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Göschenhaus-Journal 4/2013 (PDF)

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GÖSCHENHAUS-JOURNAL<br />

Ausgabe 4/<strong>2013</strong> (Oktober, November und Dezember <strong>2013</strong>)<br />

Informationen rund um<br />

das <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt, das Seume-Haus und den<br />

Internationalen Johann-Gottfried-Seume-Verein „ARETHUSA“ e. V. Grimma<br />

EDITORIAL<br />

Liebe Göschen- und Seume-Freunde, liebe<br />

Leser dieser Zeilen!<br />

Fast ist das Jahr schon wieder Geschichte.<br />

Viel ist geschehen, manches, was uns vor Ort<br />

berührte, manches, was in der Welt geschah.<br />

Auch in der Literatur, die wir besonders<br />

beobachten, ist wieder allerhand los gewesen,<br />

so etwa die traurige Nachricht, dass Marcel<br />

Reich-Ranicki verstorben ist. So gefürchtet<br />

und umstritten er oftmals war – er war ein<br />

leidenschaftlicher Literaturmensch, der, wenn<br />

es um Literatur ging, keiner Konvention<br />

folgte. Er wird fehlen – und das besonders<br />

wegen seines Urteils: in einer (Medien-)<br />

Gesellschaft, wo anscheinend alles möglich<br />

ist, wird es zunehmend schwerer, über<br />

Misslungenes zu sprechen. Fast jeder<br />

literarische Text wird mittlerweile als<br />

„genial“ angepriesen. Menschen wie Marcel<br />

Reich-Ranicki haben dies nie mitgemacht, er<br />

wertete die Texte nach seinen Vorstellungen,<br />

manchmal ungerecht, aber eben mit Rückgrat.<br />

Das aktuelle Göschen-<strong>Journal</strong> wird wieder<br />

auf Seume schauen; dabei werden Russland,<br />

Tschechien und Vacha eine Rolle spielen. Und<br />

Sie erfahren, wer der diesjährige Seume-<br />

Literaturpreisträger ist … Pardon: Seume-<br />

Literaturpreisträgerin!<br />

Viel Freude beim Lesen,<br />

Ihr<br />

Thorsten Bolte<br />

(<strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt und<br />

Seume-Verein „ARETHUSA“ e. V.<br />

Grimma)<br />

KULTURBETRIEB GRIMMA<br />

<strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt<br />

– Seume-Gedenkstätte –<br />

Schillerstraße 25 • 04668 Grimma<br />

Tel. / Fax 0 34 37 - 91 11 18<br />

www.goeschenhaus.de<br />

E-Mail: SeumeArethusa@web.de<br />

Öffnungszeiten:<br />

Dienstag, Donnerstag,<br />

Samstag, Sonntag jeweils 10-17 Uhr<br />

und jederzeit nach Vereinbarung<br />

Gruppen bitte nur nach Anmeldung<br />

Seume-Haus<br />

Markt 11 • 04668 Grimma<br />

Tel. 0 34 37 – 70 21 71<br />

Öffnungszeiten:<br />

Derzeit geschlossen!<br />

Informationen unter<br />

www.goeschenhaus.de<br />

Intern. Johann-Gottfried-Seume-Verein<br />

„ARETHUSA“ e. V.<br />

Sitz: <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt<br />

1<br />

© <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt und Seume-Verein „ARETHUSA“ e. V. Grimma <strong>2013</strong>


INHALT<br />

Seite 1 → EDITORIAL<br />

Seite 2 → INHALT<br />

Seite 3 → KALENDER<br />

Seite 4 → SEUME, „VACH“ UND DAS GROSSE ABENTEUER.<br />

EIN TAG IN VACHA / THÜRINGEN. Von Thorsten Bolte<br />

Seite 21 → DER SEUME-LITERATURPREIS <strong>2013</strong> GEHT AN<br />

CONSTANZE JOHN!<br />

Seite 23 → CONSTANZE JOHN: TEXTCOLLAGE AUS „GELBER<br />

STAUB. EINE REISE NACH ARMENIEN“<br />

Seite 26 → AUSWAHLLISTE SEUME-LITERATURPREIS <strong>2013</strong><br />

Seite 27 → SEUME IN RUSSLAND – AUCH HEUTE NOCH. EINE<br />

KINDERZEITSCHRIFT AUS MOSKAU. Eine Entdeckung<br />

(mit Hilfe von Elmar Schenkel) von Thorsten Bolte<br />

Seite 29 → UND DAMIT PUNKTUM WÖRTERPRUNK.<br />

Seite 30 → IMPRESSUM<br />

DAS BESONDERE ZUM SCHLUSS:<br />

DER „TSCHECHISCHE“ SEUME<br />

Zwei Buchtipps zu Beginn:<br />

• Robert Eberhardt (Hrsg.):<br />

Anton Graff – Porträts eines Porträtisten<br />

Berlin: Wolff Verlag <strong>2013</strong><br />

• Elmar Schenkel:<br />

Reisen in die ferne Nähe.<br />

Unterwegs in Mitteldeutschland.<br />

Mit Illustrationen des Autors<br />

Leipzig: Connewitzer<br />

Verlagsbuchhandlung Peter Hinke <strong>2013</strong><br />

Beide Bücher sind<br />

UNBEDINGT LESENSWERT!<br />

Arbeiten am Seume-Haus im Oktober <strong>2013</strong><br />

Der Putz ist schon ab … (Foto THB)<br />

2<br />

© <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt und Seume-Verein „ARETHUSA“ e. V. Grimma <strong>2013</strong>


KALENDER<br />

OKTOBER <strong>2013</strong><br />

▪ 11. Oktober <strong>2013</strong> (Freitag) um<br />

19 Uhr findet ein Vortrag von<br />

Thorsten Bolte (<strong>Göschenhaus</strong><br />

Grimma) in der Buchhandlung<br />

„Bücherwurm“ (Lorenzstraße 21) statt:<br />

„Einige Ballen Makulatur sind<br />

allhier zu verkaufen. Das<br />

Grimmaische Wochenblatt unter<br />

Göschen“. Der Eintritt beträgt 2,- €<br />

▪ 23.und 30. Oktober <strong>2013</strong> (jeweils<br />

Mittwoch) um 10 Uhr: Ferienveranstaltungen<br />

„Kartoffelfest auf<br />

Göschens Gut“ im Göschengarten<br />

und <strong>Göschenhaus</strong>. Bitte beachten:<br />

Ausweichtermine sind möglich!<br />

NOVEMBER <strong>2013</strong><br />

▪ 9. und 10. November <strong>2013</strong> (Samstag<br />

und Sonntag) jeweils von 10 bis 18<br />

Uhr ist wieder Martinimarkt in der<br />

Klosterkirche direkt an der Mulde.<br />

Das Motto lautet auch dieses Jahr<br />

„Kunsthandwerk aus der Region für<br />

die Region“. Der Eintritt ist frei!<br />

▪ Ab dem 30. November bis zum<br />

31. Dezember <strong>2013</strong> wird es im<br />

Kaminzimmer weihnachtlich: Unter<br />

dem Titel „Von Nussknackern und<br />

Mäusekönigen – Die Weihnachtszeit<br />

im 19.Jahrhundert“ wird eine<br />

Sonderausstellung gezeigt.<br />

Öffnungszeiten wie üblich oder<br />

nach Absprache<br />

NOVEMBER <strong>2013</strong> (Fortsetzung)<br />

▪ 30. November <strong>2013</strong> (Samstag),<br />

15 Uhr Adventskonzert im<br />

Kaminzimmer des <strong>Göschenhaus</strong>es.<br />

„… alles sieht so festlich aus“.<br />

Weihnachtliches aus Biedermeier<br />

und Romantik. Mit Antje Sehnert<br />

und Bettina Hennig<br />

DEZEMBER <strong>2013</strong><br />

▪ 7. Dezember <strong>2013</strong> (Samstag),<br />

15 Uhr Adventskonzert im<br />

Kaminzimmer des <strong>Göschenhaus</strong>es.<br />

„Nikolaus verpasst…“. Mit<br />

Ines Reintzsch – Gesang und Gitarre<br />

Heiko, Tobias und Jonas Reintzsch<br />

▪ 7. Dezember <strong>2013</strong> (Samstag),<br />

19 Uhr Verleihung des<br />

Seume-Literaturpreises <strong>2013</strong><br />

an Constanze John (Leipzig)<br />

in der Aula des ehemaligen<br />

Seume-Gymnasiums<br />

(Colditzer Straße 34 in Grimma)<br />

▪ 14. Dezember <strong>2013</strong> (Samstag),<br />

15 Uhr Adventskonzert im<br />

Kaminzimmer des <strong>Göschenhaus</strong>es.<br />

Mit dem „Duo Concentino“,<br />

Flöte und Harfe mit Christina<br />

Engelke und Cindy Wohlrab<br />

Schon jetzt wünsche ich Ihnen ein<br />

gutes Jahr 2014 mit der Hoffnung,<br />

dass Sie dem <strong>Göschenhaus</strong>, dem<br />

Seume-Haus und unserem Seume-<br />

Verein treu bleiben,<br />

Ihr Thorsten Bolte<br />

im Namen des <strong>Göschenhaus</strong>es und<br />

des Seume-Vereins „ARETHUSA“<br />

3<br />

© <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt und Seume-Verein „ARETHUSA“ e. V. Grimma <strong>2013</strong>


Das Vächer Seume-Gymnasium<br />

Seume, „Vach“ und das große Abenteuer<br />

Ein Tag in Vacha / Thüringen<br />

Text und Fotos von Thorsten Bolte (<strong>Göschenhaus</strong>)<br />

Gymnasiums, die in diesem Jahr ganz im<br />

Zeichen des 250. Geburtstages von<br />

Johann Gottfried Seume standen. Es war<br />

– dies muss ich offen bekennen – für mich<br />

das erste Mal, dass ich diese für Seume<br />

doch so wichtige Stadt besuchte. Ein paar<br />

Eindrücke von meiner „Ausflucht“ seien<br />

mir also erlaubt:<br />

Als ich eine Minute nach null Uhr wieder<br />

Grimma erreichte, hatte ich eine<br />

ereignisreiche Zeit hinter mir. Am 19.<br />

September <strong>2013</strong> war ich auf Einladung von<br />

Jörg Anschütz, Leiter des Johann-Gottfried-<br />

Seume-Gymnasiums Vacha, in die<br />

thüringische Stadt gekommen. Grund<br />

waren die Projekttage der Schüler des<br />

Die Schule von der Straße aus<br />

Verschiedene Schulklassen hatten ein buntes Programm rund um Seume<br />

zusammen gestellt. Dazu gehörten kleine Vorträge, Lesungen von Seume-<br />

Texten, Spiel-Szenen und natürlich auch Musik. In der Aula fand dreimal an<br />

diesem Tag das Seume-Projekt statt, zweimal zur Schulzeit mit Schülern am<br />

Vormittag und einmal abends vor den interessierten Eltern. Durch die<br />

verschiedenen Herangehensweisen der Schüler wurde es nie langweilig,<br />

zugleich war es spannend zu erleben, wie junge Menschen mit dem nicht<br />

immer einfachen „Stoff Seume“ umgingen und trotzdem beachtliche Leistungen<br />

vorführten. Für den ortsfremden Seume-Freund war es auch hoch interessant,<br />

4<br />

© <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt und Seume-Verein „ARETHUSA“ e. V. Grimma <strong>2013</strong>


wie am Ort zum Teil ganz eigene Seume-<br />

Legenden von Generation zu Generation<br />

weiter gegeben werden, die einen ganz<br />

eigenständigen Umgang mit Seumes (1.)<br />

Vacha-Aufenthalt aufzeigen. Auch so bleibt<br />

das Andenken an Seume erhalten und lässt<br />

Menschen neugierig auf diesen Schriftsteller<br />

werden.<br />

Mein Part war ein wenig der eines „Spielverderbers“: Quasi als jeweilige<br />

Eröffnungsvorträge vor den eigentlichen Schulprojekten hatte auch ich dreimal<br />

die Gelegenheit, den aktuellen Stand der Seume-Forschung zusammenzufassen<br />

– in der gebotenen Kürze, versteht sich.<br />

Leider ist die quellengestützte Wissenschaft<br />

nicht immer ganz so aufregend, wie<br />

spannende Geschichten, die der<br />

„Volksmund“ überliefert. Aber dem<br />

Problem muss man sich gerade bei Seume<br />

immer wieder stellen, da er selbst ganz<br />

erheblich an der eigenen Legendenbildung<br />

beteiligt war.<br />

Szene einer Anwerbung – Schüler des<br />

Seume-Gymnasiums als J. G. Seume<br />

(links) und hessische Soldatenwerber<br />

Wie Seume nach Vacha kam<br />

Alles beginnt Ende Juni 1781: Der Theologiestudent Johann Gottfried Seume<br />

verlässt Leipzig, in dem er alles zurücklässt, Freunde, Familie, Studium und<br />

damit die – wenn auch spärliche – gesicherte Existenz durch seinen Gönner<br />

Hohenthal. Warum dieser Weggang aus Leipzig? Diese Frage ist bis heute nicht<br />

ganz geklärt. Eine „Flucht“ wird es eher im übertragenen und keine im<br />

eigentlichen Sinne gewesen sein, denn Seume nimmt sich genug Zeit – falls<br />

5<br />

© <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt und Seume-Verein „ARETHUSA“ e. V. Grimma <strong>2013</strong>


seine Erinnerungen ihn nicht Jahrzehnte später trügen –, um seine Schulden in<br />

der Messestadt zu bezahlen. Dies spricht in meinen Augen auch gegen die<br />

These eines Duells, die man an verschiedenen Stellen der Seume-Literatur<br />

erwähnt. Doch wieder eine unglückliche Liebesbeziehung? Die späteren großen<br />

Reisen lassen dieses Argument nicht ganz unmöglich erscheinen, sind sie doch<br />

selbst mit zwei Frauen-Namen und Seumes unglücklicher Liebe zu ihnen<br />

verknüpft. In einem „Biogramm“ schreibt Seume im Mai 1803: „Man wollte mit<br />

aller Gewalt mich zum Pfeiler der Kirche machen, aber mein Ideengang nahm eine ganz<br />

andere Richtung. In der Gährung wollte ich AD 1780 [gemeint ist: 1781 (THB)] nach<br />

Frankreich gehen, um dort irgend etwas zu lernen, das mir beßer wäre, als die<br />

Theologie.“ 1<br />

In seiner Autobiografie schildert Seume ein paar Jahre später, er habe die<br />

Absicht gehabt, zuerst nach Paris zu gehen, um anschließend in Metz die<br />

Artillerieschule zu besuchen. Er hätte tatsächlich in Metz die Möglichkeit<br />

gehabt, zum Offizier ausgebildet zu werden, was wohl schon früh ein Wunsch<br />

Seumes darstellte. Der Historiker Georg Meyer-Thurow, der in den letzten<br />

Jahren viele wichtige Details im Leben Seumes richtigstellen konnte, erläuterte<br />

mir per E-Mail seine Bedenken zu Seumes Wunsch nach Metz und überhaupt<br />

nach Frankreich zu gehen, denn immerhin hatte er nur gut 9 Taler in der<br />

Tasche, was als Ausgangslage für eine solche Reise nicht sonderlich viel war.<br />

Was für Seume spricht, ist seine eigene Bemerkung, er habe „eben damals<br />

angefangen (...), etwas ernsthaft Französisch und Mathematik zu treiben“. 2<br />

Unabhängig davon: Das Frankreich von 1781 war noch nicht das Frankreich<br />

von 1789, als viele junge Deutsche deswegen nach Westen reisten! Seumes<br />

Freund aus den Tagen in Halifax, Karl von Münchhausen, meinte noch 1822,<br />

dass Seume – der Münchhausen gegenüber betont hatte, ohne Grund aus<br />

Leipzig gegangen zu sein – seine wirklichen Beweggründe nie bekannt gegeben<br />

hätte. 3 6<br />

© <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt und Seume-Verein „ARETHUSA“ e. V. Grimma <strong>2013</strong>


Auch wenn noch Fragen offen sind, Fakt ist, dass Seume Leipzig verlässt. Er<br />

schreibt: „Ich ging also nach Berichtigung meiner Schulden fort, ohne irgend jemand<br />

eine Sylbe gesagt zu haben. Den Degen an der Seite, einige Hemden auf dem Leibe und<br />

im Reisesacke und einige Klassiker in der Tasche, marschierte ich zwar ganz rüstig und<br />

leicht, aber nichts weniger als ruhig (…)“. 4<br />

Am ersten Tag wandert Seume rund 40 km und übernachtet in „Zeugefeld“,<br />

wie Seume das Dorf Zeuchfeld nennt, heute Stadtteil Freyburgs an der Unstrut.<br />

Am zweiten Tag geht es rund 60 km weiter in Richtung Erfurt, wo er kurz vor<br />

der Stadt die Nacht verbringt. Es folgen noch einmal gut 75 km, bis er Vacha<br />

Der Gasthof Sachsenheim in Vacha - Ort von Seumes Anwerbung?<br />

(Foto um 1900; Original im Göschen-Archiv <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt)<br />

endlich erreicht. 5<br />

Vacha war zugleich der erste Ort auf dem Territorium der Landgrafschaft<br />

Hessen-Kassel, regiert vom Landgrafen Friedrich II. von Hessen-Kassel (1720-<br />

1785). Seit 1648 gehörte Vacha zu dieser Landgrafschaft und ab 1803 dann zum<br />

Kurfürstentum Hessen (Kurhessen), wo es – mit einer Unterbrechung von 1806<br />

7<br />

© <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt und Seume-Verein „ARETHUSA“ e. V. Grimma <strong>2013</strong>


is 1814/15, wo Vacha dem Königreich Westphalen und damit Napoleons<br />

Bruder unterstand – bis 1866 zugehörte. Dann wurde die Region von den<br />

Preußen einverleibt.<br />

Seume wurde in Vacha wohl sehr schnell von hessischen Soldatenwerbern<br />

angeworben, als er am Abend des 4. Juli 1781 die Stadt an der Werra erreichte.<br />

Wo genau Seume einkehrte, ist mehr als unklar. Die Seumeforschung erwähnt<br />

einige Namen, welches Gasthaus gemeint sein könnte. Besonders häufig ist vom<br />

Gasthaus / Gasthof Sachsenheim die Rede, außerhalb der Stadtmauer an der<br />

der Stadt gegenüberliegenden Werraseite gelegen, um 1900 „Zur guten Quelle“<br />

genannt. Doch ist dieses Gebäude – das Foto davon liegt im <strong>Göschenhaus</strong> (vgl.<br />

Abbildung S. 7) – erst um 1820 erbaut worden, der den Vorgängerbau ersetzte,<br />

in dem Seume vielleicht als Soldat angeworben wurde. Dieser Vorgängerbau<br />

war das ursprüngliche Siechenhaus, auch Sondersiechenhaus, ein Hospital des<br />

Klosters Kreuzberg / Philippsthal für jene Kranken, die man besser nicht in der<br />

Stadt haben wollte: vom Mittelalter bis 1570 wurden hier u. a. Pestkranke<br />

untergebracht. Es lag am Siechenberg, wie diese Erhöhung auch heute noch<br />

genannt wird. Später wurde hieraus ein Gasthaus, wobei die Bezeichnung<br />

„Zum rothen Roß“, die man in der Seume-Forschung findet, 6 wohl völlig irre ist.<br />

Nach dem „Hochfürstl. Hessen-Casselischer Staats- und Adreß-Calender auf das Jahr<br />

Christi 1784“ sind folgende Wirtshäuser in Vacha zu finden: 7<br />

8<br />

© <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt und Seume-Verein „ARETHUSA“ e. V. Grimma <strong>2013</strong>


Wenn überhaupt müsste man also vom „weißen Roß“ sprechen. Der<br />

Nachfolgebau, der Gasthof Sachsenheim wurde im Zuge der deutsch-deutschen<br />

Teilung – das besagte Gasthaus lag unmittelbar an der innerdeutschen Grenze –<br />

im Februar 1971 gesprengt.<br />

Ein sogenannter Bierkeller<br />

bzw. ein Kellergewölbe ist<br />

noch einzusehen, der<br />

vielleicht schon beim Vorgängerbau<br />

des Gasthofs<br />

Sachsenheim seine Dienste<br />

erfüllte. Kam hier etwa das<br />

Bier für Seume her, das den<br />

hessischen Soldatenwerbern<br />

die Sache mit der Rekrutierung Seumes vereinfachen sollte? Diese Geschichte<br />

wäre natürlich schön, aber leider nur Spekulation!<br />

Was für diesen Gasthof sprechen würde, ist die Tatsache, dass Seume schon die<br />

beiden Tage vor seiner Anwerbung größere Städte in der Nacht gemieden hat.<br />

Wäre er also nach Vacha hinein gewandert? Am Stadttor musste man sich<br />

legitimieren, was Seume anscheinend vermied. Die anderen Gast- bzw.<br />

Wirtshäuser scheinen sich innerhalb der Stadtmauer befunden zu haben,<br />

Heutiger Zustand des Geländes vom<br />

ehemaligen Gasthof Sachsenheim<br />

Die letzten Spuren des Gasthofs Sachsenheim<br />

würden dieser Theorie also widersprechen.<br />

In Vacha selbst wird der innerstädtische<br />

ehemalige Gasthof „Zum guten Engel“<br />

genannt, heute ein einfach saniertes<br />

Wohngebäude. Zumindest der Name scheint<br />

allerdings nicht auf die Seume-Zeit<br />

zurückzugehen. Es bleiben einmal mehr<br />

Fragen als Antworten!<br />

9<br />

© <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt und Seume-Verein „ARETHUSA“ e. V. Grimma <strong>2013</strong>


Die Wende in Vacha: der 4. Juli 1781<br />

Genau drei Aussagen finden sich in den Texten von Johann Gottfried Seume zu<br />

Vacha, das Seume Vach nennt, so wie die Vächer – so die Selbst-Bezeichnung<br />

der Bewohner Vachas – auch heute noch ihre Stadt oft nennen.<br />

• In Vach hatten mich ehemals die Handlanger des alten Landgrafen in Beschlag<br />

genommen und nach Ziegenhain und Kassel und von da nach Amerika geliefert. Jetzt<br />

sollen dergleichen Gewaltthätigkeiten abgestellt seyn. Doch möchte ich den fürstlichen<br />

Bekehrungen nicht zu viel trauen; (…). 8<br />

• Da schickten mich die Hessen wider meinen Willen, aber nicht ganz wider meine<br />

Neigung nach Amerika. 9<br />

• Den dritten Abend übernachtete ich in Vach, und hier übernahm trotz allem Protest<br />

der Landgraf von Kassel, der damalige große Menschenmäkler, durch seine Werber die<br />

Besorgung meiner ferneren Nachtquartiere nach Ziegenhayn, Kassel, und weiter nach<br />

der neuen Welt. 10<br />

In der frühesten selbstständigen Publikation Seumes – „Schreiben aus America<br />

nach Deutschland“ 11 – aus dem Jahr 1789 wird Vacha erst gar nicht erwähnt.<br />

Man staunt: Seumes Aussagen zum 4. Juli 1781 sind – um es freundlich zu<br />

benennen – recht dürftig. Hier passiert in Vacha etwas hochdramatisches und<br />

Seume beschreibt dieses Ereignis eher als Nebensache. Die romantischen<br />

Schilderungen, die hin und wieder in Schriftform aber auch mündlich tradiert<br />

werden, wie dieser Abend abgelaufen sein könnte, sind halt nur nachträgliche<br />

Erzählungen. Falls nicht noch entscheidendes Material auftauchen sollte, bleibt<br />

dieses Kapitel – vielleicht war dies auch die Absicht Seumes – im Dunkeln.<br />

Festzustellen bleibt, dass die hessischen Soldatenwerber alle Hände voll zu tun<br />

hatten, war die Landgrafschaft Hessen-Kassel ja der größte Truppenlieferer an<br />

die Engländer: Der Landgraf Friedrich II. hatte mit seinen Schwager George III.,<br />

seines Zeichens König von England, am 15. Januar 1776 ein „Subsidien-Tractat“<br />

abgeschlossen, der die Vermietung der hessischen Soldaten an die Engländer<br />

10<br />

© <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt und Seume-Verein „ARETHUSA“ e. V. Grimma <strong>2013</strong>


egelte. Insgesamt werden wohl so um die 12.000 hessische Soldaten – übrigens<br />

darunter auch normale Wehrpflichtige! – auf Seiten der Engländer gekämpft<br />

haben. Auch wenn andere Landesherren Soldaten für die Engländer im<br />

amerikanischen Unabhängigkeitskrieg stellten, gilt Friedrich II. als Paradebeispiel<br />

dieser Praxis, was schon aufklärerische Zeitgenossen mit scharfer Kritik<br />

auf den Plan riefen. Seume nennt so folgerichtig den Landgraf<br />

„Menschenmäkler“, um seine Abscheu für diese Art von Söldnertum<br />

auszudrücken. Man muss allerdings bedenken, dass das Geld, was die<br />

Soldatenvermietung in die Landeskasse spülte auch Grundlage einer gewissen<br />

wirtschaftlichen Stabilität ausmachte und manche Projekte ermöglichte, die<br />

ansonsten aus finanziellen Gründen unmöglich gewesen wären, etwa die<br />

Gründung des Fridericianum in Kassel, eines der ersten öffentlich zugänglichen<br />

Museen in Europa.<br />

Der Seume-Forscher Dirk Sangmeister hat sich in seiner Studie 12 über Seumes<br />

Autobiografie Mein Leben intensiv mit der Frage beschäftigt, warum es in der<br />

hessischen Regionalgeschichtsschreibung immer wieder Angriffe auf Seume<br />

gegeben hat, und dies nicht nur im deutschen Kaiserreich, als der Adel noch<br />

Projektionsfiguren der eigenen (bürgerlichen) Identität war, sondern bis in die<br />

Jetztzeit, wo selbst ausgewiesene Experten für hessische Geschichte Seume<br />

scharf attackieren. Gründe werden in Seumes zum Teil widersprüchlichen<br />

Autobiografie gesucht, denn unser Seume nimmt es mit der persönlichen<br />

Wahrheit nicht immer ganz genau. Zugleich wird regelmäßig behauptet, dass<br />

die hessischen Soldatenwerber nur Rekruten geworben hätten, die sich auch<br />

freiwillig verpflichtet hätten. Warum gerade Seume hier eine Hauptrolle spielt,<br />

ist nicht immer ganz klar. Andere Zeitzeugen berichten von den Tricks, mit<br />

denen die Werber arbeiteten, auch wenn von offizieller Seite dies wohl<br />

untersagt war. Gewalt wird ein Mittel gewesen sein, die jungen Männer zu<br />

werben, auch wenn es wohl oft mit subtileren Mitteln zuging, etwa wenn<br />

11<br />

© <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt und Seume-Verein „ARETHUSA“ e. V. Grimma <strong>2013</strong>


Alkohol mit im Spiel war. Aber auch den Versprechungen von fast<br />

paradiesischen Zuständen in Nordamerika scheinen auf so manchen Soldaten<br />

in spe gewirkt zu haben. Bekannt ist auch die Übergabe von einer Münze als<br />

Handgeld, die sich als erster Sold und damit als abgeschlossener Vertrag<br />

entpuppte.<br />

Seumes Selbstaussagen deuten daraufhin, dass er – immerhin kein<br />

dahergelaufener Einfaltspinsel sondern Student der Theologie! – nicht ganz<br />

freiwillig seine Soldatenzeit begonnen hat. Jener einzelne Satz „Da schickten<br />

mich die Hessen wider meinen Willen, aber nicht ganz wider meine Neigung nach<br />

Amerika“, 13 den Seume in seiner Kurzbiografie gebraucht, verweist eben darauf,<br />

dass die Anwerbung nicht ganz freiwillig stattgefunden hat, woran nicht zu<br />

zweifeln ist, bis neue Quellen das Gegenteil beweisen können. Andererseits<br />

wird die Rekrutierung für Seume auch eine vorübergehende Lösung seiner<br />

Probleme gewesen sein, hatte er nun fürs Erste wieder eine klare<br />

Lebensperspektive und konnte wieder nach vorne schauen. Der ironischlockere<br />

Tonfall in Seumes Aussagen könnte darauf hinweisen, dass er sich sehr<br />

schnell mit der Situation, die er ja selbst kaum ändern konnte, abgefunden hat.<br />

Mit Seumes Eintritt in die hessische Armee wird unser Seume gleichzeitig eine<br />

Person des öffentlichen Lebens. Im hessischen Staatsarchiv in Marburg liegt u.<br />

a. die Soldatenliste des „Regiments Erbprinz“, dem Seume zugerechnet wurde.<br />

Dort heißt es knapp:<br />

George Seime, bürtig aus Krautkleberg in Sachsen, 18 Jahr alt, 5 Fuß 2 zoll | 2 strich<br />

groß, ist den 4ten July 1781 angeworben worden. 14 Seumes Schritt in die<br />

Öffentlichkeit beginnt also gleich mit zwei Fehlern – weder der Name noch der<br />

Geburtsort sind richtig, vielleicht nur Flüchtigkeitsfehler, vielleicht auch von<br />

Seume so angegeben. So oder so: Wieder einmal versteckt sich Seume hinter<br />

einer Maskerade, die zum Sinnbild seines Lebens werden wird.<br />

Und noch einmal „taucht“ Seume in dieser Zeit öffentlich auf: In der „Leipziger<br />

12<br />

© <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt und Seume-Verein „ARETHUSA“ e. V. Grimma <strong>2013</strong>


Zeitung“ erscheint eine mit „Leipzig, den 19. Juli 1781“ datierte Suchanzeige, 15 in<br />

der ein junger Student gesucht wird, der sich bisher noch nicht bei der Familie<br />

oder bei Freunden zurückgemeldet hat. Man spricht von einem möglichen<br />

Unglück und bittet um Informationen zum Verbleib des Studenten. Der Name<br />

des Abtrünnigen wird in dieser Anzeige nicht genannt, aber angegeben wird,<br />

dass die Wäsche des Gesuchten die Buchstabenfolge J. G. S. trägt – Seume selbst<br />

war da schon längst Rekrut des Landgrafen von Hessen-Kassel …<br />

Auf nach Amerika – ein Epilog zu Seume<br />

Was dann folgt, ist wieder bekannt: Seume tritt mit einigen hundert anderen<br />

Leidensgefährten die schwierige Überfahrt nach Amerika an. Als die Schiffe<br />

ankommen, ist bereits alles vorbei – die Engländer haben erkannt, dass ihre<br />

Kolonien verloren sind und sich in Nordamerika erstmals überhaupt in der<br />

menschlichen Geschichte eine demokratische Gesellschaft herausgebildet hat,<br />

die den Adel nicht mehr benötigt. Seume wird im Soldatenlager in Halifax<br />

sitzen, Gedichte schreiben, auf Jagd gehen und Kontakte zu Offizieren knüpfen.<br />

Das große Abenteuer, was in Vacha begonnen hat, endet recht beschaulich in<br />

einem Lager weit entfernt von Seumes Herkunft. Doch: Der Anfang ist gemacht<br />

– Vacha hat Seumes Weit- und Weltsicht angeregt, die ihn nicht mehr<br />

loslassen wird.<br />

Vacha heute – ein paar Eindrücke eines Tagestouristen<br />

Ich hatte bei meinem Besuch in Vacha das Vergnügen, in einer ganz<br />

persönlichen Stadtführung die Schönheiten der Stadt kennenzulernen. Der<br />

ehemalige Biologie- und Chemielehrer Joachim Höland hat seinen<br />

„Unruhestand“ mit Stadtführungen angereichert, die er privat anbietet, um<br />

Gästen mit viel Charme und Wissen in die kleinen und großen Geheimnisse der<br />

Stadtgeschichte einzuweihen.<br />

Vacha war Randgebiet und ist es noch heute, auch wenn mittlerweile<br />

13<br />

© <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt und Seume-Verein „ARETHUSA“ e. V. Grimma <strong>2013</strong>


Thüringen die Ehre hat, Vacha in seinem<br />

Territorium zu haben. Die kleine Stadt mit<br />

rund 3500 Einwohnern sieht sich als „Tor<br />

zur Rhön“, dementsprechend ist Vachas<br />

Umgebung „hügelig“ und mit großen<br />

Waldbestand versehen. Vacha selbst liegt in<br />

einem natürlichen Kessel, der von der Werra<br />

geformt wurde. Mein Ausgangspunkt war<br />

natürlich das Johann-Gottfried-Seume-<br />

Gymnasium, dessen weißer, etwas über der<br />

Altstadt gelegener Bau aus den 20er Jahren<br />

des 20. Jahrhundert immer wieder die<br />

Stadtsilhouette dominiert. Das Seume-<br />

Gymnasium trägt seinen Namen seit … ja,<br />

das ist bis heute ein Rätsel. Wann die Schule nach Seume benannt wurde, ist<br />

leider nicht bekannt. Falls ein Leser es doch wissen sollte, wäre das<br />

Gymnasium oder ich für einen Hinweis sehr dankbar. Heute ist dieses<br />

Gymnasium die einzige Schule in Deutschland, die noch den Namen des<br />

„Spaziergängers“ trägt; Grimmas ehemaliges Seume-Gymnasium heißt heute<br />

„nur“ noch „Gymnasium St. Augustin – Haus Seume“!<br />

Seume-Gymnasium<br />

Mein ganz persönlicher Stadtführer<br />

Joachim Höland, stehend in Hessen,<br />

fotografiert von der Thüringer Seite<br />

Am Abschlusstag (an dem ich leider<br />

aus terminlichen Gründen nicht mehr<br />

teilnehmen konnte) der diesjährigen<br />

Projekttage des Gymnasiums in Vacha<br />

wurde mit einer Sternwanderung auch<br />

ein neues Namensschild eingeweiht,<br />

dass die Verbundenheit der Schule mit<br />

ihrem Namensgeber bekundet. Von<br />

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hier ist auch schon der Blick in die Altstadt möglich, die zum größten Teil<br />

liebevoll restauriert und saniert ist. Auffallend ist auch, dass erhebliche Teile<br />

der alten Stadtbefestigung, die auch Seume noch sehen konnte, heute erhalten<br />

ist. Dazu gehören auch drei erhaltene Rundtürme und die Burg Wendelstein,<br />

die noch die alte Wehranlage aus der Mitte des 13. Jahrhundert beeindruckend<br />

verdeutlichen. Die Burg Wendelstein ist heute Stadtmuseum und u. a. Aufbewahrungsort<br />

der ersten Frau Elster-Puppe aus dem Sandmännchen!<br />

Ein besonderer Höhepunkt ist das Rathaus auf dem<br />

Marktplatz, ursprünglich ein repräsentativer<br />

Wohnungsbau für einen Amtsmann zu Beginn des<br />

17. Jahrhundert, deswegen bis heute Haus<br />

Widemark (nach dem Amtmann) benannt. Der<br />

Baumeister Hans Weber aus Bad Hersfeld hat sich<br />

gleich zweimal verewigt, einmal direkt namentlich<br />

am Dachstuhl und indirekt durch seine für ihn<br />

typischen Herzen im Fachwerk. Der Eingangbereich<br />

Das Rathaus Vachas<br />

des Rathauses – hier<br />

ist bereits Napoleon nach seiner Flucht von der<br />

Völkerschlacht 1813 kurz eingekehrt, um dann<br />

vor den Preußen weiter zu fliehen; Napoleons<br />

Soldaten hatten ein ganz besonders „Geschenk“<br />

für die Vächer: eine Typhusepidemie! – ist 1936<br />

mit Szenen der Stadtgeschichte ausgestattet<br />

worden. Mein Stadtführer Herr Höland wies aber<br />

besonders auf jene Abbildungen hin, die die zwei<br />

bekanntesten Legenden der Stadt darstellen, die<br />

jeder Vächer von Kindesbeinen kennt.<br />

Rathaus-Detail mit Herzen ...<br />

In der ersten Legende wird beschrieben, dass<br />

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einer der Brückenbögen der Werrabrücke trotz<br />

aller Bemühungen immer wieder einstürzte. Die<br />

Bewohner wandten sich an Mönche des<br />

Servitenordens, die gerne helfen wollten, aber als<br />

„Bezahlung“ für ihre Dienste ein Gelände für ein<br />

Kloster haben wollten. Sie bekamen das<br />

Grundstück und gaben einen nun gar nicht<br />

christlichen Ratschlag: Damit der Brückenbogen<br />

Legende mit Kinderopfer<br />

nicht mehr einstürzte, sollte ein Kind geopfert<br />

werden, das lebendig in den Bogen eingemauert werden sollte. Gesagt, getan.<br />

Noch heute findet sich an der Werrabrücke ein steinerner Kinderkopf, wo nach<br />

der Legende das Kind eingemauert wurde. Die Brücke soll übrigens danach nie<br />

wieder eingestürzt sein …<br />

Die zweite Legende ist auch schaurig, aber<br />

sicherlich pädagogisch wertvoller: Ein<br />

wolfartiges Wesen – der Siechenhund – treibt<br />

des Nachts sein Unwesen und lauert auf Jene<br />

auf, die nicht frühzeitig genug die Stadtmauern<br />

Fürchtet die Nacht ...<br />

erreicht haben. Wer zu spät kommt, …<br />

Auf dem Marktplatz sind noch einige beeindruckende Gebäude zu entdecken,<br />

etwa die Alte Waage von 1455, wahrscheinlich aber aus noch älterer Zeit als<br />

angegeben. Hier nahmen einst die Vächer ihr eingeschränktes Münzrecht wahr.<br />

Der Blick fällt unweigerlich auch auf die Stadtkirche, deren Turmspitze aus<br />

dem 18. Jahrhundert im Aufbau etwas missraten ist und bis heute ein wenig<br />

schief daherkommt. Die Kirche selbst geht auf das 14. Jahrhundert zurück,<br />

wurde aber immer wieder ergänzt und umgebaut. So ist diese Kirche in<br />

gewissermaßen eine Architekturgeschichte im Kleinen: der Turm hat nicht nur<br />

ein „schiefes Dach“, sondern es sind auch romanische und gotische Elemente zu<br />

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Eine Kirche der Baustile<br />

finden, dazu kommt das klassizistische<br />

Kirchenschiff, das erst 1824 fertiggestellt<br />

wurde und von außen eher einem Theater<br />

gleicht.<br />

So kann man weiter durch die kleine aber<br />

feine Stadt wandern und viele spannende<br />

Details aus der langen Stadtgeschichte<br />

erfahren. In der Nähe der Werrabrücke<br />

sind noch zwei Häuser von ehemaligen<br />

jüdischen Bewohnern zu entdecken; der<br />

Nationalsozialismus hat die jüdische Gemeinschaft in Vacha völlig ausgelöscht.<br />

Es wundert nicht, dass die heutigen Besitzer dieser Häuser immer noch mit<br />

17<br />

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Vacha keine guten Familienerinnerungen verbinden. Leider verkommen nun<br />

die Häuser, von dem eines – auch vom Baumeister Hans Weber geschaffen –<br />

einen besonderen architektonischen Wert besitzt, aber die Besitzverhältnisse<br />

lassen der Stadt nicht viel Spielraum; vielleicht gibt es in der näheren Zukunft<br />

auch für solche Häuser eine gute Lösung für alle Beteiligten.<br />

Blick auf Vacha, rechts die Werrabrücke<br />

Höhepunkt meiner kleinen Stadtführung war<br />

sicherlich die Werrabrücke selbst, symbolisiert<br />

sie eine jahrhundertealte Grenzposition<br />

Vachas in den unterschiedlichen Gesellschaftsformen.<br />

Hatte ich weiter oben ja schon<br />

den möglichen Ort von Seumes Anwerbung<br />

beschrieben, kann man hier noch ganz<br />

andere Dinge entdecken, so einen versteckt liegenden Grenzstein, ein<br />

Wachturm und ein Stück Mauer der untergegangenen DDR: Vacha hatte seine<br />

„Mauer“ schon vor Berlin; diese gilt als erste befestigte Grenzanlage, die die<br />

deutsch-deutsche Teilung besiegeln sollte.<br />

Ein Wachturm und ein Stück der<br />

ehemaligen Grenzmauer<br />

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Das Gebäude stadtauswärts am anderen Ufer<br />

der Werra – eine ehemalige Druckerei und Ende<br />

des 19. Jahrhunderts neben dem ehemaligen<br />

Sachsenheim errichtet – hat sogar<br />

Geheimdiplomatie nach sich gezogen: Ein<br />

Zwölftel des Hauses Hoßfeld (die einstige<br />

„Hoßfeld'sche Hofbuchdruckerei“) wurde 1976<br />

Versteckt im Unterholz –<br />

ein ehemaliger DDR-Grenzstein<br />

im Rahmen eines streng geheimen<br />

Grundlagenvertrages zwischen den beiden<br />

deutschen Staaten westdeutsch; natürlich<br />

wurde an anderer Stelle der Grenze dieses<br />

Zwölftel genaustens abgemessen und vom<br />

bundesdeutschen Territorium abgetrennt.<br />

Heute trägt die knapp 225 m lange mittelalterliche<br />

Steinbogenbrücke den Namen<br />

„Brücke der Einheit“, da hier 1989 schon bald<br />

nach dem 9. November sich auch die „Vächer<br />

Mauer“ öffnete. Wahrlich ein geschichtsträchtiger Ort, die Werrabrücke und<br />

ihre unmittelbare Umgebung!<br />

Resümee<br />

Ein schöner Tag, der in vielerlei Hinsicht aufregend war. Alle Seume-Freunde<br />

sollten einmal den Weg ins malerisch gelegene Vacha finden und ihre ganz<br />

eigenen Entdeckungen machen: man wird garantiert eine aufregende Stadt mit<br />

einer wahnsinnig spannenden Geschichte kennenlernen. Ich werde auf alle Fälle<br />

wiederkommen …<br />

ANMERKUNGEN:<br />

Eingelassener Brückenname<br />

1<br />

Zitiert nach Dirk Sangmeister: Sein Leben. Unvorgreifliche Fragmente über Seumes<br />

19<br />

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unvollendete Autobiographie; in: Dirk Sangmeister: Seume und einige seiner Zeitgenossen.<br />

Beiträge zu Leben und Werk eines eigensinnigen Spätaufklärers; Erfurt, Waltershausen:<br />

Ulenspiegel Verlag 2010, S.385-453. Seumes Biogramm – so die Bezeichnung von Dirk<br />

Sangmeister – findet sich in dem Aufsatz auf S.409f.; das Manuskript liegt im Museum im<br />

Schloss Lützen (Sammlung Planer Nr. 1003).<br />

2<br />

Johann Gottfried Seume: Mein Leben; Leipzig: Göschen 1813, S.103f. (Göschen-Archiv<br />

<strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt).<br />

3<br />

Vgl. zum Verhältnis von Seume und Münchhausen den in Anmerkung 1 angegebenen<br />

Aufsatz von Dirk Sangmeister (2010) und Robert Eberhardt: Seume und Münchhausen. Mit<br />

dem kommentierten Neudruck der „Rückerinnerungen“ von 1797; Schmalkalden: Wolff<br />

Verlag R. Eberhardt 2010.<br />

4<br />

Johann Gottfried Seume: Mein Leben; Leipzig: Göschen 1813, S.104 (Göschen-Archiv<br />

<strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt).<br />

5<br />

Kilometerangaben nach Eberhard Zänker: Johann Gottfried Seume. Eine Biographie; Leipzig:<br />

Faber & Faber Verlag GmbH 2005, S.47f.; evtl. müsste der genaue Streckenverlauf und die<br />

zurückgelegten Kilometer, die Seume von Leipzig nach Vacha benötigte, einmal genau<br />

rekonstruiert werden.<br />

6<br />

Vgl. etwa in Jörg Drews (Hrsg.): Johann Gottfried Seume 1763-1810. Ein politischer<br />

Schriftsteller der Spätaufklärung. Eine Ausstellung der Universitätsbibliothek Bielefeld 2.11-<br />

30.11.1989; Bielefeld: Antiquariat Granier 1989, S.91. Auch in Eberhard Zänker: Johann<br />

Gottfried Seume. Eine Biographie; Leipzig: Faber & Faber Verlag GmbH 2005, S.48.<br />

7<br />

Kopie im Göschen-Archiv <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt; Ausschnitt aus dem Anhang,<br />

S.114.<br />

8<br />

Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802; Braunschweig und<br />

Leipzig: Johann Friedrich Hartknoch 1803, S.484 (Göschen-Archiv <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-<br />

Hohnstädt).<br />

9<br />

Wie Anmerkung 1, S.409.<br />

10<br />

Johann Gottfried Seume: Mein Leben; Leipzig: Göschen 1813, S.105f. (Göschen-Archiv<br />

<strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt).<br />

11<br />

Veröffentlicht als Aufsatz in Archenholtz' „Neue Litteratur und Völkerkunde“, Jahrgang<br />

1789, S.362-381 (Kopie im Göschen-Archiv <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt). Bis heute ist<br />

nicht geklärt, wann der Aufsatz entstanden ist; als Zeitraum kommt 1782 bis 1789 in Frage;<br />

vgl. hierzu: Johann Gottfried Seume. Werke in zwei Bänden. Hrsg. von Jörg Drews. Band 2,<br />

S.749.<br />

12<br />

Vgl. Anmerkung 1.<br />

13<br />

Wie Anmerkung 1, S.409.<br />

14<br />

Quelle: Hessisches Staatsarchiv Marburg 15 Nr. 15, fol. 4r; Kopie dieser Seite im Göschen-<br />

Archiv <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt.<br />

15<br />

Quelle: 141. Stück von 1781. Kopie dieser Anzeige im Göschen-Archiv <strong>Göschenhaus</strong><br />

Grimma-Hohnstädt.<br />

Als der Gasthof Sachsenheim<br />

noch Grenzgebiet war<br />

(Fotos von einer<br />

Informationstafel in Vacha)<br />

20<br />

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Der Seume-Literaturpreis <strong>2013</strong> geht an Constanze John!<br />

Der Internationale Johann-Gottfried-Seume-Verein „ARETHUSA“ e. V. Grimma<br />

und die Sparkasse Muldental haben wieder – wie alle zwei Jahre – den Seume-<br />

Literaturpreis ausgeschrieben. Nun hat sich die Jury – zusammengesetzt aus<br />

Lutz Simmler (Leipzig / Grimma), Robert<br />

Eberhardt (Berlin / Breitungen) und<br />

Thorsten Bolte (<strong>Göschenhaus</strong>) – am 27.<br />

September <strong>2013</strong> getroffen und intensiv<br />

beraten. Schließlich haben die Juroren<br />

einstimmig für die Leipziger Autorin<br />

Constanze John und ihren wunderbaren<br />

Reisetext „Gelber Staub. Eine Reise nach<br />

Armenien“ gestimmt. Dabei wurde<br />

erstmals in der Geschichte des Seume-<br />

Preises ein noch unveröffentlichtes Manuskript<br />

ausgezeichnet!<br />

Ein Text ganz im Sinne Johann Gottfried<br />

Die Preisträgerin Constanze John<br />

Seumes: reisend und beobachtend – kritisch und politisch – poetisch und<br />

mitfühlend! Frau Johns Text ist eine Reise in ein Land, dass in unserem<br />

Bewusstsein kaum eine Rolle spielt. Die Geschichte bzw. Land und Leute<br />

Armeniens werden am Schicksal eines konkreten Komponisten, dem die<br />

Erzählerin begegnet, geschildert. Dabei werden in die Handlung verschiedene<br />

Themen eingearbeitet, so etwa der „Genozid“ der Türken an den Armeniern<br />

während des 1. Weltkriegs, der bis heute tiefe Wunden ins armenische<br />

Bewusstsein gerissen hat; kombiniert wird dieses Thema aber mit dem Motiv<br />

der biblischen Sintflut, die – auf die armenische<br />

Geschichte übertragen – eine tiefe Hoffnung<br />

ausspricht: Am Ende der Sintflut steht der<br />

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Regenbogen und damit ein (möglicher) neuer Bund der Feinde von einst.<br />

Natürlich werden auch die Gesellschaftsordnungen und –umbrüche der<br />

jüngeren Vergangenheit Armeniens thematisiert, die dem Leben des<br />

„Hauptakteurs“ – des in Armenien berühmten Komponisten Wahram Babajan<br />

(bzw. auch Vahram Babayan) – schwer zusetzen.<br />

Ein hochpoetischer Text mit einer überragenden Sprache, die nie aufgesetzt<br />

ist und nie den Leser vergisst. Traurigkeit, aber auch herzliche<br />

Gastfreundschaft und trotziger Stolz der Armenier prägen diesen<br />

Reisebericht und zeigt damit die leise Hoffnung auf eine bessere Zukunft des<br />

uns unbekannten Armeniens. Dem Leser bleiben eindrucksvolle sprachliche<br />

Bilder, die einen nicht so schnell in den normalen Alltag entlassen.<br />

Zur Biografie der Preisträgerin:<br />

Constanze John, Jahrgang 1959, studierte in ihrer Geburtsstadt Leipzig<br />

Germanistik, Geschichte und Pädagogik, später besuchte sie ein Fernstudium<br />

am dortigen Literaturinstitut. Es folgten verschiedene Anstellungen, u. a. als<br />

Lehrerin. Seit 1997 ist Frau John freiberufliche Schriftstellerin und widmet sich<br />

in ihrer Arbeit besonders Kindern und Jugendlichen. Sie ist Gründungsvorsitzende<br />

des Friedrich-Bödecker-Kreises im Freistaat Sachsen e. V., der sich<br />

aktiv um das Lesen als gesellschaftlich bedeutsame Befähigung kümmert.<br />

Zuletzt ist von der Autorin erschienen „Drache, Bieresel und Nix. Grimma. Ein<br />

Landschaftsführer für Kinder“ (Leipzig: Engelsdorfer Verlag <strong>2013</strong>).<br />

In Kürze wird der Seume-Verein „ARETHUSA“ e. V. Grimma und die<br />

Sparkasse Muldental in Zusammenarbeit mit der Autorin ein kleines Faltblatt<br />

mit einem erweiterten Textauszug der Arbeit von Constanze John herausgeben,<br />

damit man sich selbst ein Bild vom Text „Gelber<br />

Staub. Eine Reise nach Armenien“ machen kann.<br />

Die <strong>Göschenhaus</strong>-<strong>Journal</strong>-Leser finden diesen<br />

22<br />

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Textauszug bereits hier; der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung<br />

der Autorin:<br />

Constanze John:<br />

Textcollage aus „Gelber Staub. Eine Reise nach Armenien“<br />

Pythagoras geht über den Platz und sieht, wie ein anderer sein Hündchen<br />

schlägt, ein schwarzes Hündchen mit seidig zotteligem Fell. Das Hündchen<br />

jault, während es geschlagen wird, versucht sich von hinten her in sich selbst<br />

zusammen zu ziehen, bleibt an Ort und Stelle, wo sein Herr es schlägt, läuft<br />

nicht davon. Pythagoras geht dazwischen und sagt: “Hör auf und schlag nicht<br />

weiter, denn es ist eines befreundeten Mannes Seele, die ich erkenne. Unsere<br />

Seele wandert, vom Licht gekommen, jetzt, durch diese Welt.”<br />

Er, ich werde ihn im Folgenden „den Komponisten“ nennen, gibt Konzerte,<br />

spielt im Sommer vor einem Jahr in Städten wie Grimma und Leipzig eigene<br />

Sonaten. Eines Tages stehe ich ihm gegenüber, einem kleinen hageren Mann, das<br />

Haar schon weiß durchzogen. Wir werden miteinander bekannt gemacht. Recht<br />

schnell erzählt er mir Geschichten. Sie handeln sämtlich von ihm. Aber sie<br />

haben auch etwas, das ich genauer nicht benennen kann. Obwohl mir gerade ein<br />

Wort wie „Schleusenwärter“ auf der Zunge liegt, spreche ich es nicht aus,<br />

beginne aber, diese seine Geschichten aufzuschreiben.<br />

Mit 6,9 auf der Richterskala ist am 7. Dezember 1988 ein Erdbeben in Jerewan<br />

zu spüren. Die Lehrer schicken ihre Schüler nach Hause. Auch in einem der<br />

vielen Jerewaner Institute Aufregung, Panik. Und dort einer, der noch im<br />

Hinauseilen meint: „Nun hoffe ich nur, dass das Epizentrum in der Türkei<br />

liegt!“<br />

Das Epizentrum liegt aber mitten in Armenien. Schwer betroffen sind die beiden<br />

Städte Gjurmi und Wanadsor und von über 200<br />

Ortschaften vor allem die Kleinstadt Spitak. Es<br />

werden 25 000 Tote geschätzt. Und während aus<br />

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aller Welt Hilfe geschickt wird, schicken, so erzählt mir der Komponist, die<br />

Aserbaidschaner einen Güterzug mit der Aufschrift: Herzlichen Glückwunsch<br />

zum Erdbeben!<br />

Noah öffnet das Fenster. Nach wie vor ist das Land von dunklem Wasser<br />

überspült. In seiner Hand hält Noah einen Raben, zu dem sagt er jetzt: „Flieg<br />

und gib Nachricht, wenn die Wasser gesunken sind!“ Der Rabe fliegt los. Er<br />

fliegt hin und her, vor der Arche, von ihr fort und wieder hin zu ihr. Der Rabe<br />

fliegt in gewagten Kurven. Bei den Tieren Aufsehen erregend, lässt er sich fallen,<br />

fängt sich im letzten Moment wieder ab. Doch auf diese Art kann er Noah die<br />

gewünschte Nachricht nicht geben.<br />

Nun möchte ich alles Mögliche kennen lernen: den Sohn, die Mutter, die<br />

Schwester als das Kernpersonal seiner Geschichten. Und das Klavier – ein<br />

Klavier der Marke „Lyra“ - das bei ihm in Jerewan im Wohnzimmer stehen<br />

muss, als sein Instrument. Ich beschließe, bereits im kommenden Sommer in<br />

Jerewan zu sein.<br />

Immer schläft die Mutter unter der politischen Weltkarte. Nie komme ich auf<br />

die Idee zu fragen, wer da warum und woher die Politik der Welt in diese<br />

schmale Küche geholt hat. Vielleicht geht es um das Verdecken der Wand<br />

dahinter. Vielleicht wärmt das Landkartenpapier irgendwie. Ich weiß es nicht.<br />

In Südafrika jedenfalls ist die politische Welt schon ganz zerlöchert.<br />

Es bleiben noch zwei Tage. Er wird sich immer verschließen, der Komponist, das<br />

sehe ich voraus, sich verschließen, dabei äußerlich ruhen wie ein Berg,<br />

schweigen und eingeschlossen in sich selbst, ganz gleich ob ich noch hier bin<br />

oder schon wieder in Europa. So sehe ich das. Alles, was er erfährt, bleibt bei<br />

ihm, hält er bei sich. Aber zu diesem Preis entsteht<br />

seine Musik. Er hat es mir zu erklären versucht.<br />

24<br />

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Wollte ich meine Mutter verlassen, um zu ihr hinzukommen, musste ich die<br />

Seite wechseln. Die Schwierigkeit bestand darin, dass meine Mutter im Himmel<br />

verstreut war. Ihre zitronengelbe Seele war berührt worden von einem, dessen<br />

Gesicht meinem Vater gehört. Das erlöste ihre Seele. Und der feine Körper des<br />

Schmetterlings löste sich samt seiner zarten Flügelchen in Staub auf. In der<br />

Gestalt von Blütenstaub rieselte er eines nachts vom Himmel herab. Und da es<br />

nicht allein die Seele meiner Mutter betraf, sondern auch die Seelen all dieser<br />

anderen Kinder, die nicht hatten sehen sollen, was sie gesehen hatten, die nicht<br />

hatten hören sollen, was sie gehört hatten, rieselte es eines Nachts vom<br />

Himmel, beginnend im Osten, mit der Sonne in den Westen gehend, Nord und<br />

Süd mit erfassend. Und wen nur eines dieser Staubkörner traf, der war gesegnet<br />

und wechselte sein Leben, ohne dass er den Grund erahnte. Eine große Ruhe<br />

kam. Und die Geschichte, die noch ungeschrieben lag, konnte nun vollendet<br />

werden. Und das Kind, das gezeugt werden wollte, konnte endlich gezeugt<br />

werden. Und aus dem Schmerz kam die Güte über die Welt. Und da der Schmerz<br />

wieder zu fühlen war, wurde er nicht länger belächelt. Der Kopf neigte sich und<br />

der Mund sprach: „Was für ein Schicksal.“ Und da die Güte wieder zu fühlen<br />

war, brauchten auch die Tränen nicht länger zurück gehalten zu werden. Und<br />

die Toten verneigten sich vor den Lebenden und sagten: „Was für ein Schicksal.“<br />

Und die Lebenden weinten sieben Tage lange, ohne dass einer der Verstorbenen<br />

es gewagt hätte darüber zu lachen. Denn das Lachen wäre die noch größere<br />

Trauer gewesen. So aber floss es ab. Anschließend gingen die Toten in diese<br />

Ruhe, die sie jetzt umgab. Sie legten sich mitten hinein. Wenn die Toten die<br />

Augen schlossen, leuchtete es hinter den geschlossenen Augenlidern. In der Ferne<br />

hörte sie noch die Lebenden. Die Lebenden sprachen in verschiedenen Sprachen.<br />

© Constanze John, Leipzig <strong>2013</strong>.<br />

25<br />

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Soweit das Zitat aus dem nun preisgekrönten Text.<br />

Schon jetzt laden wir Sie herzlich zu der feierlichen Preisverleihung am<br />

7. Dezember <strong>2013</strong> um 19.00 Uhr in die Aula des ehemaligen Seume-<br />

Gymnasiums (heute: Gymnasium St. Augustin – Haus Seume) an der<br />

Colditzer Straße in Grimma ein.<br />

Auswahlliste Seume-Literaturpreis <strong>2013</strong><br />

Neben der Preisträgerin hat die Jury aus den knapp 100 Texten von 29 Autoren<br />

eine Auswahlliste mit sechs weiteren herausragenden Texten ausgewählt. Es<br />

sind folgende Autoren (alphabetisch), die die Jury gerne empfehlen möchte:<br />

THOMAS BAUER:<br />

Mush! Grönland per Hundeschlitten<br />

Schweinfurt: Wiesenburg Verlag <strong>2013</strong><br />

JAN DECKER:<br />

Der lange Schlummer. Roman [über Johann Gottfried Seume]<br />

Manuskript <strong>2013</strong><br />

JÖRG JACOB:<br />

In Sarmatien. Eine Reise ins Baltikum, nach Polen, in die Slowakei und die<br />

Ukraine<br />

Manuskript <strong>2013</strong><br />

JENS MÜHLING:<br />

Mein russisches Abenteuer<br />

Köln: DuMont Buchverlag 2012<br />

BRUNO PREISENDÖRFER:<br />

Der waghalsige Reisende. Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben<br />

Berlin: Verlag Galiani (im Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG) 2012<br />

CHRISTOPH REHAGE:<br />

The longest way. 4646 Kilometer zu Fuß durch China. Mit 47 Farbfotos und<br />

zwei Karten<br />

München: Malik in der Piper Verlag GmbH 2012<br />

26<br />

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Seume in Russland – auch heute noch.<br />

Eine Kinderzeitschrift aus Moskau<br />

Eine Entdeckung (mit Hilfe von Elmar Schenkel) von Thorsten Bolte<br />

Der Westfale und Wahlsachse Elmar Schenkel (damit in tiefer Verbundenheit<br />

mit dem Autor dieser Zeilen), seines Zeichens Professor für Anglistik an der<br />

Universität Leipzig, im Privatleben aber<br />

auch Maler und Schriftsteller, sendete<br />

mir vor wenigen Wochen eine<br />

Kinderzeitschrift.<br />

Überrascht schaute ich mir das bunte<br />

Heft namens „Schrumdirum“ an. Es war<br />

ein thematisches Heft zu Katharina der<br />

Großen – mit einem Artikel zu Johann<br />

Gottfried Seume, verfasst von Professor<br />

Schenkel höchstpersönlich. Was jetzt auf<br />

dem ersten Blick nicht sonderlich<br />

verwundert, ist Herr Schenkel doch ein<br />

leidenschaftlicher „Seumeaner“. Was<br />

aber auf den zweiten Blick dann doch<br />

verwundert: dieses Magazin stammt<br />

überhaupt nicht aus Deutschland: es ist eine Zeitschrift, die in Moskau<br />

hergestellt wird. Tatsächlich: unser Sachse Seume – die heutigen Sachsen-<br />

Anhaltiner mögen mir aus historischen Gründen verzeihen – ist nach 1805<br />

zum zweiten Mal in Moskau angekommen!<br />

Titelseite der Ausgabe 4/<strong>2013</strong>.<br />

Abdruck mit freundlicher Genehmigung<br />

des Internationalen Verbandes der<br />

Deutschen Kultur in Moskau<br />

Die Kinderzeitschrift „Schrumdirum“ wird seit April 2000 im Moskauer Verlag<br />

„IVDK-Medien“ herausgegeben, dem Verlag des „Internationalen Verbandes<br />

der Deutschen Kultur“, kurz IVDK in Moskau. Die Zeitschrift richtet sich an<br />

27<br />

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Grund- und Mittelschüler, aber auch an Menschen, die trotz aller Brüche der<br />

deutsch-russischen Geschichte in der Vergangenheit auch heute noch Freude an<br />

der deutschen Sprache und Kultur besitzen. Die Texte dieser Zeitschrift, die<br />

monatlich erscheint, sind in Deutsch verfasst, aber besonders außergewöhnliche<br />

Wörter und Ausdrücke werden in Infokästen russisch erläutert. Die<br />

Redakteurin des Blattes, Anna Kaplina, gab zu, dass sie vorher – trotz<br />

Germanistik-Studiums – noch nie etwas über Seume gehört hatte, deswegen um<br />

so überraschter war, als dieser „Spaziergänger“ in der konkreten russischen<br />

1. Seite des Seume-Artikels.<br />

Abdruck mit freundlicher<br />

Genehmigung des<br />

Internationalen Verbandes der<br />

Deutschen Kultur Moskau<br />

Geschichte auftaucht.<br />

„Schrumdirum“ wird in einer Auflage von 6000<br />

Exemplaren gedruckt und in vielen Regionen<br />

Russlands gelesen. Die einzelnen Hefte sind<br />

monothematisch angelegt, so sind bereits Hefte zu<br />

Themen wie Weihnachten oder Fasching<br />

erschienen. Besonders beliebt sind nach Angabe<br />

der Redaktion die Sonderausgaben zu den<br />

deutschen Bundesländern, in denen 2012 auch ein<br />

Heft über den Freistaat Sachsen erschienen ist.<br />

Natürlich dürfen auch große Persönlichkeiten<br />

nicht fehlen, wie das Heft zu Katharina der<br />

Großen ja bereits gezeigt hat. In näherer Zukunft stehen Themen wie „Gebrüder<br />

Grimm“ oder „Richard Wagner“ auf dem Programm.<br />

Die Texte selbst werden von deutschsprachigen und russischen Autoren<br />

verfasst, was diese Kinderzeitung auch zu einem schönen Beispiel für eine<br />

länderübergreifende Kooperation macht.<br />

Quelle der beiden abgebildeten Beispiele auf Seite 27 und 28:<br />

Kinderzeitschrift „Schrumdirum“ N o 4, Jahrgang <strong>2013</strong><br />

Weitere Informationen: info@ivdk.ru • www.rusdeutsch.eu<br />

28<br />

© <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt und Seume-Verein „ARETHUSA“ e. V. Grimma <strong>2013</strong>


Und damit Punktum Wörterprunk<br />

Das Besondere zum Schluss: der „tschechische“ Seume<br />

Die folgende Einladung haben wir von unseren tschechischen Freunden erhalten.<br />

Jiří Dušek, der bereits die kleine Januar-Gedenkveranstaltung in Teplice <strong>2013</strong> zu Ehren<br />

Seumes geplant hatte, und der ebenfalls daran beteiligte Jan Kvapil haben nun zwei<br />

weitere Seume-Veranstaltungen organisiert:<br />

a) 30. Oktober <strong>2013</strong>, 17 Uhr im Vortragssaal der Nordböhmischen wissenschaftlichen<br />

Bibliothek (Severočeská vědecká knihovna, W. Churchilla 3) in Ústí nad Labem<br />

(früher Aussig); diese Veranstaltung richtet sich an Studenten der Germanistik an der<br />

J. E. Purkyně-Universität;<br />

b) 3. Dezember <strong>2013</strong>, 18 Uhr im Literaturhaus zu Prag (Ječná 11, Praha 2); diese<br />

Veranstaltung richtet sich an alle Seume-Freunde von Nah und Fern.<br />

Man sieht: Seume und die Tschechische Republik – Ein Thema mit Zukunft!<br />

(THB)<br />

Das Veranstaltungsplakat<br />

zum 30.10.<strong>2013</strong><br />

Mit freundlicher<br />

Genehmigung<br />

von Jiří Dušek<br />

29<br />

© <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt und Seume-Verein „ARETHUSA“ e. V. Grimma <strong>2013</strong>


IMPRESSUM<br />

Herausgegeben vom<br />

KULTURBETRIEB GRIMMA / <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt und dem<br />

Internationalen Johann-Gottfried-Seume-Verein „ARETHUSA“ e. V. Grimma<br />

Ausgabe 4/<strong>2013</strong><br />

Redaktion und Gestaltung:<br />

Thorsten „THB“ Bolte (Grimma),<br />

im Auftrag des <strong>Göschenhaus</strong>es und des Seume-Vereins „ARETHUSA“<br />

Redaktionsschluss für die Ausgabe des <strong>Göschenhaus</strong>-<strong>Journal</strong>s 1/2014<br />

ist Mitte Dezember <strong>2013</strong>!<br />

Kontakt: → <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt oder Bolte.Thorsten@grimma.de<br />

Rechte, wenn nicht anders angegeben:<br />

© Texte: <strong>Göschenhaus</strong> und Seume-Verein „ARETHUSA“ <strong>2013</strong><br />

© Abbildungen: <strong>Göschenhaus</strong> und Seume-Verein „ARETHUSA“ <strong>2013</strong><br />

Auskunft erteilt das <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt<br />

Die Arbeit des <strong>Göschenhaus</strong>es Grimma-Hohnstädt und des Seume-Vereins „ARETHUSA“<br />

wird von folgenden Institutionen unterstützt,<br />

denen wir besonders danken:<br />

Kulturbetrieb Grimma in der Stadtverwaltung Grimma • Landkreis Leipzig<br />

Kulturraum Leipziger Raum • Kommunales Jobcenter Landkreis Leipzig<br />

Sparkasse Muldental<br />

Wer unsere Arbeit fördern möchte, kann sich gerne im <strong>Göschenhaus</strong> melden.<br />

BANKVERBINDUNG:<br />

Intern. Johann-Gottfried-Seume-Verein „ARETHUSA“ e.V. Grimma<br />

Sparkasse Muldental BLZ 860 502 00 • Konto-Nr. 10 100 35 351,<br />

BIC: SOLADES1GRM • IBAN: DE02860502001010035351<br />

30<br />

© <strong>Göschenhaus</strong> Grimma-Hohnstädt und Seume-Verein „ARETHUSA“ e. V. Grimma <strong>2013</strong>

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