beweisantrag der Verteidigung wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit<br />

abgelehnt. Mit diesem hatte der Angeklagte unter anderem die Vernehmung der Zeugin Z. zum Beweis der Tatsache<br />

begehrt, dass die Zeugin Wi. , die Fre<strong>und</strong>in des Angeklagten, ihr am Morgen nach der Tatnacht - in Übereinstimmung<br />

mit späteren Angaben gegenüber der Polizei - von dem Tatgeschehen berichtet <strong>und</strong> hierbei k<strong>und</strong>getan habe,<br />

der Angeklagte sei von den Zeugen A. <strong>und</strong> B. angegriffen worden, habe sich rückwärts von diesen wegbewegt <strong>und</strong><br />

die ihn weiter verfolgenden Zeugen aufgefordert, sich ihm nicht weiter zu nähern. Er habe dabei mit einem abgebrochenen<br />

Flaschenhals in der Hand wild um sich geschlagen <strong>und</strong> gestikuliert. Der Zeuge B. habe sich gleichwohl weiter<br />

genähert <strong>und</strong> sei schließlich vom Angeklagten am Hals getroffen worden.<br />

4 b) Zur Begründung der Ablehnung dieses Beweisantrags hat das Landgericht ausgeführt, es halte die Einvernahme<br />

der Zeugin Z. zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin Wi. für nicht erforderlich. Falls die Zeugin<br />

Z. inhaltlich die Angaben der Zeugin Wi. gegenüber der Polizei wiedergebe, wäre als weitergehender Erkenntnisgewinn<br />

lediglich festzustellen, dass die Zeugin Wi. innerhalb von ca. zwei Wochen zwei gleichlautende Aussagen<br />

getroffen habe. Die Strafkammer habe die Zeugen F. (den Polizeibeamten, der im Ermittlungsverfahren die Zeugin<br />

Wi. vernommen hatte) <strong>und</strong> Wi. bereits vernommen. Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben von Zeugen<br />

treffe die Kammer aufgr<strong>und</strong> des Ergebnisses der Beweisaufnahme. Im Urteil hat die Schwurgerichtskammer die die<br />

Einlassung des Angeklagten stützende Aussage der Zeugin Wi. als unglaubhaft bewertet <strong>und</strong> insoweit unter anderem<br />

ausgeführt, die Zeugin habe zwischen dem Abtauchen des Angeklagten <strong>und</strong> ihrem eigenen Verschwinden am 2.<br />

Dezember 2011 (dem Tattag) bis zu ihrer Vernehmung am 17. Dezember 2011 genügend Zeit gehabt, ihre Aussage<br />

mit derjenigen des Angeklagten abzustimmen (UA S. 25).<br />

5 2. Diese Ausführungen halten rechtlicher Überprüfung nicht stand.<br />

6 a) Bereits die Begründung, mit der das Landgericht den auf eine Indiztatsache gerichteten Beweisantrag abgelehnt<br />

hat, genügt nicht den insoweit bestehenden Anforderungen. Der Beschluss, mit dem die Erhebung eines Beweises<br />

wegen Unerheblichkeit der Beweistatsache abgelehnt wird, ist mit konkreten Erwägungen zu begründen, warum das<br />

Tatgericht aus der Beweistatsache keine entscheidungserheblichen Schlussfolgerungen ziehen will. Die Anforderungen<br />

an diese Begründung entsprechen gr<strong>und</strong>sätzlich denjenigen, denen das Gericht genügen müsste, wenn es die<br />

Indiz- oder Hilfstatsache durch Beweiserhebung festgestellt <strong>und</strong> sodann in den schriftlichen Urteilsgründen darzulegen<br />

hätte, warum sie auf seine Entscheidungsbildung ohne Einfluss blieb. Dies nötigt zu einer Einfügung der Beweistatsache<br />

in das bisher gewonnene Beweisergebnis (BGH, Beschluss vom 27. November 2012 - 5 StR 426/12<br />

- 305 -


mwN). Das Landgericht hätte sich daher in der Beschlussbegründung ausdrücklich damit auseinandersetzen müssen,<br />

weshalb der für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit jedenfalls nicht von vornherein unerhebliche Umstand der Übereinstimmung<br />

kurz nach der Tat gegenüber einer Bekannten getätigter Angaben mit einer zwei Wochen später stattfindenden<br />

Aussage bei der Polizei im konkreten Fall keinen Einfluss auf die Bewertung der das Tatgeschehen weitgehend<br />

im Einklang mit der Einlassung des Angeklagten darstellenden Angaben der Zeugin Wi. haben kann, sei es,<br />

weil es der Zeugin ohnehin Glauben schenkt, sei es, weil es deren Angaben auch bei einer zu unterstellenden Richtigkeit<br />

der Beweisbehauptung aus bestimmten Gründen als unglaubhaft bewerten würde. Demgegenüber erweckt die<br />

Beschlussbegründung den Eindruck, das Landgericht halte den - tatsächlich bestehenden - Zusammenhang der Beweistatsache<br />

mit dem Gegenstand der Urteilsfindung nicht für gegeben.<br />

7 b) Ob dieser Begründungsmangel im vorliegenden Fall bereits für sich genommen geeignet wäre, die Revision des<br />

Angeklagten zu begründen, kann indessen letztlich dahinstehen, da sich die Ablehnung des Beweisantrags jedenfalls<br />

aus einem anderen Gr<strong>und</strong> als rechtsfehlerhaft erweist.<br />

8 An der dem Ablehnungsbeschluss zugr<strong>und</strong>e liegenden Annahme tatsächlicher Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache<br />

muss sich das Gericht festhalten lassen; es darf sich nicht im Urteil zu der Ablehnungsbegründung in Widerspruch<br />

setzen, insbesondere die Urteilsgründe nicht auf das Gegenteil der unter Beweis gestellten Tatsache stützen<br />

(BGH, Beschlüsse vom 27. November 2012 - 5 StR 426/12 - <strong>und</strong> vom 20. Juli 2010 - 3 StR 250/10, StraFo 2010,<br />

466; Urteil vom 19. September 2007 - 2 StR 248/07, StraFo 2008, 29; Beschluss vom 20. August 1996 - 4 StR<br />

373/96, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Bedeutungslosigkeit 22). Indem die Strafkammer die die Einlassung des<br />

Angeklagten bestätigende Aussage der Zeugin Wi. - unter anderem mit der Begründung als unglaubhaft bewertet hat,<br />

die Zeugin habe zwischen dem Abtauchen des Angeklagten <strong>und</strong> ihrem eigenen Verschwinden am 2. Dezember 2011<br />

bis zu ihrer Vernehmung am 17. Dezember 2011 genügend Zeit gehabt, ihre Aussage mit derjenigen des Angeklagten<br />

abzustimmen, hat sie jedoch einen mit der im Ablehnungsbeschluss als bedeutungslos erachteten Tatsache unvereinbaren<br />

Umstand zur Stützung seiner Überzeugung herangezogen. Hätte die Zeugin Wi. nämlich bereits am Morgen<br />

nach der Tat identische Angaben gemacht, könnte nicht auf den im Urteil genannten für eine Abstimmung der Aussagen<br />

zur Verfügung stehenden Zeitraum von zwei Wochen abgestellt werden, sondern lediglich auf einen solchen<br />

von wenigen St<strong>und</strong>en, in dem der Angeklagte <strong>und</strong> die Zeugin noch unmittelbar unter dem Eindruck des Erlebten<br />

gestanden haben dürften <strong>und</strong> eine polizeiliche Aussage noch nicht unmittelbar bevorstand.<br />

9 c) Auf dem Verfahrensfehler beruht das Urteil. Zwar führt das Landgericht noch weitere Gründe für die Unglaubhaftigkeit<br />

der Angaben der Zeugin Wi. an. Das Abstellen auf den zur Abstimmung der Aussage zur Verfügung stehenden<br />

Zeitraum kann gleichwohl nicht als die Entscheidung nicht tragende Hilfserwägung verstanden werden. Vielmehr<br />

kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Strafkammer unter Berücksichtigung einer inhaltlich deckungsgleichen<br />

Schilderung Wi. s bereits am Morgen nach der Tat insoweit zu einem anderen Ergebnis gelangt <strong>und</strong> die<br />

Aussage der Zeugin sowie die durch sie gestützte Einlassung des Angeklagten anders bewertet <strong>und</strong> im Ergebnis<br />

abweichende tatsächliche Feststellungen getroffen hätte.<br />

10 d) Dieser Rechtsfehler nötigt zur umfassenden Aufhebung des Urteils. Zwar lässt die in der Hauptverhandlung<br />

abgegebene Einlassung des Angeklagten einen die Voraussetzungen des § 32 StGB erfüllenden unmittelbar bevorstehenden<br />

Angriff der Zeugen A. <strong>und</strong> B. nicht erkennen, so dass ihr entsprechende Feststellungen entgegen der Ansicht<br />

der Revision dem Schuldspruch nicht ohne weiteres die Gr<strong>und</strong>lage entzögen. Es ist dem Revisionsgericht jedoch<br />

verwehrt, die rechtsfehlerhaft zustande gekommenen Feststellungen des Tatgerichts durch anderweitige zu<br />

ersetzen.<br />

11 3. Für die neue Verhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:<br />

12 a) Die Notwendigkeit <strong>und</strong> der Umfang der Wiedergabe von Zeugenaussagen <strong>und</strong> der Auseinandersetzung mit ihnen<br />

bestimmen sich nach den Umständen des Einzelfalls (näher Engelhardt in KK, StPO, 6. Aufl., § 267 Rn. 15 mwN).<br />

So muss etwa die Entwicklung einer Zeugenaussage in der Beweiswürdigung dann nicht abgehandelt werden, wenn<br />

dieser Gesichtspunkt zur Überzeugung der Strafkammer geklärt ist <strong>und</strong> das Urteil selbst von Widersprüchen oder<br />

Lücken frei ist (BGH, Urteil vom 27. Juli 2005 - 2 StR 203/05, NStZ 2006, 55). Das neue Tatgericht wird sich jedoch<br />

eingehender als bisher geschehen mit den verschiedenen Zeugenaussagen auseinanderzusetzen haben, die im<br />

angefochtenen Urteil zur Widerlegung der Einlassung des Angeklagten herangezogen worden sind. Dies gilt insbesondere<br />

vor dem Hintergr<strong>und</strong>, dass etwa die im Urteil wiedergegebenen Aussagen der Zeuginnen Bü. <strong>und</strong> Al. in<br />

Teilbereichen inhaltlich nicht mit den Feststellungen des Landgerichts in Einklang stehen.<br />

13 b) Die im Urteil vorgenommene Trinkmengenberechnung begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken (vgl. zur<br />

Berechnung König in LK, 12. Aufl., § 316 Rn. 37 ff.).<br />

- 306 -


14 4. Der Senat verweist die Sache - nach "Aufhebung" des Landgerichts Bautzen - an eine andere Schwurgerichtskammer<br />

des Landgerichts Görlitz zurück (§ 71 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 1 Abs. 2 Nr. 3 SächsJG).<br />

StPO § 244 Abs. 4 Beweisantrag Sachverständiger Aussagetüchtigkeit<br />

BGH, Beschl. vom 09.10.2012 - 5 StR 428/12 - StrafO 2013, 26<br />

Mangels - im Urteil nicht dargelegter - besonderer Sachk<strong>und</strong>e darf das Tatgericht nicht davon ausgehen,<br />

bei der Nebenklägerin als Zeugin habe ein Zustand gänzlicher Erinnerungslosigkeit an markante<br />

Tatereignisse bei andererseits voll erhaltenem Erinnerungsvermögen betreffend die Details<br />

viel weiter zurückliegender Ereignisse bestanden. Das Gericht muss in solchen Fällen entsprechend<br />

dem Beweisbegehren des Angeklagten sachverständige Hilfe zuziehen.<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 22. März 2012 nach § 349 Abs. 4 StPO<br />

mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,<br />

a) soweit der Angeklagte wegen der Taten 1 bis 3 (Vergewaltigung, vorsätzliche Körperverletzung in zwei Fällen)<br />

verurteilt worden ist, <strong>und</strong><br />

b) im gesamten Rechtsfolgenausspruch.<br />

Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.<br />

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels,<br />

an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe<br />

1 Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung <strong>und</strong> wegen vorsätzlicher Körperverletzung in vier<br />

Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren <strong>und</strong> drei Monaten verurteilt <strong>und</strong> dessen Unterbringung in der<br />

Sicherungsverwahrung angeordnet. Ferner hat es ihn verurteilt, an die Nebenklägerin 7.250 € Schmerzensgeld zu<br />

bezahlen. Gegen das Urteil richtet sich die auf Verfahrensrügen <strong>und</strong> die Rüge der Verletzung materiellen Rechts<br />

gestützte Revision des Angeklagten. Sie erzielt mit einer Verfahrensrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen<br />

Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet nach § 349 Abs. 2 StPO.<br />

2 1. Nach den Feststellungen des Landgerichts unterhielten der Angeklagte <strong>und</strong> die Nebenklägerin seit Februar 2009<br />

eine sich bis in den Herbst 2010 erstreckende Intimbeziehung.<br />

3 a) Bereits zu Anfang, nämlich zwischen dem 16. April <strong>und</strong> dem 19. Juni 2009, schlug <strong>und</strong> trat der Angeklagte die<br />

Nebenklägerin gegen Kopf <strong>und</strong> Oberschenkel, weil sie einen Trennungswunsch ausgesprochen hatte; sie war wegen<br />

der Gewalttätigkeit des Angeklagten so sehr verängstigt, dass sie einnässte (Tat 1 - Einzelfreiheitsstrafe sechs Monate).<br />

Noch am Abend desselben Tages vergewaltigte der Angeklagte die Nebenklägerin <strong>und</strong> würgte sie dabei so stark,<br />

dass sie kaum noch atmen konnte <strong>und</strong> Todesangst litt; abermals hatte die Nebenklägerin zuvor gesagt, sich vom<br />

Angeklagten trennen zu wollen (Tat 2 - Einsatzstrafe von drei Jahren <strong>und</strong> sechs Monaten Freiheitsstrafe).<br />

4 b) Trotz der Taten blieb die Nebenklägerin mit dem Angeklagten zusammen. Gr<strong>und</strong> war ihre Angst vor weiteren<br />

Gewalttätigkeiten, jedoch auch, dass ihre Zuneigung für ihn nicht "völlig vergangen war <strong>und</strong> sie überdies die Sexualität<br />

mit ihm nicht missen wollte" (UA S. 24). Die weitere Beziehung war geprägt von häufigen Sexualakten, teils<br />

auch unter Hinzuziehung weiterer Sexualpartner, namentlich in Swingerclubs. In der Wohnung wurden Spiegelfliesen<br />

angebracht, um die Selbstbeobachtung beim Geschlechtsverkehr zu ermöglichen. Beide ließen sich Intimpiercings<br />

anbringen sowie den Vornamen des jeweils anderen auf den Rücken tätowieren. Die Nebenklägerin schenkte<br />

dem Angeklagten im Herbst 2009 eine teure Motorradjacke <strong>und</strong> finanzierte ihm im Frühjahr 2010 ein Motorrad im<br />

Wert von knapp 10.000 €.<br />

5 Mitte des Jahres 2010 verschlechterten sich die Verhältnisse. Die Nebenklägerin erwirkte am 29. Juni 2010 eine<br />

Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz gegen den Angeklagten <strong>und</strong> erstattete wegen verschiedener Vorfälle<br />

mehrfach Strafanzeige gegen ihn. Dass sie von ihm im Frühjahr 2009 schwer misshandelt <strong>und</strong> anschließend vergewaltigt<br />

worden war, erwähnte sie weder im Verfahren nach dem Gewaltschutzgesetz noch bei ihren Strafanzeigen.<br />

Sie offenbarte sich auch Vertrauenspersonen nicht. Trotz ihrer gegen den Angeklagten unternommen Maßnahmen<br />

hatte sie mit ihm weiterhin auch sexuelle Kontakte; Ende Juli 2010 verbrachten sie <strong>und</strong> der Angeklagte einen Urlaub<br />

in Tunesien. Zuvor hatten sie eine Vielzahl liebevoller Kurznachrichten ausgetauscht. Nach Rückkehr aus dem Urlaub<br />

verschärften sich die <strong>Partner</strong>schaftsprobleme. Gleichwohl verkehrten die Nebenklägerin <strong>und</strong> der Angeklagte<br />

- 307 -


geschlechtlich miteinander, so im Rahmen eines Besuchs in einem Swingerclub am 29. August 2010, <strong>und</strong> trafen sich<br />

ungeachtet von der Nebenklägerin im Rahmen des Gewaltschutzverfahrens danach unternommener Initiativen bis<br />

etwa Anfang November 2010 einvernehmlich miteinander.<br />

6 c) Am frühen Morgen des 12. November 2010 wartete der Angeklagte vor einem Club auf die Nebenklägerin, in<br />

dem diese als Stripteasetänzerin arbeitete. Er geriet in Wut <strong>und</strong> biss die Nebenklägerin in die Nase, woraufhin diese<br />

ihm Reizgas ins Gesicht sprühte; er schlug mit den Fäusten auf sie ein, bis sie sich nach einem weiteren Sprühstoß<br />

retten konnte (Tat 3 - Einzelfreiheitsstrafe sechs Monate). Einige St<strong>und</strong>en später passte der Angeklagte die Nebenklägerin<br />

vor ihrem Wohnhaus ab <strong>und</strong> verfolgte sie bei einem Fluchtversuch; er stieß sie mit der Folge von Schürfw<strong>und</strong>en<br />

in eine Hecke (Tat 4 - Einzelfreiheitsstrafe vier Monate) <strong>und</strong> schlug deren ihr zu Hilfe eilenden Bekannten<br />

gegen den Kopf, wodurch er Platzw<strong>und</strong>en verursachte <strong>und</strong> dessen Brille zerstörte (Tat 5 - Einzelfreiheitsstrafe sechs<br />

Monate).<br />

7 d) Mit ihrem Bekannten erstattete die Nebenklägerin noch am 12. November 2010 (erneut) Strafanzeige gegen den<br />

Angeklagten. Abermals teilte sie die Taten 1 <strong>und</strong> 2 nicht mit. Den Vergewaltigungsvorwurf erhob sie erst in einem<br />

Telefongespräch mit einer Polizeibeamtin am 30. November 2010.<br />

8 e) Bei ihrer Vernehmung in der Hauptverhandlung behauptete die Nebenklägerin, es habe nach der Vergewaltigung<br />

keinen freiwilligen Geschlechtsverkehr mit dem Angeklagten mehr gegeben; sie habe sich beim Sex "wie eine Puppe"<br />

verhalten. Die Beziehung habe sie nur gezwungenermaßen <strong>und</strong> aus Angst vor dem Angeklagten fortgesetzt.<br />

9 Diese Aussage <strong>und</strong> eine Reihe von der Nebenklägerin in diesem Zusammenhang gemachter Einzelangaben hat das<br />

Landgericht nach Beweiserhebung widerlegt. Die Unwahrheiten stellten die Glaubhaftigkeit ihrer Bek<strong>und</strong>ungen<br />

insbesondere zu den Taten 1 <strong>und</strong> 2 jedoch nicht in Frage. Sie beträfen nicht das Kerngeschehen. Das Aussageverhalten<br />

der Nebenklägerin sei "offensichtlich besetzt von Gefühlen der Scham, von greifenden Verdrängungsmechanismen,<br />

die zu Erinnerungslücken bzw. zu der Unfähigkeit geführt haben, sich (<strong>und</strong> der Kammer) die noch lange Zeit<br />

nach der Vergewaltigung anhaltende Ambivalenz der eigenen Gefühle einzugestehen" (UA S. 69).<br />

10 2. Die Revision dringt im Umfang der Aufhebung mit einer Verfahrensrüge durch.<br />

11 a) Folgendes Geschehen liegt zugr<strong>und</strong>e:<br />

12 Die Verteidigerin hatte die Einholung eines "psychiatrisch-psychologischen" Gutachtens zum Beweis der Tatsache<br />

beantragt, dass die Nebenklägerin, auf deren Aussage die Feststellungen zu den Taten 1 <strong>und</strong> 2 ausschließlich beruhen,<br />

an einer psychischen Störung leide, die ihre Aussagetüchtigkeit in Frage stelle. Zur Begründung führte sie das<br />

wechselvolle Verhalten der Nebenklägerin im Rahmen der Beziehung sowie die Widersprüche in deren Aussageverhalten<br />

auf. Den - durch die Staatsanwaltschaft <strong>und</strong> die Nebenklägerin befürworteten - Beweisantrag hat das Landgericht<br />

wegen eigener Sachk<strong>und</strong>e nach § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO abgelehnt. Es sei "gerichtsbekannt, dass ambivalentes<br />

Beziehungsverhalten - insbesondere in einer bereits mehrere Monate anhaltenden Trennungsphase - nicht unüblich<br />

ist <strong>und</strong> damit für sich gesehen keine Gr<strong>und</strong>lage für die Annahme einer psychischen Störung bilden kann".<br />

13 b) Mit dem Generalb<strong>und</strong>esanwalt geht der Senat trotz Nichtvorlage einiger im Beweisantrag benannter Schriftstücke<br />

von der Zulässigkeit der Verfahrensrüge im Sinne des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO aus. Denn das Urteil befasst sich<br />

eingehend mit den maßgebenden, auch von der Verteidigerin benannten Anknüpfungstatsachen in Bezug auf eine<br />

Beeinträchtigung der Aussagetüchtigkeit der Nebenklägerin, womit dem Senat die uneingeschränkte Sachprüfung<br />

der Verfahrensbeanstandung eröffnet ist (vgl. BGH, Urteil vom 20. März 1990 - 1 StR 693/89, BGHSt 36, 384, 385<br />

mwN, Beschluss vom 23. Mai 2012 - 5 StR 174/12, StraFo 2012, 268).<br />

14 c) Die Rüge hat in der Sache Erfolg. Mit der gegebenen Begründung durfte der Beweisantrag nicht abgelehnt<br />

werden. Zwar kann sich das Gericht bei der Beurteilung von Zeugenaussagen gr<strong>und</strong>sätzlich eigene Sachk<strong>und</strong>e zutrauen;<br />

anderes gilt aber, wenn besondere Umstände vorliegen, deren Würdigung eine spezielle Sachk<strong>und</strong>e erfordert,<br />

die dem Gericht nicht zur Verfügung steht (BGH, Beschlüsse vom 1. März 1994 - 5 StR 62/94, StV 1994, 634, vom<br />

29. Oktober 1996 - 4 StR 508/96, NStZ-RR 1997, 106, vom 28. Oktober 2008 - 3 StR 364/08, NStZ 2009, 346, 347,<br />

<strong>und</strong> vom 28. Oktober 2009 - 5 StR 419/09, NStZ 2010, 100, 101). Solche Umstände liegen hier vor.<br />

15 Die Strafkammer legt ihrer Beweiswürdigung zugr<strong>und</strong>e, dass der Nebenklägerin der Zugang zu ihrer Erinnerung in<br />

Bezug auf die weitere Beziehung mit dem Angeklagten sowie hinsichtlich einiger sehr markanter Gegebenheiten in<br />

deren Verlauf aufgr<strong>und</strong> von "Verdrängungsmechanismen" bis hin zu vollständiger Amnesie verschlossen war. Betroffen<br />

ist insoweit unter anderem der gemeinsame Besuch im Swingerclub im August 2010, den die Nebenklägerin<br />

sogar noch bestritten hatte, nachdem ihr die Aufzeichnung eines Telefongesprächs vorgespielt worden war, in dem<br />

sie sich beim Angeklagten für den schönen Abend bedankt <strong>und</strong> es als besonders wichtig bezeichnet hatte, dass "er<br />

gekommen sei". Mangels - im Urteil nicht dargelegter - besonderer Sachk<strong>und</strong>e durfte das Landgericht aber nicht<br />

- 308 -


davon ausgehen, ein Zustand gänzlicher Erinnerungslosigkeit an derartige Ereignisse bei andererseits voll erhaltenem<br />

Erinnerungsvermögen betreffend die Details viel weiter zurückliegender Ereignisse sei möglich <strong>und</strong> bei der Nebenklägerin<br />

eingetreten. Das Landgericht hätte daher entsprechend dem Beweisbegehren des Angeklagten sachverständige<br />

Hilfe zuziehen müssen, um diesen Aspekt in Verbindung mit den weiteren Auffälligkeiten im (Aussage-) Verhalten<br />

der Nebenklägerin <strong>und</strong> dessen Auswirkungen auf die Beurteilung der Aussagetüchtigkeit insgesamt sachgerecht<br />

beurteilen zu können.<br />

16 3. Die Ablehnung des Beweisantrags führt zur Aufhebung der Schuldsprüche hinsichtlich der Taten 1 <strong>und</strong> 2. Das<br />

Gleiche gilt für die Verurteilung wegen der Körperverletzung vom frühen Morgen des 12. November 2010, die sich<br />

hinsichtlich des äußeren Ablaufs ebenfalls ausschließlich auf die Aussage der Nebenklägerin stützt. Den hierfür<br />

zugemessenen Einzelstrafen ist damit die Gr<strong>und</strong>lage entzogen, ebenso der Verurteilung zur Zahlung von Schmerzensgeld<br />

für die Taten 1 (300 €), 2 (6.500 €) <strong>und</strong> 3 (300 €).<br />

17 4. Die Schuldsprüche wegen der Taten 4 <strong>und</strong> 5 werden von dem Rechtsfehler hingegen nicht berührt. Insoweit<br />

vermochte sich die Strafkammer auf Aussagen weiterer Zeugen zu stützen. Auch die insoweit verhängten Einzelstrafen<br />

sowie der Adhäsionsausspruch (150 € Schmerzensgeld) wären rechtlich nicht zu beanstanden. Gleichwohl hebt<br />

der Senat den gesamten Rechtsfolgenausspruch auf, um dem neuen Tatrichter eine ausgewogene Gewichtung der<br />

Rechtsfolgen zu ermöglichen.<br />

18 5. Für die neue Hauptverhandlung wird auf Folgendes hingewiesen:<br />

19 a) Sollte der Tatrichter abermals zu einer Verurteilung des Angeklagten wegen Vergewaltigung gelangen, wird er<br />

sich bei der Strafrahmenwahl <strong>und</strong> der im Ergebnis schwer nachvollziehbaren konkreten Strafbemessung sorgfältiger<br />

als bisher geschehen mit dem Umstand zu befassen haben, dass sich die Nebenklägerin mit dem Angeklagten nach<br />

den Taten aus dem Frühjahr 2009 offensichtlich vollständig ausgesöhnt hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 3. Juli 1996<br />

- 2 StR 210/96, BGHR StGB § 177 Abs. 1 Strafzumessung 13, <strong>und</strong> vom 29. August 2012 - 5 StR 332/12).<br />

20 b) Die im angefochtenen Urteil angeordnete Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung erscheint<br />

auch für sich genommen durchgreifend rechtsfehlerhaft.<br />

21 Das Urteil stützt die Anordnung auf § 66 Abs. 1 StGB aF. Für die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Nr. 1<br />

StGB aF sowie die Annahme einer "verbrecherischen Neigung" des Angeklagten (UA S. 105) <strong>und</strong> die dadurch begründete<br />

erhebliche Gefahr weiterer schwerer Sexualstraftaten zieht es maßgebend eine Vorverurteilung wegen dreier<br />

Betäubungsmitteldelikte aus dem Jahr 2002 heran (Einzelfreiheitsstrafen: ein Jahr <strong>und</strong> vier Monate <strong>und</strong> zweimal<br />

ein Jahr). Indessen bedarf die Annahme des Hangs <strong>und</strong> der dadurch bedingten Gefährlichkeit - was das Urteil im<br />

Ansatz nicht verkennt - bei verschiedenartigen Delikten besonders sorgfältiger Prüfung (vgl. BGH, Beschluss vom<br />

26. September 2007 - 5 StR 208/07, StV 2007, 633; LK/Rissing-van Saan/Peglau, 12. Aufl., § 66 Rn. 219; jeweils<br />

mwN). Liegen den Taten - wie hier - ganz andersartige Beweggründe <strong>und</strong> seelische Einstellungen zugr<strong>und</strong>e, werden<br />

Hangtätereigenschaft <strong>und</strong> Gefahr dabei nur sehr selten bejaht werden können (Rissing-van Saan/Peglau aaO). Ein<br />

solcher Ausnahmefall ist vorliegend nicht ersichtlich. Aus dem bloßen Hinweis darauf, dass die Begehung der Betäubungsmitteldelikte<br />

Ausprägung der dissozialen Persönlichkeitsstörung des Angeklagten sei (UA S. 105), lässt sich<br />

deren Symptomwert für die Begehung künftiger schwerer Sexualstraftaten keinesfalls herleiten.<br />

22 Bei der im angefochtenen Urteil für die Vergewaltigung verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren <strong>und</strong> sechs<br />

Monaten in Verbindung mit den Einzelfreiheitsstrafen von einem Jahr wegen sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger<br />

Personen <strong>und</strong> von einem Jahr <strong>und</strong> neun Monaten wegen gefährlicher Körperverletzung gemäß Urteil des<br />

Landgerichts Berlin vom 7. April 2003 wäre die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach §<br />

66 Abs. 2 StGB gr<strong>und</strong>sätzlich in Betracht gekommen. Ihr würden indessen jedenfalls wegen des durch das Urteil des<br />

B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326) vorgegebenen Gr<strong>und</strong>satzes strikter Verhältnismäßigkeit<br />

durchgreifende Bedenken entgegenstehen.<br />

StPO § 244 Abs. 3 S. 2 – Beweisantrag – Beweistatsache ohne Bedeutung<br />

BGH, Beschl. v. 21.05.2013 - 2 StR 29/13 - BeckRS 2013, 11826<br />

Der Beschluss, mit dem ein Beweisantrag wegen Bedeutungslosigkeit der behaupteten Tatsache<br />

abgelehnt wird, muss die Erwägungen anführen, aus denen der Tatrichter ihr aus rechtlichen oder<br />

tatsächlichen Gründen keine Bedeutung für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch beimisst.<br />

- 309 -


Geht es letztlich um die Glaubwürdigkeit einer Zeugin, bedarf es der Darlegung, warum die zu beweisende<br />

Tatsache das Gericht auch im Falle ihres Nachweises unbeeinflusst ließe. Die Anforderungen<br />

an die Begründung entsprechen gr<strong>und</strong>sätzlich den Darlegungserfordernissen bei der Würdigung<br />

von durch die Beweisaufnahme gewonnenen Indiztatsachen in den Urteilsgründen<br />

Der 2. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalb<strong>und</strong>esanwalts <strong>und</strong> des Beschwerdeführers<br />

am 21. Mai 2013 gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 24. August 2012 mit den zugehörigen<br />

Feststellungen aufgehoben.<br />

Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere<br />

Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.<br />

Gründe<br />

1 Das Landgericht hat den Angeklagten freigesprochen <strong>und</strong> seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus<br />

angeordnet. Ferner hat es ein sichergestelltes Messer eingezogen. Die auf den Maßregelausspruch nach §<br />

63 StGB beschränkte, auf die Rüge der Verletzung formellen <strong>und</strong> materiellen Rechts gestützte Revision hat mit einer<br />

Verfahrensbeanstandung Erfolg <strong>und</strong> führt zur Aufhebung des gesamten Urteils.<br />

2 1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der Angeklagte in Gegenwart der Zeugin H. deren Lebensgefährten<br />

erstochen. Das Gericht hat die Tat als Mord (§ 211 StGB) bewertet <strong>und</strong> ist davon ausgegangen, dass die Steuerungsfähigkeit<br />

des Angeklagten zur Tatzeit aufgr<strong>und</strong> erheblicher Alkoholisierung im Zusammenwirken mit der infolge<br />

langjährigen Alkoholmissbrauchs eingetretenen Persönlichkeitsveränderung gemäß § 21 StGB erheblich vermindert<br />

war. Da nicht ausgeschlossen werden konnte, dass der Angeklagte ein der Tat unmittelbar vorangegangenes Gespräch<br />

zwischen der Zeugin H. <strong>und</strong> ihrem Lebensgefährten fälschlicherweise als gegen sich gerichtet gedeutet hat<br />

<strong>und</strong> in ihm hierdurch ein aggressiver Impuls ausgelöst wurde, durch den er zu der Tötung hingerissen wurde, hat das<br />

Gericht - auch mit Blick auf ein unter normalen Umständen nicht erkennbares Tatmotiv - nicht ausschließen können,<br />

dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit auch aufgehoben im Sinne des § 20 StGB war. Es hat daher<br />

den Angeklagten freigesprochen <strong>und</strong> auf Gr<strong>und</strong>lage der festgestellten verminderten Steuerungsfähigkeit seine<br />

Unterbringung gemäß § 63 StGB angeordnet.<br />

3 2. Der Maßregelauspruch war aufzuheben. Die Anordnung der Unterbringung nach § 63 StGB setzt die Begehung<br />

einer rechtswidrigen Tat voraus. Diese hat das Landgericht nicht rechtsfehlerfrei festgestellt, denn es hat einen die<br />

Anlasstat betreffenden Beweisantrag unter Verstoß gegen § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO abgelehnt.<br />

4 a) Dem liegt folgender Verfahrensgang zugr<strong>und</strong>e:<br />

5 Der die Tat bestreitende Angeklagte hat in der Hauptverhandlung den Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens<br />

zum Beweis der Tatsache gestellt, dass die Blutanhaftungen an einem am Tatort sichergestellten Papierfetzen<br />

von der Zeugin H. stammten, dass es sich dabei um ein Vollprofil der DNA der Zeugin handelte <strong>und</strong> dass<br />

Mischspuren bzw. Teilprofile Dritter nicht vorhanden waren. Das Landgericht hat den Antrag ohne weitere Begründung<br />

"wegen Bedeutungslosigkeit" abgelehnt.<br />

6 b) Dies hält rechtlicher Prüfung nicht stand. Nach der ständigen Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichtshofs muss der<br />

Beschluss, mit dem ein Beweisantrag wegen Bedeutungslosigkeit der behaupteten Tatsache abgelehnt wird, die Erwägungen<br />

anführen, aus denen der Tatrichter ihr aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen keine Bedeutung für<br />

den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch beimisst. Geht es wie hier letztlich um die Glaubwürdigkeit einer Zeugin,<br />

bedarf es der Darlegung, warum die zu beweisende Tatsache das Gericht auch im Falle ihres Nachweises unbeeinflusst<br />

ließe. Die Anforderungen an die Begründung entsprechen gr<strong>und</strong>sätzlich den Darlegungserfordernissen bei der<br />

Würdigung von durch die Beweisaufnahme gewonnenen Indiztatsachen in den Urteilsgründen (BGH, Beschluss vom<br />

19. Oktober 2006 - 4 StR 251/06, NStZ-RR 2007, 84, 85 mwN; Beschluss vom 27. März 2012 - 3 StR 47/12).<br />

7 Daran fehlt es hier. Die unter Beweis gestellte Tatsache hätte die Schlussfolgerung zugelassen, dass die Zeugin H.<br />

während ihres Aufenthalts in der Wohnung des Angeklagten von ihrem Lebensgefährten körperlich misshandelt<br />

wurde <strong>und</strong> daher ein Tatmotiv hatte. Das Landgericht hat in seinem Beschluss indes weder mitgeteilt, dass es diesen<br />

möglichen Schluss nicht ziehen wollte, noch hat es seine Entscheidung mit konkreten Erwägungen begründet. Die<br />

Bedeutungslosigkeit lag auch nicht auf der Hand, was eine fallbezogene Begründung ausnahmsweise entbehrlich<br />

hätte machen können (vgl. BGH, Beschluss vom 2. Dezember 2009 - 2 StR 363/09, StV 2010, 557; Beschluss vom<br />

27. März 2012 - 3 StR 47/12 mwN).<br />

- 310 -


8 c) Auf diesem Verfahrensfehler beruht der Maßregelausspruch, denn der Senat vermag nicht auszuschließen, dass die<br />

Strafkammer bei gesetzeskonformer Behandlung des Beweisantrags eine für die Anordnung der Unterbringung erforderliche<br />

rechtswidrige Tat nicht hätte feststellen können.<br />

9 3. Die Aufhebung des Maßregelausspruchs hat aufgr<strong>und</strong> des bestehenden inneren Zusammenhangs auch die Aufhebung<br />

des Freispruchs zur Folge.<br />

10 a) Der Umstand, dass allein der Angeklagte Revision eingelegt hat, steht dem nicht entgegen. Wird die Anordnung<br />

einer Unterbringung nach § 63 StGB auf eine Revision des Angeklagten hin aufgehoben, hindert das Schlechterstellungsverbot<br />

des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO den neuen Tatrichter nicht daran, an Stelle einer Unterbringung nunmehr<br />

eine Strafe zu verhängen (§ 358 Abs. 2 Satz 2 StPO). Dadurch soll vermieden werden, dass die erfolgreiche Revision<br />

eines Angeklagten gegen die alleinige Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus dazu<br />

führt, dass eine Tat, die wegen angenommener Schuldunfähigkeit nicht zu einer Bestrafung geführt hat, ohne strafrechtliche<br />

Sanktion bleibt, wenn sich in der neuen Hauptverhandlung herausstellt, dass der Angeklagte bei Begehung<br />

der Tat schuldfähig war (vgl. BT-Drucks. 16/1344, S. 17; BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2012 - 4 StR 494/12,<br />

StraFo 2013, 165 mwN).<br />

11 Letzteres kann vorliegend nicht ausgeschlossen werden, denn die Annahme des Landgerichts, die Schuldfähigkeit<br />

des Angeklagten sei zur Tatzeit nicht ausschließbar aufgehoben, gründet maßgeblich auf den Feststellungen zur<br />

Anlasstat. Sollte das neue Tatgericht insbesondere zu dem Geschehen unmittelbar vor der Tat veränderte Feststellungen<br />

treffen, könnte dies auch eine veränderte Bewertung zur Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten nach sich<br />

ziehen.<br />

12 b) Die Beschränkung der Revision des Angeklagten auf die Maßregelanordnung ist unwirksam, weil sowohl die<br />

Unterbringung nach § 63 StGB als auch der auf § 20 StGB gründende Freispruch von den Feststellungen der Strafkammer<br />

zur Anlasstat abhängen <strong>und</strong> deshalb zwischen beiden Entscheidungen aus sachlich-rechtlichen Gründen ein<br />

untrennbarer Zusammenhang besteht. Da nach § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO nunmehr eine Bestrafung des Angeklagten<br />

möglich ist, wenn sich aufgr<strong>und</strong> veränderter Feststellungen zur Anlasstat seine Schuldfähigkeit herausstellen sollte,<br />

lässt sich die Wirksamkeit einer isolierten Anfechtung der Maßregelanordnung nicht mehr mit der Erwägung rechtfertigen,<br />

dass aufgr<strong>und</strong> des Verbots der Schlechterstellung (§ 358 Abs. 2 Satz 1 StPO) unabhängig von der Bewertung<br />

der Schuldfrage in jedem Fall wieder auf Freispruch erkannt werden müsste (BGH, Beschluss vom<br />

26. September 2012 - 4 StR 348/12). Dies wäre nur dann der Fall, wenn die den Freispruch tragende Schuldunfähigkeit<br />

des Angeklagten unabhängig von der konkret festgestellten Tat feststünde (vgl. insoweit BGH, Beschluss vom<br />

8. Juni 2011 - 5 StR 199/11).<br />

StPO § 244 Abs. 3 Beweisantrag – Wahrunterstellung <strong>und</strong> Bedeutungslosigkeit<br />

BGH, Beschl. v. 02. 10. 2012 - 3 StR 366/12 - Strafo 2012, 502 = NStZ-RR 2013, 50<br />

1. Der Ablehnungsgr<strong>und</strong> der Wahrunterstellung, der nur bei erheblichen Tatsachen in Betracht<br />

kommt, <strong>und</strong> der Ablehnungsgr<strong>und</strong> der Bedeutungslosigkeit schließen einander aus.<br />

2. Bei einer Wahrunterstellung muss der Tatrichter die Beweisbehauptung in ihrer vollen, aus Sinn<br />

<strong>und</strong> Zweck sich ergebenden Bedeutung als wahr behandeln, er darf das Beweisthema nicht einengen.<br />

(Ls d. NStZ-RR)<br />

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aurich vom 18. April 2012 mit den Feststellungen<br />

aufgehoben.<br />

Die Sache wird zu neuer Verhandlung <strong>und</strong> Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere<br />

Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Das LG verurteilte den Angekl. wegen besonders schwerer Brandstiftung<br />

zu einer Freiheitsstrafe von 7 Jahren. Die Revision des Angekl. hatte mit der Rüge, das LG habe einen Beweisantrag<br />

auf Einholung eines Gutachtens des Deutschen Wetterdienstes zu Unrecht abgelehnt, Erfolg.<br />

1. Nach den Feststellungen hielt sich der Angekl. am 2. 12. 2009 ab etwa 21.30 Uhr in einer Gaststätte auf Norderney<br />

auf. Zu einem nicht bekannten Zeitpunkt begab er sich von dort in die Räume des von ihm betriebenen, etwa<br />

130 m entfernten Internet-Cafes <strong>und</strong> entzündete, um dieses in Brand zu setzen, in einem neben einer mit Holz verkleideten<br />

Wand stehenden geöffneten Kühlschrank eine brennbare Flüssigkeit. Danach verließ er das Internet-Cafe,<br />

verschloss die Eingangstür <strong>und</strong> eilte zurück in die Gaststätte, wo er bis 2.45 Uhr des Folgetags verblieb. Der Brand<br />

- 311 -


wurde gegen 2 Uhr von den im Stockwerk über dem Internet-Cafe wohnenden, aus dem Schlaf erwachten Hauseigentümern<br />

entdeckt; er hatte bereits auf die Tragbalken der hölzernen Deckenkonstruktion übergegriffen.<br />

In der Hauptverhandlung beantragte der Verteidiger, zum Beweis dafür, dass es in der Nacht vom 2. auf den 3. 12.<br />

2009 „geregnet <strong>und</strong> gestürmt” habe, einen „Wetterbericht” des Deutschen Wetterdienstes in Offenbach einzuholen.<br />

Hätte der Angekl. die Gaststätte für längere Zeit verlassen, so hätte er nass werden müssen, was keiner der zu seinem<br />

Aufenthalt dort befragten Zeugen erwähnt habe.<br />

Das LG hat den Antrag mit der Begründung abgelehnt, die unter Beweis gestellte Tatsache könne so behandelt werden,<br />

als wäre sie wahr. Insbesondere ergebe sich aus einem Polizeibericht, dass „Nieselregen” geherrscht habe. Im<br />

Übrigen sei die behauptete Tatsache bedeutungslos, weil die StrK „aus der Indizwirkung dieses Umstands die gewünschte<br />

Beweisbehauptung nicht zu ziehen” beabsichtige.<br />

Im Urteil hat das LG sodann die Einlassung des Angekl., es habe außerordentlich schlechtes Wetter geherrscht, als<br />

widerlegt angesehen. Der Polizeibericht stelle für die Tatzeit „lediglich Nieselregen” fest, gegen den sich der Angekl.<br />

überdies noch durch einen Regenschirm oder durch Bedecken des Kopfes mit einer Jacke hätte schützen können.<br />

2. Der GBA hat hierzu in seiner Antragsschrift ausgeführt:<br />

„Die Sachbehandlung des Beweisantrags begegnet – in mehrfacher Hinsicht – durchgreifenden rechtlichen Bedenken.<br />

Der Ablehnungsgr<strong>und</strong> der Wahrunterstellung, der nur bei erheblichen Tatsachen in Betracht kommt, <strong>und</strong> der Ablehnungsgr<strong>und</strong><br />

der Bedeutungslosigkeit schließen einander aus (BGH, NStZ-RR 2003, NSTZ-RR Jahr 2003 Seite 269;<br />

NStZ 2004, NSTZ Jahr 2004 Seite 51; Meyer-Goßner, StPO 55. Aufl., § 244 Rn 70; Fischer, in: KK-StPO, 6. Aufl., §<br />

244 Rn KARLSKOSTPO STPO § 244 Randnummer 185 mwN). Mit Recht beanstandet der Bf., dass die StrK die<br />

Beweisbehauptung nicht in ihrer vollen, aus Sinn <strong>und</strong> Zweck sich ergebenden Bedeutung als wahr behandelt, sondern<br />

in unzulässiger Weise eingeengt hat (vgl. BGHR StPO § 244 III 2 Wahrunterstellung 6; Meyer-Goßner, StPO,<br />

55. Aufl., § 244 Rn 71 mwN). Das Gericht hat die unter Beweis gestellte Tatsache, dass es in der fraglichen Nacht<br />

geregnet <strong>und</strong> gestürmt habe, unzulässig abgeändert, indem es unterstellt, es hätte lediglich Nieselregen geherrscht,<br />

mithin von einer niedrigeren Niederschlagsintensität ausgeht. Die Niederschlagsmenge war – aus Sicht der Verteidigung<br />

– jedoch ersichtlich entscheidend für die Frage, ob der Angekl. bei Regenwetter sich zum Tatort hätte begeben<br />

können, ohne dass seine Kleidung durchnässt gewesen wäre, was den in der Gaststätte befindlichen Besuchern –<br />

nach Auffassung der Revision – jedoch aufgefallen wäre.<br />

Dass das LG in seinem angefochtenen Beschluss nicht mitteilt, ob es die Beweisbehauptung aus tatsächlichen oder<br />

rechtlichen Gründen für bedeutungslos erachtet, begegnet gr<strong>und</strong>sätzlich erheblichen rechtlichen Bedenken (vgl.<br />

Meyer-Goßner, § 244 Rn 43a mwN). Wird die Bedeutungslosigkeit aus tatsächlichen Umständen gefolgert, wovon<br />

vorliegend auszugehen ist, so müssen die Tatsachen angegeben werden, aus denen sich ergibt, warum die unter Beweis<br />

gestellte Tatsache, selbst wenn sie erwiesen wäre, die Entscheidung des Gerichts nicht beeinflussen könnte (vgl.<br />

Senat, Beschl. v. 22. 11. 2007 – BGH Aktenzeichen 3STR43007 3 StR 430/07); auch dies hat das LG versäumt.”<br />

Dem schließt sich der Senat an.<br />

3. Nicht folgen kann der Senat indes der Auffassung des GBA, es könne ausgeschlossen werden, dass das Urteil auf<br />

dem Rechtsfehler beruhe.Das LG hat seine Überzeugung von der Täterschaft des Angekl. darauf gestützt, dass die<br />

Fenster <strong>und</strong> die Türen des Internet-Cafes beim Eintreffen der Feuerwehr verschlossen waren <strong>und</strong> nur die Hauseigentümer<br />

<strong>und</strong> der Angekl. über Schlüssel verfügten. Dass sich die Hauseigentümer auf solche Weise selbst gefährdeten,<br />

sei auszuschließen. Demgegenüber habe der Angekl. ein Motiv für die Tat gehabt. Er habe sich in schlechten finanziellen<br />

Verhältnissen bef<strong>und</strong>en; das Inventar des Internet-Cafes sei mit 41 000 € gegen Feuer versichert gewesen.<br />

Über ein Alibi verfüge er nicht. Keiner der Zeugen, die den Angekl. in der Gaststätte beobachtet hätten, habe dessen<br />

kurzzeitige Abwesenheit ausschließen können.<br />

Damit hat das LG für den Tatnachweis vorrangig solche Umstände herangezogen, die gegen eine Brandlegung durch<br />

andere Personen sprechen. Indizien, die positiv auf eine Täterschaft des Angekl. hinweisen, hat es, abgesehen von<br />

der Motivlage, nicht feststellen können. Bei dieser Sachlage hat das LG im Rahmen der Beweiswürdigung der Frage<br />

eines Alibis des Angekl. zu Recht eine wesentliche Bedeutung beigemessen <strong>und</strong> eingehend untersucht, ob nach den<br />

Aussagen der hierzu vernommenen Zeugen von einer ununterbrochenen Anwesenheit des Angekl. in der Gaststätte<br />

auszugehen ist. Dem widerspräche – jedenfalls aus objektiver Sicht – die Annahme, das LG hätte sich zweifelsfrei<br />

auch dann von der Täterschaft überzeugt, wenn keiner der Zeugen ein äußeres Erscheinungsbild des Angekl. bek<strong>und</strong>et<br />

hätte, wie es zu erwarten gewesen wäre, wenn dieser zwischendurch den Tatort aufgesucht hätte.<br />

- 312 -


StPO § 244 Abs. 4 Weiterer Sachverständiger bei Hinzuziehung eines Subsachverständigen durch<br />

den ersten Gutachter<br />

BGH Beschl. v. 09.07. 2013 - 3 StR 132/13- (Bisher nur in der BGH-Entscheidungs-Datenbank <strong>und</strong> bei JurionRS<br />

1983, 15003)<br />

(Nicht amtlicher Leitsatz) Das Tatgericht kann einen Beweisantrag auf Einholung eines weiteren<br />

Sachverständigen auch dann mit der Begründung, das Gegenteil der unter Beweis gestellten Tatsache<br />

sei bereits durch den ersten Sachverständigen bewiesen, zurückweisen, wenn dieser eine zu seinem<br />

Auftrag gehörende Fachfrage, zu der ihm erklärtermaßen die erforderloiche Sachk<strong>und</strong>e fehlte,<br />

einen „Subsachverständigen“ hinzugezogen hatte, der aber seinen Beitrag nicht selbst in der<br />

Hauptverhandlung vertreten hat.<br />

Der 3. Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs hat auf Antrag des Generalb<strong>und</strong>esanwalts <strong>und</strong> nach Anhörung des Beschwerdeführers<br />

am 9. Juli 2013 einstimmig beschlossen:<br />

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hannover vom 7. Februar 2013 wird als unbegründet<br />

verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Gr<strong>und</strong> der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum<br />

Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).<br />

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels <strong>und</strong> die dem Nebenkläger <strong>und</strong> den Adhäsionsklägern im<br />

Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.<br />

Zu der Beanstandung, das Landgericht habe den auf die Einholung enes weiteren Sachverständigengutachtens gerichteten<br />

Beweisantrag rechtsfehlerhaft abgelehnt (§ 244 Abs. 4 Satz 2 StPO), bemerkt der Senat ergänzend:<br />

Die Rüge ist nicht begründet.<br />

Die Begründung, mit der die Strafkammer den auf die Einholung eines weiteren "ballistischen" Sachverständigengutachtens<br />

gerichteten Beweisantrag zurückgewiesen hat, hält rechtlicher Nachprüfung stand. Hierzu gilt:<br />

Der Beschluss, mit dem der Beweisantrag auf Zuziehung eines weiteren Sachverständigen abgelehnt wird, weil das<br />

Gegenteil der Beweisbehauptung erwiesen ist (§ 244 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 1 StPO), ist in der Regel näher zu begründen,<br />

wobei der Umfang der erforderlichen Begründung sich nach Art <strong>und</strong> Gewicht der gegen das Erstgutachten<br />

vorgebrachten Einwände richtet. Im Rahmen der vorzunehmenden, vom Gesetz gestatteten vorweggenommenen<br />

Beweiswürdigung darf das Tatgericht seine Überzeugung, das Gegenteil der behaupteten Beweistatsache sei bereits<br />

erwiesen, allein aufgr<strong>und</strong> des früheren Gutachtens gewonnen haben (BGH, Urteil vom 24. November 1992 5 StR<br />

500/92, BGHSt 39, 49, 52; Beschluss vom 10. August 2004 3 StR 240/04, NStZ 2005, 159). Nach diesen Maßstäben<br />

ist die Begründung in dem Ablehnungsbeschluss des Landgerichts frei von Rechtsfehlern. Die Strafkammer hat<br />

dort in der Sache allein auf das Gutachten des Sachverständigen F abgestellt. Das Gutachten des Sachverständigen<br />

Dr. S findet demgegenüber allein in dem Zusammenhang Erwähnung, dass der Sachverständige F .ausgeführt habe,<br />

die Beantwortung der Frage, ob sich an dem Geschoss bestimmte Anhaftungen bef<strong>und</strong>en hätten, die für das Vorliegen<br />

eines Querschlägers sprächen, falle nicht in seinen Kompetenzbereich, so dass er den Sachverständigen Dr.S<br />

.insoweit um eine ergänzende Beurteilung gebeten habe.Entgegen der Auffassung der Revision war das Landgericht<br />

nicht gehindert, bei seiner abschließenden, in den Urteilsgründen dargestellten Beweiswürdigung nach Durchführung<br />

der gesamten Beweisaufnahme in seine Überzeugungsbildung, das Tatopfer sei nicht von einem Querschläger getroffen<br />

worden, auch das Gutachten des Sachverständigen Dr. S .miteinzubeziehen, das zu dieser Frage im Übrigen unter<br />

einem völlig anderen krimnaltechnischen Gesichtspunkt Stellung nahm als der Sachverständige F. Der auf § 244<br />

Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 1 StPO gestützte Ablehnungsbeschluss darf deshalb nicht auf andere Beweismittel oder auf<br />

eine Gesamtwürdigung aller Beweismittel gestützt werden, weil die genannte Vorschrift das während der Beweisaufnahme<br />

geltende gr<strong>und</strong>sätzliche Verbot der Beweisantizipation bereits nach seinem Wortlaut nur in beschränktem<br />

Umfang insoweit durchbricht, als allein auf das frühere Sachverständigengutachten abgestellt werden darf (vgl.<br />

LR/Becker, StPO, 26 Aufl, § 244 Rn. 327 mwN). Die Vorschrift lässt somit eine lediglich beschränkte Beweisantizipation<br />

zu, indem sie dem Tatgericht erlaubt, eine Abwägung vorzunehmen, ob ein benanntes Beweismittel einen<br />

zusätzlichen Erkenntnisgewinn verspricht, bevor dieses Beweismittel ausgeschöpft wird (vgl. Trück, NStZ 2007,<br />

377, 383). Für die nach dem Inbegriff der Hauptverhandlung vorzunehmende Würdigung des gesamten Beweisergebnisses<br />

(§ 261 StPO) gilt eine derartige Einschränkung dagegen nicht. Hier hat das Tatgericht alle für die Beweisfrage<br />

relevanten Beweismittel in seine Überzeugungsbildung einzustellen <strong>und</strong> diese in den Urteilsgründen darzule-<br />

- 313 -


gen (§ 267 Abs. 1 Satz 2 StPO). Andernfalls könnte allein durch das Stellen eines Beweisantrags auf Zuziehung<br />

eines weiteren Sachverständigen die Beweisgr<strong>und</strong>lage zu einem entscheidungserheblichen Punkt verkürzt werden;<br />

dies wäre mit § 261 StPO unvereinbar.<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Vorwort ....................................................................................................................................... - 2 -<br />

Materielles Recht - StGB ............................................................................................................ - 3 -<br />

StGB § 14 Abs. 2 Nr. 2 Beauftragung ...............................................................................................- 3 -<br />

BGH, Beschl. v. 12.09.2012 - 5 StR 363/12 - NJW 2012, 3385 = NZWiSt 2013, 116 = BGHR StGB § 14 II<br />

Nr. 1 Teilbetriebsleiter 1 = BGHR StGB § 14 II Nr. 2 Beauftragung 1 .................................................... - 3 -<br />

StGB § 21 Schuldfähigkeit Bedeutung der BAK ..............................................................................- 6 -<br />

BGH, Beschl. v. 29.05.2012 - 1 StR 59/12 - BGHSt 57, 247= NJW 2012, 2672= NStZ 2012, 560 = StV<br />

2013, 20 = BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 42 ....................................................................... - 6 -<br />

StGB § 32, § 33, § 223 Verteidigungswille <strong>und</strong> „panikbedingte“ Notwehrüberschreitung ........- 10 -<br />

BGH, Urt. v. 25.04. 2013 – 4 StR 551/12 – NJW 2013, 2133 .................................................................... - 10 -<br />

StGB § 63 Unterbringung bei Spielsucht ........................................................................................- 16 -<br />

BGH, Urt.l v. 06.03.2013 – 5 StR 597/12 - NJW 2013, 1462 ..................................................................... - 16 -<br />

StGB § 66, 67d Abs. 2; GG Art. 2, Art. 104 Prognose Raub mit Scheinwaffen Sachverständiger ... -<br />

18 -<br />

BGH, Beschl. v. 11.12.2012 – 5 StR 431/12 - NJW 2013, 707 = StV 2013, 208 = StraFo 2013, 75 ......... - 18 -<br />

StGB § 66; BZRG § 51 Abs. 1, § 52 Abs. 1 Nr. 2 Gutachten zu Hang - keine Verwertung von<br />

tilgungsreifen Vorstrafen .................................................................................................................- 22 -<br />

BGH, Beschl. v. 28.08.2012 – 3 StR 309/12 - BGHSt 57, 300 = NJW 2012, 3591 = NStZ 2013, 34 = StV<br />

2013, 210 ....................................................................................................................................................... - 22 -<br />

StGB § 68b Abs. 1, § 145a Verstoß gegen zu unbestimmte Weisung ...........................................- 25 -<br />

BGH, Urt. v. 18.12.2012 - 1 StR 415/12 - NJW 2013, 710 ......................................................................... - 25 -<br />

StGB § 73 Abs. 1 Satz 2; StPO § 111i Abs. 2 - Maßgeblicher Sachverhalt für Vorragng von<br />

Ersatzansprüchen vor Verfall ..........................................................................................................- 32 -<br />

BGH, Urt. v. 20.02. 2013 – 5 StR 306/12 - NJW 2013, 950 ....................................................................... - 32 -<br />

StGB § 78c Abs. 4, § 78c Abs. 1 Nr. 3 Keine Verjährungsunterbrechung durch Beauftragung<br />

eines SV nach Einstellung des Verfahrens ......................................................................................- 35 -<br />

BGH, Beschl. v. 29.01.2013 – 2 StR 510/12 - NJW 2013, 1174 – StV 2013, 508 ...................................... - 35 -<br />

StGB § 145a Satz 1, § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 3, Satz 2 ................................................................ - 36 -<br />

BGH, Urt. v. 07.02.2013 - 3 StR 486/12 - NJW 2013, 1894 ....................................................................... - 36 -<br />

StGB § 184b Abs. 2 <strong>und</strong> 4 Verbale Schilderung konderpornografischer Handlungen in E-Mail .... -<br />

38 -<br />

BGH, Beschl. v. 19.03.2013 – 1 StR 8/13- BeckRS 2013, 10642 ............................................................... - 38 -<br />

StGB § 224 Abs. 1 Nr. 4, § 228 Gefährlichkeit durch gruppendynamische Eskalation ............. - 43 -<br />

BGH, Beschl. v. 20.02.2013 - 1 StR 585/12 - NJW 2013, 1379 = NStZ 2013, 342 ................................... - 43 -<br />

- 314 -


StGB § 227, StPO § 81a Vorhersehbarkeit der Todesfolge nach Brechmitteleinsatz ................. - 47 -<br />

BGH, Urt. v. 20.06. 2012 - 5 StR 536/11 (alt: 5 StR 18/10) - NJW 2012, 2453 = StV 2013, 150 ............ - 47 -<br />

StGB § 246 Abs. 1 <strong>und</strong> 2, 266 Abs. 2 i.V.m. § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 - Veruntreuende<br />

Unterschlagung - Konkurrenz ......................................................................................................... - 51 -<br />

BGH, Beschl. v. 26.06.2012 - 2 StR 137/12 - NJW 2012, 3046 = NStZ 2012, 628 = StV 2013, 85 ......... - 51 -<br />

StGB § 263 Abs. 1 Schadensberechnung beim Eingehungsbetrug ............................................... - 52 -<br />

BGH, Urt. v. 20.03.2013 – 5 StR 344/12- NJW 2013, 1460 = NStZ 2013, 404 ......................................... - 52 -<br />

StGB § 263 Abs. 1 <strong>und</strong> 2; StPO §§ 261, 244 Abs. 2 <strong>und</strong> 3 Versuchter Betrug aus<br />

Verfahrensökonomie ......................................................................................................................... - 56 -<br />

BGH, Beschl. v. 06.02.2013 - 1 StR 263/12 NJW 2013, 1545- wistra2013, 322 ....................................... - 56 -<br />

StGB § 263 Sportwetten - Spielmanipulation ................................................................................. - 59 -<br />

BGH, Urt. v. 20.12.2012 - 4 StR 55/12 - NJW 2013, 883 m. Anm. Anja Schiemann .............................. - 59 -<br />

StGB § 263a - Sportwettenbetrug durch Wetten im Internet - Schaden ..................................... - 67 -<br />

BGH, Beschl. v. 20.12.2012 - 4 StR 580/11 - NJW 2013, 1017 .................................................................. - 67 -<br />

StGB § 263a Computerbetrug durch falsche Lastschriften .......................................................... - 76 -<br />

BGH, Beschl. v. 22.01.2013 - 1 StR 416/12 - BeckRS 2013, 04114 ........................................................... - 76 -<br />

StGB§ 263a Computerbetrug - Erfordernis der Unmittelbarkeit zwischen Datenverarbeitung <strong>und</strong><br />

Vermögensminderung ...................................................................................................................... - 82 -<br />

BGH Beschl. v. 28.05.2013 - 3 StR 80/13 - BeckRS 2013, 11676 .............................................................. - 82 -<br />

StGB § 266 Grenzen faktischer Geschäftsführung ........................................................................ - 84 -<br />

BGH, Beschl. v. 13.12.2012 - 5 StR 407/12 – NJW 2013, 624 ................................................................... - 84 -<br />

StGB § 266, 27, 13; GmbHG § 43; AktG § 93; BGB § 823 Abs. 2 ................................................ - 87 -<br />

BGH, Urt. v. 10.07.2012 - VI ZR 341/10 - NJW 2012, 3439 ..................................................................... - 87 -<br />

StGB § 283 Abs. 1 Nr. 8 Bankrott - Firmenbestattung .................................................................. - 93 -<br />

BGH, Beschl. v. 15.11.2012 - 3 StR 199/12 - NJW 2013, 1892 .................................................................. - 93 -<br />

StGB § 283 Bankrott – Interessentheorie aufgegeben ................................................................... - 97 -<br />

BGH, Beschhl. v. 15.05.2012 - 3 StR 118/11 - BGHSt 57, 229 = NJW 2012, 2366 = NStZ 2012, 630 = StV<br />

2012, 729 ....................................................................................................................................................... - 97 -<br />

StGB § 283, § 28 Abs. 1 Beiseitegeschafftes Vermögen <strong>und</strong> Täterbegriff beim Bankrott ........ - 102 -<br />

BGH; Beschl. v. 22.01.2013 - 1 StR 234/12 - NJW 2013, 949 ................................................................. - 102 -<br />

StGB § 316b Abs. 1 Nr. 3 Unbrauchbarmachen eines Radarmessgerätes nicht ohne substanzielle<br />

Einwirkung ...................................................................................................................................... - 104 -<br />

BGH, Beschl. v. 15.05. 2013 - 1 StR 469/12 - BeckRS 2013, 11002 ........................................................ - 104 -<br />

StGB § 339 – Rechtsbeugung durch notorische Verletzung des § 275 StPO ............................. - 109 -<br />

BGH, Urt. v. 18.07.2013 - 4 StR 84/13 - BeckRS 2013, 14345 ................................................................ - 109 -<br />

Nebenstrafrecht ...................................................................................................................... - 113 -<br />

AEUV Art. 82 Abs. 2 Satz 2 a); EMRK Art. 6 Abs. 1; EU-RhÜbk Art. 22;EurRhÜbk CZ-ErgVtr<br />

Art. 17 Abs. 2 <strong>und</strong> 5 StPO § 477 Abs. 2 Satz 2 ............................................................................. - 113 -<br />

BGH, Beschl. v. 21.11.2012 - 1 StR 310/12 - wistra 2013, 2 .................................................................... - 113 -<br />

AMG § 096 Nr. 5, § 96 Nr. 13; StGB § 263 "Münchener Apotheker-Fall" - Inverkehrbringen<br />

nicht zugelassener Fertigarzneimittel ...........................................................................................- 121 -<br />

- 315 -


BGH, Urt. v. 04.09.2012 - 1 StR 534/11 - NJW 2012, 3665 ..................................................................... - 121 -<br />

AO § 370 Abs. 1 <strong>und</strong> 4; GG Art. 103 Abs. 2 – Bezifferung von unberechtigter Steuervorteilen ...... -<br />

127 -<br />

BGH, Beschl. v. 22.11.2012 – 1 StR 537/12- wistra 2013, 199= NStZ 2013, 412 ................................... - 127 -<br />

AO § 370 Abs. 1, § 39 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2, § 41 Abs. 1 Satz 1 - Zurechnung Geschäftsanteile bei<br />

unwirksamer Treuhand .................................................................................................................. - 131 -<br />

BGH, Beschl. v. 06.09.2012 - 1 StR 140/12 - NJW 2012, 3455 = NZWiSt 2013, 77 ............................. - 131 -<br />

AufenthG § 96 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3; StGB § 22, § 30 Abs. 1 - Einschleusen .............................. - 140 -<br />

BGH, Beschl. v. 06.06.2012 - 4 StR 144/12 - NJW 2012, 2821 ................................................................ - 140 -<br />

AufenthG § 96 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 Nr. 2 .................................................................... - 141 -<br />

BGH, Beschluss vom 30. Mai 2013 – 5 StR 130/13 - NJW-Spezial 2013, 472-473 ................................ - 141 -<br />

BDSG§ 44 Abs. 1, § 43 Abs. 2 Nr. 1, § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TKG § 148<br />

Abs. 1 Nr. 2a, § 90 Abs. 1 Richtlinie 95/46/EG (Datenschutzrichtlinie) Art. 7 lit. f) ................. - 144 -<br />

BGH, Urt. v. 04.06.2013, Az.: 1 StR 32/13 - JurionRS 2013, 40975....................................................... - 144 -<br />

BtMG § 029 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 29a Abs. 1 Nr. 2 Begriff der nicht geringen Menge ........... - 156 -<br />

BGH, Urt. v. 20.12.2012 – 3 StR 407/12 - NJW 2013, 1318 .................................................................... - 156 -<br />

EGStGB Art. 316f. ; JGG § 105 Abs. 1, § 7 Abs. 2 aF; – Abstandsgebot bei SV ..................... - 164 -<br />

BGH, Urt. v. 12.06.2013 - 1 StR 48/13 - NJW 2013, 2295 ....................................................................... - 164 -<br />

EuAlÜbk Art. 14 Abs. 1 Buchst. b – Kein Verfahrenshindernis wegen Spezialität nach freiwilliger<br />

Rückkehr nach Ausreise nach Auslieferung................................................................................. - 166 -<br />

BGH, Beschl. v. 19.12.2012 - 1 StR 165/12 - NJW 2013, 1175 ................................................................ - 166 -<br />

IRG § 83 Nr. 4 Auslieferung bei zu erwartender lebenslanger Freiheitsstrafe – poln.<br />

Gnadenrecht .................................................................................................................................... - 171 -<br />

BGH, Beschl. v. 19.06.2012 - 4 ARs 5/12 - NJW 2012, 2980 ................................................................... - 171 -<br />

OWiG § 074 Abs. 2 – Verwerfung der Rechtsbeschwerde bei Nichtrerscheinen des Betroffenen ... -<br />

178 -<br />

BGH, Beschl. v. 18.07.2012 - 4 StR 603/11 - BGHSt 57, 282 = NJW 2013, 323 = BGHR OWiG § 74 II<br />

Einspruchsverwerfung 2 ........................................................................................................................... - 178 -<br />

UrhG § 106 Abs. 1, § 108a, § 17; AEUV Art. 34, 36; StGB § 017, § 27 . Urhgeberrechtsverletzung<br />

– Verbreiten ..................................................................................................................................... - 182 -<br />

BGH, Urt. v. 11.10.2012 - 1 StR 213/10 - NJW 2013, 93 = NZWiSt 2013, 16 ....................................... - 182 -<br />

WpHG § 13 Abs. 1, § 15 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1, § 37b Ad-hoc-Pflicht schon bei sich<br />

abzechnenden Insidertatsachen ..................................................................................................... - 190 -<br />

BGH, Beschl. v. 23.04.2013 - II ZB 7/09 - NJW 2013, 2114.................................................................... - 190 -<br />

Verfahrensrecht ...................................................................................................................... - 197 -<br />

StPO § 81h, 261 DNA-Reihenuntersuchung „Beinahetreffer“ ................................................... - 197 -<br />

BGH, Urt. v. 20.12.2012 - 3 StR 117/12 - NJW 2013, 1827 ..................................................................... - 197 -<br />

StPO § 119, § 126 Abs. 1, § 169 Abs. 1 Satz 2; NJVollzG §§ 133 ff., 134a Abs. 1 Satz 2 –<br />

Zuständigkeit Ermittlungsrichter des BGH für Haftentscheidungen ........................................ - 205 -<br />

BGH, Beschl. v. 09.02.2012 - 3 BGs 82/12 (2 BJs 8/12-2 ) - NJW 2012, 1158 = NStZ 2012, 705 = wistra<br />

2012, 489 ..................................................................................................................................................... - 205 -<br />

- 316 -


StPO § 136 Abs. 1 Satz 2 Beschuldigtenvernehmung – Ständiges Nachfragen <strong>und</strong> Provozieren<br />

von Spontanäußerungen nach Belehrung <strong>und</strong> Schweigen .......................................................... - 207 -<br />

BGH, Urt. v. 27.06.2013 - 3 StR 435/12 - BeckRS 2013, 12716 .............................................................. - 207 -<br />

StPO § 140, §145 Abs. 1 § 338 Nr. 8 .............................................................................................. - 211 -<br />

BGH, Urteil vom 20. Juni 2013 - 2 StR 113/13 - LG Kassel ................................................................... - 211 -<br />

StPO § 229 Überschreitung der Unterbrechungsfrist – Beruhensfrage .................................... - 214 -<br />

BGH, Beschl. v. 22.05.2013 - 4 StR 106/13- StraFo 2013, 338 ................................................................ - 214 -<br />

StPO § 229 Abs. 1, 2, 4 Satz 1, StPO § 249 Abs. 2 Sachverhandlung nach Selbestlese ............ - 215 -<br />

BGH, Urt. v. 28.11.2012 – 5 StR 412/12 - NJW 2013, 404 = StraFo 2013, 25 ....................................... - 215 -<br />

StPO § 244 Aufklärungspflicht . Beweisantragsrecht s.u. Schwerpunktthemen ................. - 217 -<br />

StPO § 249 Abs. 2 Satz 2, § 337 Abs. 1 Selbsrtleseverfahren Widerspruch –kein Beschluss ... - 217 -<br />

BGH, Beschl. v. 28.08.2012 - 5 StR 251/12 - BGHSt 57, 306 = NJW 2012, 3319 = NStZ 2012, 708 = StV<br />

2013, 71 = JS 2013, 380 = BGHR StPO § 249 II Selbstleseverfahren 7 ................................................. - 217 -<br />

StPO § 252, 52, 251 Abs. 2 Nr. 3, 273 Abs. 1 Verwertuungsverbot ............................................ - 219 -<br />

BGH, Beschl. v. 13.06.2012 - 2 StR 112/12 - BGHSt 57, 254 = NJW 2012, 3192 = StV 2012, 705 = StraFo<br />

2012, 405 = BGHR StPO § 252 Verwertungsverbot 25 = BGHR StPO § 274 Beweiskraft 34 = BGHR<br />

StPO § 344 II 2 Verwertungsverbot 10 .................................................................................................... - 219 -<br />

StPO § 257c – Urteilsabsprachen s.u. Schwerpunktthema .................................................... - 221 -<br />

StPO § 261, § 267 Abs. 1 Satz 2 Beweiswürdigung bei einem DANN-Gutachten ..................... - 221 -<br />

BGH, Urt. v. 21.03.2013 - 3 StR 247/12 - NStZ 2013, 420 ...................................................................... - 221 -<br />

StPO § 265, § 145 Abs. 1 – Verteidigerwechsel während laufender Hauptverhandlung kann eine<br />

veränderte Sachlage im Sinne des § 265 Abs. 4 StPO .................................................................. - 224 -<br />

BGH, Urt. v. 30.08.2012 – 4 StR 108/12 – JR 2013, 373 mit Anmerk. Prof. Dr. Wohlers; NStZ 2013, 122 . -<br />

224 -<br />

StPO § 275 Abs. 1 Satz 2; OWiG § 77b Urteilsabsetzungsfrist im OWi-Verfahren ................. - 228 -<br />

BGH, Beschl. v. 08.05.2013 - 4 StR 336/12 - BeckRS 2013, 09025 ......................................................... - 228 -<br />

StPO § 302 Abs. 2 § 145a – Vollmacht mit (widerrufener) ausdrücklicher Ermächtigung zur<br />

Rücknahme von Rechtsmittel ........................................................................................................ - 232 -<br />

BGH, Beschl. v. 05.06.2013 - 1 StR 168/13 - BeckRS 2013, 12151 ......................................................... - 232 -<br />

StPO § 406g Abs. 1, 3 Satz 1 Nr. 1, § 397a Abs. 1 Nr. 2, § 395 Abs. 2 Nr. 1; Türkisches Gesetz<br />

über das internationale Privat- <strong>und</strong> Zivilverfahrensrecht (türk. IPRG) Art. 14, 58 ................ - 234 -<br />

BGH, Beschl. v. 18.09.2012 - 3 BGs 262/12 (2 BJs 162/11-2) - NJW 2012, 3524 BGHR StPO § 395 II Nr.<br />

1 Nebenklageberechtigung Ehegatte 1 ..................................................................................................... - 234 -<br />

StPO § 414 Abs. 1 Unterbringung vertikale Teilrechtskraft ...................................................... - 237 -<br />

BGH, Beschl. v. 09.04.2013 - 5 StR 120/13 - NJW 2013, 2043 ................................................................ - 237 -<br />

StPO§ 349 Abs.2 Beschlussfassung 4-(10-)Augen-Prinzip – Kein Anspruch aus Auskunft ..... - 239 -<br />

BGH, Beschl. v. 11.07.2013 - 3 StR 149/13 – Bisher nur in BGH-Datenbank <strong>und</strong> JurionRS 2013, 40983 .. -<br />

239 -<br />

Schwerpunktthema Verständigungsgesetz vor <strong>und</strong> nach BVerfG v. 19.03.2013 ............... - 240 -<br />

StPO § 257c Verständigungsverfahren ......................................................................................... - 240 -<br />

BVerfG, Urt. v. 19.03.2013 - 2 BvR 2628/10 - 2 BvR 2883/10 - 2 BvR 2155/11 –NJW 2013, 1058 ..... - 240 -<br />

- 317 -


StPO § 257c Abs. 5 Beruhen des Urteils auf Geständnis ohne Belehrung ................................. - 258 -<br />

BVerfG, Beschl. v. 30.06.2013 - 2 BvR 85/13 - BeckRS 2013, 53079 .................................................... - 258 -<br />

StPO § 257c Verständigungsverfahren ......................................................................................... - 262 -<br />

BGH, Beschl. v. 21.02.2013 – 1 StR 633/12 – StV 2013, 484 ff. .............................................................. - 262 -<br />

StPO § 257c; BtMG § 30a Abs. 3 – Verständigung über Anwendung eines Sonderstrafrahmens ... -<br />

267 -<br />

BGH, Bechl. v. 25.04.2013 – 5 StR 139/13 - StV 2013, 485 .................................................................... - 267 -<br />

StPO § 243 Abs, 4, § 257c § 273 Abs. 1a Anforderungen an die Dokumentation von<br />

Verständigungsgesprächen – Zulässige Protokollrüge ................................................................ - 269 -<br />

BGH Urteil vom 10.07.2013 - 2 StR 195/12- BeckRS 2013, 13639 ........................................................ - 269 -<br />

StPO §§ 243 Abs. 4 Satz 1, 344 Abs. 2 Satz 2 – Kein Rechtsfehler bei unterlassener Mitteilung<br />

über Nichtgespräche ....................................................................................................................... - 271 -<br />

BGH Urteil v. 10.07.20143 - 2 StR 47/13 - BeckRS 2013, 13638 ............................................................ - 271 -<br />

StPO §§ 257c; 261, 267 Abs. 3 Satz 5 Deal zu Lasten Dritter ..................................................... - 273 -<br />

BGH, Beschl. v. 06.03.2013 – 5 StR 423/12 - NJW 2013, 1316 ............................................................... - 273 -<br />

StPO §§ 302 Abs. 1 S. 2, 257 c – Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts nach informeller<br />

Verständigung ................................................................................................................................. - 276 -<br />

OLG München, Beschl v. 31.05.2013 – 1 Ws 469/13- StV 2013, 493 ..................................................... - 276 -<br />

StPO §§ 302 Abs. 1 S. 2, 257c, 261 – Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts nach informeller<br />

Verständigung <strong>und</strong> Nichtigkeit des Urteils ................................................................................... - 279 -<br />

OLG München, Beschl. v. 17.05.2013 – 2 Ws 1149, 1150/12 – StV 2013, 495 m. Anm. Förscher ....... - 279 -<br />

VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 3, § 133 Abs. 6 – Keine Bindungswirkung rechtswidrig ausgedealtes<br />

Strafurteil im Disziplinarbverfahren ............................................................................................ - 289 -<br />

BVerwG Beschluss vom 1. März 2013 - 2 B 78.12 .................................................................................. - 289 -<br />

Schwerpunktthema §§ 244 ff. StPO, Beweisantragsrecht .................................................... - 291 -<br />

StPO § 244 Abs. 2 StPO – Aufklärungsrüge erfolgreich ............................................................. - 291 -<br />

BGH Beschl. v. 19.03.2013 - 5 StR 79/13 - BeckRS 2013, 05860 ............................................................ - 291 -<br />

StPO § 244 Abs. 3 Beweisantrag aufs Gratewohl gestellt? .......................................................... - 293 -<br />

BGH Beschl. v. 11.04.2013 - 2 StR 504/12 – ............................................................................................. - 293 -<br />

StPO § 244 Abs. 3 S. 2 – Beweisantrag -Ungeeignetheit des Beweismittels – Konnexität ........ - 297 -<br />

BGH, Beschl. 04.12.2012 - 4 StR 372/12 - StV 2013, 374 = StraFo 2013, 117 = NStZ 201, 477 ........... - 297 -<br />

StPO § 244 Abs. 3 S. 2 – Beweisantrag – Beweistatsache ohne Bedeutung – Widerspruch zu Urteil<br />

.......................................................................................................................................................... - 300 -<br />

BGH Beschl. v. 23.03.2013 – 5 StR 145/13 – NStZ 2013, 478 ................................................................. - 300 -<br />

StPO § 244 Abs. 3 Anforderungen an die Begründung der Ablehnung eines Beweisantrags wegen<br />

tatsächlicher Bedeutungslosigkeit ................................................................................................. - 301 -<br />

BGH, Beschl. v. 05.02.2013 - 1 StR 553/12 - NJW 2013, 2044 = NStZ 2013, 352 ................................. - 301 -<br />

StPO § 244 Abs. 3 Ablehnung eines Beweisantrags wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit - 303 -<br />

BGH, Beschl. v. 27.11.2012 - 5 StR 426/12 - NStZ-RR 2013, 117 .......................................................... - 303 -<br />

StPO § 244 Abs. 3 Ablehnung eines Beweisantrags wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit - 305 -<br />

BGH, Beschl v. 14.05.2013 - 5 StR 143/13 - JurionRS 2013, 37198 ....................................................... - 305 -<br />

- 318 -


StPO § 244 Abs. 4 Beweisantrag Sachverständiger Aussagetüchtigkeit .................................... - 307 -<br />

BGH, Beschl. vom 09.10.2012 - 5 StR 428/12 - StrafO 2013, 26 ............................................................ - 307 -<br />

StPO § 244 Abs. 3 S. 2 – Beweisantrag – Beweistatsache ohne Bedeutung ............................... - 309 -<br />

BGH, Beschl. v. 21.05.2013 - 2 StR 29/13 - BeckRS 2013, 11826 ........................................................... - 309 -<br />

StPO § 244 Abs. 3 Beweisantrag – Wahrunterstellung <strong>und</strong> Bedeutungslosigkeit..................... - 311 -<br />

BGH, Beschl. v. 02. 10. 2012 - 3 StR 366/12 - Strafo 2012, 502 = NStZ-RR 2013, 50 .......................... - 311 -<br />

StPO § 244 Abs. 4 Weiterer Sachverständiger bei Hinzuziehung eines Subsachverständigen<br />

durch den ersten Gutachter ........................................................................................................... - 313 -<br />

BGH Beschl. v. 09.07. 2013 - 3 StR 132/13- (Bisher nur in der BGH-Entscheidungs-Datenbank <strong>und</strong> bei<br />

JurionRS 1983, 15003) .............................................................................................................................. - 313 -<br />

- 319 -

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