kündigungsschutz und befristete arbeitsverhältnisse - DGB ...
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Kündigungsschutz<br />
<strong>und</strong> <strong>befristete</strong><br />
Arbeitsverhältnisse:<br />
Interviews <strong>und</strong> Erfahrungsberichte<br />
aus der Arbeitswelt in Deutschland
Inhalt<br />
3 Vorwort<br />
Kündigung <strong>und</strong> Befristung<br />
– Zahlen, Fakten <strong>und</strong> Gesetze<br />
6 Kündigungsschutzgesetz ist keine Einstellungsbremse<br />
9 Befristungen am laufenden Band<br />
Befristete ARbeit – erfahrungsberichte<br />
<strong>und</strong> Interviews aus<br />
Deutschland<br />
14 Hochqualifiziert, motiviert – befristet beschäftigt<br />
16 Ständiger Druck <strong>und</strong> keinerlei Sicherheit<br />
18 20 Befristungen in 27 Jahren<br />
20 „Sachgr<strong>und</strong>lose Befristung streichen“<br />
21 Klagen gegen Kettenbefristungen ohne Sachgr<strong>und</strong><br />
22 „Befristungen endlich reduzieren“<br />
Schutz von Arbeitnehmer/Innen<br />
– Die Politik in der Verantwortung<br />
34 Regelungen zu <strong>befristete</strong>n Arbeitsverhältnissen in anderen europäischen Ländern<br />
35 „Befristete Jobs sind Anti-Familien-Politik“<br />
37 Parteienstimmen zu Kündigungsschutz <strong>und</strong> Befristungen<br />
38 „Erheblich weniger Kündigungsschutzklagen“<br />
39 „Änderungskündigungen überprüfen lassen!“<br />
40 „Kündigungsschutz wurde systematisch ausgehöhlt“<br />
Kündigungsschutz <strong>und</strong><br />
befristung – die Forderungen<br />
der Gewerkschaften<br />
44 Ohne Bestandsschutz verschlechtern sich Arbeitsbedingungen<br />
45 Der <strong>DGB</strong> <strong>und</strong> seine Mitgliedsgewerkschaften fordern deshalb …<br />
24 Von Vertrag zu Vertrag im Schuldienst<br />
25 „Befristungen sind die Regel“<br />
26 Die halbe Zeit für dieselben Aufgaben<br />
27 Hochschulabschluss schützt nicht vor Befristung<br />
28 Zweierlei Maßstab<br />
29 Pläne schmieden? Fast unmöglich!<br />
30 Postzustellung auf Abruf<br />
1
Vorwort<br />
Der Kündigungsschutz ist 2003 im Rahmen der Umsetzung der Agenda 2010 deutlich<br />
verschlechtert worden. Trotzdem hat die un<strong>befristete</strong>, sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung<br />
mit angemessener Bezahlung nicht zugenommen. Im Gegenteil: <strong>befristete</strong><br />
Beschäftigung ist für Viele <strong>und</strong> insbesondere für Berufsanfänger nicht mehr die<br />
Ausnahme, sondern die Regel. Leiharbeit hat in vielen Betrieben <strong>und</strong> Unternehmen reguläre<br />
Beschäftigung ersetzt. Werkverträge nehmen zu <strong>und</strong> das sogenannte Jobw<strong>und</strong>er<br />
bedeutet für Viele Minijobs <strong>und</strong> eine Bezahlung unter dem Existenzminimum.<br />
Der Arbeitsmarkt ist so dereguliert wie noch nie!<br />
Gleichwohl sind immer wieder Stimmen zu vernehmen, die fordern, den Kündigungsschutz<br />
weiter einzuschränken <strong>und</strong> <strong>befristete</strong> Beschäftigung noch weiter zu erleichtern.<br />
Dies soll wegen der zu erwartenden Verschlechterung auf dem Arbeitsmarkt infolge<br />
der Wirtschaftskrise in Europa notwendig sein, da Beschäftigung nur geschaffen würde,<br />
wenn das Arbeitsverhältnis auch einfach wieder aufgelöst werden könne.<br />
Einen Beleg für diese These bleiben ihre Befürworter, wie schon in der Vergangenheit,<br />
schuldig.<br />
Tatsache ist, dass Beschäftigung dann aufgebaut wird, wenn die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen<br />
stimmen. Beispiele aus anderen europäischen Ländern, die in der Wirtschaftskrise<br />
Beschäftigtenrechte abgebaut haben, zeigen, dass dies keineswegs zu<br />
mehr Beschäftigung geführt hat. Arbeitnehmerinnen <strong>und</strong> Arbeitnehmer rechtlos zu stellen,<br />
sie der Willkür von Entlassungen auszusetzen <strong>und</strong> damit auch den Druck auf alle<br />
anderen Beschäftigungsbedingungen zu erhöhen, bringt nicht mehr Beschäftigung, sondern<br />
lediglich deutlich schlechtere Arbeitsbedingungen. Wer wirtschaftlichen Erfolg<br />
will, darf die Arbeitsbedingungen nicht verschlechtern. Nur sichere Arbeitsplätze mit einer<br />
angemessenen Vergütung <strong>und</strong> guten Arbeitszeiten können Kreativität <strong>und</strong> Innovation<br />
fördern. Der richtige Weg, den wir nachdrücklich unterstützen, sollte deshalb sein, den<br />
Kündigungsschutz nicht ab-, sondern auszubauen <strong>und</strong> <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse<br />
nicht zu erleichtern, sondern deutlich einzuschränken.<br />
Michael Sommer<br />
Vorsitzender des <strong>DGB</strong><br />
2 Kündigungsschutz <strong>und</strong> <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse 3
Kündigung <strong>und</strong> Befristung<br />
– Zahlen, Fakten <strong>und</strong> Gesetze<br />
4 Kündigungsschutz <strong>und</strong> <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse 5
Kündigungsschutzgesetz<br />
ist keine Einstellungsbremse<br />
Von Arbeitgebern wie auch ihnen nahestehenden Politiker/innen wird häufig das b<strong>und</strong>esdeutsche<br />
Kündigungsschutzrecht als Hindernis für – un<strong>befristete</strong> – Einstellungen genannt.<br />
Verschiedene Untersuchungen des Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialwissenschaftlichen Instituts<br />
(WSI) der Hans-Böckler-Stiftung belegen jedoch etwas ganz anderes: Kündigungen <strong>und</strong><br />
Neueinstellungen hängen primär mit der wirtschaftlichen Situation eines Betriebes zusammen.<br />
Und für die Einstellungsentscheidung ist die Frage des Kündigungsschutzes von<br />
verschwindend geringer Bedeutung.<br />
Bereits 2005 legte das WSI die Ergebnisse des Projektes „Regulierung des Arbeitsmarktes“<br />
(REGAM) vor, in das eine Vielzahl von Untersuchungen <strong>und</strong> Befragungen Eingang gef<strong>und</strong>en<br />
hatten. Das eindeutige Fazit lautete: „Der Einfluss des Kündigungsschutzgesetzes<br />
auf die Arbeitsmarktdynamik ist statistisch nicht nachzuweisen. Die Annahme, der Arbeitsmarkt<br />
sei aufgr<strong>und</strong> des KSchG unnötig starr <strong>und</strong> rigide, ist falsch: Jährlich werden<br />
ca. fünf bis sieben Millionen Arbeitsverhältnisse beendet. Den größten Teil hieran machen<br />
arbeitnehmerseitige Kündigungen aus.“<br />
Nur bei jeder achten Kündigung wird geklagt<br />
Lediglich r<strong>und</strong> ein Drittel aller Kündigungen werde von den Arbeitgebern ausgesprochen;<br />
zwei Drittel davon seien wiederum betriebsbedingt, das heißt, in aller Regel ökonomisch<br />
begründet. Kündigungsschutzklage werde nur bei jeder achten vom Arbeitgeber ausgesprochenen<br />
Kündigung eingelegt, Abfindungszahlungen würden ähnlich selten vereinbart.<br />
„Die Daten belegen auch nicht, dass das KSchG Kündigungen verhindert <strong>und</strong> notwendigen<br />
Personalabbau stört.“ (Heide Pfarr/Karen Ullmann/Marcus Bradtke/Julia Schneider/<br />
Martin Kimmich/Silke Bothfeld, Der Kündigungsschutz zwischen Wahrnehmung <strong>und</strong><br />
Wirklichkeit: Betriebliche Erfahrungen mit der Beendigung von Arbeitsverhältnissen, München<br />
<strong>und</strong> Mering 2005).<br />
2007 untersuchte das WSI neuerlich die Beendigung von Arbeitsverhältnissen in der Praxis,<br />
wobei sich die Zahlen der vorangegangenen Untersuchungen weitgehend bestätigten.<br />
Wiederum machten die arbeitgeberseitigen Kündigungen etwa ein Drittel aller Kündigungen<br />
aus; zu 62 Prozent waren sie betriebsbedingt, was konkret bedeutete, dass es<br />
im Unternehmen nicht mehr genug Arbeit für die vorhandene Zahl an Beschäftigten<br />
gab. Lediglich in zehn Prozent aller beendeten Arbeitsverhältnisse wurden Abfindungen<br />
gezahlt, <strong>und</strong> zwar überwiegend in Großbetrieben, an Beschäftigte mit langer Betriebszugehörigkeit,<br />
dort, wo der Betriebsrat/Personalrat Widerspruch gegen die Kündigung eingelegt<br />
hatte <strong>und</strong> dort, wo Klage eingelegt worden war. Allerdings erhoben 2007 nur<br />
12 Prozent der Gekündigten überhaupt Kündigungsschutzklage (Miriam Gensicke/Heide<br />
Pfarr/Nikolai Tschersich/Karen Ullmann/Nadine Zeibig, Neue Erkenntnisse über die Beendigung<br />
von Arbeitsverhältnissen in der Praxis, in: AuR 12/2008).<br />
Und auch eine weitere, auf Befragungen basierende Untersuchung zeigt auf, dass es<br />
sich bei der Behauptung, das Kündigungsschutzgesetz verhindere Einstellungen, eher um<br />
eine „gefühlte Wahrheit“ handelt als um eine gesicherte Erkenntnis.<br />
„Arbeitsrecht <strong>und</strong> Kündigungsschutz scheinen also bei der Gestaltung der betrieblichen<br />
Arbeitsbeziehungen keine so große Rolle zu spielen, wie man vermuten könnte“, schreiben<br />
Michael Schlese <strong>und</strong> Florian Schramm in ihrem Aufsatz „Die Rolle des Kündigungsschutzes:<br />
Ergebnisse der qualitativen Analyse“. Für das Einstellungsverhalten <strong>und</strong> die innerbetrieblichen<br />
Beziehungen sei beides wenig bedeutsam. Jedoch bestätige sich das allgemeine<br />
Vorurteil gegen den bestehenden Kündigungsschutz. „Die Kritik am Kündigungsschutz<br />
nimmt wenig Bezug zu eigenen betrieblichen Erfahrungen <strong>und</strong> wenn ja, dann<br />
eher generalisierend.“ (in: Florian Schramm/Ulrich Zachert, Hg., Arbeitsrecht in der betrieblichen<br />
Anwendung, München <strong>und</strong> Mering 2008).<br />
Kündigungsschutz ist kein Einstellungshindernis<br />
Gleichwohl blieb es auf Arbeitgeberseite lange bei der gebetsmühlenhaft vorgetragenen<br />
Behauptung, der Kündigungsschutz in Deutschland verhindere Einstellungen <strong>und</strong> sei rechtlich<br />
problematisch. So wurde etwa in einem vom Deutschen Industrie- <strong>und</strong> Handelskammertag<br />
beim IZA in Auftrag gegebenen Gutachten postuliert, dass der „Kündigungsschutz<br />
(…) eine der umstrittensten Arbeitsmarktinstitutionen, in Deutschland wie auch in anderen<br />
Ländern“ sei. Das Papier wandte sich insbesondere gegen die im Kündigungsschutzgesetz<br />
geregelten Vorgaben der Betriebsratsanhörung im Fall von Kündigungen <strong>und</strong> der<br />
Sozialauswahl. Stattdessen solle die Beteiligung des Betriebsrates bei Kündigungen eingeschränkt<br />
werden, die Sozialauswahl entfallen <strong>und</strong> eine „freiwillige Abfindungsoption“<br />
eingeführt werden (Werner Eichhorst/Paul Marx, Zur Reform des deutschen Kündigungsschutzes,<br />
Gutachten im Auftrag des DIHK, IZA Research Report No. 36, Juni 2011).<br />
Dass dies unzutreffend ist, belegt eine Ifo-Umfrage vom August 2012 im Auftrag der<br />
Wirtschaftswoche. Bei der Befragung von etwas mehr als 600 Unternehmen kam heraus,<br />
dass „arbeitsmarktpolitische Aspekte wie Kündigungsschutz oder hohe Lohnkosten“<br />
kein Einstellungshindernis seien. Allerdings gaben mehr als 50 Prozent der Befragten an,<br />
Minijobber <strong>und</strong> Leiharbeitnehmer zu beschäftigen. Nach der Anzahl der <strong>befristete</strong>n<br />
Arbeitsverhältnisse im Betrieb wurde nicht gefragt, aber vermutlich wäre auch hier ein<br />
hoher Anstieg zu registrieren gewesen, so dass faktisch ein immer größerer Anteil der<br />
Belegschaften überhaupt nicht unter das Kündigungsschutzgesetz fällt (Wirtschafts-Woche<br />
Nr. 33, 13.8.2012).<br />
Zudem fällt auch eine Gruppe von fest Beschäftigten aus dem Kündigungsschutz heraus:<br />
die in Kleinbetrieben. Mit der Änderung des Gesetzes vom 23. Dezember 2003 im Rahmen<br />
der „Agenda 2010 im Arbeitsrecht“ wurde die Anzahl der Beschäftigten, die in einem<br />
Betrieb beschäftigt sein müssen, damit der Kündigungsschutz greift, von fünf auf zehn<br />
heraufgesetzt. Nach dem IAB-Betriebspanel von 2010 haben 71 Prozent der b<strong>und</strong>esdeutschen<br />
Betriebe weniger als zehn Beschäftigte (das entspricht 18 Prozent an der Gesamtbeschäftigung),<br />
so dass hier das Kündigungsschutzgesetz nicht greifen kann.<br />
6 Kündigungsschutz <strong>und</strong> <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse 7
Befristungen<br />
am laufenden Band<br />
Da aber eine Absenkung der allgemeinen Arbeitsbedingungen, insbesondere der Vergütung,<br />
in engem Zusammenhang mit fehlendem oder eingeschränktem Bestandsschutz<br />
steht, diese Entwicklung aber weder sozial noch volkswirtschaftlich sinnvoll ist <strong>und</strong> hingenommen<br />
werden kann, ist es zwingend notwendig, den Kündigungsschutz zu stärken<br />
<strong>und</strong> seine Umgehung effektiv zu verhindern.<br />
Teilzeit- <strong>und</strong> Befristungsgesetz<br />
§ 14 Zulässigkeit der Befristung<br />
(1) Die Befristung eines Arbeitsvertrages ist zulässig,<br />
wenn sie durch einen sachlichen Gr<strong>und</strong> gerechtfertigt<br />
ist. Ein sachlicher Gr<strong>und</strong> liegt insbesondere vor,<br />
wenn<br />
1. der betriebliche Bedarf an der Arbeitsleistung nur<br />
vorübergehend besteht,<br />
2. die Befristung im Anschluss an eine Ausbildung<br />
oder ein Studium erfolgt, um den Übergang des Arbeitnehmers<br />
in eine Anschlussbeschäftigung zu<br />
erleichtern,<br />
3. der Arbeitnehmer zur Vertretung eines anderen<br />
Arbeitnehmers beschäftigt wird,<br />
4. die Eigenart der Arbeitsleistung die Befristung<br />
rechtfertigt,<br />
5. die Befristung zur Erprobung erfolgt,<br />
6. in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe<br />
die Befristung rechtfertigen,<br />
7. der Arbeitnehmer aus Haushaltsmitteln vergütet<br />
wird, die haushaltsrechtlich für eine <strong>befristete</strong> Beschäftigung<br />
bestimmt sind, <strong>und</strong> er entsprechend<br />
beschäftigt wird oder<br />
8. die Befristung auf einem gerichtlichen Vergleich<br />
beruht.<br />
(2) Die kalendermäßige Befristung eines Arbeitsvertrages<br />
ohne Vorliegen eines sachlichen Gr<strong>und</strong>es ist<br />
bis zur Dauer von zwei Jahren zulässig; bis zu dieser<br />
Gesamtdauer von zwei Jahren ist auch die höchstens<br />
dreimalige Verlängerung eines kalendermäßig <strong>befristete</strong>n<br />
Arbeitsvertrages zulässig. Eine Befristung<br />
nach Satz 1 ist nicht zulässig, wenn mit demselben<br />
Arbeitgeber bereits zuvor ein <strong>befristete</strong>s oder un<strong>befristete</strong>s<br />
Arbeitsverhältnis bestanden hat. Durch Tarifvertrag<br />
kann die Anzahl der Verlängerungen oder<br />
die Höchstdauer der Befristung abweichend von<br />
Satz 1 festgelegt werden. Im Geltungsbereich eines<br />
solchen Tarifvertrages können nicht tarifgeb<strong>und</strong>ene<br />
Arbeitgeber <strong>und</strong> Arbeitnehmer die Anwendung<br />
der tariflichen Regelungen vereinbaren.<br />
Die Zahl der befristet Beschäftigten nimmt stetig zu. So hat nach einer Studie des Instituts<br />
für Arbeitsmarkt- <strong>und</strong> Berufsforschung 2010 jeder fünfte Arbeitnehmer unter 35 Jahren<br />
(exakt: 21 Prozent) einen <strong>befristete</strong>n Arbeitsvertrag. In den ostdeutschen B<strong>und</strong>esländern<br />
liegt der Anteil sogar bei 28 Prozent, während es im Westen „nur“ 19 Prozent sind.<br />
Über alle Altersgruppen hinweg erhielt nach Angaben des IAB fast jeder zweite neu eingestellte<br />
Beschäftigte (46 Prozent) lediglich einen <strong>befristete</strong>n Vertrag. 2001 lag der Anteil<br />
der auf Zeit Eingestellten bei 32 Prozent.<br />
In absoluten Zahlen stiegen die <strong>befristete</strong>n Arbeitsverträge nach Hochrechnungen auf der<br />
Basis des IAB-Betriebspanels von etwa 1,7 auf 2,7 Millionen zwischen 2001 <strong>und</strong> 2011. Damit<br />
liegt der Anteil derzeit bei 9,5 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse,<br />
während er 2001 bei 6,1 Prozent lag, wie Christian Hohendanner vom Institut<br />
für Arbeitsmarkt- <strong>und</strong> Berufsforschung (IAB) Anfang 2012 darlegte. In seinem Aufsatz „Befristete<br />
Arbeitsverhältnisse – Auch Mann trägt kurz“ für das IAB-Forum 1/2012 kam er zu<br />
dem Ergebnis, dass bei Abschluss eines neuen Arbeitsvertrages „mittlerweile fast jeder<br />
zweite Beschäftigte befristet eingestellt“ werde. Dabei seien „Frauen insgesamt häufiger<br />
befristet beschäftigt als Männer“, stünden aber nicht systematisch schlechter da, da sie<br />
in Branchen <strong>und</strong> Berufen mit besonders häufiger Befristung überproportional vertreten seien.<br />
„Generell gilt: Befristete Arbeitsverträge haben auch im Jahr 2011 weiter zugenommen<br />
– sowohl bei Männern als auch bei Frauen“, schreibt Hohendanner, der wissenschaftlicher<br />
Mitarbeiter im Forschungsbereich „Betriebe <strong>und</strong> Beschäftigung“ am IAB ist.<br />
B<strong>und</strong>esarbeitsgericht dereguliert sachgr<strong>und</strong>lose Befristung<br />
2001 schrieb die damalige B<strong>und</strong>esregierung im Teilzeit- <strong>und</strong> Befristungsgesetz (TzBfG)<br />
fest, dass ein Arbeitnehmer nicht ohne Sachgr<strong>und</strong> mehrfach hintereinander bei einem Arbeitgeber<br />
befristet beschäftigt werden konnte. Allerdings kann bis zur Höchstdauer von<br />
zwei Jahren der sachgr<strong>und</strong>los <strong>befristete</strong> Vertrag dreimal verlängert werden (§ 14 Abs. 2<br />
TzBfG). Eine solche Befristung ist nur möglich, wenn mit demselben Arbeitgeber nicht<br />
vorher schon ein <strong>befristete</strong>s oder un<strong>befristete</strong>s Arbeitsverhältnis bestanden hat – so die<br />
gesetzliche Regelung. Mit dieser Regelung sollten Befristungsketten ohne Sachgr<strong>und</strong><br />
verhindert werden. Das hat das BAG inzwischen geändert. Im April 2011 hat der 7. Senat<br />
des B<strong>und</strong>esarbeitsgerichts entschieden, dass in Zukunft ein Arbeitsvertrag auch dann<br />
ohne Sachgr<strong>und</strong> befristet abgeschlossen werden kann, wenn bereits vorher ein Vertrag<br />
mit dem gleichen Arbeitgeber bestanden hat (BAG v. 6.4.2011 – Az. 7 AZR 716/09, Vorinstanz<br />
Sächsisches LAG v. 15.9.2009 – Az. 7 Sa 13/09). Voraussetzung soll lediglich sein,<br />
dass zwischen dem früheren <strong>und</strong> dem neuen sachgr<strong>und</strong>los <strong>befristete</strong>n Vertrag ein Zeitraum<br />
von mindestens drei Jahren verstrichen ist.<br />
Neben dieser gr<strong>und</strong>sätzlichen Regelung zur sachgr<strong>und</strong>losen Befristung dürfen nach<br />
der Gründung eines Unternehmens ohne Sachgr<strong>und</strong> sogar bis zu vier Jahre <strong>befristete</strong><br />
Arbeitsverträge abgeschlossen werden.<br />
8 Kündigungsschutz <strong>und</strong> <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse 9
(2a) In den ersten vier Jahren nach der Gründung<br />
eines Unternehmens ist die kalendermäßige Befristung<br />
eines Arbeitsvertrages ohne Vorliegen eines<br />
sachlichen Gr<strong>und</strong>es bis zur Dauer von vier Jahren zulässig;<br />
bis zu dieser Gesamtdauer von vier Jahren<br />
ist auch die mehrfache Verlängerung eines kalendermäßig<br />
<strong>befristete</strong>n Arbeitsvertrages zulässig. Dies<br />
gilt nicht für Neugründungen im Zusammenhang mit<br />
der rechtlichen Umstrukturierung von Unternehmen<br />
<strong>und</strong> Konzernen. Maßgebend für den Zeitpunkt der<br />
Gründung des Unternehmens ist die Aufnahme<br />
einer Erwerbstätigkeit, die nach § 138 der Abgabenordnung<br />
der Gemeinde oder dem Finanzamt mitzuteilen<br />
ist. Auf die Befristung eines Arbeitsvertrages<br />
nach Satz 1 findet Absatz 2 Satz 2 bis 4 entsprechende<br />
Anwendung.<br />
(3) Die kalendermäßige Befristung eines Arbeitsvertrages<br />
ohne Vorliegen eines sachlichen Gr<strong>und</strong>es ist<br />
bis zu einer Dauer von fünf Jahren zulässig, wenn<br />
der Arbeitnehmer bei Beginn des <strong>befristete</strong>n Arbeitsverhältnisses<br />
das 52. Lebensjahr vollendet hat <strong>und</strong><br />
unmittelbar vor Beginn des <strong>befristete</strong>n Arbeitsverhältnisses<br />
mindestens vier Monate beschäftigungslos<br />
im Sinne des § 119 Abs. 1 Nr. 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch<br />
gewesen ist, Transferkurzarbeitergeld<br />
bezogen an einer öffentlich geförderten Beschäftigungsmaßnahme<br />
nach dem Zweiten oder Dritten<br />
Buch Sozialgesetzbuch teilgenommen hat. Bis zu der<br />
Gesamtdauer von fünf Jahren ist auch die mehrfache<br />
Verlängerung des Arbeitsvertrages zulässig.<br />
(4) Die Befristung eines Arbeitsvertrages bedarf<br />
zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform.<br />
Und auf fünf Jahre kann die sachgr<strong>und</strong>lose Befristung bei Arbeitnehmern ausgedehnt<br />
werden, die bei Beginn ihrer Tätigkeit 52 Jahre alt sind <strong>und</strong> zuvor mindestens vier Monate<br />
arbeitslos waren. Allerdings ergab die Auswertung einer Befragung des IAB-Betriebspanels,<br />
dass Befristungen mit Sachgr<strong>und</strong> häufiger sind. In den westlichen B<strong>und</strong>esländern<br />
wurden 48,6 Prozent auf der Basis eines sachlichen Gr<strong>und</strong>es abgeschlossen, 44,3 Prozent<br />
ohne Sachgr<strong>und</strong> <strong>und</strong> 7,3 Prozent aufgr<strong>und</strong> einer öffentlichen Förderung. In Ostdeutschland<br />
lag der Anteil der Befristungen mit Sachgr<strong>und</strong> bei 44,7 Prozent. Eine öffentliche<br />
Förderung war Gr<strong>und</strong> für 36,2 Prozent der Befristungen, während nur 18,9 Prozent sachgr<strong>und</strong>los<br />
befristet angestellt waren.<br />
Missbrauch von mehrfachen Befristungen zulässig<br />
Und auch bei Befristungen mit Sachgr<strong>und</strong> ist Missbrauch nicht ausgeschlossen: einen<br />
traurigen Rekord hält eine Justizangestellte in Nordrhein-Westfalen. Innerhalb von elf Jahren<br />
wurde ihr <strong>befristete</strong>r Arbeitsvertrag 13-mal verlängert. Als ihr 2007 keine weitere<br />
Verlängerung angeboten wurde, zog die Frau vor Gericht. Anfang 2012 entschied schließlich<br />
in dieser Angelegenheit der Europäische Gerichtshof, dass die mehrfache Befristung<br />
von Arbeitsverträgen zulässig sei – da jeweils Sachgründe vorlagen – <strong>und</strong> die deutsche Regelung<br />
nicht gegen europäisches Recht verstoße. Es sei jedoch Aufgabe der Gerichte,<br />
darauf zu achten, dass die Befristungsmöglichkeiten nicht ausgenutzt würden. Gebe es<br />
dauerhaft einen Mehrbedarf an Arbeitskräften, bedeute die weitere Einstellung von <strong>befristete</strong>n<br />
Beschäftigten einen Missbrauch (EuGH, 26.1.2012, Az.: C-586/10).<br />
Nach dieser Entscheidung des EuGHs ist die Rechtslage aber nicht klarer geworden. Das<br />
BAG hat am 18.7.2012 sowohl in dem vom EuGH anhängigen Verfahren als auch in einem<br />
weiteren Verfahren, in dem es ebenfalls um mehrere <strong>befristete</strong> Verträge zur Vertretung<br />
ging (7 AZR 443/09 <strong>und</strong> 7 AZR 783/10) unterschiedlich entschieden.<br />
In dem ersten Verfahren (das vorab dem EuGH vorgelegt worden war) hat das BAG die Sache<br />
an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen, da es bei dreizehn Befristungen innerhalb<br />
von elfeinhalb Jahren aufgr<strong>und</strong> der Anzahl <strong>und</strong> Dauer der <strong>befristete</strong>n Arbeitsverträge einen<br />
möglichen Missbrauch gesehen hat. Der Beklagte sollte aber die Gelegenheit bekommen,<br />
besondere Umstände vorzutragen, die der Annahme des Missbrauchs entgegenstehen.<br />
Auch vier <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse hintereinander werden legalisiert<br />
Im zweiten Verfahren sah das BAG bei einer Gesamtdauer von fast acht Jahren <strong>und</strong> vier<br />
<strong>befristete</strong>n Arbeitsverhältnissen keinen Anhaltspunkt für Missbrauch. Es ist also nicht davon<br />
auszugehen, dass sich an der gr<strong>und</strong>sätzlichen Haltung des BAG etwas ändern wird,<br />
nur den letzten <strong>befristete</strong>n Vertrag zu überprüfen <strong>und</strong> nur in äußersten Extremfällen (Gesamtbefristungsdauer<br />
mehr als zehn Jahre <strong>und</strong> mehr als zehn <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse<br />
etwa als Grenze) einen Missbrauch anzunehmen. Aber selbst in den Fällen, in denen<br />
ein Missbrauch indiziert ist, soll dem Arbeitgeber die Möglichkeit eingeräumt werden zu<br />
begründen, warum tatsächlich kein Missbrauch vorliegt. Generell werde durch die Ausweitung<br />
<strong>befristete</strong>r Arbeitsverhältnisse der Kündigungsschutz „in unangemessener Art<br />
<strong>und</strong> Weise umgangen“, befürchtet Dr. Nadine Zeibig, Leiterin des Referats Arbeits- <strong>und</strong><br />
Sozialrecht beim Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-<br />
Stiftung. „Der Intention des Gesetzgebers werden die Regelungen der sachgr<strong>und</strong>losen<br />
Befristung nicht gerecht. Sie führen nicht zu mehr Beschäftigung, sondern sie ersetzen un<strong>befristete</strong><br />
Beschäftigung, sie integrieren auch nicht die benachteiligten Beschäftigtengruppen<br />
in den ersten Arbeitsmarkt“, führt die Arbeitsrechtsexpertin weiter aus.<br />
Außerdem verweist sie auf weitergehende negative Folgen für die von Befristungen Betroffenen:<br />
„Sie beeinträchtigen die Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> die Lebensqualität der Beschäftigten;<br />
sie entziehen jegliche Lebensplanung, führen zu prekärer, existenzbedrohender Beschäftigung<br />
<strong>und</strong> sind aus Sicht der Beschäftigten nicht erwünscht.“ Tatsächlich erhöht <strong>befristete</strong><br />
Beschäftigung das Risiko, arbeitslos zu werden. Zwischen 10 <strong>und</strong> 15 Prozent der befristet<br />
Beschäftigten stehen ein Jahr später ohne Arbeit da bzw. sind nicht erwerbstätig. In<br />
der Gruppe der unbefristet Beschäftigten liegt dieser Anteil nur bei fünf Prozent. Dies<br />
belegt eine Studie des ZEW aus dem Jahr 2006. Der <strong>DGB</strong> fordert deshalb seit langem die<br />
Abschaffung von sachgr<strong>und</strong>losen Befristungen.<br />
Strenger Kündigungsschutz ist kein Risiko für Unternehmen<br />
Vielfach wird als Begründung für die erhebliche Zunahme der <strong>befristete</strong>n Arbeitsverhältnisse<br />
darauf verwiesen, dass wegen des strengen Kündigungsschutzes die Einstellung gerade<br />
für kleinere Unternehmen zu einem unkalkulierbaren Risiko werde. Deshalb stelle<br />
man nur noch befristet ein. Da aber in Betrieben mit bis zu zehn Beschäftigten, bei denen<br />
das Kündigungsschutzgesetz keine Anwendung findet, die Zahl der befristet Beschäftigten<br />
nicht signifikant niedriger ist, als in denen mit einer Beschäftigtenzahl knapp über zehn<br />
kann dieses Argument nicht überzeugen. Und: bei nur zehn Prozent Klagen gegen eine<br />
Kündigung <strong>und</strong> nur zehn Prozent Abfindungszahlungen bei Kündigungen (einschließlich<br />
solcher auf Gr<strong>und</strong> eines Sozialplanes!) stellen Kündigungen ein durchaus kalkulierbares<br />
Risiko dar. Im Übrigen werden auch in vielen Großbetrieben mit eigenen (Arbeits-) Rechtsabteilungen<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich Arbeitsverhältnisse erst einmal befristet.<br />
Fakt ist: Arbeitgeber bevorzugen deshalb <strong>befristete</strong> Beschäftigung, weil ohne Bestandsschutz<br />
für die Betroffenen die konkreten Arbeitsbedingungen zweitrangig sind. Wegen der<br />
Hoffnung auf eine Festanstellung ist es dem Arbeitgeber ein leichtes, Bezahlung, Arbeitszeit,<br />
Urlaub <strong>und</strong> alle weiteren Beschäftigungsbedingungen zu seinem Vorteil zu diktieren.<br />
Bemerkenswert dabei ist, dass die gesetzlichen Regelungen zu <strong>befristete</strong>n Arbeitsverhältnissen<br />
auf der europäischen Befristungsrichtlinie beruhen. Diese Richtlinie ist beschlossen<br />
worden, um zu verhindern, dass mit <strong>befristete</strong>r Beschäftigung der Bestandsschutz umgangen<br />
<strong>und</strong> das un<strong>befristete</strong> Beschäftigungsverhältnis ausgehöhlt wird. Angesichts der<br />
Praxis in vielen Unternehmen hat der deutsche Gesetzgeber dieses Ziel weit verfehlt.<br />
10 Kündigungsschutz <strong>und</strong> <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse 11
Befristete ARbeit<br />
– erfahrungsberichte <strong>und</strong> Interviews<br />
aus Deutschland<br />
12 Kündigungsschutz <strong>und</strong> <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse 13
Hochqualifiziert, motiviert –<br />
befristet beschäftigt<br />
Promovierter Historiker,<br />
privates wissenschaftliches<br />
Forschungsinstitut,<br />
Brandenburg<br />
Michael W. (Name geändert) ist promovierter Historiker <strong>und</strong> arbeitet an einem privaten<br />
wissenschaftlichen Forschungsinstitut in Brandenburg. Seine Arbeit füllt ihn vollständig<br />
aus, <strong>und</strong> er sagt: „Ich würde nichts anderes arbeiten wollen, mir gefallen die Themen,<br />
auch weil ich jetzt die Formen erforsche, in denen ich früher selbst studiert <strong>und</strong> gearbeitet<br />
habe. Jedes Partygespräch mit Wissenschaftlern wird zur Feldforschung.“ Doch es<br />
gibt einen nicht ganz kleinen Wermutstropfen, der W. die Arbeit zeitweise vergällt: Seine<br />
Stelle ist projektbezogen, mit dem Ende des Projekts endet auch sein Beschäftigungsverhältnis.<br />
dieser ominösen Mitte. Ich möchte kein schlechtes Leben haben <strong>und</strong> noch über Handlungsoptionen<br />
verfügen, egal ob ich nun in der Mitte oder am Rand lebe. Dass dies am<br />
Rand kaum möglich ist, ist der Skandal. Das muss sich ändern.“<br />
Die Fallgeschichte ist eine Zusammenfassung eines längeren Interviews mit Michael W.,<br />
das am 29. August 2012 in der Tageszeitung im Rahmen der Serie „(Über)Leben in Berlin“<br />
erschienen ist.<br />
Und damit gehört der 41-Jährige zu einer wachsenden Gruppe. Immer mehr Geisteswissenschaftler/innen<br />
finden nach ihrem Studienabschluss zunächst keine Festanstellung. Nach<br />
einer Studie des Hochschul-Informations-System (HIS) sind davon derzeit etwa 78 Prozent<br />
betroffen. In einem <strong>befristete</strong>n wissenschaftlichen Projekt zu arbeiten, wie Michael W.<br />
es tut, gehört für viele zu den obligatorischen Beschäftigungsformen. An staatlichen<br />
Hochschulen sind sachgr<strong>und</strong>lose Befristungen aufgr<strong>und</strong> einer eigenständigen gesetzlichen<br />
Vorschrift (Wissenschaftszeitvertragsgesetz) die Regel. Der Historiker empfindet sich sogar<br />
als privilegiert, denn sein zunächst auf drei Jahre <strong>befristete</strong>s Projekt wurde 2010 um<br />
dieselbe Zeitspanne verlängert. „Im Vergleich zu anderen sind wir mit unserer Laufzeit<br />
sogar noch sehr gut dran, denn es gibt durchaus Projekte, die nur ein paar Monate laufen.<br />
Eine un<strong>befristete</strong> Stelle kann es unter den derzeitigen Umständen bei uns nicht geben.<br />
Im besten Fall kommt nach meinem jetzigen Projekt ein neues Projekt, meine Kollegen<br />
<strong>und</strong> ich arbeiten daran.“<br />
„Ich kämpfe seit Jahren für Verbesserungen im Wissenschaftsbereich“<br />
Obwohl er weiß, dass er besser gestellt ist als so manch anderer Wissenschaftskollege,<br />
ist Michael W. mit seinem Beschäftigungsstatus nicht zufrieden. „Dass mein Vertrag befristet<br />
ist, belastet mich. Un<strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse sind im Wissenschaftsbetrieb<br />
selten geworden, sie sind außerhalb der Professur eigentlich gar nicht vorgesehen.“ Der<br />
Wissenschaftler schaut weit über den Tellerrand seiner eigenen Situation hinaus <strong>und</strong><br />
kritisiert den vorherrschenden Trend, Lehre <strong>und</strong> Forschung zunehmend in <strong>befristete</strong> Beschäftigungsverhältnisse<br />
zu verlagern. Michael W. versucht, aktiv etwas zu verändern:<br />
„Ich engagiere mich in der Gewerkschaft <strong>und</strong> kämpfe seit Jahren auf verschiedenen Ebenen<br />
für Verbesserungen im Wissenschaftsbereich. Was hier allerdings das Streiken angeht:<br />
Wissenschaftler könnten Monate streiken, niemand würde es merken. Andererseits<br />
sind es in meinem engeren Umfeld überraschend viele, die sich in der Gewerkschaft engagieren.<br />
Wenn wir diesen Organisationsgrad überall im Hochschul- <strong>und</strong> Wissenschaftsbereich<br />
hätten, wäre mehr möglich.“<br />
Seine eigene soziale Position schätzt Michael W. realistisch ein: „Prekär beschäftigte<br />
Mittelschicht mit realer Abstiegsoption.“ Laufe es gut für ihn, könne er aufsteigen <strong>und</strong><br />
„in der Mitte der Gesellschaft“ ankommen. „Wenn nicht, dann ist das nicht so gut, für<br />
mich oder auch für die Gesellschaft, das wird sich herausstellen. Ich hänge aber nicht an<br />
14 Kündigungsschutz <strong>und</strong> <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse 15
Ständiger Druck <strong>und</strong><br />
keinerlei Sicherheit<br />
Postzusteller,<br />
Deutsche Post ag,<br />
Berlin<br />
Robert F. (Name geändert) gehört zu den Menschen, die eher das Gute als das Negative<br />
an einer Situation sehen. Und so konnte der junge Berliner seinem Job als Postzusteller eine<br />
Menge abgewinnen. Doch allmählich vergehen ihm Freude <strong>und</strong> Engagement.<br />
fest oder befristet eingestellt – eine Prämie von etwa 400 Euro erhalten, weil der Gewinn<br />
so gut ausgefallen war.“ Kurz danach verkündete das Unternehmen einen Einstellungsstopp.<br />
„Demnächst werde ich meinen dreißigsten <strong>befristete</strong>n Vertrag unterschreiben – <strong>und</strong> das<br />
innerhalb von drei Jahren“, berichtet er. Zwischen einem <strong>und</strong> sechs Monaten beträgt die<br />
Laufzeit – <strong>und</strong> da gilt es, nicht unangenehm aufzufallen. „Sonst kommt sofort die Drohung<br />
mit dem Ende der Tätigkeit.“ Robert F. wurde so „bestraft“, nachdem er den ihm<br />
zustehenden Urlaub nehmen wollte. Er erhielt erst einen Monat später einen neuen Vertrag,<br />
wodurch ihm nicht nur die reguläre Bezahlung während des Urlaubs, sondern auch<br />
das tarifvertraglich gesicherte Urlaubsgeld <strong>und</strong> das 13. Monatsgehalt für dieses Jahr<br />
entgingen.<br />
Robert F. hat inzwischen genug von unberechenbaren Vorgesetzten, ständigem Druck<br />
<strong>und</strong> fehlender Zukunftsperspektive. „Ich arbeite nach wie vor gerne in der Zustellung, schlechtes<br />
Wetter macht mir nichts aus, aber ohne Wertschätzung <strong>und</strong> ein gewisses Maß<br />
an Sicherheit geht es nicht.“ Deshalb hat sich der Berliner inzwischen entschlossen, demnächst<br />
seine Sachen zu packen <strong>und</strong> ins Ausland zu gehen.<br />
„Es wird enorm viel Druck auf die befristet Eingestellten ausgeübt“, berichtet der 28-Jährige.<br />
Bei Bedarf sollen sie auf freie Tage verzichten, Mehrarbeit in nicht besetzten Zustellbezirken<br />
mit erledigen <strong>und</strong> gegebenenfalls den Urlaub abbrechen. Dass viele der <strong>befristete</strong>n<br />
Beschäftigten sich Hoffnung auf Übernahme in den Postdienst machen, wissen die<br />
Vorgesetzten zu nutzen. Tatsächlich gibt es jedoch so gut wie keine Festeinstellungen<br />
in diesem Bereich.<br />
„Planen ist unmöglich, wir sollen jederzeit abrufbar sein“<br />
Selbstverständlich verdient Robert F. deutlich weniger als altgediente Postler. „Das geht<br />
auch in Ordnung. Nur dass ich nach dem nicht gegebenen Urlaub im neuen Vertrag auch<br />
gleich auf das niedrigste Gehalt zurückgestuft wurde, regt mich dann doch auf.“ Ebenso<br />
unbefriedigend ist für ihn, praktisch nie zu wissen, welcher Zustellbezirk ihm zugeteilt wird<br />
<strong>und</strong> wie in der Folgewoche die Einsatzzeiten sind. „Planen ist fast unmöglich, weil wir<br />
praktisch jederzeit abrufbereit sein sollen. Wer sich dem widersetzt, bekommt verstärkt<br />
Druck zu spüren <strong>und</strong> die Drohung, dass der laufende Vertrag der letzte sein könnte.“<br />
Interessant ist auch der Trick, mit dessen Hilfe die Post <strong>befristete</strong> Verträge fortlaufend<br />
verlängert: Da das Teilzeit- <strong>und</strong> Befristungsgesetz diese Möglichkeit nur vorsieht, wenn ein<br />
„Sachgr<strong>und</strong>“ vorliegt, werden solche Gründe konstruiert. „In jedem Vertrag steht der<br />
Name eines Beschäftigten, den ich angeblich vertreten muss“, erzählt Robert F. Ob diese<br />
Beschäftigten tatsächlich existieren, weiß keiner der Betroffenen. Stutzig wurde eine<br />
befristet Eingestellte, als sie einen Vertrag unterschrieb, in dem ihr eigener Name als zu<br />
vertretende Stammkraft eingesetzt war.<br />
Jeden Tag bleibe Post liegen, weil die Zusteller nicht noch mehr Briefe ausliefern könnten.<br />
„Es ist offensichtlich, dass es an Personal fehlt <strong>und</strong> längst Neueinstellungen fällig<br />
wären.“ Doch das schenkt sich das ehemals b<strong>und</strong>eseigene Unternehmen, hält die Personalkosten<br />
dank der schlechter bezahlten <strong>befristete</strong>n Kräfte niedrig <strong>und</strong> fährt im Gegenzug<br />
gute Gewinne ein. „Immerhin hat Anfang des Jahres jeder Beschäftigte – egal ob<br />
16 Kündigungsschutz <strong>und</strong> <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse 17
20 Befristungen in<br />
27 Jahren<br />
Gymnasiallehrerin,<br />
latein <strong>und</strong> französisch,<br />
Oberpfalz<br />
Es klingt rekordverdächtig, doch auch wenn Sabine W. (Name geändert) tatsächlich<br />
einen „Spitzenplatz“ bei der Zahl ihrer <strong>befristete</strong>n Verträge einnehmen sollte, könnte sie<br />
auf einen solchen Rekord gut verzichten. Zwischen 1985 <strong>und</strong> 2009 arbeitete die Gymnasiallehrerin<br />
für Latein <strong>und</strong> Französisch an verschiedenen Schulen in der nördlichen Oberpfalz<br />
– mit nicht weniger als 20 Verträgen!<br />
„Darunter waren Jahresverträge, aber auch auf drei oder sechs Monate <strong>befristete</strong> Beschäftigungsverhältnisse,<br />
manche mit, die meisten ohne Sachgr<strong>und</strong>“, berichtet die 56-Jährige,<br />
die inzwischen – unfreiwillig – aus dem Schuldienst ausgeschieden ist <strong>und</strong> stattdessen<br />
seit zwei Jahren in einer Nachmittagsbetreuung für Kinder arbeitet.<br />
ihr ganz offen gesagt, sie werde in der Region keine Lehrerstelle mehr bekommen. Der<br />
Schulleiter des Gymnasiums, an dem sie zuletzt unterrichtet hatte, habe sich dafür stark<br />
gemacht.<br />
„Lange Zeit habe ich unter starkem psychischen Druck gestanden. Erst die Befristungen,<br />
die Ungewissheit, ob es nach dem Ende eines Vertrages weitergeht. Und später die unerfreuliche<br />
Situation mit dem Schulleiter bis hin zu dem verkappten Berufsverbot.“ Inzwischen<br />
hat Sabine W. sich stabilisiert. Sie würde immer noch gerne als Lehrerin arbeiten,<br />
doch den dafür erforderlichen Umzug in eine andere Region oder am besten in ein anderes<br />
B<strong>und</strong>esland erwägt sie mit Rücksicht auf ihre Familie nicht.<br />
1985 begann Sabine W. ihre Lehrerinnenlaufbahn mit einem ersten <strong>befristete</strong>n Vertrag.<br />
Den zweiten Vertrag dieser Art brach sie nach ein paar Monaten ab, weil sie eine ABM-Stelle<br />
an einer Fachhochschule bekam. In den folgenden Jahren ging es dann weiter mit<br />
der <strong>befristete</strong>n Arbeit an verschiedenen Gymnasien in ihrer Heimatstadt. Dabei wurde ihr<br />
Vertrag in einem Fall nach der vierten Verlängerung beendet, da sie nach damals geltendem<br />
Recht sonst Anspruch auf eine Dauerbeschäftigung gehabt hätte.<br />
Nach einer Phase der Arbeitslosigkeit ging es weiter mit den Verträgen auf Zeit.<br />
Gemobbt auf gr<strong>und</strong> einer Klage<br />
Und obwohl an bayerischen Schulen seit langem Mangel an Lateinlehrer/innen besteht,<br />
waren ihre Chancen auf eine Festanstellung gleichbleibend schlecht. Der Gr<strong>und</strong>? „Ich habe<br />
in Tübingen studiert <strong>und</strong> dort meinen Abschluss gemacht, so dass ich in Bayern quasi<br />
als ‚Ausländerin’ gelte, die sich immer wieder neu bewerben muss. Und in den Auswahlverfahren<br />
wird Absolventen bayerischer Universitäten durchgehend der Vorzug gegeben.“<br />
An dem Gymnasium, das sie von 2003 bis 2009 durchgehend befristet beschäftigt, kam<br />
es schließlich zum Eklat: Sabine W., die aktive Gewerkschafterin ist, klagte wegen der Kettenbefristungen<br />
– <strong>und</strong> wurde fortan vom Schulleiter gemobbt. „Selbstverständlich hat<br />
er die Klage nicht erwähnt, aber der zeitliche Zusammenhang war unübersehbar.“ Und<br />
Sabine W. verlor ihren Rechtsstreit, da ihre <strong>befristete</strong>n Verträge jeweils einen Sachgr<strong>und</strong><br />
hatten. Das heißt, sie vertrat andere Kollegen/innen, die krank oder im Mutterschutz<br />
waren.<br />
„Lange Zeit habe ich unter starkem psychischen Druck gestanden“<br />
Nach der verlorenen Klage erhielt sie keinen neuen Vertrag mehr an der Schule. Und,<br />
schlimmer noch, sie fand auch keine neue Stelle. „Ich habe mich an vielen Gymnasien<br />
im näheren <strong>und</strong> weiteren Umkreis beworben. Doch obwohl mir einige Male Interesse<br />
an einer Anstellung signalisiert wurde, scheiterte der Vertragsabschluss an der zuständigen<br />
Bezirksregierung.“ Als Sabine W. schließlich dort das Gespräch suchte, wurde<br />
18 Kündigungsschutz <strong>und</strong> <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse 19
„Sachgr<strong>und</strong>lose Befristung<br />
streichen“<br />
Klagen gegen Kettenbefristungen<br />
ohne Sachgr<strong>und</strong><br />
Karl-Friedrich Sude,<br />
Betriebsratsvorsitzender<br />
bei der Deutschen Post AG,<br />
Niederlassung Brief Kassel,<br />
im Interview<br />
Wer früher für die Deutsche B<strong>und</strong>espost Briefe <strong>und</strong> Päckchen zustellte, musste zwar<br />
früh aufstehen <strong>und</strong> bei jedem Wetter raus. Doch der Arbeitsplatz war sicher, das Entgelt<br />
anständig, <strong>und</strong> der Feierabend begann am frühen Nachmittag. All das ist längst Geschichte.<br />
Das Privatunternehmen Deutsche Post AG knappst beim Personal <strong>und</strong> setzt verstärkt<br />
auf <strong>befristete</strong> Beschäftigungsverhältnisse, wie Karl-Friedrich Sude, Betriebsratsvorsitzender<br />
in der Kasseler Niederlassung Brief, im Interview berichtet.<br />
Wie hoch ist in Ihrem Zuständigkeitsbereich die Anzahl der befristet Beschäftigten?<br />
Karl-Friedrich Sude: Zurzeit arbeiten in unserer Niederlassung r<strong>und</strong> 3.000 Menschen.<br />
Davon sind ungefähr 400 befristet beschäftigt. Mehr als 15 Prozent beträgt der Anteil bei<br />
der Postverteilung in den Verteilzentren, mehr als 10 Prozent im Bereich der Zustellung.<br />
Inzwischen ist jede Neueinstellung befristet. Lediglich die „geeigneten“ Auszubildenden<br />
wurden in den letzten Jahren dauerhaft übernommen.<br />
Gibt es bei Ihnen vorwiegend Befristungen mit oder ohne Sachgr<strong>und</strong>?<br />
Sude: Genau das hat sich geändert. In der Vergangenheit hatten wir viele Beschäftigte,<br />
die über Jahre hinweg einen <strong>befristete</strong>n Vertrag nach dem nächsten erhielten, zwar jeweils<br />
mit einem Sachgr<strong>und</strong>, der aber zumeist fingiert war. 2007 <strong>und</strong> 2008 haben wir als Betriebsrat<br />
verstärkt Druck gemacht, dass die Verträge dieser Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen entfristet<br />
werden sollten. Das verweigerte der Arbeitgeber <strong>und</strong> wollte alle Verträge auslaufen<br />
lassen. Die Betroffenen, die Mitglied der Gewerkschaft ver.di waren, haben dann den<br />
Klageweg beschritten. Für mehr als 90 Prozent stand am Ende ein un<strong>befristete</strong>r Vertrag.<br />
Seitdem ist es aber gängige Praxis in unserer Niederlassung, <strong>befristete</strong> Verträge in der Regel<br />
nur noch ohne Sachgr<strong>und</strong> abzuschließen, die dann mit bis zu vier Einzelverträgen für<br />
zwei Jahre laufen.<br />
Beschäftigter in der<br />
Automobilindustrie,<br />
Ruhrgebiet<br />
Martin B. (Name geändert) <strong>und</strong> Enver C. haben lange Zeit bei einem Automobilzulieferer<br />
im Ruhrgebiet gearbeitet – mit <strong>befristete</strong>n Arbeitsverträgen, die mehrfach verlängert wurden.<br />
„Ich hatte immer die Hoffnung, dauerhaft übernommen zu werden“, sagt Martin B.<br />
Nachdem er bereits von 1998 bis 2004 bei der Firma gewesen war, bekam er dort im<br />
Frühjahr 2011 wiederum einen <strong>befristete</strong>n Vertrag, der zweimal verlängert wurde. „Ende<br />
September hieß es dann jedoch, dass nun Schluss sei. Ich denke aber, ich hätte Anspruch<br />
auf Übernahme in ein un<strong>befristete</strong>s Arbeitsverhältnis.“<br />
Ganz ähnlich geht es Enver C. Erstmals arbeitete er von 1995 bis 1997 befristet für den<br />
Automobilzulieferer; 2011 erhielt er einen neuen Vertrag, der ebenfalls zweimal verlängert<br />
wurde. „Da ich insgesamt mehr als 24 Monate für die Firma gearbeitet habe <strong>und</strong> für die<br />
Befristungen kein Sachgr<strong>und</strong> vorlag, hätte man mich dauerhaft übernehmen müssen.“<br />
Mit Unterstützung der IG Metall <strong>und</strong> vertreten durch den <strong>DGB</strong>-Rechtsschutz klagen beide<br />
Männer nun vor dem Arbeitsgericht auf Übernahme in ein un<strong>befristete</strong>s Arbeitsverhältnis.<br />
Die Gütetermine in beiden Fällen gingen Ende November 2012 ohne Einigung aus,<br />
der Arbeitgeber argumentierte dabei mit der schlechten Wirtschaftslage <strong>und</strong> Produktionsrückgängen,<br />
die einer Festanstellung entgegenstünden. Damit ist aber nichts über den<br />
möglichen Rechtsanspruch der beiden Männer auf dauerhafte Übernahme gesagt. Da sie<br />
<strong>befristete</strong> Verträge erhielten, ohne dass ein Sachgr<strong>und</strong> für die Befristung genannt wurde<br />
<strong>und</strong> außerdem bereits vorher ein Arbeitsvertrag mit dem gleichen Arbeitgeber bestand, war<br />
nach dem Wortlaut von § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG die erneute Befristung unwirksam <strong>und</strong> es<br />
könnte durchaus eine un<strong>befristete</strong> Anstellung entstanden sein. Darüber wird das angerufene<br />
Arbeitsgericht nun im Lauf des Jahres 2013 zu entscheiden haben.<br />
Wie groß sind die Chancen für die befristet Beschäftigten, nach zwei Jahren dauerhaft<br />
übernommen zu werden?<br />
Sude: In den letzten beiden Jahren hatten wir eine hohe Übernahmequote, für dieses<br />
Jahr sieht es nicht gut aus. Generell zeigt sich aber, dass in unserer Niederlassung mit der<br />
gesetzlichen Regelung zu den sachgr<strong>und</strong>losen Befristungen keine dauerhaften Arbeitsplätze<br />
geschaffen werden. Stattdessen nutzt der Arbeitgeber die ungesicherte Situation<br />
der befristet Beschäftigten aus, um von ihnen Mehrarbeit <strong>und</strong> Unterordnung zu erzwingen.<br />
Und wir als Betriebsrat haben auch nur eine eingeschränkte Handhabe gegen die Missstände<br />
im Zusammenhang mit den Befristungen. Deshalb setze ich mich für die ersatzlose<br />
Streichung der sachgr<strong>und</strong>losen Befristungsmöglichkeit ein!<br />
20 Kündigungsschutz <strong>und</strong> <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse 21
„Befristungen endlich<br />
reduzieren“<br />
Siemens-Betriebsrat<br />
Olaf Bolduan im Interview<br />
Auch dort, wo vor einigen Jahren das dauerhafte Beschäftigungsverhältnis in Vollzeit<br />
obligatorisch war, haben sich die Bedingungen längst geändert: im produzierenden Gewerbe.<br />
Im Berliner Dynamowerk des Siemens-Konzerns arbeiten derzeit r<strong>und</strong> 800 Beschäftigte,<br />
knapp zehn Prozent von ihnen mit <strong>befristete</strong>n Verträgen.<br />
Warum sich die Einstellungspraxis geändert hat <strong>und</strong> welche politischen Gegenstrategien<br />
nötig wären, erläutert im Interview Olaf Bolduan, Betriebsratsvorsitzender im Berliner<br />
Siemens-Dynamowerk <strong>und</strong> GBR-Mitglied in der Siemens AG.<br />
Was müsste aus Ihrer Sicht politisch getan werden, um der Ausweitung prekärer<br />
Arbeitsverhältnisse gegenzusteuern?<br />
Bolduan: Wir brauchen endlich einen gesetzlichen Mindestlohn, Leiharbeit muss begrenzt<br />
werden, <strong>und</strong> die sachgr<strong>und</strong>lose Befristung sollte gesetzlich ausgeschlossen werden.<br />
Damit wären wichtige Voraussetzungen gegeben, um endlich zu mehr un<strong>befristete</strong>n<br />
Einstellungen <strong>und</strong> zu einem Ende des Lohndumpings zu kommen.<br />
Seit wann werden in Ihrem Werk verstärkt Beschäftigte mit <strong>befristete</strong>n Verträgen<br />
eingestellt?<br />
Olaf Bolduan: Seit der letzten Änderung des Teilzeit- <strong>und</strong> Befristungsgesetzes hat diese<br />
Praxis deutlich zugenommen. In den zurückliegenden zwei bis drei Jahren sind bei uns<br />
praktisch nur noch <strong>befristete</strong> Anstellungsverträge zustande gekommen. Ausnahmen<br />
werden allein bei manchen Spezialisten gemacht, die sehr dringend für den Produktionsablauf<br />
benötigt werden. Die Befristungsmöglichkeiten werden voll ausgeschöpft, wobei<br />
bei uns in der Regel Verträge über ein Jahr üblich sind. Diese Entwicklung ist an den<br />
anderen Siemens-Standorten in Deutschland genauso abgelaufen.<br />
Was konnte der Betriebsrat für die befristet Beschäftigten erreichen? Wie sind ihre<br />
Arbeitsbedingungen, wie ihre Chancen auf dauerhafte Übernahme?<br />
Bolduan: Wir haben eine Gesamtbetriebsvereinbarung zur Leiharbeit, wo auch geregelt<br />
ist, dass vorrangig befristet Beschäftigte fest übernommen werden – also noch vor Leiharbeitnehmern.<br />
Die Bezahlung für befristet Beschäftigte ist identisch mit der der Festangestellten. Doch<br />
leben die betroffenen Kollegen in ständiger Ungewissheit, ob sie ihre Arbeit fortsetzen können,<br />
so dass wir als Betriebsrat regelmäßig kontrollieren, wer übernommen werden muss,<br />
weil die Zahl der möglichen Verlängerungen ausgereizt ist. Als Erfolg unserer Arbeit werte<br />
ich die geltende tarifliche Regelung, dass alle Auszubildenden mit un<strong>befristete</strong>n Verträgen<br />
übernommen werden. Allerdings wird diese Vereinbarung gerade von den Personalverantwortlichen<br />
in Frage gestellt – so wie jede absehbare Konjunktur- oder Absatzschwäche<br />
zum Anlass genommen wird, bewährte Regelungen zur Disposition zu stellen.<br />
Für uns bedeutet das einen ständigen Kampf um die Durchsetzung der Tarifverträge.<br />
Auch der Einsatz für die Übernahme der befristet Beschäftigten kostet eine Menge Kraft<br />
<strong>und</strong> bindet Ressourcen, die uns für andere Aufgaben – etwa die künftige Gestaltung<br />
der Arbeit <strong>und</strong> Ausbildung – dann fehlen.<br />
22 Kündigungsschutz <strong>und</strong> <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse 23
Von Vertrag zu Vertrag im<br />
Schuldienst<br />
„Befristungen sind die Regel“<br />
Gesamtschullehrer,<br />
Mathematik <strong>und</strong> Gesellschaftslehre,<br />
Essen<br />
In Deutschland herrscht Lehrermangel. Viele Pädagoginnen <strong>und</strong> Pädagogen stehen unmittelbar<br />
vor dem Ruhestand; der Krankenstand in den oft überalterten Kollegien ist notorisch<br />
hoch. Da sich junge Lehrer/innen nicht einfach „herbeizaubern“ lassen, werden<br />
zunehmend Akademiker/innen ohne pädagogische Ausbildung ermuntert, in den Schuldienst<br />
zu wechseln. Doch wenn sie das dann tun, ergeht es ihnen möglicherweise wie<br />
André H. (Name geändert).<br />
Der studierte Betriebswirt entschied sich vor drei Jahren, als Lehrer zu arbeiten. Er fand<br />
auch eine Stelle an einer Essener Gesamtschule, in der er im Hauptfach Mathematik <strong>und</strong><br />
außerdem Gesellschaftslehre unterrichtet. Die Arbeit mit den Schülern macht ihm große<br />
Freude, aber mit seinem Status kann er sich nicht anfre<strong>und</strong>en. Denn André H. erhält nur<br />
jeweils auf ein halbes Jahr <strong>befristete</strong> Anstellungsverträge. Jedes nahende Vertragsende<br />
verunsichert ihn.<br />
„Die Schulleitung würde mich gerne dauerhaft übernehmen. Doch die für Einstellungen<br />
zuständige Bezirksregierung verwehrt eine Entfristung“, sagt der 31-Jährige. Formale Gründe<br />
werden geltend gemacht, die einer Festanstellung André H.‘s entgegenstünden. Ihm<br />
fehle die pädagogische Qualifikation, außerdem habe er seinen Abschluss als Betriebswirt<br />
an einer Fachhochschule erworben. „Aber ich vertrete ja mit jedem neuen Vertrag festangestellte<br />
Lehrer <strong>und</strong> Lehrerinnen, die eine Planstelle haben <strong>und</strong> fülle ihre Stelle vollwertig<br />
aus“, erklärt der Quereinsteiger. Zudem würde er gerne eine einjährige Zusatzausbildung<br />
in Didaktik absolvieren. „Der Zugang zu dieser Bildungsmaßnahme wird mir aber regelmäßig<br />
verwehrt.“<br />
Iris Santoro,<br />
Betriebsratsvorsitzende<br />
beim Gebäudereinigungsunternehmen<br />
Piepenbrock in<br />
Nürnberg<br />
„In unserer Niederlassung arbeiten r<strong>und</strong> 560 Beschäftigte; 60 Prozent von ihnen mit <strong>befristete</strong>n<br />
Verträgen. In den zurückliegenden fünf Jahren ist der Anteil der befristet Beschäftigten<br />
extrem gestiegen. Und unter der Hand heißt es, dass keiner länger als zwei Jahre<br />
hier arbeiten soll. Für uns als Betriebsräte wird die Lage immer komplizierter, denn das Unternehmen<br />
schert sich herzlich wenig um Mitbestimmungsrechte. Seit zwei Jahren kämpfen<br />
wir darum, unsere Rechte bei Neueinstellungen wahrnehmen zu können. Da der Arbeitgeber<br />
vor dem Arbeitsgericht jedoch jeweils geltend macht, dass der – befristet – neu<br />
Eingestellte freiwillig den Vertrag unterzeichnet habe, hat auch das Gericht keine Handhabe,<br />
auf diesem Weg unser Mitbestimmungsrecht zu stärken. Faktisch wird so aber<br />
das Betriebsverfassungsgesetz ausgehebelt.<br />
Geht die Entwicklung so weiter wie bisher, dann haben wir bald keine unbefristet Angestellten<br />
mehr. Und die Jüngeren kennen inzwischen nur noch <strong>befristete</strong> Anstellungen. Die<br />
kommen nicht so schnell auf die Idee, sich gegen diese <strong>und</strong> andere Formen prekärer Beschäftigungsverhältnisse<br />
zu wehren. Deshalb sollte aus meiner Sicht im Teilzeit- <strong>und</strong> Befristungsgesetz<br />
festgelegt werden, dass maximal ein Viertel einer Belegschaft befristet<br />
beschäftigt sein darf.“<br />
„Ich möchte endlich Sicherheit in der Berufsplanung“<br />
Die Kurzzeitverträge bedeuten für André H. Stress pur. So musste er sich in einem Jahr<br />
nach den Sommerferien fünf Tage arbeitslos melden, weil zwar sein nächster <strong>befristete</strong>r<br />
Vertrag beschlossene Sache war, aber wegen der Krankheit einer Sachbearbeiterin nicht<br />
rechtzeitig zur Unterschrift vorlag. „Ich habe mehrfach die absurde Situation erlebt, dass<br />
ich zum Ende des Halbjahrs offiziell vom Kollegium verabschiedet wurde – mit Blumenstrauß<br />
<strong>und</strong> besten Wünschen, um dann nach den Ferien bei der Lehrerkonferenz als neuer<br />
Kollege vorgestellt zu werden.“ Dabei kennt André H. die anderen Lehrer <strong>und</strong> Lehrerinnen<br />
an der Schule ebenso gut wie sie ihn.<br />
Einen kleinen Erfolg hat er allerdings errungen. Da sein erster <strong>befristete</strong>r Vertrag pünktlich<br />
zu den Sommerferien enden <strong>und</strong> der nächste erst wieder mit Beginn des neuen Schuljahres<br />
starten sollte – in den meisten Ländern gängige Praxis – klagte André H. erfolgreich<br />
auf Anstellung <strong>und</strong> Bezahlung auch während der unterrichtsfreien Zeit. Zumindest<br />
diese die Ferien umfassende Vertragslaufzeit wurde ihm seitdem stets gewährt. Als<br />
Dauerzustand kann <strong>und</strong> mag er die <strong>befristete</strong> Anstellung im Schuldienst allerdings nicht<br />
betrachten. „Ich möchte endlich Sicherheit in meiner Berufsplanung haben, zumal<br />
meine Frau <strong>und</strong> ich gerne Kinder hätten.“ Auf der Basis von Halbjahresverträgen lasse<br />
sich weder eine Familie gründen, noch überhaupt eine Zukunft planen.<br />
24 Kündigungsschutz <strong>und</strong> <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse 25
Die halbe Zeit für dieselben<br />
Aufgaben<br />
Hochschulabschluss schützt<br />
nicht vor Befristung<br />
Reinigungskraft,<br />
Krankenhauseigene Reinigungs-<br />
Firma, Berlin<br />
Krankenzimmer gründlich wischen, Toiletten reinigen, Abfallbehälter entleeren –<br />
Ayse B. (Name geändert) hatte nie ein Problem mit ihrer Arbeit als Reinigungskraft in<br />
einem Berliner Krankenhaus.<br />
„Das Verhältnis zu Ärzten <strong>und</strong> Schwestern war gut, ebenso die Arbeitsbedingungen“,<br />
erzählt die Mittvierzigerin. Doch seit einigen Jahren haben sich die Konditionen radikal<br />
geändert.<br />
Alles fing mit der Gründung einer krankenhauseigenen Reinigungsfirma an. „Das Arbeitspensum<br />
wurde drastisch heraufgesetzt. Hatte jede von uns vorher sechs St<strong>und</strong>en täglich<br />
für das Putzen, sind es heute noch etwa dreieinhalb.“ In dieser Zeit sind dann beispielsweise<br />
16 Patientenzimmer, Flure <strong>und</strong> die Sanitärräume zu schaffen. Machbar sei das nur,<br />
sagt Ayse B., wenn sich jede der Reinigungskräfte auf das Nötigste konzentriert. Zwar<br />
sei es möglich, bezahlte Mehrarbeit zu leisten, doch müssten das jeweils die Vorarbeiterinnen<br />
genehmigen. „Und da gibt es dann Streit <strong>und</strong> Diskussionen um praktisch jede<br />
Minute, die zusätzlich erforderlich ist.“<br />
„Wir stehen unter ständigem Druck“<br />
Die Berlinerin hat 1996 mit der Arbeit als Reinigungskraft begonnen, damals über eine<br />
externe Firma <strong>und</strong> als zunächst befristet Beschäftigte, doch Bezahlung <strong>und</strong> Arbeitszeiten<br />
waren für sie völlig akzeptabel. „Inzwischen ist meine Stelle zwar nicht mehr befristet,<br />
doch die Sorge um den Arbeitsplatz ist eher größer geworden.“ Einer Kollegin sei gekündigt<br />
worden, als sie gerade im Urlaub war – <strong>und</strong> nur dank eines glücklichen Zufalls habe<br />
sie rechtzeitig davon erfahren, so dass sie fristgerecht Kündigungsschutzklage einreichen<br />
konnte.<br />
„Wir stehen unter ständigem Druck. Entdeckt die Hygienefachkraft Mängel bei der Reinigung<br />
werden wir dafür verantwortlich gemacht. Dass die angesetzte Zeit für die Säuberung<br />
der Zimmer, in denen Patienten mit hochinfektiösen Krankheiten gelegen haben,<br />
viel zu gering bemessen ist, interessiert sie nicht.“ Jüngere Kolleginnen erhalten <strong>befristete</strong><br />
Verträge. „Um fest übernommen zu werden, ist vor allem ein gutes Verhältnis zur<br />
Vorarbeiterin wichtig.“ Das Arbeitsklima leidet unter dem ständigen Druck <strong>und</strong> unsinnigen<br />
Vorgaben, wie etwa der, während der Arbeit nicht mit anderen Kolleginnen zu sprechen.<br />
„Und gegenseitig helfen dürfen wir uns auch nicht“.<br />
Ayse B. hätte gerne die Verhältnisse der Vergangenheit zurück – zumal sie mit 3,5 Arbeitsst<strong>und</strong>en<br />
pro Tag auch nicht genug verdient, so dass sie ergänzende Sozialleistungen benötigt.<br />
„Ich arbeite wirklich gerne <strong>und</strong> möchte auch von meiner Arbeit leben können. Doch<br />
mit den Vorgaben, die bei uns gelten, ist kein vernünftiges Einkommen zu erzielen. Und<br />
es stört mich, dass ich selten das Gefühl haben kann, meine Arbeit in bester Qualität zu<br />
leisten.“<br />
Journalist,<br />
Verlagsredaktion einer<br />
Zeitschrift<br />
Der Start ins Berufsleben verlief für Daniel P. (Name geändert) wie für viele Gleichaltrige:<br />
Nach dem abgeschlossenen Politologiestudium fand er keine aussichtsreiche Anstellung,<br />
sondern nur einen Praktikumsplatz in der spärlich besetzten Redaktion einer Fachzeitschrift.<br />
„Natürlich bedeutete das vom ersten Tag an ‚Learning by Doing’, erinnert sich der<br />
heute 30-Jährige. Immerhin – nach dem zweimonatigen Praktikum wurde ihm eine halbe<br />
Redakteursstelle angeboten, aber nur befristet.<br />
Im ersten Moment fühlte sich Daniel P. geschmeichelt, doch nach einigem Nachdenken<br />
erkannte er, dass ihn ein kurzes Praktikum nicht gleich zur Tätigkeit eines Redakteurs befähigte.<br />
Er begriff, dass er nach Jahren der theoretischen Wissensaufnahme an der Uni durchaus<br />
noch praktisches Rüstzeug für seinen Berufsweg benötigen könnte. „Ich schlug vor, mich<br />
nicht als Redakteur, sondern als Volontär einzustellen <strong>und</strong> mir eine gründliche Ausbildung<br />
zu ermöglichen.“ Als journalistischer Azubi wurde er zwar eingestellt, doch an der<br />
umfassenden Einführung in den Beruf haperte es schnell. Eine kleine Redaktion, Arbeitsabläufe,<br />
die regelmäßig auch den vollen Einsatz von Daniel P. verlangten, kaum ein Feedback<br />
für seine Artikel oder Überschriften. „Während der 18-monatigen Ausbildung habe<br />
ich zweimal in größeren Redaktionen hospitieren können. Da ist mir klar geworden, wie<br />
intensiv eigentlich an Texten gearbeitet werden kann <strong>und</strong> muss. Doch in meiner Redaktion<br />
fehlt es an Zeit <strong>und</strong> wohl auch am nötigen Engagement der Vorgesetzten.“<br />
„Vier Monate will man mich zunächst weiterbeschäftigen“<br />
Trotz der mangelnden f<strong>und</strong>ierten Ausbildung hätte er sich nun, kurz vor dem Ende des<br />
Volontariats, über das Angebot einer Festanstellung gefreut. Tatsächlich musste er mehrfach<br />
nachhaken <strong>und</strong> den Betriebsrat einschalten, bis die Verlagsverantwortlichen ihm<br />
überhaupt ein Angebot machten. „Vier Monate will man mich zunächst weiterbeschäftigen.<br />
Darüber hinaus gibt es keine Aussagen.“ Einige Kollegen im Verlag haben ihm<br />
Mut gemacht. „Es werde schon weitergehen, sagen die. Andere Volontäre hätten ja auch<br />
nach Abschluss ihrer Ausbildung mit <strong>befristete</strong>n Verträgen weiter im Verlag gearbeitet.“<br />
Doch es gebe auch andere langjährig Beschäftigte, die ihn warnten <strong>und</strong> darauf hinwiesen,<br />
wie ungewiss die Zukunft der Zeitschrift sei, für die er arbeitet.<br />
Daniel P. stellt sich inzwischen noch eine ganz andere Frage: „Ich weiß heute eher weniger<br />
als vor Beginn des Volontariats, ob der Beruf eines Journalisten für mich der richtige<br />
ist. Die Arbeitsweise, die ich in dieser sehr kleinen Redaktion kennengelernt habe, entspricht<br />
jedenfalls nicht meinen Vorstellungen von professionellem Recherchieren <strong>und</strong> Schreiben.“<br />
Für sich sieht er inzwischen die Berufsperspektive eher im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit<br />
in einer Pressestelle. Und wenn ihm nach der <strong>befristete</strong>n Anstellung als Redakteur<br />
ein Anschlussvertrag, eventuell für ein halbes Jahr, angeboten würde? „Dann würde<br />
ich vermutlich bleiben. Denn die aktuelle Situation für Journalisten ist insgesamt düster.“<br />
26 Kündigungsschutz <strong>und</strong> <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse 27
Zweierlei MaSSstab<br />
Pläne schmieden?<br />
Fast unmöglich!<br />
Der Chef der B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, hat sich wiederholt öffentlich<br />
für die Schaffung von mehr un<strong>befristete</strong>n Stellen eingesetzt. Gleichzeitig sind in der<br />
Arbeitsagentur selbst tausende von Beschäftigten befristet eingesetzt; 2010 sollen<br />
23.000 Mitarbeiter/innen – in erster Linie Arbeitsvermittler/innen <strong>und</strong> Sachbearbeiter/innen<br />
– temporär in Jobcentern <strong>und</strong> anderen Bereichen der Arbeitsagentur gearbeitet haben.<br />
KFZ-mechatroniker,<br />
Beschäftigter in Leiharbeit,<br />
Volkswagen, Emden<br />
Sven K. (Name geändert) war sehr froh, als er Ende September 2010 bei Volkswagen in<br />
Emden seine erste Stelle antreten konnte. Hatte er doch zuvor als frisch ausgelernter Kfz-<br />
Mechatroniker nur für ein halbes Jahr <strong>und</strong> schlecht bezahlt in seinem Lehrbetrieb weiterarbeiten<br />
können. Doch zwei Jahre nach Beginn seiner Arbeit bei VW sieht der 23-Jährige<br />
seine berufliche Zukunft eher skeptisch.<br />
Fest steht, dass die B<strong>und</strong>esbehörde nicht aus freiem Entschluss zu diesem Mittel greift.<br />
Durch Haushaltspläne werden ihre Mittel politisch gesteuert; insbesondere für die Arbeitsvermittlung<br />
stehen seit den so genannten Hartz-Reformen Geld <strong>und</strong> damit auch Personal<br />
immer nur zeitlich befristet zur Verfügung. „Herr“ über den Haushalt der Arbeitsagentur<br />
ist der Haushaltsausschuss des B<strong>und</strong>estages. Hier wird auch über die Entfristung von<br />
Stellen entschieden. 2010 beantragte die Arbeitsagentur 3.200 <strong>befristete</strong> Stellen in feste<br />
Arbeitsverhältnisse umzugestalten.<br />
„Das Gros der Betroffenen bleibt stumm“<br />
Allerdings hat das B<strong>und</strong>esarbeitsgericht zumindest für einen Teil der befristet Beschäftigten<br />
die vorliegenden Verträge für rechtswidrig erklärt. Dabei fehle die „nachvollzieh<br />
bare Zwecksetzung für eine Aufgabe von vorübergehender Dauer“. Nach Angaben des<br />
Gerichts könnten bis zu 5.000 auf drei Jahre <strong>befristete</strong> Anstellungen in diesem Sinne rechtswidrig<br />
sein. Letztlich ist es aber Sache der einzelnen Jobvermittlerin oder des einzelnen<br />
Sachbearbeiters, sich die Rechtswidrigkeit gerichtlich attestieren zu lassen. Und angesichts<br />
der Arbeitsmarktsituation, wo ohne dies fast jedes zweite Arbeitsverhältnis nur noch<br />
befristet zustande kommt, bleibt das Gros der Betroffenen stumm <strong>und</strong> hofft, zu den wenigen<br />
zu gehören, deren Stelle bei der Arbeitsagentur in eine dauerhafte umgewandelt<br />
wird.<br />
„Eingestellt worden bin ich über die VW-eigene Leiharbeitsfirma ‚Autovision’. Der erste<br />
Vertrag lief über drei Monate, danach habe ich 6-Monats-Verträge erhalten. Nach vier Verlängerungen<br />
ist nun aber nur noch eine weitere möglich. Ob ich eine Chance auf Festanstellung<br />
bei VW habe, weiß ich nicht.“<br />
„Leiharbeitskräfte machen über 50 Prozent der Beschäftigten aus“<br />
Er kenne Kollegen, erzählt Sven K., die hätten zu Hause völlig überraschend einen Briefumschlag<br />
von VW vorgef<strong>und</strong>en, in dem die feste Übernahme zugesagt wurde. Andererseits<br />
werde beim Autohersteller geklagt, dass die Produktion rückläufig sei; eine Aussage,<br />
die der junge Kfz-Mechatroniker nicht nachvollziehen kann.<br />
„Hier in Emden haben wir ordentlich zu tun. Allein in unserer Produktionslinie laufen<br />
jeden Tag pro Schicht 323 Autos vom Band.“ Allerdings habe es in letzter Zeit keine Neueinstellungen<br />
mehr gegeben. Umso wichtiger sind für das Unternehmen die eingearbeiteten<br />
Beschäftigten der konzerneigenen Leiharbeitsfirma. „In unserer Produktionslinie machen<br />
die Leiharbeitskräfte über 50 Prozent der Beschäftigten aus. Das kann VW gar<br />
nicht kurzfristig umstellen.“<br />
„Ständig gibt es kleine Schikanen von der Leiharbeitsfirma“<br />
Auch Bildungsträger, die im Auftrag der Arbeitsagentur Fortbildungen etwa für Jugendliche<br />
ohne Ausbildungsplatz anbieten, erhalten nur <strong>befristete</strong> Verträge – <strong>und</strong> reichen die<br />
Unsicherheit an ihre Beschäftigten weiter. „Die Ausschreibungsverfahren mit <strong>befristete</strong>n<br />
Laufzeiten führen zwangsläufig zu <strong>befristete</strong>n Arbeitsverträgen“, zitierte Spiegel online<br />
Carsten Breyde, Vorstand des Kolping-Bildungswerks Württemberg. Die Ausschreibungszeiträume<br />
seien zu kurz <strong>und</strong> die Planungssicherheit für die Bildungseinrichtungen somit<br />
zu gering, um selbst un<strong>befristete</strong> Stellen zu schaffen.<br />
(Spiegel online, 17.5.2010)<br />
Sven K. fühlt sich mittlerweile zermürbt durch die andauernde Ungewissheit. „Wie soll<br />
ich denn Zukunftspläne machen? Ich würde mich gerne weiterqualifizieren, doch entsprechende<br />
Angebote erhalten nur Festangestellte. Ständig gibt es kleine Schikanen von der<br />
Verwaltung der Leiharbeitsfirma. St<strong>und</strong>ennachweise verschwinden angeblich, viele Fragen<br />
bleiben ungeklärt.“ Nur die Lohnzahlung funktioniere erfreulicherweise reibungslos.<br />
Überhaupt ist auch die Bezahlung ein enorm großer Anreiz für den Norddeutschen, auf<br />
eine Zukunft bei VW zu setzen. „Ab Januar werden die Entgelte für die Leiharbeitskräfte<br />
angeglichen. Doch ich habe wenig davon, falls nach meiner letztmöglichen Befristung<br />
die Arbeit bei VW endet.“ Gut bezahlte Arbeitsplätze sind im Norden Mangelware. Sven K.<br />
wäre zu einem Wechsel an einen anderen VW-Standort in Deutschland bereit. „Hauptsache,<br />
die Ungewissheit hört auf.“ Bis dahin hofft er jeden Tag auf einen großen Briefumschlag<br />
mit dem Absender VW im Postkasten.<br />
28 Kündigungsschutz <strong>und</strong> <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse 29
Postzustellung auf Abruf<br />
postzustellerin,<br />
deutsche Post Ag,<br />
Ostfriesland<br />
Eigentlich, findet Monika B. (Name geändert), hat sie ja noch Glück gehabt. Seit November<br />
2010 arbeitet die 44-jährige Ostfriesin als Zustellerin bei der Deutschen Post AG.<br />
Und anders als viele ihrer befristet eingestellten Kollegen/innen war sie seitdem durchgehend<br />
beschäftigt.<br />
„Mit der jetzt laufenden Verlängerung meines <strong>befristete</strong>n Vertrages ist allerdings das<br />
Ende erreicht. Im November 2012 läuft die dritte Verlängerung aus, <strong>und</strong> dann kann ich<br />
nur noch mit Festanstellung weiter als Zustellerin arbeiten.“ Mit Unterstützung der<br />
Dienstleistungsgewerkschaft ver.di kämpft Monika B. um die Übernahme. Aber sie weiß<br />
auch, dass die Post AG selten jemanden aus der <strong>befristete</strong>n Beschäftigung dauerhaft<br />
einstellt.<br />
„Vielen geht es ganz mies: Die erhalten 11-Wochen-Verträge, haben dann acht Wochen<br />
Pause <strong>und</strong> müssen sich anschließend praktisch wieder neu einarbeiten.“ Zumal das Gros<br />
der <strong>befristete</strong>n Zusteller/innen auf ständig wechselnden Touren eingesetzt wird. Auch<br />
in dieser Hinsicht sieht sich Monika B. etwas besser gestellt, da sich zwar auch ihre Zustellrouten<br />
von Tag zu Tag ändern, sie aber bisher immer in einem Ort eingesetzt worden ist.<br />
„Mein Einkommen wird dringend für die Familie benötigt“<br />
Das Verhältnis zwischen den langjährigen Stammzusteller/innen <strong>und</strong> den befristet eingesetzten<br />
Kräften beschreibt sie als gut. Gleichwohl ist allen bewusst, wie groß die Unterschiede<br />
sind – nicht zuletzt bei der Bezahlung.<br />
Wobei Monika B. sich als angelernte Zustellerin mit einem St<strong>und</strong>enlohn von 11,58 Euro<br />
brutto annehmbar bezahlt fühlt.<br />
Und sie ist auf den Verdienst angewiesen. Anders als so oft von Arbeitgebern suggeriert<br />
wird, gehört sie keineswegs zur Gruppe der „Zuverdienerinnen“. „Mein Mann war lange<br />
krank, die Kinder gehen noch zur Schule – das bedeutet für uns, dass mein Einkommen<br />
für die Familie dringend benötigt wird!“ Monika B. wird auf jeden Fall weiterarbeiten müssen<br />
<strong>und</strong> hat sich vorsichtshalber bereits arbeitssuchend gemeldet. Doch ihre größte<br />
Hoffnung ist die feste Übernahme durch die Post. „Bei allem Stress <strong>und</strong> aller Ungewissheit<br />
macht mir diese Arbeit tatsächlich auch Spaß.“<br />
30 Kündigungsschutz <strong>und</strong> <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse 31
Schutz von Arbeitnehmer/Innen<br />
– Die Politik in der Verantwortung<br />
32 Kündigungsschutz <strong>und</strong> <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse 33
Regelungen zu <strong>befristete</strong>n<br />
Arbeitsverhältnissen in anderen<br />
europäischen Ländern<br />
„Befristete Jobs sind<br />
Anti-Familien-Politik“<br />
Auch in anderen europäischen Ländern wurden in den letzten Jahren Befristungsregeln<br />
eher gelockert als strenger gefasst. So wurden in Tschechien <strong>und</strong> Griechenland die Einzelbefristungen<br />
von zwei auf drei Jahre ausgeweitet mit der Möglichkeit in Tschechien, die<br />
entsprechenden Verträge dreimal zu verlängern, so dass eine Kettenbefristung von insgesamt<br />
neun Jahren zulässig ist. In Portugal wurde die Höchstdauer für Befristungen am<br />
Stück von sechs Monaten auf drei Jahre heraufgesetzt. Rumänien erlaubt eine Höchstdauer<br />
von 36 statt bisher 24 Monaten sowie drei aufeinander folgende <strong>befristete</strong> Verträge,<br />
von denen der erste 36, die folgenden je 12 Monate gelten dürfen, während zuvor insgesamt<br />
drei Verträge mit einer Gesamtdauer von 24 Monaten erlaubt waren. Und in Spanien<br />
sind ebenfalls Befristungen über einen Zeitraum von bis zu drei Jahren zulässig; hier<br />
gab es zuvor keine Regelung. In den Niederlanden wiederum wurde die Zahl der erlaubten<br />
<strong>befristete</strong>n Verträge für Beschäftigte unter 27 Jahren von vier auf fünf heraufgesetzt;<br />
erst danach wird der Arbeitnehmer in ein un<strong>befristete</strong>s Arbeitsverhältnis übernommen.<br />
Es ist äußerst zweifelhaft, ob alle diese Regelungen einer Überprüfung durch den Europäischen<br />
Gerichtshof standhalten würden. Denn die europäische Befristungsrichtlinie ist<br />
ja gerade erlassen worden, um <strong>befristete</strong> Beschäftigung einzudämmen <strong>und</strong> das un<strong>befristete</strong><br />
Arbeitsverhältnis zu stärken. Aber wer klagt schon, so lange er noch die Hoffnung<br />
hat, vielleicht irgendwann doch noch unbefristet beschäftigt zu werden. Allein der Gesetzgeber<br />
könnte diesen flächendeckenden Missbrauch wirksam eindämmen. Die Einzelregelungen<br />
wie auch die andauernde Praxis machen jedoch deutlich, dass die Ausdehnung<br />
von Befristungen politisch gewollt ist.<br />
Interview mit<br />
Dr. Claus Schäfer,<br />
Leiter des Wirtschafts- <strong>und</strong><br />
Sozialwissenschaftlichen<br />
Instituts (WSI)<br />
der Hans-Böckler-Stiftung<br />
Seit Jahren steigt die Zahl der <strong>befristete</strong>n Anstellungen. Warum?<br />
Claus Schäfer: Dahinter steckt ein Irrtum der Arbeitgeber. Denn der Gr<strong>und</strong> der steigenden<br />
Zahl <strong>befristete</strong>r Arbeitsverhältnisse hängt sehr stark mit der öffentlich verlauteten Angst<br />
der Arbeitgeber vor dem Kündigungsschutz bei un<strong>befristete</strong>n Stellen zusammen <strong>und</strong><br />
mit ihrem ebenso betonten Wunsch nach mehr Flexibilität. Doch die Angst ist völlig unbegründet,<br />
<strong>und</strong> mehr Flexibilität lässt sich mit betriebsinternen Mitteln herstellen.<br />
Das Kündigungsschutzgesetz wird regelmäßig von Arbeitgebern <strong>und</strong> ihren Verbänden<br />
als Hemmschuh für un<strong>befristete</strong> Einstellungen genannt. Was ist daran falsch?<br />
Schäfer: Repräsentative Befragungen des WSI bei den Personalverantwortlichen in Betrieben<br />
haben gezeigt, dass viele von ihnen mit den Details des Kündigungsschutzes nicht<br />
vertraut sind. Diejenigen jedoch, die sich gut mit dem Gesetz auskennen, haben mit<br />
überwältigender Mehrheit angegeben, dass die jeweilige wirtschaftliche Lage Hauptkriterium<br />
für Einstellungsentscheidungen bei un<strong>befristete</strong>n Stellen ist, nicht der Kündigungsschutz.<br />
Und tatsächlich klagen lediglich r<strong>und</strong> zehn Prozent der vom Arbeitgeber gekündigten<br />
Beschäftigten. In ähnlicher Größenordnung bewegt sich der Anteil der Abfindungszahlungen.<br />
Auch das haben die Befragungen belegt. Schaut man sich allerdings die betriebliche<br />
Praxis an, gibt es bemerkenswerte Abweichungen zu den Antworten der befragten<br />
Personalverantwortlichen, die auch als Widerspruch zwischen der intern geäußerten Einsicht<br />
<strong>und</strong> der öffentlich geäußerten Arbeitgeberpropaganda zu werten sind: Die Zahl<br />
der <strong>befristete</strong>n Jobs steigt bereits seit 1991 kontinuierlich. Das heißt, dass die Zahl der Befristungen<br />
sogar in den Aufschwungjahren zugenommen hat, obwohl die wirtschaftliche<br />
Situation sehr positiv war.<br />
Angesichts sehr wechselhafter Konjunkturzyklen pochen die Arbeitgeber zunehmend<br />
auf mehr Flexibilität beim Personaleinsatz. Wie ließe sich die aus Ihrer Sicht am besten<br />
erreichen?<br />
Schäfer: Sinnvoll ist die interne Flexibilität der Arbeitskraft, bei der die Arbeitszeit – je<br />
nach Auftragslage – variiert wird. Im Aufschwung kann – in ges<strong>und</strong>heitsverträglichen <strong>und</strong><br />
anderen Grenzen – mehr gearbeitet <strong>und</strong> ein Zeitguthaben angelegt werden. Im Abschwung<br />
wird dieses Guthaben wiederum abgebaut. Darüber hinaus können Kurzarbeit<br />
<strong>und</strong> andere Formen von Arbeitszeitverkürzung genutzt werden, um Nachfrage- <strong>und</strong><br />
Produktionsrückgänge abzupuffern. In der Wirtschaftskrise ab 2008 wurden diese Instrumente<br />
erfolgreich eingesetzt. Allerdings setzt interne Flexibilität Vertrauen <strong>und</strong> Loyalität<br />
voraus, <strong>und</strong> das ist nur mit un<strong>befristete</strong>r Beschäftigung möglich. Schließlich verzichtet<br />
bei dieser internen Flexibilität der Arbeitnehmer im Aufschwung auf Zeit <strong>und</strong> im Abschwung<br />
auf Einkommen. Trotzdem soll er leistungsfähig <strong>und</strong> zuverlässig sein. Nicht nur<br />
ich habe Zweifel, dass befristet Beschäftigte diese Motivation <strong>und</strong> Loyalität aufbringen<br />
können.<br />
34 Kündigungsschutz <strong>und</strong> <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse 35
Parteienstimmen zu Kündigungsschutz<br />
<strong>und</strong> Befristungen<br />
Dennoch steigt die Zahl der <strong>befristete</strong>n Arbeitsverhältnisse weiterhin. Welche Auswirkungen<br />
hat das Ihrer Meinung nach?<br />
Schäfer: Da Befristungen junge Menschen überdurchschnittlich betreffen, wird insbesondere<br />
deren Bereitschaft <strong>und</strong> Fähigkeit zur Familiengründung belastet. Befristungspolitik<br />
ist so tatsächlich Anti-Familien-Politik <strong>und</strong> verschärft letztlich das demografische<br />
Problem. Derzeit wird r<strong>und</strong> die Hälfte der neu abgeschlossenen Arbeitsverträge befristet.<br />
Auf diese Weise wird auch der Kündigungsschutz praktisch ausgehebelt. Deshalb sollte<br />
die Politik unbedingt umsteuern: Die Befristungsmöglichkeiten müssen eingeschränkt werden.<br />
Eine einmalige oder in Maßen wiederholte Befristung mit angemessenem Gr<strong>und</strong><br />
ist genug!<br />
Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU <strong>und</strong> FDP von 2009 heißt es unter der Überschrift<br />
„Befristete Beschäftigungsverhältnisse“: „Das generelle Vorbeschäftigungsverbot für sachgr<strong>und</strong>los<br />
<strong>befristete</strong> Einstellungen erschwert Anschlussbeschäftigungsverhältnisse, wenn<br />
während Schule, Ausbildung oder Studium bei einem Arbeitgeber schon einmal befristet<br />
gearbeitet worden ist. Wir werden die Möglichkeit einer Befristung von Arbeitsverträgen<br />
so umgestalten, dass die sachgr<strong>und</strong>lose Befristung nach einer Wartezeit von einem<br />
Jahr auch dann möglich wird, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein Arbeitsverhältnis<br />
bestanden hat. Mit dieser Neuregelung erhöhen wir Beschäftigungschancen<br />
für Arbeitnehmer, verringern den Bürokratieaufwand für Arbeitgeber <strong>und</strong> verhindern<br />
Kettenbefristungen.“<br />
Antrag der SPD-B<strong>und</strong>estagsfraktion vom 19. Mai 2010 „Langfristige Perspektive statt<br />
sachgr<strong>und</strong>lose Befristung“: Die Fraktion beantragte, die sachgr<strong>und</strong>lose Befristung von Arbeitsverhältnissen<br />
ersatzlos aus dem Teilzeit- <strong>und</strong> Befristungsgesetz zu streichen. Damit<br />
knüpfte die SPD an ihre Koalitionsvereinbarung mit der CDU/CSU von 2006 an, in der bereits<br />
eine entsprechende Streichung vereinbart worden war, die anschließend jedoch nicht<br />
umgesetzt wurde. Es habe sich, so heißt es in der Antragsbegründung, längst erwiesen,<br />
dass befristet Beschäftigte keine größere Chance auf ein un<strong>befristete</strong>s Arbeitsverhältnis<br />
hätten als Arbeitslose. Für „einen nicht unerheblichen Teil der befristet Beschäftigten (besteht)<br />
ein Risiko, immer wieder bei verschiedenen Unternehmen nur befristet eingestellt<br />
zu werden“.<br />
Das SPD-Wahlprogramm vom 14.4.13 beinhaltet die Forderung die sachgr<strong>und</strong>lose Befristung<br />
abzuschaffen <strong>und</strong> Befristungen mit Sachgr<strong>und</strong> zu überprüfen. Das Wissenschaftzeitvertragsgesetz<br />
soll Mindeststandards für Befristungen vorsehen. Im Wahlprogramm von<br />
Bündnis90/Die Grünen, beschlossen am 26. – 28.4.13, wird festgehalten, dass die Lücken<br />
im bestehenden Kündigungsschutz geschlossen werden sollen, Befristungsgründe sollen<br />
reduziert, Befristungen ohne Sachgr<strong>und</strong> abgeschafft werden. Das Programm Der Linken<br />
vom 20.2.13 sieht die Abschaffung der sachgr<strong>und</strong>losen Befristung vor ebenso wie Abschaffung<br />
der Befristungen im Hochschulwesen. Kündigungsschutz für Eltern mit Kindern<br />
bis sechs Jahren soll geschaffen werden. Der Entwurf des Wahlprogramms der FDP für<br />
den Parteitag am 5./6.5.13 beinhaltet die Meinung, dass flexible Beschäftigungsformen<br />
Einstellungsanreize beinhalten. Bezüglich sachgr<strong>und</strong>losen Befristungen soll das Vorbeschäftigungsverbot<br />
beim selben Arbeitgeber gelockert werden. Die Altersdiskriminierung<br />
bei den Kündigungsfristen soll aufgehoben werden. Ein Entwurf für das Wahlprogramm<br />
der CDU war bei Redaktionsschluss noch nicht bekannt; im Parteitagsbeschluss der CDU<br />
vom Dezember 2012 waren keine Forderungen zur Änderung von Kündigungsschutz<br />
oder Befristungsregelungen enthalten.<br />
36 Kündigungsschutz <strong>und</strong> <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse 37
„Erheblich weniger<br />
Kündigungsschutzklagen“<br />
„Änderungskündigungen<br />
überprüfen lassen!“<br />
Interview mit<br />
Susanne Theobald, Teamleiterin<br />
bei der <strong>DGB</strong>-Rechtsschutz GmbH,<br />
Arbeitseinheit Saarbrücken<br />
Seit dem 1. Januar 2004 gilt das Kündigungsschutzgesetz nicht mehr für Betriebe mit<br />
weniger als zehn Beschäftigten; vorher lag die sogenannte Kleinbetriebsklausel bei fünf<br />
Angestellten. Außerdem wurde die Sozialauswahl eingeschränkt <strong>und</strong> die Möglichkeit<br />
einer Vereinbarung eines Interessenausgleichs mit Namensliste eingeführt. Wie haben<br />
sich die Änderungen in der Praxis ausgewirkt?<br />
Susanne Theobald: 2003 waren im Arbeitsrecht noch 39 Prozent aller Klagen Kündigungsschutzklagen,<br />
davon 37 Prozent nach betriebsbedingten Kündigungen. 2011 machten die<br />
Kündigungsschutzklagen demgegenüber nur etwa 25 Prozent aller arbeitsrechtlichen<br />
Klagen aus, wobei es jetzt in 80 Prozent der Fälle um betriebsbedingte Kündigungen geht.<br />
Insofern ist der Rückgang der Kündigungsschutzklagen, die nicht wegen betriebsbedingter<br />
Kündigung veranlasst sind, seit der Gesetzesänderung erheblich.<br />
Wie ist der Zusammenhang zwischen der Änderung der Kleinbetriebsklausel <strong>und</strong> dem<br />
Rückgang der Kündigungsschutzklagen genau zu erklären?<br />
Theobald: Wer keinen Kündigungsschutz hat, wird aller Voraussicht nach von der Erhebung<br />
einer Klage absehen, denn die Erfolgsaussichten sind von vornherein gleich Null. Arbeitsrechtlich<br />
lässt sich eine solche Kündigung nur in wenigen Fällen auf ihre Rechtswirksamkeit<br />
hin überprüfen, etwa ob bei einem schwerbehinderten Beschäftigten vor der Kündigung<br />
die Zustimmung des Integrationsamtes eingeholt worden ist oder ob einer<br />
schwangeren Frau gekündigt wurde. Ob die Kündigung durch den Arbeitgeber sozialwidrig<br />
war, wird jedoch rechtlich nicht überprüft, wenn der Betroffene in einem Kleinbetrieb<br />
mit weniger als zehn Arbeitnehmer/innen beschäftigt war.<br />
Interview mit Karsten Jessolat,<br />
Leiter des Gewerkschaftlichen<br />
Centrums für Revision <strong>und</strong><br />
Europäisches Recht beim<br />
<strong>DGB</strong>-Rechtsschutz in Kassel<br />
Änderungskündigungen werden immer dann ausgesprochen, wenn der Arbeitgeber ein<br />
Arbeitsverhältnis mit einem Beschäftigten nicht beenden, aber das Aufgabengebiet, den<br />
Einsatzort oder die Entgelthöhe des Arbeitnehmers ändern will. Ist eine einvernehmliche<br />
Einigung beider Seiten in diesen Fragen nicht möglich, kann der Arbeitgeber nach § 2 Kündigungsschutzgesetz<br />
eine Änderungskündigung aussprechen. Unter welchen Voraussetzungen<br />
sie zulässig ist <strong>und</strong> was sich in nächster Zeit daran ändern könnte, erläutert<br />
Karsten Jessolat, der beim <strong>DGB</strong>-Rechtsschutz in Kassel das Gewerkschaftliche Centrum<br />
für Revision <strong>und</strong> Europäisches Recht leitet, das für die gerichtliche Vertretung von Arbeitnehmerklagen<br />
auf der Ebene der 3. Instanz zuständig ist.<br />
Unter welchen Voraussetzungen ist eine Änderungskündigung zulässig?<br />
Karsten Jessolat: Es müssen jeweils zwingende Gründe vorliegen, die diese Form der<br />
Kündigung rechtfertigen. Verlangt der Arbeitgeber etwa von einem Beschäftigten per Änderungskündigung<br />
einen Ortswechsel, muss er den Nachweis erbringen können, dass<br />
der betreffende Arbeitnehmer am neuen Standort seiner Tätigkeit nachgehen kann, aber<br />
nicht mehr am bisherigen Arbeitsplatz. Allerdings sind Änderungskündigungen, bei<br />
denen es um eine Änderung der Arbeitsinhalte oder des Arbeitsortes geht, viel seltener<br />
strittig als jene, bei denen es um die Senkung des Entgeltes geht. Der Arbeitgeber darf<br />
bisher eine entsprechende Änderungskündigung nur aussprechen, wenn er akut von Insolvenz<br />
bedroht ist <strong>und</strong> eine existenzielle Notlage für den Betrieb nur durch die Entgeltsenkung<br />
abwehren kann. Es zeichnet sich derzeit jedoch ab, dass genau diese Regelung in der<br />
Rechtsprechung aufgeweicht werden soll. Im Ergebnis würde es für Arbeitgeber dadurch<br />
einfacher, per Änderungskündigung Löhne <strong>und</strong> Gehälter zu reduzieren.<br />
Und wie sehen demgegenüber die Erfolgsaussichten aus, wenn für einen Betroffenen<br />
der Kündigungsschutz gilt?<br />
Werden denn derzeit nur dann Änderungskündigungen zur Entgeltminderung ausgesprochen,<br />
wenn Betriebe andernfalls Insolvenz anmelden müssten?<br />
Theobald: Im Regelfall besteht eine recht große Chance, einen gerichtlichen oder außergerichtlichen<br />
Vergleich abzuschließen. Die Vergleichsquote liegt bei uns in der Arbeitseinheit<br />
Saarbrücken der <strong>DGB</strong>-Rechtsschutz GmbH derzeit bei über 50 Prozent. Der Kündigungsschutz<br />
gibt den Betroffenen damit die Möglichkeit, mit dem Arbeitgeber noch einmal<br />
ins Gespräch zu kommen. Auch wenn am Ende eines Kündigungsschutzprozesses nicht<br />
immer der Erhalt des Arbeitsplatzes steht, kann über die bestehenden Vergleichsmöglichkeiten<br />
zumindest oft eine finanzielle Abfindung vereinbart werden.<br />
Jessolat: Mit Sicherheit nicht. Gerade in kleineren <strong>und</strong> mittleren Betrieben <strong>und</strong> vor allem<br />
überall dort, wo es keinen – funktionierenden – Betriebsrat gibt, wehren sich betroffene<br />
Beschäftigte oft auch nicht gegen eine unberechtigte Änderungskündigung, die eine<br />
Entgeltsenkung beinhaltet. Manchen fehlt es an der Rechtskenntnis, andere haben Angst,<br />
ihren Arbeitsplatz zu gefährden, wenn sie sich gegen die Änderungskündigung wehren.<br />
Und so ist es auch kaum möglich, Aussagen über die Zahl der jährlichen Änderungskündigungen<br />
zu treffen, da nur ein Teil davon durch Klagen vor den Arbeitsgerichten überhaupt<br />
bekannt wird.<br />
Was sollten Arbeitnehmer/innen machen, die eine Änderungskündigung zur Entgeltminderung<br />
erhalten?<br />
Jessolat: Jeder Beschäftigte sollte sich zunächst rechtsk<strong>und</strong>igen Rat suchen <strong>und</strong> gegebenenfalls<br />
mit Hilfe der Gewerkschaft oder eines Anwalts Klage gegen die Änderungskündigung<br />
einlegen. Das muss innerhalb von drei Wochen nach Eingang der Kündigung geschehen<br />
sein. Bei Überschreitung der Frist gilt die Änderungskündigung als akzeptiert.<br />
38 Kündigungsschutz <strong>und</strong> <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse 39
„Kündigungsschutz wurde<br />
systematisch ausgehöhlt“<br />
Interview mit<br />
Manfred Frauenhoffer,<br />
Teamleiter <strong>DGB</strong>-Rechtsschutz<br />
GmbH, Arbeitseinheit Berlin<br />
Mit der Novellierung des Kündigungsschutzgesetzes 2004 wurde nicht nur die Kleinbetriebsklausel<br />
von fünf auf zehn heraufgesetzt. Außerdem kann bei Betriebsänderungen<br />
nun mit einer Namensliste zur Sozialauswahl vorab festgelegt werden, welchen Beschäftigten<br />
betriebsbedingt gekündigt wird. Welche Auswirkungen hat dieses Verfahren?<br />
dalös, dass der Gesetzgeber sich selbst die Möglichkeit geschaffen hat, Beschäftigten<br />
mit der Beendigung einer öffentlichen Körperschaft unter Ausschluss des Kündigungsschutzgesetzes<br />
den Arbeitsplatz zu nehmen!<br />
Manfred Frauenhoffer: Faktisch haben von Kündigung betroffene Arbeitnehmer in diesen<br />
Fällen kaum eine Möglichkeit zur erfolgreichen Kündigungsschutzklage. Die Liste, die<br />
Bestandteil des Interessenausgleichs ist, muss mit dem Betriebsrat verhandelt <strong>und</strong> vereinbart<br />
werden. Der Arbeitsrichter geht daher davon aus, dass die Auswahl korrekt zustande<br />
gekommen ist <strong>und</strong> soziale Auswahlgesichtspunkte ausreichend berücksichtigt wurden.<br />
Betroffene müssen nämlich geltend machen können, dass die Sozialauswahl grob fehlerhaft<br />
war, um nach einer solchen betriebsbedingten Kündigung überhaupt Chancen bei<br />
einer Klage zu haben. Anhaltspunkte sind aber dafür schwer zu finden. Viele Betriebsräte<br />
versuchen, dieses Instrument abzuwehren. Druck auf die Betriebsräte kommt von den<br />
Arbeitgebern, die mit einer Namensliste Arbeitnehmer von einer Kündigungsschutzklage<br />
abhalten <strong>und</strong> damit auch höhere Abfindungszahlungen in einem möglichen gerichtlichen<br />
Vergleich verhindern wollen. Bei großen Betriebsumstrukturierungen ist das Verfahren<br />
inzwischen leider sehr verbreitet. Es ist ein weiteres Element zur Aushöhlung des<br />
Kündigungsschutzgesetzes.<br />
Für wen gilt das Gesetz überhaupt noch?<br />
Frauenhoffer: Letztlich nur noch für eine Minderheit der Beschäftigten vor allem in mittelgroßen<br />
Betrieben. Der Kündigungsschutz wird an vielen Stellen ausgehebelt: Da die Mehrzahl<br />
der Beschäftigten in Betrieben mit weniger als zehn Arbeitnehmern angestellt ist,<br />
wurde mit der Heraufsetzung der Kleinbetriebsklausel von fünf auf zehn für eine sehr große<br />
Gruppe der Kündigungsschutz gestrichen. Mit <strong>befristete</strong>n Beschäftigungsverhältnissen<br />
oder Arbeit auf Werkvertragsbasis wird der Kündigungsschutz zunehmend umgangen.<br />
Und bedauerlicherweise beteiligen sich auch öffentliche Körperschaften daran, den Kündigungsschutz<br />
per Gesetz zu umgehen.<br />
Wie sieht ein solches Verfahren konkret aus?<br />
Frauenhoffer: Vor einigen Jahren hat der Gesetzgeber im Sozialgesetzbuch V geregelt,<br />
dass Arbeitsverhältnisse die von einer Betriebskrankenkasse Beschäftigten mit der Schließung<br />
der Kasse automatisch enden, ohne dass eine Kündigung erklärt werden muss.<br />
Derzeit sind vor dem B<strong>und</strong>esarbeitsgericht Klagen von Beschäftigten der City BKK anhängig,<br />
die auf diese Weise ihre Arbeit verlieren sollten. In den ersten beiden Instanzen<br />
haben die Angestellten Recht bekommen, dass der Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz des<br />
Kündigungsschutzgesetzes auch in ihrem Fall hätte Anwendung finden müssen, zumal<br />
in der laufenden Abwicklungsphase der City BKK ja auch noch Arbeit für die Beschäftigten<br />
vorhanden ist. Es ist davon auszugehen, dass das B<strong>und</strong>esarbeitsgericht die Rechtsauffassung<br />
der vorangegangenen Instanzen bestätigt. Gr<strong>und</strong>sätzlich bleibt es jedoch skan-<br />
40 Kündigungsschutz <strong>und</strong> <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse 41
Kündigungsschutz <strong>und</strong> befristung<br />
– die Forderungen der<br />
Gewerkschaften<br />
42 Kündigungsschutz <strong>und</strong> <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse 43
ohne bestandsschutz verschlechtern<br />
sich Arbeitsbedingungen<br />
Der <strong>DGB</strong> <strong>und</strong> seine Mitgliedsgewerkschaften<br />
fordern<br />
Die Entwicklung der letzten Jahre hat gezeigt, dass in vielen Betrieben <strong>befristete</strong> Beschäftigung<br />
nicht mehr die Ausnahme sondern die Regel geworden ist. Seit 1991, dem Beginn<br />
der Statistik zu <strong>befristete</strong>r Beschäftigung ist der Anteil der befristet Beschäftigten von<br />
5,9 Prozent auf etwa 9 Prozent gestiegen. Besonders für Berufsanfänger ist <strong>befristete</strong> Beschäftigung<br />
inzwischen normal: mehr als die Hälfte erhält zu Beginn der Berufstätigkeit<br />
nur einen <strong>befristete</strong>n Vertrag.<br />
Gleichzeitig ist vor fast zehn Jahren mit der Agenda 2010 der Kündigungsschutz erheblich<br />
eingeschränkt worden. Nur Beschäftigte in einem Betrieb mit mindestens zehn ArbeitnehmerInnen<br />
können sich auf das Kündigungsschutzgesetz berufen – ihre Kündigung<br />
muss also begründet werden. Damit hat sich die Zahl der Beschäftigten ohne Kündigungsschutz<br />
von 3,6 Mio. auf knapp 8 Mio. mehr als verdoppelt. Etwa 80 Prozent der Betriebe<br />
in Deutschland fallen seither nicht mehr unter das Kündigungsschutzgesetz. Die Sozialauswahl<br />
ist seither eingeschränkt auf die Kriterien Lebensalter, Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten<br />
<strong>und</strong> Schwerbehinderung, sogenannte Leistungsträger können ganz aus<br />
der Sozialauswahl herausgenommen werden. Und einigen sich Arbeitgeber <strong>und</strong> Betriebsrat<br />
auf einen Interessenausgleich mit Namensliste von Arbeitnehmerinnen <strong>und</strong> Arbeitnehmern,<br />
die gekündigt werden, ist für diejenigen, die auf dieser Liste stehen, eine Klage<br />
gegen die ausgesprochene Kündigung nahezu aussichtslos.<br />
Die rechtliche Stellung von Beschäftigten ist sehr unsicher<br />
„Hire and Fire“ ist keine Vision für die Zukunft, sondern bittere Realität für viele Arbeitnehmerinnen<br />
<strong>und</strong> Arbeitnehmer. Arbeitgeber werden zudem immer findiger, wenn es darum<br />
geht, den ohnehin nur begrenzten Bestandsschutz weiter auszuhöhlen.<br />
Insgesamt ist festzustellen, dass die rechtliche Stellung von Beschäftigten sehr unsicher<br />
ist. Von einem Ausgleich der strukturellen Unterlegenheit der Beschäftigten durch das Arbeitsrecht<br />
kann allenfalls begrenzt die Rede sein. Die Entwicklung von Minijobs <strong>und</strong><br />
Leiharbeit, die Zunahme <strong>befristete</strong>r Beschäftigung <strong>und</strong> gleichzeitig die Ausbreitung des<br />
Niedriglohnsektors zeigen gerade, dass ohne Bestandsschutz die Arbeitsbedingungen<br />
insgesamt verschlechtert werden.<br />
Schlechte Arbeitsbedingungen wirken sich aber nicht nur auf die Kreativität <strong>und</strong> Produktivität<br />
negativ aus, sie hindern nicht nur stetige Weiterbildung <strong>und</strong> persönliche Entwicklung,<br />
sie haben vielmehr auch Auswirkungen auf die Ges<strong>und</strong>heit der Beschäftigten <strong>und</strong><br />
letztlich auch auf das gesellschaftliche Miteinander. Und schließlich entgehen durch schlechte<br />
Bezahlung, die mit fehlendem Bestandsschutz in der Regel einher geht, dem Staat<br />
<strong>und</strong> den Sozialversicherungsträgern erhebliche Einnahmen.<br />
zur <strong>befristete</strong>n Beschäftigung:<br />
– Abschaffung der sachgr<strong>und</strong>losen Befristung<br />
– Neuregelung der Sachgr<strong>und</strong>befristungen mit dem Ziel, Missbrauch durch Kettenbefristungen,<br />
insbesondere zur Vertretung, zu unterbinden durch eine Begrenzung der Gesamtbefristungsdauer<br />
bzw. der Anzahl der Verlängerungen oder der aufeinanderfolgenden<br />
Verträge<br />
– Streichung des Befristungsgr<strong>und</strong>es „zur Erprobung“<br />
– Streichung der „Haushaltsmittelbefristung“<br />
– Verlängerung der Befristung wenn ein Sonder<strong>kündigungsschutz</strong> entstanden ist<br />
– Stärkung der Mitbestimmung des Betriebsrates bei <strong>befristete</strong>r Einstellung<br />
– Im Bereich der staatlichen Hochschulen (Wissenschaftszeitvertragsgesetz) insbesondere<br />
keine Befristung bei Daueraufgaben, bei Projektarbeiten Kopplung von Projektlaufzeit<br />
<strong>und</strong> Befristung sowie Streichung der Tarifsperre<br />
zum Kündigungsschutz:<br />
– Aufhebung des Schwellenwertes für die Geltung des Kündigungsschutzgesetzes<br />
– Anspruch auf Weiterbeschäftigung während des Kündigungsschutzprozesses<br />
– Beseitigung der Möglichkeit, einen Interessenausgleich mit Namensliste abzuschließen<br />
– Aufhebung der Beschränkung der Sozialauswahl auf Lebensalter, Unterhaltspflichten,<br />
Betriebszugehörigkeit <strong>und</strong> Schwerbehinderung<br />
– Gesetzlicher Ausschluss von Verdachtskündigungen<br />
– Gesetzliche Regelung zur Pflicht des Arbeitgebers bei einer Kündigung wegen geringfügiger<br />
Vermögensdelikte eine Interessenabwägung durchzuführen unter Berücksichtigung<br />
des Vermögensschadens, der Beschäftigungszeit, der Stellung des Arbeitnehmers im<br />
Betrieb <strong>und</strong> möglicher Versetzungen<br />
– Gesetzliche Regelung zur gerichtlichen Überprüfung der Unternehmensentscheidung<br />
zum Abbau von Arbeitsplätzen auf wirtschaftliche Notwendigkeit<br />
Mit diesen Regelungen würde das un<strong>befristete</strong> Vollzeitarbeitsverhältnis mit einem wirksamen<br />
Kündigungsschutz <strong>und</strong> mit einer Bezahlung deutlich über Sozialleistungsniveau endlich<br />
wieder zum Normal- <strong>und</strong> nicht länger zum Ausnahmefall. Und davon würden nicht<br />
nur die Arbeitnehmerinnen <strong>und</strong> Arbeitnehmer, sondern auch die Arbeitgeber <strong>und</strong> nicht zuletzt<br />
die Sozialversicherungsträger <strong>und</strong> der Staat erheblich profitieren.<br />
Es ist deshalb an der Zeit, die Sicherheit des Arbeitsplatzes wieder in den Vordergr<strong>und</strong><br />
der politischen Diskussion zu stellen. Notwendig sind gesetzliche Regelungen die <strong>befristete</strong><br />
Arbeitsverhältnisse eindämmen <strong>und</strong> den Kündigungsschutz stärken.<br />
44 Kündigungsschutz <strong>und</strong> <strong>befristete</strong> Arbeitsverhältnisse 45
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Druck:<br />
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Stand:<br />
Mai 2013<br />
Redaktion:<br />
Martina Perreng<br />
Die Interviews wurden von Gudrun Giese geführt.<br />
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